Thomas und seine Männer verließen Astarac am frühen Nachmittag, ihre Pferde beladen mit frischem Fleisch, Kochtöpfen und allem, was irgendeinen Wert hatte und sich auf dem Marktplatz von Castillon d’Arbizon verkaufen ließ. Immer wieder warf Thomas Blicke zurück und fragte sich, weshalb er für diesen Ort so gar nichts empfand. Dennoch wusste er, dass er zurückkommen würde. In Astarac lagen Geheimnisse verborgen, und er musste sie ans Licht holen.
Nur Robbies Pferd war nicht mit Raubgut bepackt. Er war als Letzter zu der Gruppe zurückgekehrt, mit einem seltsam ruhigen, zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht. Er hatte keine Erklärung dazu abgegeben, weshalb er so spät kam und warum er das Kloster verschont hatte, sondern Thomas nur kurz zugenickt und sich in den Reitertrupp eingereiht, der sich wieder auf den Weg nach Westen machte.
Sie würden erst spät zu Hause sein, wahrscheinlich erst nach Einbruch der Dunkelheit, doch das beunruhigte Thomas nicht weiter. Die coredors würden nicht angreifen, und falls der Graf von Berat Truppen geschickt hatte, um sie auf dem Heimweg abzufangen, würden sie diese von den Hügelkuppen aus sehen. So ritt er sorglos dahin, während das Dorf hinter ihnen in Schutt und Elend lag.
«Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?», fragte d’Evecque.
«Nein.»
D’Evecque lachte. «Du bist mir ein feiner Sir Galahad!» Er sah hinunter auf die Beute, die an Thomas’ Sattel hing. «Du ziehst los, um den Heiligen Gral zu suchen, und kommst mit einem Haufen Ziegenhäute und einer Hammelkeule zurück.»
«Gebraten und mit Essigsauce wird das ein Festmahl», erwiderte Thomas.
D’Evecque blickte über die Schulter. Ein Dutzend coredors war ihnen auf die Hügelkette gefolgt. «Diesen Nichtsnutzen müssen wir mal eine Lektion erteilen.»
«Werden wir», sagte Thomas, «werden wir.»
Robbie übernahm wieder die Vorhut, doch auf halbem Weg, als die Sonne wie ein roter Ball über dem Horizont hing, wendete er sein Pferd und ritt zu Thomas zurück. Wiederum lenkte Geneviève, als sie ihn kommen sah, ihre Stute demonstrativ zur Seite, doch falls Robbie es bemerkte, ging er nicht darauf ein. Er blickte auf die Ziegenhäute, die an Thomas’ Sattel hingen. «Mein Vater hatte mal einen Umhang aus Pferdefell», sagte er, um das Schweigen zu brechen, das auf ihnen lastete. Dann schaute er plötzlich betreten drein. «Ich habe nachgedacht.»
«Eine gefährliche Beschäftigung», erwiderte Thomas leichthin.
«Lord Outhwaite hat mir gestattet, dich zu begleiten», sagte Robbie, «aber meinst du, er wäre böse, wenn ich dich verlasse?»
«Mich verlassen?» Thomas sah ihn überrascht an.
«Ich kehre natürlich zu ihm zurück», sagte Robbie. «Hinterher.»
«Was soll das heißen, hinterher?», fragte Thomas misstrauisch. Robbie war ein Gefangener, und wenn er sich von Thomas trennte, war es seine Pflicht, zu Lord Outhwaite nach Nordengland zurückzukehren und dort zu warten, bis sein Lösegeld bezahlt war.
«Es gibt etwas, das ich tun muss, um meiner Seele willen.»
«Ah», sagte Thomas, nun seinerseits betreten. Er blickte auf das silberne Kruzifix, das um den Hals seines Freundes hing. Robbie starrte auf einen Bussard, der auf der Suche nach Beute am dämmrigen Himmel kreiste. «Ich hab’s nie mit dem Glauben gehabt», sagte er leise. «Keiner der Männer in unserer Familie ist gläubig. Die Frauen natürlich schon, aber nicht die Douglas-Männer. Wir sind gute Soldaten und schlechte Christen.» Er verstummte, sichtlich verlegen, und warf Thomas einen verstohlenen Seitenblick zu. «Erinnerst du dich noch an den Geistlichen, den wir in der Bretagne getötet haben?»
