15
Die A5 war trotz Freitagnachmittag und beginnendem Feierabendverkehr ohne Stau. Das Wetter war freundlich, aber kalt. In den Wäldern links und rechts der Autobahn hingen noch verirrte Nebelfetzen. Theresas Linke lag entspannt auf meinem Oberschenkel, gefährlich nah am Sicherheitsbereich. Sie ließ sich das Gesicht von der tief stehenden Wintersonne wärmen und hielt die Augen die meiste Zeit geschlossen. Im Radio liefen Oldies. Erst an den endlosen Baustellen zwischen Baden-Baden und Offenburg kam der Verkehr ins Stocken. Als ich an der Ausfahrt Appenweier die Autobahn verließ, war es fast fünf, und es dunkelte bereits. Theresa hatte zwischendurch ein wenig geschlafen.
»Hättest du was dagegen, meine Schöne, wenn wir in Kehl kurz Station machen?«, fragte ich mit scheinheiligem Lächeln.
Die Schöne gab sich gelassen, verstand aber natürlich sofort den Hintergrund meiner Frage. »Ich trinke irgendwo einen Tee, solange du deinen Jagdtrieb befriedigst.«
Ich fand einen Parkplatz in der Nähe des Bahnhofs, wir stiegen aus und wunderten uns über den kalten Wind. Theresa verabschiedete sich mit einem eiligen Kuss und strebte auf das Bahnhofsgebäude zu, wo sie ein heimelig beleuchtetes Bistro entdeckt hatte. Ich blieb in der Kälte zurück und wusste plötzlich nicht mehr, was ich hier eigentlich suchte. Der große und kahle Bahnhofsvorplatz war so gut wie menschenleer. Der Wind blies von Westen her, und von Minute zu Minute wurde es dunkler. Einige fröstelnde Schüler hockten Schulter an Schulter auf einer futuristischen Bank und starrten Löcher in ihre Handys. Vermutlich warteten sie auf den Bus.
Ich schlug den Mantelkragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und machte mich auf den Weg quer über den Platz in Richtung Westen. Auf den Weg, den am Dienstag vermutlich auch Henning gegangen war. Hatte er hier Lea treffen wollen, die sich aus irgendeinem Grund ausgerechnet in Kehl versteckt hielt? Oder hatte sie ihn zu einem bestimmten Zweck hierherbestellt, auf diese übersichtliche Betonwüste? Es gab eine Nahverkehrsverbindung von Straßburg nach Kehl, wusste ich, die halbstündlich verkehrte. Hatte Henning einfach nur den Großstadtverkehr gefürchtet und die letzten Kilometer lieber mit dem Zug fahren wollen?
Ich erreichte den breiten Gehweg, der neben der vierspurigen Bundesstraße in Richtung Rhein führte. Jenseits der Straße trotzte ein etwa zwanzigstöckiges, gesichtsloses Hochhaus Wind und Kälte. Die stark befahrene Straße stieg zur Europabrücke hin in einem weiten Bogen an. Und der bösartige Wind schien mit jedem Schritt stärker und kälter zu werden. Bald hörte ich neben dem Rauschen des Verkehrs das Gurgeln des Stroms, der zurzeit Hochwasser führte.
Eine Weile stand ich auf der Brücke und starrte ins tief unter mir schäumende Wasser. Mein Atem bildete Wölkchen vor dem Mund. Ich blies in meine Hände, um sie zu wärmen. Schließlich machte ich kehrt, bog nach links ab in Richtung Eisenbahnbrücke, die etwa zweihundert Meter nördlich den Rhein überquerte und über die gerade mit Bummelzuggeschwindigkeit der TGV nach Paris rumpelte. Dort, wusste ich, am Bahndamm kurz vor der Brücke, hatten die Kollegen Hennings Rucksack aus dem Gestrüpp gezogen.
