Image
Nördlich des Berentir

Ihre Reise verlief ereignislos und Barsjk mied weiteren Kontakt zu dem rätselhaften Magier. Er versuchte stattdessen die Worte Gordans für sich selbst zu ordnen und zu verarbeiten. Wenn der alte Mann recht behielt, dann würde schon bald ein erbitterter Krieg im Norden ausbrechen, der niemanden verschonte, weder Mensch noch Ork. Der Häuptling der Berenthi konnte sich allerdings keinen Reim darauf bilden, welche Absichten Gordan verfolgte. An ihrem letzten gemeinsamen Abend, sie würden am darauffolgenden Tag die Siedlung Berenth erreichen, traf Barsjk eine Entscheidung.

Gordan mochte schwer zu durchschauen sein, dennoch enthielten seine Worte mehr Wahrheit, als der stolze Berenthi ignorieren konnte. Er würde den Magier begleiten und so hoffentlich auf eine Möglichkeit stoßen, seinen Stamm vor schlimmem Übel zu bewahren.

Barsjk suchte den Magier in dessen Zelt auf, um ihm seine Entscheidung mitzuteilen.

»Ich habe Euch erwartet, Barsjk von den Berenthi«, begrüßte Gordan ihn freundlich.

Im Zelt des Magiers war es angenehm warm, obwohl kein Feuer brannte, ja nicht einmal ein Kohlebecken aufgestellt war. Und dennoch wurde der kleine Raum unter der Zeltplane von einem hellen Licht erleuchtet, das man außerhalb des Zeltes allerdings nicht ausmachen konnte. Barsjk versuchte sich durch Gordans Macht nicht zu sehr verunsichern zu lassen. Der stolze Krieger wollte nicht wie ein Bittsteller wirken. Wenn er ihn begleitete, dann als ebenbürtiger Weggefährte und nicht als eine Art Diener.

Gordan brach das allmählich unangenehme Schweigen, indem er mit einer beiläufigen Handbewegung auf einen Stuhl wies, der – das hätte Barsjk bei allen Göttern geschworen – noch einen Augenblick zuvor nicht dort gestanden hatte. »Setzt Euch.«

Zögerlich folgte Barsjk der Aufforderung. Unsicherheit war ein neues Gefühl für ihn und er mochte es nicht. Mit seinen beiden Spalthämmern in der Hand hätte er sich wesentlich besser gefühlt. Doch was könnte er mit kaltem Stahl schon gegen einen Magier von Gordans Macht ausrichten, fragte er sich. Als Barsjk plötzlich bewusst wurde, wie sehr er dem Mann ausgeliefert war, wurde ihm flau im Magen. Bisher hatte Gordan niemals einen Anlass zum Misstrauen gegeben, doch wusste Barsjk über den rätselhaften Magier ebenso wenig wie über das Land südlich der Todfelsen.

Dem aufmerksamen alten Mann entging die Unruhe seines Gegenübers nicht. »Wieso seid Ihr zu mir gekommen, wenn Euch meine Gesellschaft nicht behagt?«

Barsjks Gesichtszüge entglitten ihm für den Bruchteil eines Augenblicks, dann fasste der Hüne sich ein Herz. »Es ist nicht Eure Gesellschaft, sondern Eure Macht, die mich erschüttert.« Er war selbst überrascht über seine Offenheit.

Gordan hingegen quittierte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. »Und wieder sprechen wir von Macht. Ein seltsamer Zufall? Was meint Ihr?«, fragte er den Krieger.

Barsjk rieb sich mit der rechten Hand den Nacken. »Ist dies so verwunderlich? Mir scheint, dass es in diesen Zeiten ausschließlich um Macht geht und darum, sie zu erlangen.«

»Wohl gesprochen«, lobte Gordan. »Und Ihr habt Euch also entschlossen, mein Angebot anzunehmen und mich zu begleiten?«

»Ja«, antwortete Barsjk bestimmt und nickte.

»Macht Euch keine Sorgen. Ich will Euch nicht in einen Kampf gegen die übrigen Stämme führen«, versuchte Gordan den Krieger zu beruhigen. »Ich möchte vielmehr dabei helfen, die Menschen des Nordens zu einer Einigung zu führen.«

»Und weshalb gerade jetzt?«, wagte Barsjk zu fragen.

»Die Orks werden sicherlich bald ebenfalls zu einer Einheit gelangen«, erklärte Gordan. »Je stärker sie von den Menschen angefeindet werden, desto eher entwickeln sie ein Gemeinschaftsgefühl, fürchte ich.«

Barsjk verstand, worauf der Magier hinauswollte, und die Aussicht einer vereinten Armee der Orks erfreute ihn keineswegs. Er selbst kannte die massigen Monster nur als wilde und grausame Kämpfer, Fleischfresser und zuweilen auch Kannibalen. Es gab Gerüchte, dass Orks die Felder der Siedlungen, die sie überfielen, weiter bestellten und versuchten die Ernte einzubringen, doch Barsjk hatte noch nie ein solches Feld gesehen. Und im Kopf des stolzen Mannes war kein Platz für Bilder von friedlichen Orks.

Barsjk hinterließ seinem Bruder Hargrin die nötigen Instruktionen, wie während seiner Abwesenheit zu verfahren sei. Die Berenthi sollten weiterhin ihre erblühende Stadt befestigen. Ein dreihundert Fuß breiter Streifen würde rings um die Siedlung abgeholzt werden, um das Baumaterial für die Palisaden zu liefern. Er selbst zog mit Gordan kurz nach ihrer Ankunft bereits weiter Richtung Norden.

