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Nach einem hastig hinuntergeschlungenen Mittagsimbiss fügten sich die ersten Puzzleteilchen zusammen. Die DNA des Täters befand sich nicht in den Datenbanken des BKA, er war also nicht vorbestraft. Der Zigarettenstummel hatte schon länger dort gelegen, wo meine Mitarbeiter ihn gefunden und eingetütet hatten. Damit war er bedeutungslos. Der Hemdknopf stammte von Joop, wurde jedoch für eine ganze Reihe verschiedener Modelle verwendet.
Jan Korte, der verschwundene Softwareunternehmer, hatte bei seinem überstürzten Aufbruch ein Hemd getragen. Nach Meinung seiner Lebensgefährtin war das jedoch nicht von Joop, sondern von Seidensticker. Derzeit waren seine Zahnbürste und sein Kamm auf Blaulichtreise zum BKA. Sollte seine DNA mit der identisch sein, die Runkel von der Haut des Täters gekratzt hatte, war der Fall praktisch gelöst. Dann mussten wir den Mann im Joop-oder Seidensticker-Hemd nur noch finden.
Ich bat Sönnchen um den dritten Cappuccino des Tages und eine Stunde absolute Ruhe. Ich musste Klarheit schaffen in meinem Kopf. Dabei halfen mir meist ein Blatt Papier und ein Stift. Ich begann mit einer groben Skizze des Tatorts. Das Haus, die etwas zurückliegende Garageneinfahrt, der Opel, in dem Runkel gesessen und sich vermutlich Sorgen um seine Gesundheit und das künftige Schicksal seiner vielköpfigen Familie gemacht hatte. Und ich … Ich …
Schluss jetzt! Vorwürfe konnte ich mir machen, wenn der Täter hinter Gittern saß.
Weshalb war Runkel aus dem Wagen gestiegen? Er musste etwas beobachtet haben. Etwas, das ihn so sehr beunruhigt hatte, dass er seinen Posten verließ, um der Sache auf den Grund zu gehen. Etwas, das auf der anderen Seite nicht so dramatisch war, dass er es für nötig befand, mich zu informieren oder Verstärkung anzufordern.
Wenn Jan Korte zu Schillers Haus geschlichen war, mit welchem Ziel auch immer, dann hatte Runkel ihn vielleicht für einen Einbrecher gehalten. Womöglich für ein Mitglied der Kellertürenbande. Was aus seiner Sicht ein guter Grund für einen Alleingang gewesen wäre, nach der Blamage mit dem schrottreifen Dienstwagen. Eines war sicher: Er war an den Falschen geraten. Andererseits, fiel mir ein, im Zusammenhang mit der Kellertürenbande war bisher nie von Schusswaffen die Rede gewesen.
Ich nahm einen großen Schluck aus meiner Kaffeetasse, überlegte hin und her und kreuz und quer. Nein, ein Einbrecher schien mir doch zu weit hergeholt. Jeder vernünftige Dieb wäre getürmt und hätte keine Waffe gezückt. Also doch Korte? Was konnte er bei Schiller gewollt haben? Und weshalb mit einem Revolver in der Hand? Dass es sich bei der Waffe um einen Revolver handelte, schloss ich daraus, dass meine Leute keine Patronenhülse gefunden hatten. Hatte auch Korte bei Schiller Geld angelegt? Und verloren?
Als ich Sven Balkes Nummer wählte, um meine Theorie mit ihm zu diskutieren, klopfte es. Augenblicke später saß mir Klara Vangelis gegenüber. Sie war die Einzige weit und breit, die nicht übernächtigt wirkte.
»Ich war noch mal beim Tatort draußen und habe ein Foto von Korte in der Nachbarschaft herumgezeigt«, sagte sie. »Ein Mann, der gegen halb zehn von der Arbeit gekommen ist, will gesehen haben, wie Korte aus Schillers Haus kam. Er sagt, er sei ihm um ein Haar ins Auto gelaufen und habe einen verstörten Eindruck gemacht.«
»Halb zehn ist eine Stunde zu früh.«
Sie nickte. »Plus/minus fünf Minuten. Der Zeuge ist sich sehr sicher mit der Uhrzeit.«
»Ich habe gerade überlegt, dass er vielleicht bei Schiller Geld angelegt hat und deshalb dort war.«
»Der Gedanke ist mir auch gekommen. Seine Freundin weiß leider wenig von seinen Geschäften. Er soll aber in der Vergangenheit hin und wieder spekuliert haben, meist mit Erfolg. Sie meint, dass es mit seiner Firma zurzeit nicht so gut läuft. Einer seiner größten Kunden, eine spanische Baufirma, ist vor Monaten bankrottgegangen und hat eine große Rechnung nicht bezahlt.«
Ich lehnte mich zurück, nahm die Brille ab, schloss für einen Moment die müden Augen. Das alles passte schon fast zu perfekt zusammen. Korte will sich einen Teil seines Geldes auszahlen lassen, um damit seine Firma zu retten. Aus irgendeinem Grund wird man sich jedoch nicht einig. Daraufhin fährt Korte mit der Straßenbahn in die Stadt, um sich – vielleicht bei seiner unbekannten Geliebten? – eine Waffe zu besorgen. Und anschließend Schiller damit zu bedrohen und gefügig zu machen?
