39
Werner Plakowsky sah frischer aus als bei unserem letzten Gespräch. Das änderte sich innerhalb von Sekunden, als ich eines der Fotos auf den Tisch legte und dazu sagte: »Zweiter Dezember, zwanzig Uhr siebenundfünfzig.« Dann legte ich das nächste Bild daneben. »Zwanzig Uhr achtundfünfzig.«
Obwohl die Szene für einen Nichteingeweihten schwer zu deuten war, hatte der Lehrer sofort begriffen, worum es ging.
»Woher stammen diese Aufnahmen?«, wollte der Anwalt in strengem Ton wissen.
»Von einem Nachbarn, zufällig gemacht.«
»Aha …?« Er begann, eifrig zu tippen. »Das ist ja interessant.«
»Wo waren Sie in der Nacht, als Lea verschwunden ist?«, fragte ich Plakowsky.
»Schnaps kaufen«, murmelte er unglücklich, nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte. »Ich war schon fast besoffen, aber dann ist mir der Wodka ausgegangen. Hatte ich vergessen, sorry.«
»Das muss aber eine Menge Schnaps gewesen sein«, meinte Vangelis. »Sie sind um kurz vor neun weggefahren und waren um fünf Uhr morgens noch nicht zurück.«
»Stimmt nicht. Ich bin nur ein paar Minuten weg gewesen.«
Wortlos legte ich das dritte Foto auf den Tisch und deutete auf die Ecke, wo die Uhrzeit zu lesen war.
»Habe woanders geparkt«, behauptete Plakowsky daraufhin. »Hatte ich auch vergessen, sorry.«
»Wo genau?«
»Gleich hinter der Einfahrt. Da war jede Menge Platz, und ich …« Er senkte den Blick. »Hatte ja schon einiges intus. Eigentlich hätte ich gar nicht mehr fahren dürfen. Aber das war mir egal. Mir war alles egal an dem Tag. Einfach alles.«
»Wo haben Sie denn Ihren Wodkanachschub gekauft?«, wollte Vangelis freundlich wissen. »Um acht machen die Supermärkte zu.«
»In der Kneipe.« Er nannte uns den Namen eines Lokals nur wenige Straßen weiter. »Der Wirt ist ein Kumpel von mir. Verkauft mir das Zeug zum Einkaufspreis.«
»Trinken Sie oft?«, fragte ich.
»Manchmal«, erwiderte er kleinlaut. »Normalerweise nicht. Aber an dem Tag, ich … war am Ende.«
Der Anwalt zog es inzwischen vor, mit finsterer Miene zuzuhören und hin und wieder eine Notiz einzutippen. Vermutlich hatte er die Hoffnung aufgegeben, seinen Mandanten rasch freizubekommen, und bastelte bereits an seiner Verteidigungsstrategie.
Ich lehnte mich zurück. Plakowsky starrte auf den Tisch. Seine Hände waren unruhig. Er schwitzte.
»Finden Sie nicht, dass es allmählich an der Zeit wäre, reinen Tisch zu machen?«, sagte ich betont entspannt. »Sie machen es doch immer noch schlimmer, wenn Sie weiter leugnen.«
»Fragen Sie doch den Wirt!«, fuhr er mich an. »Rufen Sie ihn an! Er wird Ihnen bestätigen, dass ich da war!«
Vangelis ging mit dem Handy in der Hand hinaus. Als sie nach drei Minuten wieder hereinkam, schüttelte sie den Kopf.
»Ihr Freund kann sich erinnern, dass Sie vor einiger Zeit eine Flasche Wodka bei ihm gekauft haben«, sagte sie fast entschuldigend und setzte sich wieder. »Den genauen Tag weiß er aber nicht mehr. Und das Geld geht nicht durch die Kasse.«
Plakowsky fiel in sich zusammen.
»Möglich, dass Sie Schnaps kaufen waren«, setzte ich nach, um ihm keine Pause zum Nachdenken zu gönnen. Aber noch immer war der Ton des Gesprächs entspannt. »Ebenso gut möglich, dass Sie nach Straßburg gefahren sind. Sie haben gewusst, dass Lea dort war. Sie hatten eine rasende Wut auf sie. Und vor allem hatten Sie begründete Angst um Ihre Existenz. Sie haben gedacht, wenn Sie das Mädchen so weit weg von Heidelberg entfernt verschwinden lassen, dann wird man Sie nicht verdächtigen.«
»Unsinn«, behauptete Plakowsky kraftlos. »Wenn es so gewesen wäre, wenn ich hingefahren wäre, dann wäre ich doch erst angekommen, als die längst auf dem Heimweg waren.«
»Allerdings ohne Lea.«
Sein Blick war ausdruckslos, die Stimme matt, als er fragte: »Woher sollte ich das wohl wissen?«
Mein Handy vibrierte in der Hosentasche. Vermutlich wieder meine Töchter, die sich beschweren wollten, weil es kein Frühstück gab. Ich ließ es brummen. Ein paar Minuten noch, dann hatte ich ihn. Er war kurz davor aufzugeben. Zusammenzubrechen. Zu reden. Endlich zu reden. Nichts ist befreiender für einen Verdächtigen als der Augenblick, in dem er den Mund öffnet und das Lügen beendet.