Der Magier verlor kein Wort über ihr Reiseziel und Barsjk stellte ihm keine Fragen danach. Er hatte für sich beschlossen, seinem Gefährten zu vertrauen.

Als die Sonnenscheibe ihren Zenit überschritt, befürchtete Barsjk bereits, dass sie das Ende des Weges erreicht hatten. Sie standen am Ufer des Berentir, des reißenden Stroms, der den Menschen dieser Gegend ihren Namen gab. Der Fluss mündete direkt in das Westmeer, doch noch nie war jemand bis zu seiner Quelle vorgedrungen, die man in den Höhen der Eisnadel, einem gewaltigen Berg viele Tagesmärsche im Osten, vermutete. Im Gegensatz zu den Todfelsen, die aus unzähligen Gipfeln, Schluchten, Hochplateaus und Steinwüsten bestanden, war die Eisnadel ein einziges gewaltiges Felsmassiv. Um den gesamten Berg zu umrunden, würde man mehrere Monde benötigen, wobei dies ebenfalls noch nie jemand gewagt hatte, geschweige denn zurückgekehrt war, um davon zu berichten.

Barsjk konnte den Gipfel selbst von hier aus erkennen, obwohl die Spitze hinter einem Schleier dichter Wolken verborgen blieb. Offenbar wollte Gordan ihn am Ufer des Flusses entlang nach Osten führen. »Wen wollt Ihr im Gebirge treffen?«, stellte er dem Magier zum ersten Mal eine Frage zu ihrem Reiseziel.

Gordan runzelte verwirrt die Stirn. »Im Gebirge?«

Barsjk deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf den Berentir. »Nun, es gibt keine Brücke über den Fluss und zu dieser Jahreszeit ist er nahezu unpassierbar. Deshalb nahm ich an, dass …«

Gordan schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ihr denkt schnell, Barsjk. Eine Eigenschaft, die ich sehr schätze. Doch unser Ziel liegt nicht im Osten, sondern im Norden.«

»Aber es gibt keine Brücke!«, widersprach Barsjk heftiger, als er beabsichtigt hatte. Er befürchtete, dass der Magier ihn lediglich zu dem Zweck mitgenommen hatte, ihn über den Fluss zu schaffen. Vermutlich würde Gordan gleich auf seine Schultern steigen und ihn wie ein Pferd in die kalten Fluten reiten.

Der Magier erkannte die finstere Gewitterwolke, die sich über Barsjks Brauen zusammenzog, und lächelte entwaffnend. »Nun, wenn es keine Brücke gibt, dann sollte man eine bauen, nicht wahr?«

Barsjk wollte bereits protestieren, sah er sich nun vom Packesel zum Zugochsen degradiert, der für den greisen Mann eine Brücke bauen sollte, doch sein Mund öffnete sich vor Erstaunen und es kam kein einziger Ton daraus hervor ob des sich vor ihm abspielenden Spektakels.

Gordan hatte die Arme ruckartig von sich gestreckt, sodass die Ärmel seiner Robe schwungvoll bis zu den Ellenbogen hochrutschten. Er murmelte leise einige Worte in einer dem Krieger unbekannten Sprache. Barsjk vermutete am Klang, dass es sich um eine wiederkehrende Beschwörung handelte. Von Gordans Füßen ausgehend hob sich der Boden an und große Erdklumpen und Geröll brachen sich ihren Weg ans Licht. Gemeinsam spannten sie sich in einem flachen Bogen über den Fluss und bildeten eine schmale Brücke.

Der Magier faltete die Hände entspannt vor seiner Brust und lächelte triumphierend, fast mit kindlicher Freude, als er Barsjk in die Augen blickte. »Jemand sollte eine Brücke bauen«, wiederholte er und ging leichten Schrittes und trockenen Fußes über den tosenden Fluss. »Nun beeilt Euch ein wenig! Sie wird nicht ewig halten!«, forderte er Barsjk auf, als der noch immer mit offenem Mund am Ufer des Flusses stand und dem Magier ungläubig hinterherblickte.

»Wieso ist die Brücke nicht dauerhaft?«, fragte Barsjk, als er den Magier eingeholt hatte.

»Weil sie nicht natürlich war«, erwiderte Gordan.

»Aber wenn Ihr sie so zaubern würdet, dass sie auch ohne die Magie stabil wäre? Ginge das?«

»Ich ahne, worauf Ihr hinauswollt«, sagte der Mann mit einem Nicken. »Und dennoch wäre es nicht anders. Dinge mithilfe von Magie zu kreieren, bedeutet immer, dass man der Umwelt den eigenen Willen aufzwingt. Um eine Brücke für die Ewigkeit zu schaffen, müsste ich mich ständig auf den Zauber konzentrieren. Und nun versucht Euch vorzustellen, was geschähe, sollte ich im Alter vergesslich werden«, erklärte er und sein Grinsen ließ weiße Zähne aufblitzen.