«Natürlich.» Bernard de Taillebourg war ein Dominikanermönch und Inquisitor gewesen, der Thomas gefoltert und Guy Vexille geholfen hatte, Robbies Bruder zu ermorden, und Thomas und Robbie hatten ihn direkt vor einem Altar niedergemetzelt.
«Ich wollte ihn töten», sagte Robbie.
«Du hast damals gesagt, es gebe keine Sünde, die ein Priester nicht vergibt, wenn der Preis nur hoch genug ist, und ich nehme an, das schließt das Ermorden von Priestern ein.»
«Es war falsch von mir. Er war ein Mann der Kirche, und wir hätten ihn nicht töten dürfen.»
«Er war eine Ausgeburt des Teufels», entgegnete Thomas voller Abscheu.
«Er wollte genau das, was du auch willst», wandte Robbie ein, «und er hat getötet, um es zu bekommen, aber wir sind keinen Deut besser, Thomas.»
Thomas bekreuzigte sich. «Sorgst du dich um meine Seele», fragte er spöttisch, «oder um deine?»
«Ich habe mit dem Abt von Astarac gesprochen», sagte Robbie, «und ihm von dem Dominikaner erzählt. Der Abt meinte, ich hätte etwas Schreckliches getan, und mein Name stünde auf der Liste des Teufels.» Dies war die Sünde gewesen, die Robbie gebeichtet hatte. Doch Planchard hatte Robbie beim Wort genommen und mit strenger Miene zu ihm gesprochen. «Er hat mir befohlen, auf Pilgerreise zu gehen», fuhr Robbie fort. «Er hat gesagt, ich soll nach Bologna gehen und am Grab des heiligen Dominikus beten und ich würde ein Zeichen empfangen, wenn Dominikus mir meine Tat vergibt.»
Nach dem morgendlichen Gespräch mit d’Evecque war Thomas bereits zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste war, wenn Robbie ging, und nun erleichterte Robbie ihm das Ganze sogar noch. Dennoch gab er sich widerstrebend. «Den Winter über kannst du doch noch bleiben», schlug er vor.
«Nein», sagte Robbie entschieden. «Ich muss etwas tun, Thomas, sonst bin ich verdammt.»
Thomas dachte an den Tod des Dominikaners, den flackernden Schein des Feuers auf den Zeltwänden, die beiden Schwerter, die auf den zuckenden, blutüberströmten Geistlichen eingehackt hatten. «Dann bin ich wohl auch verdammt, oder?»
«Deine Seele ist deine Sache», erwiderte Robbie, «und ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Aber der Abt hat mir gesagt, was ich tun soll.»
«Dann geh nach Bologna», sagte Thomas, bemüht, sich seine Erleichterung über Robbies Entschluss nicht anmerken zu lassen.
Es dauerte zwei Tage, bis Robbie herausgefunden hatte, wie er nach Bologna kam, doch ein Pilger, der in die Stadt gekommen war, um am Grab des heiligen Sardos zu beten, riet ihm, zunächst nach Astarac zurückzugehen und von dort Richtung Süden nach Saint-Gaudens. Dort würde er auf eine vielbefahrene Straße kommen, wo er sich Händlern anschließen konnte, die in Wagenzügen reisten und einen jungen, kräftigen Soldaten jederzeit willkommen heißen würden. «Von Saint-Gaudens wendet Ihr Euch nach Norden, Richtung Toulouse», sagte der Pilger. «Dort solltet Ihr auf jeden Fall am Schrein des heiligen Saturninus haltmachen und ihn um seinen Schutz bitten. Die Kirche St. Sernin besitzt eine der Peitschen, mit der unser Herr gegeißelt wurde. Gegen einen Obolus dürft Ihr sie berühren, und dann werdet Ihr niemals erblinden. Von dort aus müsst Ihr weiter nach Avignon. Diese Straßen sind bewacht; Euch dürfte also nichts zustoßen. In Avignon müsst Ihr dann den Heiligen Vater um seinen Segen bitten und jemand anders fragen, wie Ihr von dort nach Osten kommt.»
