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Schon am Samstagnachmittag mussten wir zurück. Theresa hatte am Abend familiäre Verpflichtungen, über deren Natur sie sich nicht weiter ausließ. Auch das war Teil unserer seltsamen Beziehung: Nicht jeder brauchte vom anderen alles zu wissen. Es gab Zeiten, in denen wir kein Paar waren und uns umso mehr auf das nächste Zusammensein freuten. Wir waren beide erschöpft und unausgeschlafen, aber hochzufrieden und sangen während der Rückfahrt sehr falsch sehr schöne französische Weihnachtslieder.

Im Lauf des Vormittags hatten Kehler Kollegen schwarze Kunststoffteile gefunden, die möglicherweise von Lea Lassalles Laptop stammten, erfuhr ich, als ich zu Hause die zentrale Nummer der Direktion wählte, noch bevor ich den Mantel auszog. Am Rand des westlichen Hafenbeckens hatten die Bruchstücke gelegen, und der Rest war verschwunden.

»Ein Samsung«, erklärte mir ein junger Mann, der klang, als hätte er eben erst laut und ausgiebig gelacht. »Der Junge hat das Ding wahrscheinlich zu Klump getreten und anschließend ins Wasser geschmissen. Dabei ist die Kiste höchstens zwei, drei Jahre alt gewesen. Die hätte bei eBay locker noch ihre zweihundertfuffzig gebracht.«

Im Hintergrund wurde schon wieder gelacht.

»Die sollen umgehend einen Taucher ins Wasser schicken«, sagte ich.

»Darauf sind die Kehler schon selber gekommen. Anscheinend haben sie auch schon wen, der es machen wird. Aber erst morgen.«

Ich bat den jungen Kollegen, mir die Koordinaten des Fundorts durchzugeben, und sah mir das Ganze im Internet an. Die Stelle, wo Henning den Laptop zerstört hatte, lag zwischen lang gestreckten Lagerhallen und fast zwei Kilometer von dem Punkt entfernt, wo er oder ein anderer seinen Rucksack ins Gebüsch geschleudert hatte.

Von ihm selbst fehlte immer noch jede Spur. Ich hoffte sehr, dass der Taucher einen zerstörten Laptop fand und sonst nichts.

Die einzige Erklärung für Hennings Verhalten, die mir einfallen wollte, war die, auf die Theresa schon am Vortag gekommen war: Er musste auf Leas Computer etwas entdeckt haben, was ihn völlig aus der Fassung brachte. Hatte er ihre E-Mails gelesen, in denen sie sich über ihn und seine Gefühle lustig machte? Vielleicht eine Mail, der er entnehmen musste, dass sie einen anderen liebte? Und reichte das, um sich ins eiskalte Wasser zu stürzen? In seinem Alter und Gemütszustand vielleicht schon.

Ein Anruf bei Doro ergab, dass Henning zwar nicht übermäßig sportlich, aber doch ein ordentlicher Schwimmer war. Damit war ein Selbstmord durch Ins-Wasser-Springen praktisch ausgeschlossen. Da musste noch etwas anderes gewesen sein. Hatte vielleicht jemand nachgeholfen? Ich grübelte und grübelte und kam keinen Schritt weiter.

An diesem Abend fühlte ich mich nutzlos und sehr einsam. Die Zwillinge waren wie üblich unterwegs, und ich wusste nichts mit mir anzufangen. Musik nervte mich, der Rotwein, den ich vor Kurzem noch mit Genuss getrunken hatte, schmeckte auf einmal sauer, und das Fernsehprogramm war eine einzige Katastrophe. In der Nacht schlief ich, obwohl todmüde, unruhig und träumte von eisigen Ozeanen und sinkenden Schiffen.

Am Sonntagmorgen ging es mir besser. Während meines ausgiebigen und aufgrund des jugendlichen Schlafbedürfnisses meiner Töchter herrlich einsamen Frühstücks mit Rührei und aufgebackenen Brötchen erreichte mich ein Anruf aus Kehl. Erstens würde der Taucher nun doch erst am Montag beginnen, das Hafenbecken abzusuchen. Und zweitens hatte eine Streife Hennings Personalausweis und Bankkarte sichergestellt. Damit war auch meine Hoffnung zunichte, der Junge könnte ohne Gepäck weitergereist sein. Wieder wurde es ein wenig unwahrscheinlicher, dass er noch lebte.