Ich überquerte einen großen, unbefestigten Parkplatz voller trüber Pfützen, erreichte die schmale Straße, die unter den Gleisen hindurch zum Hafen führte, und stand schließlich an der Stelle, wo der Rucksack gelegen haben musste. Jetzt lag hier nur noch Müll. Eine alte französische Zeitung entdeckte ich, Zigarettenkippen mit und ohne Filter, Getränkedosen, zwei leere Weinflaschen. Vin de pays, anderthalb Liter zu eins neunundneunzig. Die orangefarbenen Preisaufkleber waren auch ohne Bücken lesbar. Daneben wassergefüllte Reifenspuren eines Wagens, der im aufgeweichten Boden tief eingesunken war.
Inzwischen war mir nur noch kalt. Hatte ich gehofft, hier würden Augenzeugen herumstehen, die nur darauf warteten, mir ihre Geschichte zu erzählen? Hier würden nach vier Tagen noch Dinge am Boden liegen, die die Kollegen übersehen hatten? Irgendetwas, das – einem idiotischen Drehbuch folgend – allen anderen entgangen war und nun mir einsamem Helden den entscheidenden Hinweis lieferte?
Aber es war ein Trieb. Ich konnte nicht anders. So war es immer schon gewesen: Ich wollte die Orte sehen, wo es geschehen war. Die Dinge, die das Opfer eines Verbrechens zuletzt gesehen hatte. Die Luft riechen, die es bei seinem letzten Atemzug eingeatmet hatte. Wobei das Wort »Opfer« in diesem Zusammenhang ganz und gar fehl am Platz war, denn bisher ging ich davon aus, dass Henning entweder mit Lea zusammen untergetaucht war oder sich aus Liebeskummer das Leben genommen hatte. Heute nannte man so etwas operative Fallanalyse. Gute Kriminalisten hatten es schon vor tausend Jahren so gemacht. Man muss sich in die Welt des Opfers versetzen, um den Täter zu finden.
Eines wurde mir beim Händereiben immerhin klar: Wer in tiefster Verzweiflung auf eine Brücke stolpert, um sich hinunterzustürzen, der macht vorher keinen Umweg von mehreren Hundert Metern, um sein Gepäck loszuwerden. Dem ist in diesen Minuten nichts unwichtiger als sein Gepäck.
Wenige Schritte rechts von mir verlief die Straße durch eine schmale, dunkle Unterführung unter den Bahngleisen hindurch zum Rheinhafen. Ich durchquerte das trotz des Windes nach Urin stinkende Loch. Bald kam im Zwielicht der Kehler Jachthafen in Sicht. In der Ferne Kräne unter den dunklen, rasend schnell dahinziehenden Wolken. Ein fünfachsiger Sattelschlepper mit französischem Kennzeichen dröhnte vorbei. Rechts Industriebauten, Lagerhäuser, eine hell erleuchtete, große Moschee mit weißen Minaretten. War auch Henning diesen Weg gegangen? Und was war dabei sein Ziel gewesen?
Der verfluchte Wind schien Jagd nach mir zu machen. Wohin ich mich auch wendete, er blies mir immer ins Gesicht, zerzauste meine Haare, ließ meine Hosenbeine flattern, wehte sogar Müll vor meine Füße, um mich zum Stolpern zu bringen. Als das erste Hafenbecken in Sicht kam, stieß ich die Hände noch tiefer in die Taschen und gab auf.
Fünf Minuten später betrat ich das gut geheizte Bistro, wo Theresa angeregt mit einem jungen Mann am Nebentisch plauderte. Er hatte einen aufgeklappten Laptop vor sich stehen. Einer dieser smarten Anzugträger, die in Depressionen versinken, wenn sie länger als fünf Minuten offline sind. Das Gespräch drehte sich um die Frage, ob italienisches Olivenöl griechischem vorzuziehen sei oder umgekehrt.
»Seit man dem italienischen nicht mehr trauen kann, nehme ich nur noch solches aus Kreta«, gab Theresa gerade zum Besten und schenkte mir ein halbes Lächeln. »Die sollen nicht so viel Spritzmittel verwenden, weil es dort bestimmte Schädlinge nicht gibt.«
Ich sank auf einen Stuhl an ihrem Tisch und winkte der übernächtigt aussehenden Bedienung.