Der gefährlichste Teil der Reise war der erste, und Thomas versprach, Robbie zu begleiten, bis Astarac in Sicht kam, damit er nicht den coredors in die Hände fiel. Außerdem gab er ihm eine Börse mit Goldmünzen aus der großen Truhe im Saal. «Es ist mehr als dein Anteil», sagte Thomas.
Robbie wog die Börse in der Hand. «Das ist zu viel.»
«Süßer Jesus, Mann, du musst in den Gasthäusern bezahlen. Nimm es. Und verspiel es um Himmels willen nicht.»
«Nein, ganz bestimmt nicht», sagte Robbie. «Ich habe Abbé Planchard versprochen, das Spiel aufzugeben, und er hat mich gezwungen, in der Abtei einen Eid zu schwören.»
«Und eine Kerze anzuzünden, hoffe ich.»
«Drei», sagte Robbie und bekreuzigte sich. «Ich muss allen Sünden abschwören, bis ich zum heiligen Dominikus gebetet habe, hat der Abbé gesagt.» Er schwieg einen Moment, dann lächelte er traurig. «Ich wollte mich noch entschuldigen, Thomas.»
«Was? Wofür?»
Robbie zuckte die Achseln. «Ich bin nicht gerade der beste Gefährte gewesen.» Weiter sagte er nichts, doch er wirkte beschämt, und an diesem Abend, als sie alle zusammen in dem großen Saal aßen, um Robbie zu verabschieden, gab der junge Schotte sich große Mühe, höflich zu Geneviève zu sein. Er gab ihr sogar von seinem Hammelfleisch, spießte ein besonders saftiges Stück mit seinem Messer auf und bestand darauf, es auf ihren Teller zu legen. Guillaume d’Evecque riss erstaunt sein Auge auf, Geneviève bedankte sich artig, und am nächsten Morgen brachen sie bei schneidendem Nordwind auf, um Robbie auf seinen Weg zu bringen.
Der Graf von Berat hatte Astarac erst ein einziges Mal besucht, und das war vor vielen Jahren gewesen, sodass er das Dorf, als er es jetzt erneut aufsuchte, kaum wiedererkannte. Die Hälfte aller Dächer war verbrannt, die Steinmauern waren schwarz von Ruß, und eine riesige Blutlache, übersät mit Knochen, Federn und Innereien, zeigte an, wo das Vieh geschlachtet worden war. Drei Zisterziensermönche teilten gerade Essen von einem Karren aus, als der Graf ankam, doch trotz dieser wohltätigen Geste stürzten die zerlumpten Dorfbewohner sofort auf den Grafen zu, rissen sich die Hauben vom Kopf, fielen auf die Knie und bettelten um ein Almosen.
«Wer hat das getan?», fragte der Graf.
«Die Engländer, Herr», antwortete einer der Mönche. «Sie waren gestern hier.»
«Beim Allmächtigen, dafür werden sie hundert Tode sterben», verkündete der Graf.
«Und ich werde sie ihnen zufügen», knurrte Joscelyn blutrünstig.
«Ich bin fast geneigt, dich auf sie loszulassen», sagte der Graf, «aber wie sollen wir in die Burg kommen?»
«Mit Kanonen.»
«Ich habe bereits die Kanone aus Toulouse angefordert», erwiderte der Graf gereizt. Er warf den Dorfleuten ein paar kleine Münzen zu, dann gab er seinem Pferd die Sporen. Er starrte zu der Burgruine auf dem Felsen, ritt jedoch nicht hinüber, denn es war spät, die Dunkelheit nahte, und er fror. Außerdem war der Graf erschöpft und wund geritten, und die ungewohnte Rüstung scheuerte an den Schultern, und so wandte er sich dem zweifelhaften Komfort des Klosters St. Sévère zu.