Den Fund verdankten die Kehler dem Zufall. Ein Obdachloser, ein den Kollegen bestens bekannter Sechzigjähriger aus Hamburg, war am Morgen betrunken durch die Stadt gewankt und hatte alte Mütterchen auf ihrem Weg zum Frühgottesdienst mit seinen Ansichten zu Gott, Kirche und Papst verschreckt. Die Streifenwagenbesatzung hatte ihn zur Rede gestellt und festgenommen, als er auf ihre Ermahnungen nicht reagierte und stattdessen begann, mit leeren Flaschen aus seinem Einkaufswagen um sich zu werfen.

»Der wollte in den Knast, damit er bei der Kälte nicht im Freien schlafen muss«, war der Kollege überzeugt.

In einer der abgewetzten Einkaufstüten des Hamburgers hatten die Kollegen ein leeres Portemonnaie, ein wenig Geld sowie Hennings Ausweis und EC-Karte gefunden. Als man ihn fragte, wie die Sachen in seinen Besitz gekommen waren, behauptete der Obdachlose, er habe alles aus einem Papierkorb beim Bahnhof gefischt.

Nach diesem Anruf schmeckte mir das Frühstück nicht mehr. Ich musste mich wohl darauf einstellen, dass früher oder später Hennings Leiche gefunden wurde. Vielleicht morgen, vielleicht in einer Woche oder erst in Monaten, wenn der Rhein wieder weniger Wasser führte. Eine Weile kämpfte ich mit mir, ob ich Doro informieren sollte oder nicht. Der Kampf erledigte sich von allein, als sie selbst mich anrief. Wieder einmal weinte sie.

»Noch haben wir keinen Beweis«, versuchte ich, sie und mich selbst zu trösten. »Und solange wir keinen Beweis haben, gibt es Hoffnung.«

Nun begann sie zu toben, beschimpfte mich als hartherzigen Technokraten, der keine Ahnung davon habe, wie es im Herzen einer Mutter aussehe, beruhigte sich wieder, bat mich unter Tränen um Verzeihung. Legte schließlich wieder ohne Vorwarnung auf.

Draußen fiel seit dem frühen Morgen ein kalter und mit matschigen Schneeflocken durchmischter Regen. Ich hatte mich selten in meinem Leben so elend gefühlt.

Als Sonntagsessen hatte ich Bratwürste mit Kartoffelpüree und Sauerkraut geplant. Die Zwillinge waren begeistert gewesen, als sie es hörten. Erst vor wenigen Wochen hatten sie nach langem Hin und Her offiziell verkündet, in Zukunft nur noch Gelegenheitsvegetarier zu sein. Vor ihrer fleischlosen Zeit hatten Bratwürste mit Kartoffelpüree zu ihren Lieblingsgerichten gezählt, während sie Sauerkraut immer noch als etwas ansahen, das die Menschheit nicht unbedingt hätte erfinden müssen.

Pünktlich zum Essen erschienen sie schlaftrunken, in ihre rosafarbenen Morgenmäntel gewickelt, mit verstrubbelten gerstenblonden Haaren und den Dalmatinerhausschuhen an den Füßen, die sie sich im Alter von acht Jahren so sehnsüchtig gewünscht hatten. Manchmal wirkten sie trotz ihrer sechzehn Jahre noch sehr klein und zerbrechlich. Während des Essens kamen sie allmählich zu sich. Als sie wieder in ganzen Sätzen sprechen konnten, wollten sie wissen, ob es von Lea oder Henning Neuigkeiten gab. Ich erzählte ihnen von Kehl und Straßburg, von Hennings Helm und Leas Laptop. Anschließend aßen wir schweigend zu Ende.

»Was hat Henning eigentlich für eine Augenfarbe?«, fragte ich.