Barsjk fragte sich plötzlich, wie alt Gordan bereits war und vor allem wie viele Tage ihm noch blieben. Für Magier schien der Sand der Zeit langsamer zu verrinnen. Der Krieger erinnerte sich an noch etwas. »Aber es gibt Geschichten über Magiertürme, die von ihren ehemaligen Bewohnern erschaffen wurden und nun verlassen sind. Wie kann das sein?«

Gordan seufzte. »Ich könnte eine Brücke erschaffen, die ebenso anmutet wie eine von Menschenhand gebaute. Dafür müsste ich jedoch einen Teil meiner Lebenskraft bei Ausübung des Zaubers opfern. Ein Preis, der mir überaus unangemessen erscheint für eine einfache Brücke, die man auch mit vereinten Kräften bauen könnte, denkt Ihr nicht?«

Barsjk fiel darauf keine Erwiderung ein.

»Zudem«, fuhr Gordan fort, »die Bewohner der nördlichen Lande wären sicherlich alles andere als erfreut, würde ich den Menschen so direkt helfen und das Aufeinandertreffen Eurer Völker auf diese Weise beschleunigen.«

»Von welchem Volk sprecht Ihr?«, fragte der Berenthi verwundert.

Gordan schüttelte energisch den Kopf. »Das erfahrt Ihr noch früh genug. Wozu glaubt Ihr denn, habe ich Euch sonst mitgenommen? Ich wollte vielmehr betonen, dass ich meine Magie nicht einsetzen werde, um dermaßen in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Aus überhasteter Einmischung ist noch niemals etwas Gutes erwachsen, Barsjk, merkt Euch das.«

»Aber wieso darf ich nicht wissen, wohin wir gehen?«, beharrte der Hüne.

»Weil es keinen Unterschied macht«, entgegnete Gordan ein wenig gereizt. »Ich will, dass Ihr unvoreingenommen seid. Würde ich Euch unser Ziel offenbaren, dann würdet Ihr ständig darüber nachdenken und Vermutungen aufstellen.«

»Aber das tue ich doch jetzt bereits!«, protestierte Barsjk.

Gordan präsentierte ihm ein breites Lächeln, das selbst einen Dämon entwaffnet hätte. »Im Moment denkt Ihr an alles Mögliche. Lasst Euch überraschen. Es wird uns allen Aufschluss darüber geben, ob die Zeit reif ist.«

»Die Zeit reif? Wofür?« Der Magier hatte sich bereits von ihm abgewandt und war in einen schnellen Wanderschritt verfallen. Barsjks Kehle entfuhr ein leises Knurren, doch er entließ seine aufkeimende Wut mit einem tiefen Seufzer und resignierendem Kopfschütteln. Dann beeilte er sich dem Magier zu folgen.

Sie verbrachten den restlichen Tag, indem sie schweigend nebeneinander hertrotteten. Barsjk wusste, dass er dem Magier keine weiteren Informationen entlocken könnte, die dieser nicht bereit war ihm zu geben. Und der Berenthi begann sich damit abzufinden, dass sich sein Reisegefährte mitunter äußerst rätselhaft benahm.

Als die Abenddämmerung einsetzte und die Sonne die Wolken wie ein Meer aus Flammen erstrahlen ließ, blieb Barsjk stehen und sah sich nach einem geeigneten Lagerplatz um.

»Ein Mann Eurer Statur wird doch von diesem kleinen Spaziergang nicht bereits müde sein, oder doch?«, fragte Gordan, während er ungebremsten Schrittes weitermarschierte.

Barsjk entfuhr ein langer, gequälter Seufzer, als er dem Magier erneut folgte.

Einige Zeit später, Barsjk schätzte knapp eine Handvoll Sandgläser, setzte sich sein greiser Begleiter unter eine große Weide und lehnte sich entspannt gegen den Stamm.

Der Berenthi wollte sich zunächst ebenfalls setzen, entschied dann aber, sich breitschultrig vor dem Magier aufzubauen. »Und was ist an diesem Platz nun so viel besser als an dem, den ich vorhin auswählen wollte?«, fragte er direkt. »Hier sind wir völlig schutzlos und allein den Widrigkeiten der Nacht ausgeliefert.«

Gordan grinste vergnügt und verbarg die Hände in den weiten Ärmeln seiner Robe. »Wer sagt denn, dass wir allein sind?«

Barsjks Augen funkelten vor plötzlichem Zorn und er riss eine seiner Waffen aus seinem Gürtel. Stahl war ein knappes Gut und wurde vor allem zur Stadtbefestigung benötigt. Deshalb verzichteten viele Krieger in Barsjks Sippe auf geschmiedete Schwerter und verwendeten stattdessen gängige Werkzeuge. Im Kampf verließ sich der Berenthi auf zwei einhändig zu führende Spalthammer – Hammerköpfe, die auf der Rückhandseite mit einem Axtblatt versehen waren. Barsjk verstand es, nicht nur beim Spalten von Holz geschickt mit ihnen umzugehen, und so war der Hüne weit über die Grenzen seines Stammes hinweg geachtet und gefürchtet zugleich. »Treibt keine Spiele mit mir!«, zischte er unter zusammengebissenen Zähnen.

Gordans Lächeln wich ihm nicht aus dem Gesicht, als er in ruhigem Ton antwortete: »Ihr solltet Euch genau überlegen, was Ihr nun tun wollt. Oder vielmehr, ob Ihr leben oder sterben wollt, Barsjk von den Berenthi. Ihr könnt versuchen mich zu erschlagen und seid dennoch tot, bevor Ihr den Gedanken daran vollendet habt, oder Ihr senkt Eure Waffe, setzt Euch zu mir und wartet.«

Die Muskeln im Gesicht des Kriegers versteinerten, als er mit sich selbst um eine Entscheidung rang. Barsjk hätte sich bis zu diesem Moment als den sicheren Sieger gesetzt, doch die Worte des Magiers, die dieser so völlig gelassen geäußert hatte, nahmen ihm buchstäblich allen Wind aus den Segeln. Schließlich ließ er den Hammer sinken und steckte ihn wieder unter den Gürtel. »Worauf warten wir?«, fragte er, als er sich dem Magier gegenüber setzte.