»Was darf’s sein?«, rief sie quer durch den Raum.
»Tee! Ein Kännchen! Und heiß, bitte!«
»Ist dir kalt?«, wollte Theresa mit schlecht geheucheltem Mitleid wissen.
»Echte Männer kennen keine Kälte«, versetzte ich bibbernd.
Sie strich mit ihrer warmen Hand über meine kalte. »Irgendwas gefunden?«
Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mit den Fingern ein wenig Ordnung in meine Haare zu bringen. Der Kerl am Nebentisch beschäftigte sich inzwischen wieder mit seinem Breitwand-Laptop.
Laptop.
»Waren Sie am Dienstag auch hier?«, fragte ich die Kellnerin, die soeben mit einer erschöpften Bewegung den Tee vor mich hinstellte.
»Ich bin jeden Tag hier von zehn Uhr morgens bis sechs am Abend.« Sie stöhnte und rollte dramatisch die großzügig schwarz umrandeten Augen.
Ich zeigte ihr ein Foto von Henning. »Haben Sie den schon mal gesehen?«
Die Frau mochte fünfundzwanzig sein. Ihr Gesicht war hager und unnatürlich blass, ihre Bewegungen waren die einer Sechzigjährigen.
»Am Dienstag?« Sie zog die Stirn kraus und deutete auf einen Tisch in der Ecke gleich neben der Heizung. »Da drüben hat er gehockt und im Internet gesurft. Wir haben hier nämlich freies WLAN.«
»Um welche Uhrzeit war das?«
»Mittags«, erwiderte sie zögernd. »Am Ende ist es ziemlich voll gewesen, wie er dann auf einmal fortgelaufen ist. Gegen Mittag ist er aufgetaucht, und so zwischen eins, halb zwei ist er auf einmal wieder verschwunden. Sind Sie von der Polizei?«
»Was hatten Sie für einen Eindruck von ihm? War er gut gelaunt?«
»Gut gelaunt, der?« Sie lachte hämisch. »Gesponnen hat er! Erst wollt er ’ne Fanta und nichts zu essen. Dann lieber ’ne Cola, und wie ich ihm die bring, will er auf einmal doch was essen. Irgendwas, was nicht teuer ist. Und ’ne zweite Cola hat er später auch noch bestellt. Und am Ende wollt er dann nicht mal zahlen. Hat seinen Computer zugeknallt und in seinen Rucksack gestopft und ist einfach fort. Ich ihm natürlich nach. Die Typen hab ich nämlich gefressen – erst ist ihnen nichts recht, und am Ende prellen sie auch noch die Zeche. Er hat dann so getan, als tät’s ihm furchtbar leid, und mir ’nen Zwanziger in die Hand gedrückt und gesagt: passt so. Käseweiß ist er auf einmal gewesen. Und dann gibt der mir einfach ’nen Zwanziger, und dabei war die Rechnung bloß elf vierzig. Der ist total durch ’n Wind gewesen, wenn Sie mich fragen. Sind Sie von der Polizei? Ja oder nein?«
Ich zeigte ihr meinen Dienstausweis.
»Kripo, wow! Hat der einen umgebracht oder so? Hier treibt sich ja viel komisches Volk rum. Drogenschmuggler, Zuhälter, Mädchenhändler … Kommt alles von Frankreich her über die Grenze.«
»Als er hereinkam«, fragte Theresa mit freundlich-aufmerksamem Blick, »war er da auch schon so durcheinander?«
»Glaub nicht.« Die Bedienung sah zur Decke. Schloss kurz die Augen, als würde Nachdenken wehtun. »Mir ist nichts aufgefallen. Nö, anfangs ist er eigentlich noch ganz relaxed gewesen.«
Sie riss die Augen wieder auf, sah erst mich, dann Theresa empört an.