»Braun«, erwiderte Sarah. »Genau wie du.«

»Wir haben in seinem Zimmer eine Menge Ecstasy-Pillen gefunden.« Obwohl mein Teller noch halb voll war, legte ich mein Besteck zur Seite. »Wisst ihr was davon? Hat er vielleicht mit dem Zeug gedealt?«

Sie sahen mich ausdruckslos an, schüttelten die Köpfe und erwarteten offenbar die Fortsetzung einer bislang nicht sonderlich aufregenden Geschichte.

»Es waren ziemlich viele Pillen«, setzte ich nach. »Viel mehr, als man für den Eigenbedarf braucht.«

»Chip dealt ganz bestimmt nicht«, meinte Louise. »Der lehnt Drogen total ab.«

»Er trinkt ja nicht mal Bier«, ergänzte Sarah.

»Wozu hat er die Dinger dann?«

Sie schlugen die blauen Augen nieder und aßen weiter. Sie wussten etwas, das ich nicht erfahren sollte.

»Mädels …«, sagte ich beunruhigt. »Was ist los? Nehmt ihr das Zeug etwa auch?«

»Paps«, sagte Sarah nach langem Zögern. »Du trinkst doch auch Alkohol.«

»Das ist doch was ganz anderes«, erwiderte ich wohl wissend, dass ich Unsinn redete.

»Jedes Jahr sterben in Deutschland über vierzigtausend Menschen an Alkohol«, erläuterte mir Louise, als wäre ich ein netter, aber etwas zurückgebliebener Onkel.

»Und über hunderttausend von Zigaretten«, fügte Sarah hinzu.

»Und für Ecstasy gibt’s noch nicht mal eine Statistik«, beendete Louise den Crashkurs zum Thema Gefährlichkeit von Drogen.

»Trotzdem. Ich will nicht, dass ihr solche Sachen nehmt.«

»Wir nehmen es ja nicht«, behauptete Sarah. »Nicht dauernd.«

»Im Gegensatz zu dir«, sekundierte Louise patzig. »Du trinkst ja jeden Tag Wein.«

»Aber ihr nehmt es hin und wieder?»

»Okay«, gab Sarah mit Leidensmiene zu. »Wir haben es mal probiert, und es war ziemlich cool, und dann haben wir es wieder gelassen.«

»Machen doch alle«, assistierte Louise. »Man muss es mal probiert haben, damit man mitreden kann.«

Hatte ich erwartet, dass meine Töchter auf einem drogenfreien Mond lebten? Heute, wo dieses widerliche Gift an jeder Ecke verkauft wurde? Und aufgrund des weltweiten Überangebots und verschwindend geringer Herstellungskosten immer billiger wurde?

»Das heißt, ihr nehmt nichts mehr davon?«

Achselzucken.

»Mal so, mal so«, murmelte Sarah.

»Nicht so oft.«

»Wie oft?«

Wieder Achselzucken.

»Einmal die Woche? Einmal im Monat?«

»Paps, bitte!«

»Und wo kriegt ihr das Dreckszeug her?«

Sie tauschten Blicke. Sahen wieder auf ihre Teller.

»Wird das etwa auch an eurer Schule verkauft?«

Energisches Kopfschütteln.

»Also doch von Henning?«

Empörte Blicke.

»Abends im Club?«

Zögerndes Kopfschütteln.

Ich atmete tief durch. »Von Freunden?«

Kein Kopfschütteln.

»Von … etwa von Lea?«

Kaum wahrnehmbares Nicken.

Ich beugte mich vor. »Sie dealt mit Drogen?«

Dann hatte Henning also bei seinem Einbruch nicht nur ihren Laptop mitgehen lassen, sondern auch ihren Drogenvorrat in Sicherheit gebracht? Um sie zu schützen? Oder weil sie ihn darum gebeten hatte? Wollte sie für länger verschwinden? Und hatte Henning das gewusst?

»Dealen würd ich es nicht nennen«, sagte Louise unglücklich.

»Sie verkauft echt nur wenig«, ergänzte Sarah. »Dealen ist was anderes.«

»Damit ist also klar, woher sie ihr vieles Geld hat.«

Keine Reaktion.