Der Magier behielt sein Lächeln bei, doch es ließ sein Gesicht völlig ausdruckslos wirken.

»Ihr wartet auf mich«, erklang eine fremde Stimme plötzlich hinter Barsjk. Der Berenthi wollte aufspringen und seine Waffen ziehen, doch er konnte sich nicht bewegen. Gordan hatte drei Worte gemurmelt und mit dem Finger auf ihn gezeigt. Nun fühlte Barsjk, wie seine Muskeln mit aller Kraft gegen den Zauber ankämpften, aber es gelang ihm nicht, die Arme zu heben.

»Ihr dreimal verfluchter …«, begann er eine Hasstirade gegen den alten Mann, während Gordan bereits sein Handeln erklärte.

»Es ist ein harmloser Zauber …«, sagte der Magier.

»… Sohn einer Orkhure! Ich …«

»… Ihr seid so impulsiv und …«, fuhr Gordan ungerührt fort.

»… reiße Euch die Augen raus und zwinge Euch sie zu essen!«

»… es ist nur zu Eurem Schutz. Eine unbedachte Bewegung könnte Euch den Kopf kosten!«, entgegnete Gordan nun energischer, da Barsjks Gezeter anfing ihn zu langweilen. Zu seiner Erleichterung beruhigte sich der Krieger und kniff lediglich die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, aus denen heraus er den Magier wütend fixierte.

»Und er soll ein würdiger Vertreter seines Volkes sein?«, fragte die fremde Stimme, deren Inhaber noch immer in Barsjks Rücken stand.

Gordan lachte laut und schallend: »Ja, das ist er in der Tat. Der Tag war sehr anstrengend für ihn. Nimm es ihm nicht übel, Faeron.«

Aus Barsjks Kehle grollte ein tiefes Knurren, doch er schwieg.

Der Fremde, den Gordan als Faeron angesprochen hatte, schritt an ihm vorbei und begrüßte den Magier, der aufgestanden war und ihn herzlich in die Arme schloss. »Es tut gut, dich unversehrt zu sehen, mein Freund.«

»Ebenfalls. Ich brenne darauf, neue Geschichten aus dem Norden zu hören. Doch setz dich erst einmal. Ich mache uns rasch ein Feuer«, entschied der Magier. »Hast du zufällig Holz bei dir?«, fragte er Faeron.

»Sicherlich«, antwortete der Elf und berührte mit der Handfläche die Weide, an der Gordan gesessen hatte. Er bewegte die Lippen, als ob er dem Baum etwas zuflüstern würde, doch Barsjk konnte sich nicht ausmalen, was er der Pflanze erzählen wollte.

Ein schwacher grüner Schimmer umgab plötzlich Faerons Hand und das Leuchten strömte in Wellen in den Baumstamm. Barsjk schnappte nach Luft, als wenige Augenblicke später mehrere Äste aus dem Baum herabregneten, die der Neuankömmling einsammelte und zu einem kleinen Haufen aufschichtete.

Gordan klatschte in die Hände und rieb die Handflächen schnell gegeneinander. Dabei blies er über sie hinweg auf den Holzhaufen, und sogleich stoben Funken von seinen Händen auf die Holzscheite und entfachten ein wärmendes Lagerfeuer.

Der Magier und der Fremde lachten herzhaft, Barsjk brauchte eine ganze Weile, ehe er bemerkte, dass sie sich über seinen offenen Mund und die geweiteten Augen lustig machten, mit denen er das Feuer anstarrte.

»Ihr könnt Euch nun übrigens wieder bewegen, Barsjk«, sagte Gordan vergnügt.

Der Berenthi ließ sich Zeit und sah den Neuankömmling erst einmal genauer an. Faeron war ein großer Mann, sicherlich sechseinhalb Fuß. Seine Kleidung wirkte fremdartig und eher wie eine Pflanze, die ihn umwuchs. Anstelle eines Mantels aus Leder war er von Kopf bis Fuß von mehreren sich überlappenden Blättern bedeckt, die eine Art Schuppenpanzer bildeten, der wie ein Umhang bis auf den Boden reichte. Seine Brust war durch einen Harnisch aus ineinander verknoteten Ästen geschützt und dieselbe Art Rüstung befand sich an Beinen und Armen.

Die Gesichtszüge des Mannes waren filigran und leicht kantig. Das Licht des Feuers blitzte in seinen tiefblauen Augen. Das dunkelblonde Haar reichte ihm bis knapp über die Schultern, doch es konnte die sanft spitz zulaufenden Ohren nicht verbergen.

»Was seid Ihr?«, fragte Barsjk verwirrt, denn ein solches Wesen war ihm noch niemals zuvor begegnet.

Faeron wandte sich Gordan zu: »Haben die Menschen wirklich alles vergessen?«

Der Magier seufzte, ein Laut seiner Resignation. »Es ist fast zu befürchten, ja.«

»Ich bin ein Elf«, erklärte Faeron wieder an Barsjk gewandt. »Mein Name ist Faeron Tel’imar. Und meine Heimat ist der Heilige Wald des Gottkönigs Alirion.«

»Einst kämpften Menschen und Elfen Seite an Seite, müsst Ihr wissen«, warf Gordan ein.