»Außerdem, das fällt mir erst jetzt wieder ein, das war doch der Spinner, der seinen Helm vergessen hat! Den hat er auf den zweiten Stuhl gelegt und später einfach liegen lassen. Wie ich zum zweiten Mal raus bin, um ihm das Ding hinterherzutragen, da war er schon nirgends mehr zu sehen. Wollen Sie den haben, den Helm? Dahinten liegt er noch.«
Das konnte nicht schaden, dachte ich und bejahte.
»Es war Leas Laptop«, sagte ich zu Theresa, als die Kellnerin wieder hinter ihrem Tresen stand und leise vor sich hin stöhnend Gläser abtrocknete. »Er muss etwas darin entdeckt haben, was ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hat.«
»Und wo ist dieser Laptop jetzt?«
Das war eine gute Frage. Vielleicht im Moment sogar die entscheidende Frage. Ich winkte der Kellnerin und bat um die Rechnung, was Anlass zu einem erneuten Seufzer gab.
Angesichts meiner jüngsten Erfahrungen mit dem Straßburger Stadtverkehr hatten wir den Peugeot in Kehl stehen lassen und für die letzten Kilometer den Zug genommen. Vom Straßburger Hauptbahnhof zum Hotel gönnten wir uns ein Taxi. Unser Zimmer sei so teuer, meinte Theresa, dass der Preis für diesen bescheidenen Luxus nicht weiter ins Gewicht falle. Das »Cardinal de Rohan« lag mitten in der Stadt, an einem schmalen und touristisch gut erschlossenen Sträßchen zwischen Münster und Ill. Rechts und links reihten sich Andenkengeschäfte, angeblich sagenhaft alte und auf jeden Fall urgemütliche Weinstuben sowie Restaurants mit viersprachigen Speisekarten. Das geschmackvolle Entree des Hotels entschädigte uns für den Rummel vor der Tür, und die Einrichtung unseres Zimmers im Stil von Louise XV brachte Theresa ins Schwärmen. Das Personal zeigte die exakt richtige Mischung aus Zuvorkommenheit und Zurückhaltung, und selbstverständlich bestellten wir zwei Gläser Champagner aufs Chambre double supérieure – dieses Wochenende versprach ohnehin sündhaft teuer zu werden.
Als wir mit dem Champagner allein waren, unterzogen wir das vornehm quiekende, jedoch robust gebaute Bett aus dunkel gebeiztem Eichenholz einer gründlichen Erprobung. Später duschten wir heiß und lange, veranstalteten eine kleine Wasserschlacht und beschlossen schließlich, wieder vernünftig zu werden und ein wenig bummeln zu gehen.
Wir waren glücklich und hungrig, und ich hatte Lea und Henning fast vergessen. Nur ganz hinten in meinem Kopf hörte eine leise Stimme nicht auf zu quengeln, ich sei nicht nur zum Vergnügen hier. Aber selbst die pflichtbewusstesten Kripochefs haben hin und wieder dienstfrei, und auch ein Polizistenleben besteht nicht nur aus Pflicht und Arbeit. Schon gar nicht, wenn der Polizist mit einer Frau wie Theresa im Arm eine der schönsten Städte Mitteleuropas erobert. Der Stimme, die in noch tieferen Regionen meines Hinterkopfs hartnäckig behauptete, ich sei hier vielleicht auf der Suche nach meinem eigenen Sohn, erteilte ich kurzerhand Redeverbot.
Das nur wenige Schritte vom Hotel entfernte Münster erschlug mich jedes Mal aufs Neue mit seiner Pracht und Würde. Wieder fragte ich mich, ob es trotz oder gerade wegen des fehlenden Südturms so überwältigend wirkte. Theresa war nicht zu einer Turmbesteigung zu überreden und brachte das kaum zu widerlegende Argument vor, es sei ja schließlich schon dunkel. Eine Innenbesichtigung, immerhin, wurde gnädig akzeptiert. Das Gebäude war nur mit einem Wort zu beschreiben: großartig. Nein, es ließ sich überhaupt nicht beschreiben. Worte taugten hier nicht. Selbst Theresas Lästermaul verstummte vorübergehend in schlecht verhohlener Ergriffenheit.