Die Mönche kehrten von der Arbeit zurück. Einer trug ein großes Bündel Anmachholz über der Schulter, andere Hacken und Spaten. Die letzten Trauben wurden geerntet, und zwei der Mönche führten einen Ochsenkarren, der mit Körben voll dunkler Früchte beladen war. Sie zogen den Karren beiseite, als der Graf und seine dreißig Soldaten klirrend auf die schlichten, schmucklosen Gebäude zuritten. Niemand in dem Kloster hatte mit Besuchern gerechnet, doch die Mönche begrüßten den Grafen freundlich, sorgten dafür, dass die Pferde untergestellt wurden und brachten die Soldaten in der Scheune zwischen den Weinpressen unter. In den Gästekammern, in denen der Graf, sein Neffe und Vater Roubert nächtigen würden, wurde ein Feuer entzündet. «Der Abbé wird Euch nach der Komplet begrüßen», teilte man dem Grafen mit, dann brachte man ihm ein Mahl aus Brot, Bohnen, Wein und geräuchertem Fisch. Der Wein des Klosters schmeckte sauer.
Der Graf entließ Joscelyn und Vater Roubert in ihre Kammern, schickte seinen Knappen, sich irgendwo ein Lager zu suchen, und setzte sich allein ans Feuer. Er fragte sich, warum Gott ihm die Engländer auf den Hals geschickt hatte. War das ebenfalls eine Strafe dafür, dass er sich nicht um den Gral gekümmert hatte? Alles deutete darauf hin, denn der Graf war mittlerweile überzeugt, dass Gott ihn auserwählt hatte. Noch eine letzte, große Aufgabe, dann würde er belohnt werden. Der Gral, dachte er ergriffen, das heiligste aller heiligen Dinge, und er war dazu ausersehen, es zu finden. Er fiel vor dem offenen Fenster auf die Knie, lauschte auf den Gesang der Mönche, der aus der Klosterkirche zu ihm heraufklang, und betete, dass seine Suche erfolgreich sein möge. Er betete, noch lange nachdem der Gesang verklungen war, und so fand Abbé Planchard den Grafen auf den Knien vor. «Störe ich?», fragte der Abt leise.
«Nein, nein.» Mühsam erhob sich der Graf von seinen schmerzenden Knien. Er hatte seine Rüstung abgelegt und trug einen pelzgefütterten Umhang und seine übliche wollene Haube. «Bitte verzeiht mir, Planchard, dass ich so unangemeldet über Euch herfalle. Ich bereite Euch sicher große Unannehmlichkeiten.»
«Nur der Teufel bereitet mir Unannehmlichkeiten», erwiderte der Abbé, «und ich weiß, dass Ihr nicht von ihm entsandt seid.»
«Ich hoffe nicht», sagte der Graf, setzte sich und sprang umgehend wieder auf. Wegen seines Rangs stand ihm der einzige Stuhl im Raum zu, aber der Abbé war so alt, dass der Graf sich verpflichtet fühlte, ihm die Sitzgelegenheit zu überlassen.
Doch der Abbé schüttelte den Kopf und setzte sich stattdessen auf den Fenstersims.
«Vater Roubert hat an der Komplet teilgenommen und hinterher mit mir gesprochen.»
Der Graf wurde unruhig. Hatte Roubert Planchard anvertraut, weshalb sie hier waren? Er hatte es dem Abbé selbst sagen wollen.
«Er ist sehr aufgebracht», sagte Planchard. Er sprach Französisch, das Französisch eines Adligen, elegant und präzise.