»Wieso wissen wir dann nichts mehr davon?«, fragte Barsjk, der sich wie in einem Traum vorkam.

Erneut lachte Gordan. »Die Menschen kämpften früher sogar an der Seite von Barbaren und Orks. Gemeinsam, unter der Führung der Götter, bezwang man die Elementarprinzen und befreite Kanduras.«

»Das ist allerdings schon sehr lange her«, warf Faeron ein, den Barsjks Verwirrung ebenfalls erheiterte.

»Ich sagte doch, dass diese Zeiten uns einiges abverlangen würden, Barsjk«, fuhr Gordan fort. »Und dass wir uns vorbereiten müssen. Die Zeit scheint reif zu sein.«

Faeron ignorierte Barsjk und fragte Gordan: »Und du willst ihn wirklich dem Rat präsentieren?«

»Ja«, antwortete Gordan bestimmt. »Wir müssen handeln. Die Dinge sind in Bewegung geraten und lassen sich nicht mehr stoppen. Es muss sein.«

»Welchem Rat?«, fragte Barsjk, doch niemand schenkte ihm Beachtung.

»Es wird nicht einfach, mein Volk von deinen Ideen zu überzeugen«, gab Faeron zu bedenken. »Wir leben schon zu lange isoliert.«

»Dann wird es Zeit, dass ihr wieder aus eurem Wald kommt«, feixte der Magier.

»Welchem Rat?«, fragte Barsjk etwas lauter, doch die beiden ließen sich nicht durch ihn stören.

»Ein geeintes Reich der Menschen könnte ein großer Segen für Kanduras sein«, sagte Gordan.

»Oder ein Fluch«, widersprach Faeron. »Es muss sie der Richtige anführen, dann stimme ich dir zu.«

»Welchem Rat, verflucht?«, brüllte Barsjk und zwang die beiden, sich auf ihn zu konzentrieren.

Gordan lächelte, als Faeron zu einer Erklärung ansetzte: »Dem Rat der Elfen.«

»Spracht Ihr nicht von einem Gottkönig?«, fragte der Berenthi verdutzt.

Faeron verzog das Gesicht. »Das ist … kompliziert«, sagte er schließlich.

»Und für den Moment auch nicht von Bedeutung«, warf Gordan ein. »Erzähle mir vom Norden, Faeron. Wie war deine Reise?«

»Ah, ganz der Alte«, lachte Faeron. »Immer das größere Ganze im Blick, nicht wahr? Die Barbaren ziehen sich langsam gen Osten zurück. Die Länder nördlich des Heiligen Waldes sind ungezähmtes Land und werden es auch noch für eine lange Zeit sein.«

»Sie ziehen sich zurück?«

»So hat es zumindest den Anschein.«

»Aber du traust dem Frieden nicht?«, hakte Gordan nach.

»Branghors Kinder sind so launisch wie der Gott des Donners selbst. Sie können ebenso gut in zwei Monden wieder in größerer Zahl auftauchen und sich gegen den Süden richten.«

»Ich dachte, die Barbaren lebten ausschließlich in den Steppen, weit im Nordosten?«, fragte Barsjk verwundert.

Faeron schüttelte energisch den Kopf. »Die Barbaren sind ein viel rastloseres Volk als ihr Menschen. Doch seid ihr euch in vielen Dingen sehr ähnlich. Häufig leben Barbaren vereinzelt zwischen anderen Menschen, ohne dass es jemandem auffiele.«

»Also sind sie friedlich?«

»Das kommt darauf an«, sagte Faeron ernst.

»Worauf?«, fragte Barsjk.

»Ob sie genug zu essen haben«, erklärte Gordan anstelle des Elfen. »Barbaren sind Nomaden. Wenn sie in ihrem Lebensraum nicht genügend Tiere finden, die sie jagen können, um ihre Familien zu ernähren, dann ziehen sie weiter. Und eine ausgehungerte Meute ist ein schrecklicher Gegner.«

»Häufig finden sie sich auch unter einem starken Häuptling zusammen und unternehmen große Raubzüge«, fügte Faeron hinzu.

»Hat man dich ganz allein geschickt?«, fragte Gordan und lenkte das Gespräch damit in eine andere Richtung.

Faeron nickte. »Da ich ohnehin Nachrichten für dich hatte, war der Rat der Ansicht, dass ich auch selbst gehen sollte. Und diese Gegend, so nah am Heiligen Wald, ist recht sicher.«

Gordan kicherte. »Ja, mit seinen Bewohnern will man sich auch nicht anlegen, nicht wahr?«

Barsjk verstand, dass es sich bei der Anspielung um die Elfen handelte, und zweifelte nicht an ihrer Richtigkeit.

»Ihr könnt euch ruhig schlafen legen«, sagte Faeron mit gedämpfter Stimme. »Heute Nacht werden wir völlig unbehelligt bleiben.«

Barsjk fragte sich zwar, woher der Elf dies wissen konnte, doch ihre kurze Begegnung hatte bereits aus genug Absonderlichkeiten bestanden, sodass kein Grund mehr gegeben war, weiter an seinen Worten zu zweifeln. Noch während er nachgrübelte, versank er in süßen Schlummer, der ihn sanft umschlang. Die Anstrengungen der letzten Tage waren selbst für einen Mann bei vollen Kräften auszehrend gewesen.