Als wir das Münster wieder verließen, dufteten uns geröstete Maronen entgegen, und mein Magen begann zu rumoren. Wir drehten eine Anstandsrunde über den von hohen Fachwerkhäusern gesäumten Weihnachtsmarkt, besichtigten teure und garantiert handgetöpferte Elsässer Keramik und billigen chinesischen Christbaumschmuck und entschieden uns – wo man schon mal in Frankreich war – für Crêpes. Theresa wählte die Vollversion mit Schinken, Käse und Ei, mich gelüstete nach der süßen Variante mit Alkohol. Dazu tranken wir gut gekühlten Edelzwicker aus den im Elsass üblichen hohen Gläschen mit grünem Stiel.
Das Gedränge und Geschiebe war dasselbe wie auf deutschen Weihnachtsmärkten, aber wenn man in der richtigen Begleitung war und die Entschuldigungen auf Französisch kamen, machte es sogar Spaß, von trampeligen Touristen in wattierten Mänteln die unförmigen Rucksäcke in die Seite gerammt zu bekommen. Nicht weit von uns drehte sich ein altes Kinderkarussell mit Elefanten, Löwen und anderem seltenem Getier. Irgendwo spielte jemand deutsche Weihnachtslieder auf einer romantisch verstimmten Ziehharmonika.
»Nett hier«, meinte Theresa eifrig kauend.
Nach unserem Imbiss schlug sie vor, auf diese Anstrengung hin das Hotel aufzusuchen und sich ein wenig hinzulegen. Aber ich zog sie in die entgegengesetzte Richtung. »Jetzt sehen wir uns die Stadt an.«
Nicht nur der Kälte wegen eng umschlungen, bummelten wir durch enge Gässchen und über weitläufige Plätze, bewunderten hohe Fachwerkhäuser und schmale Fachwerkhäuser, krumme Gassen und schnurgerade Boulevards. Überall funkelte, schimmerte und roch es vorweihnachtlich. An einer Ecke spielten Indios auf Panflöten. Theresa machte sich Gedanken über ein passendes Weihnachtsgeschenk für ihren Mann, vergaß diesen Aspekt jedoch bald wieder. Als uns kalt wurde, flüchteten wir in die Galeries Lafayette. Dort entdeckte Theresa im ersten Obergeschoss eine riesige Dessousabteilung, kramte lange herum, zeigte mir manches, begleitet von verruchten Blicken, kaufte am Ende jedoch nichts mit der interessanten Begründung, die Sachen seien ihr nicht teuer genug.
Anschließend schlug sie vor, das Hotel aufzusuchen und sich hinzulegen, ließ sich jedoch überreden, zuvor noch das Viertel Petite France zu besichtigen, das zu einem Straßburg-Besuch gehörte wie Sacré-Cœur zu Paris. Durch weihnachtlich geschmückte Sträßchen schlenderten wir zur Ill. Es gab in dieser Stadt hundert Mal mehr schöne Restaurants, stellten wir fest, als man auch bei viel Hunger und bestem Willen an einem Wochenende besuchen konnte.
In Petite France mutierte das weltstädtische Straßburg zur schnuckeligen Kleinstadt. Ich fand es rührend, während Theresa meinte, es sei früher schöner gewesen, irgendwie authentischer. Wir einigten uns darauf, dass es mindestens nett war. Vor allem, weil sich um diese Uhrzeit außer uns zwei Halbverrückten keine Touristen hierher verirrten. Eine Weile beobachteten wir von einer Brücke am Quai des Moulins die aufgeregt strudelnde Ill. Theresa gönnte sich eine ihrer immer häufiger werdenden Ausnahmezigaretten und konnte die studierte Historikerin nicht ganz verbergen. Sie erzählte mir vom Mittelalter, von Pest und Judenverfolgung. Ich hörte Geschichten von Goethe, der natürlich auch in Straßburg studiert hatte wie so viele Geistesgrößen vergangener Zeiten.
»Damals hat man die gotische Architektur noch barbarisch gefunden«, lernte ich an diesem Abend. »Goethe war einer der Ersten, die den Wert dieses Baustils wiederentdeckt haben. ›Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele‹, hat er später dazu geschrieben.«
Ich fühlte mich mit dem großen Dichter seelenverwandt.