«Roubert ist immer aufgebracht, wenn er sich nicht wohl fühlt», erwiderte der Graf. «Es war eine lange Reise, und er ist das Reiten nicht gewohnt. Liegt ihm einfach nicht im Blut. Er hockt auf dem Pferd wie ein Krüppel.» Er verstummte, sah den Abbé blinzelnd an und stieß dann einen heftigen Nieser aus. «Gute Güte», schniefte er und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. «Roubert hängt mit krummem Rücken im Sattel. Ich sage ihm immer wieder, er soll sich gerade hinsetzen, aber er hört nicht auf mich.» Er nieste erneut.
«Ich hoffe sehr, Ihr habt Euch kein Fieber eingefangen», sagte der Abbé. «Der Anlass für Vater Rouberts Missstimmung war nicht Erschöpfung, sondern die Begine.»
«Ach ja, natürlich. Das Mädchen.» Der Graf zuckte die Achseln. «Ich glaube, er war ziemlich erpicht darauf, die Kleine brennen zu sehen. Wäre ja auch eine treffliche Belohnung für seine Mühen gewesen. Ihr wisst, dass er sie der Befragung unterzogen hat?»
«Mit glühendem Eisen, wie ich gehört habe», sagte Planchard, dann runzelte er die Stirn. «Wie eigenartig, eine Begine so weit hier unten im Süden. Sonst treiben sie sich doch im Norden herum. Aber ich nehme an, er ist sicher?»
«Absolut! Das arme Ding hat gestanden.»
«Das hätte ich auch, wenn man mich mit glühendem Eisen traktiert hätte», entgegnete der Abbé scharf. «Ihr wisst, dass sie mit den Engländern reitet?»
«Ja, das habe ich gehört. Eine üble Geschichte, Planchard, eine üble Geschichte.»
«Immerhin haben sie dieses Haus verschont», sagte der Abbé. «Seid Ihr deshalb gekommen? Um uns vor einer Ketzerin und den Engländern zu schützen?»
«Natürlich, natürlich», erwiderte der Graf, näherte sich dann jedoch dem wahren Anlass seiner Reise. «Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund, Planchard, einen sehr viel bedeutsameren Grund.» Er hatte erwartet, dass der Abbé fragen würde, was denn der Grund gewesen sei, doch der alte Mönch schwieg, und dem Grafen wurde unbehaglich zumute. Er fragte sich, ob Planchard ihn auslachen würde. «Vater Roubert hat Euch nichts davon gesagt?», fragte er.
«Er hat von nichts anderem gesprochen als von der Begine.»
«Ah.» Der Graf wusste nicht so recht, wie er das Ganze angehen sollte, und so stürzte er sich einfach in medias res, um zu sehen, ob der Abbé verstand, wovon er sprach. «‹Calix meus inebrians›», verkündete er und nieste noch einmal.
Planchard wartete, bis der Graf sich gesammelt hatte. «Die Psalmen Davids. Diesen mag ich besonders, vor allem den Anfang. ‹Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.›»
«‹Calix meus inebrians›», sagte der Graf, ohne auf Planchards Worte einzugehen, «war hier in Astarac über das Burgtor gemeißelt.»
«Tatsächlich?»
«Habt Ihr nichts davon gehört?»
«In diesem kleinen Tal hört man so vieles, dass man lernen muss, zwischen Ängsten, Träumen, Hoffnungen und der Wirklichkeit zu unterscheiden.»
«‹Calix meus inebrians›», wiederholte der Graf stur. Er vermutete, dass der Abbé sehr wohl wusste, wovon er sprach, aber nicht auf das Thema eingehen wollte.
Planchard musterte den Grafen eine Weile schweigend, dann nickte er. «Die Geschichte ist mir nicht neu. Euch auch nicht, wie ich annehme?»
«Ich glaube», sagte der Graf verlegen, «dass Gott mich mit einem bestimmten Ziel hierhergeschickt hat.»
«Oh, dann dürft Ihr Euch glücklich schätzen!» Der Abbé klang beeindruckt. «So viele Menschen kommen zu mir, um Aufklärung über Gottes Ziele zu erlangen, und alles, was ich ihnen sagen kann, ist, sie sollen wach sein, arbeiten und beten, und dann werden sie sie vielleicht eines Tages erkennen, aber der Herr offenbart Seine Ziele nur selten. Ich beneide Euch.»