Mit seinen letzten Gedanken wunderte er sich, wie Gordan ein derart hohes Tempo hatte anschlagen können. Der Mann wirkte so gebrechlich! Der Berenthi konnte nur mutmaßen, dass dies einen der Vorteile darstellte, wenn man im Umgang mit den magischen Künsten bewandert war.

*

Knarrend rumpelte die Kutsche über die ausgetretene Straße gen Osten und gab dabei jede Unebenheit schmerzhaft an die Insassen weiter. Es war früh am Nachmittag und die Sonne stand noch immer hoch am Horizont. Ihre wärmenden Strahlen hatten den Kutschführer müde gemacht und schließlich einnicken lassen – die Pferde fanden den Heimweg auch allein.

»Verdammte Ackerfurchen!«, fluchte Iphelia Telphar nach einem weiteren Schlag in den Rücken. »Wir streiten um Zollgrenzen, um Zuständigkeiten. Darum, wem der Wald gehört. Und wofür? Dass wir auf holprigen Schlammrinnen durch die Landschaft kriechen.«

Ondarin schenkte dem andauernden Gezeter seiner Herrin keine Beachtung und genoss weiterhin die Aussicht und die Tatsache, dass er den Weg von Totenfels zurück nach Burg Telphar nicht zu Fuß bestreiten musste.

»Barsjk!«, stieß Iphelia mürrisch aus. »Dieser hirnlose Muskelprotz und sein Kaff Berenth, das im Morast versinkt.«

»Wie ich hörte, hat man die Wiesen um den Berentir trockengelegt und eine weite Fläche für den Ausbau der Stadt erhalten«, rutschte es Ondarin über die Lippen.

Iphelia verengte säuerlich die Brauen, was ihr makelloses Gesicht trotz der hellen Haut düster erscheinen ließ. »Du bist mein Heiler, nicht mein Lehrer!«

»Gewiss, Herrin«, antwortete Ondarin demütig. »Verzeiht meine lockere Zunge.«

»Eines Tages werde ich sie festzurren«, murmelte Iphelia und lehnte sich schwer gegen die Rückbank.

Ondarin musterte die schlanke Frau und legte die Stirn in Falten. »Ihr wirkt erschöpft, Herrin. War das Treffen derart auszehrend?«

Iphelia schnaufte hörbar aus. »Nein, das ist es nicht. Bloß diese bleierne Müdigkeit, die mich seit Tagen quält.«

»Dann ruht Euch ein wenig aus, Herrin. Die letzten Tage waren überaus anstrengend.«

Iphelia brachte noch ein schwaches Nicken zustande, dann schlief sie auch schon, und Ondarin konnte sich wieder der Betrachtung der weiten, ungezähmten Landschaft widmen.

Ist es überhaupt möglich, dass sich die Stämme unter einem König vereinen?, sinnierte der Heiler. Wie müsste er sein?

Sein Blick schweifte zu Fürstin Telphar.

Iphelia könnte eine Herrscherin sein, erkannte Ondarin. Sie hatte die nötige Weitsicht und Skrupellosigkeit, die vonnöten war. Allein, ihr fehlte der Mut. Immerzu dachte sie an das Wohl ihres sechs Monate alten Sohnes, Lingalf. Wärst du mutiger, Iphelia, würdest du die Macht an dich reißen!

Am Abend dieses Tages würden sie Burg Telphar erreicht haben und Ondarin könnte endlich das unbequeme Zelt gegen seine strohgefüllte Matratze tauschen. Er könnte sich wieder seinen anatomischen Studien widmen, die er an den Ratten durchführte, die den Burgkeller heimsuchten.

Nach einer Weile änderte sich das ewige Geschaukel der Kutsche zu einem gleichförmigen Rattern. Sie hatten endlich Telphars gepflasterte Straßen erreicht. Als einziges Stammesgebiet hatten die Telphari begonnen, ihre wichtigsten Handelsstraßen mit Steinen zu befestigen, um das Vorankommen der Handelskarawanen auch bei Unwetter zu erleichtern.

Die Sonne versank gerade hinter dem westlichen Horizont und hüllte die Welt in ein rot-goldenes Licht. Ondarin ließ sich von dem Anblick der im Wind wogenden Blätter an den Bäumen verzaubern, tauchte ganz ein in den Geruch des Sonnenuntergangs, wenn die Nacht allmählich heranbricht und der Boden auskühlt, wenn erste Eulen zaghaft ihre Lider öffnen, um auf die nächtliche Jagd zu gehen. Als würde der sterbende Tag von einem süßlichen Verwesungsgeruch begleitet.

»Herrin?« Ondarin berührte Iphelia sanft am linken Arm. Die Fürstin hatte den Rest der Reise verschlafen und öffnete nur langsam die Augen. »Wir sind da«, fügte der Heiler hinzu, als er die Verwirrung in ihrem Gesicht bemerkte.

Iphelia gähnte herzhaft und nickte müde. »Ich muss sofort nach Lingalf sehen«, sagte sie leise. »Wo ist die Amme?«

Wie sie dort saß und sich mit zittrigen Fingern eine Strähne ihres roten Haars aus dem Gesicht wischte, wirkte sie plötzlich sehr alt und blass. So blass, dass Ondarin versucht war ihren Puls zu fühlen, ob sie überhaupt noch lebte.