»Vielleicht haben Sie es ja nicht gewusst. Vielleicht haben Sie gar nicht so weit gedacht, sondern sind einfach losgefahren.«
Plakowskys Blick wurde hasserfüllt. »Ich! Bin! Nicht! Da! Gewesen! Capito?«
Jetzt hatte er Angst. Und er geriet in Panik. Auch der Anwalt, der sich bisher demonstrativ entspannt gegeben hatte, wurde wieder unruhig.
Mein Handy begann erneut zu brummen.
»Kommen wir zurück zu Ihrem Auto. Wo genau haben Sie geparkt, nachdem Sie angeblich Schnaps kaufen waren?«
»Irgendwo gleich hinter der Einfahrt vom Parkplatz. Links, glaube ich. Da ist so viel Platz gewesen. Es hat ein bisschen geregnet. Und … Mein Gott, ich war total fertig … War mir doch scheißegal, wo …«
Er begann, bestimmte Worte zu wiederholen. Seine Sprache wurde einfacher. Jetzt nicht lockerlassen. Jetzt musste es Schlag auf Schlag gehen.
Ich schob meinen Block und einen Bleistift über den Tisch.
»Zeichnen Sie eine Skizze.«
»Ich hatte schon was getrunken«, jammerte der Lehrer. »Ich … verdammt, ich weiß doch heute nicht mehr, wo genau ich die Karre abgestellt habe. Irgendwo eben. Gleich hinter der Einfahrt. Es geht von der Straße eine Rampe hoch, und auf dem ersten freien Platz habe ich die Kiste stehen lassen. Ziemlich schief, vermutlich.«
Das Handy wollte sich gar nicht wieder beruhigen.
»Gehen wir noch mal einen Tag zurück. Wie war das genau mit Lea? Beschreiben Sie bitte noch mal, was in der Nacht passiert ist.«
»Ich habe …« Plakowsky starrte jetzt auf seine Knie. »Ich wollte sie nicht verletzen. Ich wollte ihr nur Angst machen.«
»Und davon hat sie anschließend geblutet wie ein Schwein?«, stieß Klara Vangelis wütend hervor. Es kam selten vor, dass sie ihre Umwelt an ihren Gefühlen teilnehmen ließ. »Das ganze Bad war voller Blut!«
»Haben Sie ihr mit dem Messer gedroht?«, fiel ich ein, als Plakowsky nicht gleich antwortete. »Sind Sie ihr beim Drohen ein bisschen zu nah gekommen? Haben sie aus Versehen geschnitten?«
»Ja«, flüsterte Plakowsky endlich. »Es stimmt. Ich habe ihr mit dem Messer gedroht. Wollt ich erst gar nicht. Erst wollt ich sie nur losschneiden. Aber wie ich mit dem Messer reinkomme und das Licht anmache, da guckt die mich an … Die hat echt gedacht, jetzt ist sie dran. Und da habe ich ein bisschen vor ihrer Nase rumgefuchtelt. Und sie angebrüllt und vielleicht auch noch mal ein bisschen geschüttelt. Aber dann habe ich sie losgemacht. Ehrlich. Mit dem Messer. Das Klebeband durchgeschnitten. Mehr wollte ich nicht. Wirklich. Nur das Klebeband. Ich hatte sie doch … Ich wollte … Es war ein Unfall. Ein Unfall …«
Im Raum war es vollkommen still, als die Stimme des Lehrers versagte. Sein Atem ging stoßweise, als wäre er soeben eine weite Strecke gelaufen.
Mein Handy hatte endlich aufgegeben.
Der Anwalt blickte konzentriert auf den Monitor seines kleinen Computers, als würde er überlegen, was er noch notieren könnte. Inzwischen war ich überzeugt, dass er die erste Runde verloren gegeben hatte.
Es klopfte leise an der Tür.
Balke streckte den blassblonden Bürstenkopf herein und gab Vangelis einen Wink. Sie erhob sich lautlos und ging hinaus. Die Tür schloss sich.