«Ihr müsst sie doch kennen», gab der Graf zurück.
«Nein», sagte der Abbé ernst. «Gott hat mir lediglich das Tor zu einem Feld voller Steine, Disteln und Unkraut geöffnet und mir aufgetragen, es zu bestellen. Es war harte Arbeit, sehr harte Arbeit, und obwohl ich mich meinem Ende nähere, ist der größte Teil noch ungepflügt.»
«Erzählt mir die Geschichte.»
«Die Geschichte meines Lebens?», fragte Planchard mit leisem Spott.
«Nein», erwiderte der Graf, «die Geschichte des Bechers, der uns trunken macht.»
Planchard seufzte. Einen Moment lang sah er sehr alt aus. Dann erhob er sich. «Ich kann sogar noch mehr tun», sagte er. «Ich kann Euch etwas zeigen.»
«Zeigen?», fragte der Graf überrascht und erfreut.
Der Abbé trat an einen Schrank und nahm eine Hornlaterne heraus. Er entzündete den Docht mit einem Stück Glut aus dem Kamin und führte den aufgeregten Grafen durch einen dunklen Kreuzgang in die Klosterkirche. Unter einer Gipsstatue des heiligen Benedikt brannte eine kleine Kerze, die einzige Dekoration in dem spartanischen Gebäude.
Planchard nahm einen Schlüssel aus seiner Kutte und ging zu einer schmalen, halb verborgenen Tür in einer Nische neben dem Seitenaltar an der Nordseite der Kirche. Das Schloss sperrte sich, doch schließlich gab es nach, und die Tür öffnete sich knarzend. «Seid vorsichtig», mahnte der Abbé. «Die Stufen sind ausgetreten und sehr schlüpfrig.»
Mit schwankender Laterne stieg der Abbé eine steile, scharf nach rechts gewundene Steintreppe hinab, die in eine Krypta führte. Zwischen den mächtigen Pfeilern lagerten bis fast hinauf zu der gewölbten Decke Gebeine: Beinknochen, Armknochen und Rippen, gestapelt wie Feuerholz, und dazwischen hohläugige Schädel. «Die Brüder Eures Klosters?», fragte der Graf.
«Ja. Sie warten auf den geheiligten Tag der Auferstehung.» Planchard ging bis zum hinteren Ende der Krypta und trat geduckt durch einen niedrigen Bogen in eine kleine Kammer, in der sich eine alte Bank und eine Holztruhe mit Eisenbeschlägen befanden. Aus einer Nische holte er ein paar halb abgebrannte Kerzen und zündete sie an, sodass der kleine Raum in flackerndes Licht getaucht war. «Euer Urgroßvater, Gott sei gelobt, hat dieses Haus üppig beschenkt», sagte er und holte einen weiteren Schlüssel hervor. «Es war klein und sehr arm, doch Euer Vorfahre gab uns Land, um Gott für den Untergang des Hauses Vexille zu danken. Dieses Land ist groß genug, um uns zu ernähren, aber wiederum nicht so groß, dass es uns reich macht. Das ist auch gut und richtig so, aber wir besitzen einige wenige Dinge von Wert, und das hier ist sozusagen unsere Schatzkammer.» Er beugte sich über die Truhe, drehte den schweren Schlüssel herum und öffnete den Deckel.