»Herrin, fühlt Ihr Euch nicht gut?«, fragte er mit echter Besorgnis. Das Leben bei Fürstin Telphar war äußerst angenehm. Sollte sie plötzlich versterben, würde ein anderer aus dem Stamm der Telphari die Macht an sich reißen und der hätte vermutlich einen eigenen Heiler. Dies war ein Grund für seine Fürsorge. Ein anderer lag in den Katakomben der Burg begraben.

Er hatte Fürst Lingalf nicht heilen können und dennoch hatte Iphelia ihn nicht verstoßen. Vor neun Monden war der Fürst einem schweren Leiden erlegen, dessen Ursprung Ondarin zu spät erkannt hatte. Im Gedenken an ihren verstorbenen Mann hatte die Fürstin seinen Namen an den Sohn weitergereicht, der wenige Monde danach das Licht der Welt erblickte. Und an jenem Tag hatte Ondarin sich geschworen, niemals wieder in seiner Aufgabe als Heiler zu versagen.

Iphelia wollte ihm gerade antworten, stattdessen sank sie von einer plötzlichen Schwäche ergriffen zurück in die Polster der Kutsche.

»Herrin!« Ondarin sprang aus dem Sitz und stieß sich dabei schmerzhaft den Kopf an der Decke der kleinen Kabine. Er legte ihr eine Hand auf die Stirn und atmete erleichtert aus, da sie sich nicht fiebrig anfühlte. Doch ihr Atem ging in kurzen flachen Stößen, als sei sie erschöpft und bekäme nicht genügend Luft.

Ondarin zog eine kleine Phiole aus einer Tasche, die er stets bei sich trug. Darin war ein stark riechendes Meersalz, dessen stechender Duft – schenkte man dem Händler Glauben – selbst Tote wiedererwecken könnte. Er hielt es ihr unter die Nase.

Sie verzog das Gesicht, als sie allmählich wieder zur Besinnung kam. »Nimm das weg, das stinkt ja scheußlich!«, wies sie ihn an.

Ondarin seufzte erleichtert. »Herrin, Ihr solltet Euch hinlegen.«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es geht schon wieder. Ich will erst Lingalf sehen.«

»Dann lasse ich ihn an Euer Bett bringen«, beharrte Ondarin und klopfte gegen die Wand, hinter der der Kutschbock lag. »Lasst den Jungen ins Zimmer der Fürstin bringen!«

Dass Iphelia ihm nicht widersprach, sondern sich sogar von ihm aus der Kutsche helfen ließ, bestätigte Ondarin in seiner Sorge und sie steuerten direkt das Schlafgemach der Fürstin an.

Burg Telphar war eine ausgebaute Wehranlage im Herzen des Stammesgebiets der Telphari. Der einstige Fürst hatte die Burg als Zufluchtsort für seine Untergebenen im Falle eines Angriffs errichtet. Dementsprechend verschwenderisch war die Konstruktion. Riesige leer stehende Gebäude schmiegten sich an die Burgmauern, nur darauf wartend, dass ein Krieg das Land überziehen würde und die Menschen hier Schutz suchen ließe. Ondarin fragte sich, wie es wohl im Inneren dieser Häuser aussah, denn seit Jahren hatte sie niemand betreten. Das Herrenhaus lag zentral im weitläufigen Innenhof. Der alte Telphar hatte keine Mühen seiner Untergebenen gescheut, um die nötigen Steine dafür heranzuschaffen.

Von außen wirkte Burg Telphar abweisend und bedrohlich. Doch im Inneren offenbarte sich dem Betrachter eine schlichte Schönheit, die ihrem Zweck diente. Hinter dem Herrenhaus lud ein großer Garten zwischen Bäumen und Blumen zum Verweilen ein. Und obwohl der Garten eigens für die Fürstenfamilie angelegt war, gestattete Iphelia ihren Untergebenen, ihre wenige freie Zeit dort zu verbringen.

Sie erreichten gemessenen Schrittes das Haupthaus und Iphelia versuchte sich ihre Erschöpfung nicht anmerken zu lassen. Im Haus war es heiß und stickig. Dicke Wandbehänge speicherten die Wärme des Tages und verhinderten ein Auskühlen über Nacht. Ondarin wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte besorgt zu seiner Herrin. Iphelia war geschwächt und die schwüle Hitze setzte ihr schwer zu.

»Wasser für die Herrin!«, befahl Ondarin einer Dienerin, die sogleich davoneilte.

»Ich kann selbst nach Wasser verlangen!«, empörte sich Iphelia, doch in ihrem Blick konnte er erkennen, dass sie ihm auch hierfür dankbar war.

Eine breite Holztreppe führte in die oberen Stockwerke und damit in die privaten Gemächer der Fürstin. Armdicke Kerzen in bronzenen Wandhaltern erleuchteten den Weg und verbreiteten sanft den Geruch von Lavendel. Iphelia bestand darauf, dass ihre Kerzen nicht bloß aus Talg oder dem viel selteneren Bienenwachs hergestellt wurden. Sie ließ über ein weitreichendes Netz aus Handelsbeziehungen allerlei fremdartige Gewürze und Pflanzen nach Telphar bringen. Bei der Kerzenherstellung wurde ein wenig zerriebener Lavendel zugesetzt, der beim Abbrennen seinen Duft freigab.

Ondarin mochte diesen eigenwilligen Geruch, vermittelte er ihm doch ein Gefühl von Heimat.