»Runkel hat übrigens Protokoll geführt.« Vangelis riss mich aus meinen Grübeleien und legte einen kleinen zerfledderten Spiralblock auf den Tisch. »Er hat in einer Außentasche seiner Jacke gesteckt. Und die Jacke war natürlich mit ins Krankenhaus gewandert. Deshalb haben wir ihn jetzt erst gefunden.« Ihr Zeigefinger deutete auf eine bestimmte Zeile. »Korte hat zweiundzwanzig Minuten nach neun bei Schiller geklingelt. Sie haben sich begrüßt wie gute Bekannte und sind hineingegangen. Die beiden sind übrigens Mitglied im selben Golfclub, habe ich herausgefunden. Acht Minuten später ist Korte wieder herausgekommen. Auch Runkel ist aufgefallen, dass er aufgeregt war und nicht zu seinem Audi gelaufen ist, sondern bergab, in Richtung Rohrbacher Straße.«
»Zur Haltestelle.«
»Was später kommt, passt leider nicht mehr zu unserer Hypothese. Korte ist um dreizehn Minuten vor elf wiederaufgetaucht – die Bahn hält unten um zwanzig vor – und hat ein zweites Mal bei Schiller geläutet. Dieses Mal hat er allerdings gar nicht erst aufgemacht.«
»Und was hat Korte anschließend gemacht?«
»Das steht hier leider nicht.« Vangelis zuckte die wohlgeformten Schultern unter Nadelstreifentuch. »Wenige Minuten später muss Runkel den Wagen verlassen haben. Leider hat er nicht notiert, aus welchem Grund. Vielleicht hat Korte es zum dritten Mal versucht?«
»Warum hätte Runkel ihn dann nicht schon bei den ersten beiden Malen aufgehalten?«
»Vielleicht hatte Korte dieses Mal eine Waffe in der Hand? Vielleicht hat er versucht, gewaltsam ins Haus einzudringen, nachdem Schiller nicht aufgemacht hat?«
Kurz überlegten wir, ob es an der Zeit war, den Anlageberater mit unseren Überlegungen zu konfrontieren. Ich entschied mich jedoch dagegen. Noch war es zu früh. Ich brauchte einen Beweis, ein starkes Indiz, irgendetwas Handfestes, was ich ihm auf den Tisch knallen konnte.
Vangelis erhob sich und lächelte mich aufmunternd an. »Sven kümmert sich um Kortes Finanzen. Aber ich bin jetzt schon überzeugt, dass wir richtig liegen. Der Mann steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Und finanzielle Schwierigkeiten sind immer ein gutes Motiv für alles Mögliche.«
Eine Stunde und vierzehn Minuten später wurde Jan Korte gefunden. Eine von ihrem Golden Retriever begleitete Joggerin fand seine Leiche unweit von Schillers Haus. Der Hund, der normalerweise aufs Wort gehorchte, war plötzlich in den Wald gelaufen und hatte am Fuß einer großen Buche laut gebellt.
Der Softwareunternehmer hatte sich mithilfe seines Schweizer Taschenmessers die Pulsadern aufgeschnitten. Nur dreihundert Meter von Schillers Haus entfernt. Nach der Art seiner Verletzungen zu schließen, hatte er sich bei seinem Selbstmord reichlich ungeschickt angestellt. Aber am Ende hatte er Erfolg gehabt. Den letzten, traurigen Erfolg seines Lebens. Fremdverschulden konnte schon nach dem ersten Augenschein ausgeschlossen werden. Die Leiche war bereits kalt, und die erste Schätzung des Arztes zum Todeszeitpunkt passte zu unserer Theorie: am Vorabend zwischen zehn und zwölf. Was meine Leute nicht bei Korte fanden, war die Waffe, deren Kugel Rolf Runkel getroffen hatte.
Ich forderte eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei und Hundeführer an, um noch vor dem Dunkelwerden das steile Waldstück am Berghang östlich von Schillers Haus absuchen zu lassen.
Um kurz vor fünf erreichte mich ein Anruf aus Wiesbaden auf dem Handy: Die Täterspuren unter Runkels Fingernägeln stammten nicht von Jan Korte. An dessen Armen und in seinem Gesicht waren auch keine Kratzspuren zu finden gewesen. Somit konnte er nicht der Täter sein. Dennoch ließ ich die Durchsuchung des Waldstücks fortsetzen.