Im ersten Moment war der Graf enttäuscht, denn er dachte, es sei nichts darin; doch als der Abbé eine der Kerzen darüberhielt, sah der Graf, dass in der Truhe ein angelaufener silberner Hostienteller, ein Lederbeutel und ein Kerzenhalter lagen. Der Abbé deutete auf den Beutel. «Das hier ist ein Geschenk von einem dankbaren Ritter, den wir in unserem Krankensaal geheilt haben. Er schwor, darin befinde sich der Gürtel der heiligen Agnes, aber ich muss gestehen, ich habe den Beutel noch nie geöffnet. Ich entsinne mich, dass ich ihren Gürtel in Basel gesehen habe, aber vielleicht besaß sie ja zwei? Meine Mutter hatte mehrere, aber sie war leider keine Heilige.» Auf die beiden Silbergeräte ging er nicht weiter ein, sondern nahm etwas heraus, das der Graf in der Dunkelheit der Truhe nicht bemerkt hatte. Es war eine kleine Holzkiste, und Planchard stellte sie auf die Bank. «Ihr müsst sie Euch genau ansehen. Sie ist alt, und die Farbe ist verblasst. Eigentlich wundert es mich, dass wir sie noch nicht verbrannt haben, aber aus irgendeinem Grund heben wir sie auf»
Der Graf setzte sich auf die Bank und nahm die Kiste hoch. Sie war quadratisch und recht flach, gerade groß genug für den Handschuh eines Mannes. Die Scharniere waren rostig, und als er den Deckel öffnete, sah er, dass sie leer war. «Das ist alles?», fragte er enttäuscht.
«Seht sie Euch genau an», sagte Planchard geduldig.
Der Graf betrachtete sie erneut. Das Innere der Holzkiste war gelb gestrichen, und diese Farbe war besser erhalten als die an der Außenseite. Dort war sie stark verblichen, doch er konnte erkennen, dass die Kiste einst schwarz gewesen war und ein Wappen auf dem Deckel getragen hatte. Das Wappen war ihm fremd und so alt, dass er kaum Einzelheiten ausmachen konnte, doch es schien einen Löwen oder ein anderes Tier zu zeigen, das aufgerichtet war und etwas in den Klauen hielt. «Ein Greif», sagte der Abbé. «Mit einem Kelch.»
«Ein Kelch? Ihr meint den Gral?»
«Das Wappen der Familie Vexille», sagte Planchard, ohne auf die Frage des Grafen einzugehen, «und den Gerüchten zufolge wurde der Kelch erst kurz vor der Zerstörung von Astarac hinzugefügt.»
«Warum sollten sie einen Kelch hinzufügen?», fragte der Graf, der Erregung in sich aufsteigen fühlte.
Wiederum ignorierte der Abbé seine Frage. «Seht Euch die Vorderseite der Kiste an.»
Der Graf drehte die Kiste, bis das Kerzenlicht auf die Vorderseite fiel. Dort waren Worte aufgemalt gewesen. Sie waren verblasst, und einige Buchstaben fehlten mittlerweile ganz, doch die Worte waren eindeutig. Eindeutig und wundersam. Calix Meus Inebrians. Der Graf starrte sie an, und bei dem Gedanken an das, was sie andeuteten, wurde ihm schwindlig, so schwindlig, dass er keinen Laut hervorbrachte.
«Die Kiste war leer, als man sie fand», sagte Planchard. «Jedenfalls hat Abbé Loix es mir so berichtet, Gott schenke seiner Seele Frieden. Es heißt, die Kiste habe in einem Schrein aus Gold und Silber gelegen, der auf dem Altar der Burgkapelle stand. Der Schrein ist sicher nach Berat gebracht worden, aber diese Kiste wurde dem Kloster überlassen. Vermutlich weil man sie für wertlos hielt.»
Der Graf öffnete die Kiste erneut, um daran zu schnuppern, doch seine Nase war vollkommen verstopft. Zwischen den Gebeinen in der Krypta liefen Ratten umher, doch er nahm das Getrappel gar nicht wahr, nahm überhaupt nichts wahr außer der Kiste und dem, was sie bedeutete: der Gral, ein Erbe, alles. Allerdings, dachte er, war die Kiste eigentlich zu klein für den Gral. Oder doch nicht? Wer wusste schon, wie der Gral aussah?
Der Abbé streckte die Hand nach der Kiste aus, um sie in die Truhe zurückzulegen, doch der Graf umklammerte sie. «Die Kiste war leer», sagte der Abbé streng. «In Astarac wurde nichts gefunden. Aus diesem Grund habe ich Euch hierhergeführt, damit Ihr Euch selbst davon überzeugen könnt. Man hat nichts gefunden.»