Neben der Hochachtung vor mittelalterlicher Kirchenbaukunst hatte der junge Student der Rechte auch die Liebe zur Frau entdeckt. Seiner Friederike Brion hatte er in den »Sesenheimer Liedern« und später in »Dichtung und Wahrheit« ein kleines Denkmal gesetzt.
»Und am Ende hat der selbstverliebte Sack das arme Ding natürlich sitzen lassen und sie damit fast umgebracht«, war für heute der letzte Satz aus Theresas Mund zur deutschen Literaturgeschichte.
Inzwischen war es halb neun geworden, uns war grausig kalt, und wir stellten fest, dass eine Crêpe einen erwachsenen Menschen auf die Dauer nicht satt machte. So gingen wir – nun wesentlich zügiger – zurück in Richtung Innenstadt und sahen uns nach einem passenden Restaurant um. Aber entweder war das Etablissement bei genauerem Hinsehen nur von außen hübsch, es war restlos überfüllt, oder die Karte gab nichts zu unserem Appetit Passendes her. Theresa gelüstete es nach einem zünftigen Choucroute garnie, zu Deutsch einem Berg Sauerkraut mit Speck und fetten Würsten, mir stand der Sinn mehr nach der feinen französischen Küche. Nach längerem Suchen fanden wir schließlich, inzwischen halb erfroren, in einer wenig belebten Seitenstraße ein verschlafenes Lokal, das fast leer, ordentlich beheizt und zudem geschmackvoll möbliert war. Dort ließen wir uns nieder, streckten die kältesteifen Glieder und nahmen uns die Speisekarten vom Format eines Weltatlas vor.
Die junge und herzerwärmend freundliche Bedienung war zugleich die Wirtin, erfuhren wir ungefragt. Ihr Mann wirkte in der Küche, und überhaupt hatte man erst vor zwei Wochen eröffnet. Die pausbäckige Frau sprach nur gebrochen Deutsch, sodass Theresa Gelegenheit bekam, ihre Sprachkenntnisse vorzuführen. Inzwischen war sie von Choucroute garnie abgekommen und hatte sich für ein zünftiges Steak entschieden. Ich wählte kurz entschlossen dasselbe. Zu Rindfleisch passe am besten ein Pinot noir, behauptete die Wirtin, und zufällig habe sie noch einige wenige ganz vorzügliche Flaschen vom Weingut ihres Schwagers in Ottrott im Keller.
Nach der Suppe entdeckte ich auf dem Handy eine drei Stunden alte SMS von Klara Vangelis. Sie hatte den ganzen Nachmittag hindurch Straßburger Überwachungsvideos von übelster Qualität gesichtet, war dabei halb erblindet, schließlich jedoch fündig geworden. Ein Mädchen, das Lea sehr ähnlich sah, hatte sich am Abend der unseligen Klassenfahrt auf der Place Gutenberg herumgetrieben. Im östlichen Teil, zur Rue des Grandes Arcades hin. Die Bilder waren zu einer Zeit aufgezeichnet worden, als der Bus längst wieder auf der Autobahn in Richtung Heidelberg unterwegs war. Auch auf anderen Videos meinte Vangelis, Lea entdeckt zu haben. Aber sie war sich nicht sicher angesichts der Unmengen von Menschen, die den Tag über vor den Objektiven hin und her gewogt waren.
Um halb elf machten wir uns gut genährt und angemessen betrunken auf den Weg zurück zum Hotel. Theresa war blendender Laune und freute sich mit mir zusammen auf die kuschelige Wärme unseres französischen Betts. Der Weg zu diesem Bett sei gar nicht weit, versicherte ich meiner allmählich etwas erschöpften Liebsten, der zudem die Füße wehtaten. Noch enger umschlungen als zuvor überquerten wir einen großen, selbst zu dieser späten Uhrzeit noch gut bevölkerten Platz. Auch hier gab es einen Marché de Noël, der jedoch soeben geschlossen wurde. An den Buden wurden gerade die Lichter gelöscht und die Luken verrammelt. Am Ende des Platzes prangte in bläulichem Licht der größte Weihnachtsbaum, den ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Straßburger schienen nicht zur Kleinkrämerei zu neigen. Wir bestaunten die Riesentanne und diskutierten ihre Qualitäten und Schwächen.