Noch bevor ich diesen Tiefschlag verdaut hatte, meldete sich mein Telefon erneut.
»Ein Herr Knecht«, sagte Sönnchen. »Er will letzte Nacht einen Radfahrer gesehen haben, der ihm komisch vorgekommen ist. Ich weiß, Sie wollen nicht gestört werden, aber sonst ist keiner da.«
Der Anrufer hatte tatsächlich einen Radfahrer getroffen. Und zwar am gestrigen Abend um kurz nach elf. Einen kräftig gebauten Mann auf einem Mountainbike, der es auffallend eilig hatte.
»Ich arbeite am Max-Planck-Institut auf dem Königstuhl und fahre immer mit dem Rad zur Arbeit. Gestern ist es spät geworden, aber ich habe ein gutes Headlight, und die Strecke vom Königstuhl zur Panoramastraße runter ist ein Traum für Downhill-Freaks wie mich. Das letzte Stück hat es ziemlich in sich, aber ich kenne die Strecke im Schlaf …«
»Und da ist Ihnen ein anderer Radfahrer entgegengekommen.«
»Nee. Fast in mich reingekracht ist er, wie ich unten auf die Panoramastraße eingebogen bin.«
Die Panoramastraße verlief parallel zur Görresstraße etwas höher am Hang, wusste ich.
»Ich bin ein bisschen schnell unterwegs gewesen, gebe ich zu. Außerdem hat es geregnet wie blöd. Habe nicht gedacht, dass da außer mir noch wer auf der Strecke ist. Und wir sind um ein Haar zusammengerasselt. Der Typ hat mich ganz blöd angeguckt, ich habe mich entschuldigt, aber er hat gar nichts gesagt, ist einfach wieder aufgestiegen und weitergefahren.«
»In Richtung Rohrbach.«
»Richtig. Der Typ war ziemlich groß und bullig. Und sein Bike war ein weißes Cannondale. Ich hab nämlich eben erst von der Schießerei erfahren. Zurzeit komme ich kaum dazu, Nachrichten zu hören. Und da ist mir dieser Typ von gestern Abend wieder eingefallen.«
»Wegen der Uhrzeit sind Sie sich sicher?«
»Ich kenne die Strecke im Schlaf, und wie ich meine Wohnung aufgeschlossen habe, da war’s zwanzig nach elf.«
Wie wir feststellten, wohnte Herr Knecht ganz in meiner Nähe, ebenfalls in der Heidelberger Weststadt. Am Max-Planck-Institut war er als Techniker angestellt, und den steilen Weg zu seinem Arbeitsplatz legte er bei jedem Wetter mit dem Rad zurück.
»Morgens ist es ein bisschen mühsam.« Er lachte fröhlich. »Aber am Abend dann – ein Traum für jeden Downhiller. Da hat der Königstuhl schon einiges zu bieten.«
»Ist das nicht gefährlich, so im Dunkeln?«
»Ich habe einen guten Helm und Ellbogenschützer und alles. Natürlich haut es einen ab und zu hin. Dann steht man wieder auf und fährt weiter.«
Manche Menschen haben merkwürdige Leidenschaften.
»Haben Sie gesehen, wohin der Mann gefahren ist?«
»Hat mich nicht weiter interessiert, und außerdem habe ich anderes im Kopf gehabt. Wir haben seit Wochen Probleme mit einem Laborgerät, das wir dringend für ein Forschungsprojekt brauchen, und gestern war endlich der Servicetechniker aus Canberra da. Deshalb war ich auch so spät dran. Und so toll war sein Bike ja auch wieder nicht.«
Ich ließ mir das Mountainbike möglichst genau beschreiben und leitete die Daten an alle Reviere im Großraum Heidelberg weiter.
Wenige Minuten später kam Balke aus dem Wald zurück.
»Er hat keinen Brief hinterlassen oder so was«, berichtete er mit matter Stimme und fiel restlos erschöpft auf einen Stuhl. »Nicht mal eine Abschieds-SMS hat er seiner Süßen geschickt, bevor er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Vorhin hat mich übrigens einer seiner Mitarbeiter zurückgerufen. Die beiden haben zusammen studiert und waren so was wie Freunde.« Balkes linkes Augenlid zuckte im Sekundentakt. Er war wirklich am Ende. »Die Angestellten haben seit drei Monaten kein Gehalt mehr gesehen. Außerdem hat er bestätigt, dass Korte spekuliert hat. Und dass er in den letzten Tagen komplett durch den Wind war.«
»Wissen Sie was?« Entschlossen klappte ich meinen Laptop zu. »Jetzt rücken wir diesem Finanzgenie auf den Pelz. Er wird sich ein bisschen wundern, aber das schadet nichts.«