Iphelia erreichte schwer atmend die oberste Treppenstufe, hielt sich jedoch eisern aufrecht, als sie den Gang hinunterlief und die Tür ihres Schlafgemachs öffnete.

»Du kannst jetzt gehen, Rynessa«, hörte Ondarin die Fürstin sagen, kurz nachdem sie durch die Tür verschwunden war.

Als er das Schlafgemach betrat kam ihm die Amme gerade entgegengelaufen und grüßte ihn mit einem leichten Kopfnicken. Iphelia hatte den kleinen Lingalf auf dem Arm und setzte sich müde in einen Schaukelstuhl vor einem kleinen Kamin, in dem kein Feuer brannte.

»Mein wunderschöner Lingalf«, flüsterte Iphelia ihrem Kind ins Ohr. »Mein Herz.«

Der Säugling schenkte ihr ein zahnloses Lächeln und gluckste vor sich hin, sichtlich glücklich, dass seine Mutter wieder bei ihm war.

Ondarin räusperte sich leise. »Herrin?«, begann er, als sie zu ihm blickte. »Ich würde Euch gerne genauer untersuchen …«

»Ich bin nicht krank«, entgegnete sie abwesend, da ihre Aufmerksamkeit längst wieder dem Kind in ihren Armen galt.

»Gewiss, Herrin«, fuhr Ondarin fort. »Doch ich möchte sichergehen.«

»Es ist nichts!«, beharrte Iphelia und die Vehemenz ihrer Stimme strafte sie Lügen.

Ondarin runzelte für einen kurzen Moment die Stirn, dann fiel ihm eine Lösung ein: »Es ist auch im Interesse Eures Sohnes, Herrin. Er braucht eine gesunde und starke Mutter. Und ebenso muss man die Ansteckung mit einer möglichen Krankheit ausschließen.

Iphelia seufzte. »Also schön, Silberzunge.« Sie stand auf, wobei Ondarin nicht entging, dass ihre Beine zitterten, und legte Lingalf in die Wiege, die neben ihrem Bett stand.

Ondarin trat näher und nahm ihr Gesicht in beide Hände, befühlte mit den Fingerspitzen ihren Halsansatz hinter den Ohren. »Keine ungewöhnlichen Schwellungen«, murmelte er. »Macht Euch bitte frei.« Er hielt respektvoll einen Schritt Abstand und wartete, bis die Fürstin ihn aufforderte, ihr beim Öffnen des Kleides zur Hand zu gehen.

Langsam glitt der weiche Stoff über ihre Schultern und gab den Blick auf ihren Rücken preis. Ondarin konnte nicht leugnen, dass seine Herrin eine überaus reizvolle Frau war. Ihre Haut war samtweich und mit einer vornehmen Blässe gesegnet, beinahe mit einem Stich ins Bläuliche.

Ondarin mochte ein alter Mann sein, dem die nasskalten Tage des Winters bereits schwer in den Knochen hingen, doch der Anblick wahrer Schönheit berührte sein Herz immer noch. Er rieb die Handflächen gegeneinander und blies wärmend hinein, bevor er den Rücken der Fürstin damit berührte. Dann übte er leichten Druck auf ihre Nieren aus. »Tut das weh, Herrin?«

»Nein«, antwortete sie ohne Umschweife.

»Hmm …« Ondarin rieb sich nachdenklich das Kinn. Schließlich zuckte er die Achseln. »Verzeiht, Herrin, aber ich muss Eure Lungen abhören.« Er suchte in einer kleinen Tasche nach seinem Hörrohr und seufzte erleichtert, als er es endlich fand. Ondarin blickte auf und schnappte unwillkürlich nach Luft.

Iphelia hatte sich bereits umgedreht und das Kleid vollends geöffnet, sodass Ondarin ihr direkt auf die vollen Brüste starrte. Sie lächelte amüsiert, als er errötete. »Für einen Mann der Heilkunst, der noch dazu mein Kind auf die Welt holte, bist du recht schreckhaft, Ondarin.«

Er schaute verlegen zu Boden. »Es ist nur … ich war nicht vorbereitet auf …« Er gewann seine Fassung zurück und setzte das Hörrohr auf ihre linke Brust. »Bitte atmet einmal tief ein … Bitte noch einmal … Nein, Herrin, ich kann nichts Auffälliges hören.«

»Also bin ich gesund?« Iphelia zog den Stoff wieder über die Schultern, und Ondarin fühlte einen kurzen Stich, nun, da er der Schönheit so rasch beraubt wurde.

Der Heiler dachte kurz über ihre Frage nach und schüttelte schließlich traurig den Kopf. »Nein, ich fürchte nicht. Diese Schwäche ist äußerst ungewöhnlich.« Als er das Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Aber vielleicht irre ich mich auch und Ihr benötigt tatsächlich nur eine ruhige Nacht.«

»Das sagte ich von Anfang an.«

Ondarin verbeugte sich demütig, soweit es sein steifer Rücken noch eben zuließ. »Ich werde Euch nun nicht länger belästigen, Herrin. Falls Ihr mich braucht …«

»Lasse ich nach dir schicken, Ondarin«, sagte sie leicht gereizt.

»Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht, Herrin.« Er verbeugte sich abermals und watschelte zur Tür. Gerade als er sie öffnen wollte, hielt Iphelia ihn mit einem leisen Rufen zurück. »Auch dir eine geruhsame Nacht, alter Freund.«