»Wie heißt dieser Platz eigentlich?«, fragte ich, als wir zu Ende gestaunt hatten.
»Place Kléber«, wusste mein Lexikon auf zwei sehenswerten Beinen und küsste mich aufs linke Ohr.
Ich wandte mich um und ließ meinen Blick über den Platz schweifen.
»Du weißt nicht zufällig auch, wo die Place Gutenberg liegt?«
»Über die sind wir vorhin gegangen«, sagte Theresa und wies die Straße hinunter. »Die müsste da drüben irgendwo sein.«
Auch auf der deutlich kleineren Place Gutenberg standen einige weihnachtlich verzierte und inzwischen geschlossene Buden herum. Das Publikum hatte sich bereits verflüchtigt. Nur am Ende des Platzes hockten eng zusammengedrängt noch vier dunkle Gestalten neben einem mit Tannenreisig geschmückten Häuschen. Vielleicht ging ein wenig Wärme von der Bude aus, auf jeden Fall aber bot sie Schutz vor dem gemeinen Westwind. Ein älterer Kerl aus der Gruppe rief uns mit schwerer Zunge und auf Französisch etwas nach, was für mich nach Zote klang. Theresa parierte geistesgegenwärtig. Man lachte, und ich war ein wenig gekränkt, weil ich als Einziger den Witz nicht verstand. Man hob eine bauchige Flasche mit dunklem Inhalt und trank große Schlucke auf unser Wohl.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich, da meine angesäuselte Liebste offenbar nicht vorhatte, mich in den Kreis der Wissenden einzubeziehen.
»Dass wir wohl noch nicht lange verheiratet sind.«
»Und was hast du geantwortet?«
»Dass ich seit zwanzig Jahren verheiratet bin. Allerdings nicht mit dir.«
Die einzige Frau in der Gruppe rief etwas mit quäkender Stimme, was auch Theresa erst nach zweimaligem Nachfragen verstand.
»Sie wünscht uns viel Spaß im Bett«, übersetzte sie dieses Mal ungefragt. »Und du sollst dir ordentlich Mühe geben. Und ob wir nicht auch einen Schluck möchten. Und den Rest übersetze ich nicht.«
»I’ll do my very best«, zitierte ich Freddie Frinton.
Erst als wir uns mit freundlichem Winken zum Gehen wandten, kam die längst erwartete Frage, ob wir nicht zufällig ein wenig überflüssiges Kleingeld in den Taschen hätten. Theresa zögerte. Gerade wollte ich sie weiterzerren, als mir ein Gedanke kam. Ich machte so abrupt kehrt, dass sie vorübergehend aus dem Gleichgewicht kam.
»Was ist?«, fragte sie verwirrt. »Ich trinke auf keinen Fall aus dieser Flasche!«
Ich zückte das einzige Foto, das ich von Lea hatte, und zeigte es den vier armseligen Gestalten.
»Frag sie, ob sie das Mädchen in letzter Zeit hier gesehen haben.«
Theresa parlierte charmant. Erntete ratlose Mienen. Verwunderte Blicke hin und her. Achselzucken. Die Flasche drehte eine weitere Runde.
Ich nahm das Foto wieder an mich und steckte es ein. Der Zufall hätte ja auch einmal auf meiner Seite sein können. Aber nun zögerte Theresa. Zog entschlossen ihr Portemonnaie aus der Handtasche und drückte jeder der frierenden Jammergestalten wortlos einen Zehneuroschein in die Hand. Und plötzlich sprudelten die Erinnerungen. Die vier begannen, eifrig zu diskutieren, Theresa übersetzte halblaut im Telegrammstil.