»Und wo kriegt sie die Pillen her?«

»Wissen wir nicht. Aber ihre Ware ist sauber. Das ist guter Stoff.«

Das einzig Gute an der Sache war, überlegte ich, als ich später den Tisch abräumte: Endlich hatte ich das, was ich mir die ganze Zeit gewünscht hatte – einen Fall. Ich konnte eine Fahndung nach Lea in Gang setzen wegen Verdachts auf Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz.

War der Mann mit dem braunen Mercedes möglicherweise ihr Drogenlieferant gewesen?, fragte ich mich, als ich am Fenster stand, meinen Nachmittagscappuccino schlürfte und dem Regen beim trostlosen Regnen zusah. Hatte es Ärger gegeben wegen unbezahlter Lieferungen? Hatte Henning davon gewusst und ihr zu Hilfe kommen wollen? Hatte er Leas Lieferanten zur Rede gestellt und war an den Falschen geraten? Und was mochte das gewesen sein, worum Lea und der Mercedesfahrer angeblich gestritten hatten?

Fragen, nichts als Fragen.

Später ließ ich mich auf der Couch nieder, um ein wenig Schlaf nachzuholen, und plötzlich wurde mir bewusst, dass ich meine Töchter als Konsumenten outen musste, sollte ich Lea der Dealerei bezichtigen. Wollte ich das? Durfte ich das?

Über diesen schwierigen Gedanken schlief ich ein.

Die turbulente Nacht mit Theresa steckte mir noch in den Knochen.

Der Taucher begann seinen Einsatz am Montagmorgen um halb neun. Die Wassertemperatur betrug fünf Grad, die Lufttemperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt, und es goss immer noch wie aus Kübeln, was für einen Taucher aber vermutlich kein Problem darstellte. Bereits eine Dreiviertelstunde später meldete Kehl Erfolg. Ich bat darum, Leas zertretenen Laptop per Kurier und mit Blaulicht nach Heidelberg zu schicken, und warnte Sven Balke vor, einen meiner jungen und motivierten Mitarbeiter. Vielleicht hatte die Festplatte das Bad im eisigen Rheinwasser überlebt, und ich würde mir in Kürze ansehen können, was Henning so verstört hatte.

»Festplatten sind ja nun mal von Natur aus wasserdicht«, hatte Balke mir erklärt. »Wenn das Ding nicht allzu lange im Wasser gelegen hat, dann haben wir gute Chancen.«

Der Streifenwagen brauchte für die hundertsiebenundzwanzig Kilometer von Kehl nach Heidelberg sensationelle vierundvierzig Minuten. Als der junge Fahrer in blauer Uniform mit einer quietschgelben Plastikkiste unter dem Arm in mein Büro stürmte, glänzten seine Augen vor Stolz und Adrenalin.

»Das war mal cool!«, verkündete er atemlos. »Wusst gar nicht, dass die Karre fast zweihundertzwanzig macht!«

Er knallte die Kiste auf meinen Schreibtisch, in der die traurigen Reste eines teuren und vor Nässe triefenden Laptops lagen. Das Gerät war gründlich zertrümmert. Überall quollen Computereingeweide heraus, der Monitor lag lose auf. Noch bevor ich dazu kam, den Mann für seinen Einsatzwillen zu loben, sprang die Tür auf, und Sven Balke platzte herein. Als Digital Native war er einer der wenigen in unserer Direktion, die wirklich etwas von Computern verstanden. Balke stammte aus dem hohen Norden, was man sah und hörte. Sein millimeterkurz geschnittenes Haar war hellblond, die blasse Haut stets sonnenbrandgefährdet. Außerdem war er muskulös und durchtrainiert und hatte diesen Blick, der Frauen fast jeden Alters unruhig werden lässt. Kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag war er – erst vor einigen Monaten – zum Hauptkommissar befördert worden.

»Das ist er?« Neugierig beäugte er den Inhalt der Kiste.

Ich verabschiedete den uniformierten Kurier mit ein paar anerkennenden Worten.

»Setzen Sie sich mal bitte kurz?«, sagte ich zu Balke, als der andere nach einem laschen Händedruck die Tür hinter sich geschlossen hatte. Mit irritiertem Blick nahm Balke Platz.