»Was hätte das denn für einen Sinn gehabt?«, murmelte Plakowsky tonlos. »Sie verletzen und dann laufen lassen? Sie wäre doch … Sie hätte doch … Wenn, dann hätte ich sie wirklich umbringen müssen …«
»Vielleicht hatten Sie ja genau das vor? Aber irgendwie ist es schiefgegangen. Oder Sie haben es im letzten Moment doch nicht gekonnt. Das kommt vor. Und deshalb sind Sie dann am nächsten Tag …«
»So meine ich das doch nicht, Himmel noch mal!«, schrie er und schlug verzweifelt auf den Tisch. »Ich wollte sie nicht umbringen. Keine Sekunde. Nicht am Donnerstag und nicht am Freitag. Ich war in der Kneipe, und ich habe Wodka gekauft, und dann bin ich wieder nach Hause und habe mir die Kante gegeben.«
»Hätte ich an Ihrer Stelle auch getan, wenn ich am Tag davor um ein Haar meine Schülerin erstochen hätte.«
»Ich wollte sie nicht verletzen«, winselte er, jetzt wirklich am Ende. »Sie war schuld. Sie. Ich habe sie losgeschnitten, erst die Beine, da hat sie gleich wie verrückt nach mir getreten, und wie ihre Hände frei waren, da hat sie angefangen, um sich zu schlagen wie irre. Wie irre. Ich habe sie angeschrien, sie soll sich nicht so anstellen, es ist doch gar nichts passiert. Sie wollte mir das Messer wegreißen, und es ist ein Riesendurcheinander gewesen, und auf einmal hat sie am Hals geblutet. Sie hat es gemerkt, ich habe es auch gemerkt, für eine Sekunde waren wir beide … ganz erstarrt. Dann hat sie die Hand draufgedrückt und ist rückwärts. Und zwischen ihren Fingern ist das Blut geströmt. Geströmt. Es war schrecklich. Ich wollte ihr helfen, aber ich hatte immer noch das Messer in der Hand, und … ich weiß nicht … Wir haben uns angeschrien. Ich wollte ihr helfen, und sie dachte, ich will sie abstechen. Und auf einmal hat sie sich ein Handtuch gegriffen, hat es auf die Wunde gedrückt und ist fort. Wie der Teufel ist sie fort. Wie der Teufel.«
»Das kann so gewesen sein«, erwiderte ich leise. »Ihre Geschichte passt zu den Spuren, die meine Leute gefunden haben. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass Sie nicht am nächsten Abend …«
Vangelis kam mit leerem Gesicht wieder herein, sank auf ihren Stuhl und legte das Handy auf den Tisch, als wollte sie es nie wieder in die Hand nehmen.
»In der Nacht hab ich geputzt.« Plakowsky redete einfach weiter, als führte er Selbstgespräche. »Wie ein Wahnsinniger habe ich geputzt. Am Hals war sie verletzt. Das hätte so leicht ins Auge gehen können. Eine Schlagader, wie leicht hätte eine Schlagader verletzt werden können, und … Es hätte alles noch so viel schlimmer ausgehen können. Drei Mal habe ich geputzt, drei Mal. Vielleicht auch öfter. Ich weiß nicht.«
Vangelis schrieb etwas auf einen Zettel, beobachtete ich aus den Augenwinkeln, schob ihn zu mir herüber.
»Kommen wir noch mal zu dem Abend, als Sie angeblich Schnaps kaufen waren …«
Ich warf einen Blick auf den Zettel.
»Lea lebt«, las ich.
Plakowsky plapperte unterdessen weiter: »Im Flur, da war auch Blut. Und man weiß ja, dass Sie mit Ihren technischen Möglichkeiten heute auch die allerwinzigsten Blutspuren noch finden. Ich dachte, vielleicht stirbt sie. Vielleicht liegt sie irgendwo da draußen und verblutet. Und dann kommt natürlich die Polizei, und im Treppenhaus, da ist auch Blut gewesen. Nicht so viel, Gott sei Dank, nicht so viel. Das durfte nicht so bleiben, ich musste doch …«
Sie lebte.
Lea lebte.
Ich war nicht in der Lage, Plakowskys Redefluss zu unterbrechen.
»Ich habe mich volllaufen lassen und später das Treppenhaus noch mal geputzt. Lange nach Mitternacht. Damit da auch wirklich nichts mehr war. Mir war klar, dass auch auf dem Gehweg Blut sein musste. Aber ich konnte doch nicht … Irgendwann bin ich auf dem Sofa eingeschlafen. Am nächsten Morgen habe ich in der Schule angerufen und mich krankgemeldet. Habe später einen schweren Rüffel kassiert dafür.«
»Was haben Sie mit dem Messer gemacht?«, fragte Vangelis, da mit mir im Moment nicht zu rechnen war.
Lea lebte.
»Das habe ich am Morgen in eine Tüte gepackt und irgendwo in einen kleinen Tümpel geschmissen. In der Nähe vom Motodrom war das, im Wald, bei Hockenheim. Ich bin laufen gewesen, am nächsten Morgen. Ich musste mich bewegen. Ich wäre tot umgefallen, wenn ich mich nicht ausgetobt hätte. Laufen bis zur völligen Erschöpfung. Wo genau das war, wo ich das Messer versenkt habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich würde das Matschloch wiederfinden.«
»Sie haben zu ihr gesagt, Sie würden sie umbringen.« Endlich hatte ich meine Sprache wiedergefunden.
Plakowsky nickte eifrig. Er war jetzt in der Phase, in der ein Schuldiger gar nicht mehr aufhören kann zu reden. »Habe ich, ja. Mehr als einmal und ziemlich laut.«
»Sieht so aus, als hätte Lea Ihre Drohung ernst genommen.«
»Denken Sie, dass sie deshalb … Ist sie deshalb verschwunden? Weil sie … Angst vor mir hatte?«
Ich schob meinen Stuhl zurück und erhob mich. »Wir machen jetzt erst mal Schluss. Lea Lassalle ist am Leben, habe ich soeben erfahren. Wir …« Ich musste husten. »Wir machen dann später weiter. Morgen. Man wird sehen.«