»Letzte Woche … Donnerstag … Nein, das war Freitag, weil am Donnerstag sind sie immer auf dem … Spanferkelmarkt … Am Abend, gegen zehn … Nein, elf. Nein, doch eher zehn … Und auch früher schon … Am Nachmittag … Dort drüben hat sie gestanden … Anscheinend hat sie auf wen gewartet … Am Nachmittag war es ein Junge, so ein großer … Am Abend dann ein Mann … Dreißig oder vierzig? … Eher dreißig als vierzig … Offenbar ist Babette, das ist die junge Schönheit mit den vielen Zahnlücken, sogar rübergegangen zu ihm, weil er nach Geld aussah und Mercedes fuhr … wollte ihn anschnorren … Er war aber ein arrogantes Übersetzichnicht … Das Mädchen war hübsch, sagt sie. Dunkle, lange Haare.«
»Lea.«
»Sehr nervös. Vielleicht sogar ein wenig verzweifelt …«
»Was wissen unsere neuen Freunde sonst noch über den Mann mit dem Mercedes?«
»Lea hat ihm etwas überreicht. Ein dünnes Buch oder einen dicken Brief oder etwas Ähnliches. Sie haben geredet … Sie wollte ihm das Ding wieder wegnehmen. Und dann ist er plötzlich in seinen Wagen gesprungen und davongefahren.«
»Heißt das, sie hatten Streit?«
Theresa übersetzte.
»Sie waren wütend … haben sich beschimpft. Deshalb sind unsere neuen Freunde überhaupt erst auf die beiden aufmerksam geworden. Babette sagt, Lea hätte den Mann provoziert und gegen die Brust gestoßen … Er hat sie an den Schultern gepackt und geschüttelt. Sie hat ihn gegen das Schienbein getreten. Und dann … Moment … Ein großer Mercedes … Limousine, braun, glänzend … wahrscheinlich ziemlich neu.«
Babette, die bisher die meisten Redebeiträge geliefert hatte, verstummte mit einer Miene, als wäre ihr plötzlich das Thema des Gesprächs entfallen. Dann fiel ihr aber doch noch etwas ein. Das Sprechen schien ihr allmählich schwerzufallen.
»Er hat Lea sehr grob angefasst«, übersetzte meine Liebste leise. »Aber gleichzeitig hat er sich Mühe gegeben, nicht zu laut zu werden … Wollte wohl kein Aufsehen erregen. Einmal hat es ausgesehen, als wollte er ihr an den Hals gehen. Babette meint, er war vielleicht Leas älterer Bruder, der sie nach Hause holen wollte. Jean ist überzeugt, er war ihr Liebhaber. Die beiden waren ein Paar und hatten Streit wegen dieses Umschlags, oder was immer es war.«
»Das Kennzeichen?«
Babette hob betrübt die Schultern. »Sie ha’n Deitsch g’sprochen«, krächzte sie im Elsässer Dialekt und wechselte gleich wieder ins vertrautere Französisch.
»Mit quietschenden Reifen ist er losgefahren«, dolmetschte Theresa. »Fast hätte er noch einen Unfall gebaut. Ein Taxi, das von hinten kam …«
»Was hat Lea anschließend gemacht?«
Wieder ging es eine Weile hin und her.
»Sie hat noch ein paar Minuten herumgestanden wie bestellt und nicht abgeholt. Hat an ihrem Handy herumgefingert. Vielleicht hat sie gehofft, dass ihr Übersetzichnicht zurückkommt. Dann ist sie plötzlich eilig über den Platz gelaufen. Da lang.«
Babette machte eine großspurige Bewegung zum südwestlichen Ende des Platzes hin und nickte mir wichtig zu.
Wir bedankten uns überschwänglich. Man trank ein zweites Mal auf unser Wohl und wünschte uns eine wunderbare Nacht.
»Mann, ist mir kalt«, stöhnte meine Liebste mit theatralisch klappernden Zähnen und schmiegte sich ganz fest an mich. »Und jetzt tun wir das, was wir den netten Menschen versprochen haben, ja?«