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«

»Versuchen Sie es.«

»Nehmen Sie manchmal … solche Pillen? Ecstasy? Sie müssen natürlich nicht antworten.«

Er senkte den Blick und betrachtete seine kräftigen Hände mit den sauber gefeilten Fingernägeln. »Geht’s um Ihre Töchter?«

»Ja.«

»Ich will es mal so sagen«, erwiderte er sehr zögernd und ohne aufzusehen. »Im Alter zwischen fünfzehn und vierzig finden Sie nicht allzu viele Menschen in Deutschland, die diese Pillchen nicht irgendwann mal probiert haben. Nehmen sie es denn regelmäßig?«

»Ich hoffe, nicht.«

Balke sah mir wieder ins Gesicht. »Chef, heute müssen die Kids sich auf dem Schulhof nicht dafür rechtfertigen, dass sie irgendwelche Sachen nehmen, sondern dafür, dass sie es nicht tun. Ihre Töchter liegen voll im Trend.«

»Schöner Trost. Wenigstens soll einen das Zeug nicht gleich süchtig machen. Aber es ist so viel getürkte oder gestreckte Ware auf dem Markt. Und ständig gibt es neue Abarten. Sachen, die teilweise schon beim ersten Mal körperlich abhängig machen.«

»Die Kids sind heute viel besser informiert als wir früher«, sagte Balke ruhig. »Die sind vernetzt, stehen rund um die Uhr in Kontakt. Wenn irgendwo schlechte Ware auftaucht, dann findet der Dealer schon am nächsten Tag keinen Kunden mehr.«

Als Sönnchen irgendwann im Verlauf dieses regnerischen und zunehmend stürmischen Montagvormittags mein Büro betrat, lief ich mit den Händen auf dem Rücken im Kreis herum wie ein depressiver Tiger.

»Sorgen?«, fragte sie erschrocken.

Ich zuckte die Schultern.

»Wegen diesem Mädchen?«

»Auch.«

Leise legte sie die Unterschriftenmappe auf den Schreibtisch und nahm auf einem der Besucherstühle Platz. Auch heute hatte sie wieder ein ausgesucht hübsches Kleid an, dessen fröhliche Farben ganz und gar nicht zu meiner miserablen Laune passten. Ich lief weiterhin im Kreis, weil ich nicht mehr sitzen konnte. Erst vor einer halben Stunde hatte ich mit der Staatsanwaltschaft telefoniert und mir eine Abfuhr mit Sternchen geholt.

»Wenn wir jeden Jugendlichen zur europaweiten Fahndung ausschreiben wollten, der mal ein paar Pillchen verkauft hat«, hatte mir die leitende Oberstaatsanwältin, Frau Dr. Steinbeißer, fast mitleidig erklärt. »Du liebe Güte, wie stellen Sie sich das denn vor?«

»Ich würde zu gern wenigstens eine offizielle Vermisstenmeldung losschicken«, sagte ich zu meiner Sekretärin, der das späte Liebesglück aus den Augen leuchtete. »Aber nicht mal das kann ich.«

»Und wenn Sie’s einfach trotzdem machen?«

Ich blieb vor ihr stehen und sah sie finster an. »Mit welcher Begründung? Wenn die Staatsanwaltschaft davon Wind bekommt, dann müssen Sie sich demnächst an einen neuen Chef gewöhnen.«

»Und wenn es ein Missverständnis gibt? Zwischen Ihnen und mir? So was kommt immer wieder mal vor. Ich versteh irgendwas falsch und leite die Vermisstenmeldung ein, weil ich – dumm, wie ich manchmal bin – irgendwas falsch verstanden hab?«

»Das könnte ich natürlich auf gar keinen Fall gutheißen.« Ich seufzte und begann wieder, meine Kreise zu drehen. »Andererseits – nur, wo nicht gearbeitet wird …«

»… passieren keine Fehler.«

So stand Lea Lassalle zwei Stunden später europaweit auf der Liste der vermissten Personen mit dem jeden Polizisten in erhöhte Aufmerksamkeit versetzenden Zusatz: »Gewaltverbrechen nicht auszuschließen«.