«Man hat das hier gefunden!», widersprach der Graf. «Und das beweist, dass der Gral hier war.»
«Glaubt Ihr wirklich?», fragte der Abbé traurig.
Der Graf deutete auf die verblasste Schrift an der Vorderseite der Kiste. «Was sollte das sonst bedeuten?»
«Es gibt einen Gral in Genua», sagte Planchard, «und die Benediktiner in Lyon behaupten, dass der Gral einst in ihrem Besitz gewesen sei. Weiterhin heißt es – walte Gott, dass es nicht stimmt –, der Gral befinde sich in der Schatzkammer des Kaisers in Konstantinopel. Dann gab es noch einen in Rom und einen in Palermo, obgleich Letzterer, wenn ich mich recht entsinne, ein Sarazenengefäß war, das auf einem venezianischen Schiff erbeutet wurde. Manche sagen, die Erzengel seien zur Erde hinabgestiegen und hätten ihn in den Himmel geholt, andere vertreten die Ansicht, er sei noch immer in Jerusalem, beschützt von dem Flammenschwert, das einst über das Paradies wachte. Der Gral wurde in Cordoba gesichtet, in Nîmes, in Verona und in zahlreichen anderen Orten. Die Venezianer behaupten, er befände sich auf einer Insel, die nur denjenigen erscheint, die reinen Herzens sind, und wieder andere beharren darauf, er sei in Schottland. Ich könnte ein ganzes Buch mit Geschichten über den Gral füllen.»
«Er war hier», beharrte der Graf störrisch. «Er war hier, und vielleicht ist er noch immer hier.»
«Nichts wäre mir lieber», sagte Planchard, «doch wie können wir hoffen, dort Erfolg zu haben, wo selbst Parsifal und Gawain scheiterten?»
«Es ist eine Botschaft von Gott», behauptete der Graf unbeirrt, die Kiste fest an die Brust gedrückt.
«Ich glaube eher, es ist eine Botschaft der Vexilles», sagte der Abbé mit Bedacht. «Ich vermute, sie haben die Kiste angefertigt und bemalt und sie hier zurückgelassen, um uns an der Nase herumzuführen. Sie sind geflohen und wollten uns glauben machen, sie hätten den Gral mitgenommen. Ich glaube, diese Kiste ist ihre Rache. Ich würde sie verbrennen.»
Der Graf weigerte sich, die Kiste wieder herzugeben. «Der Gral war hier», wiederholte er.
Der Abbé gab auf, klappte den Deckel zu und verschloss die Truhe. «Wir sind ein kleines Haus», sagte er, «aber wir sind nicht völlig von der großen Kirche abgetrennt. Ich bekomme Briefe von meinen Brüdern, und ich höre Dinge.»
«Zum Beispiel?»
«Kardinal Bessières ist auf der Suche nach einer bedeutenden Reliquie.»
«Und er sucht hier!», sagte der Graf triumphierend. «Er hat einen Mönch entsandt, um meine Archive durchzusehen.»
«Wenn Bessières im Dienste Gottes etwas sucht», warnte Planchard, «könnt Ihr sicher sein, dass er vor nichts haltmacht.»
Der Graf ließ sich nicht beirren. «Ich habe eine Aufgabe bekommen», verkündete er.
Planchard griff nach der Laterne. «Ich kann Euch nichts weiter dazu sagen, denn mir ist nichts zu Ohren gekommen, was darauf hinweist, dass der Gral in Astarac ist, aber eines weiß ich, und zwar so sicher, wie ich weiß, dass meine Knochen bald bei meinen Brüdern hier im Beinhaus ruhen werden. Die Suche nach dem Gral treibt die Menschen in den Wahnsinn. Er blendet sie, verwirrt ihre Sinne und lässt sie zerbrochen zurück. Er ist ein gefährliches Ding, und man sollte ihn besser den Troubadouren überlassen. Lasst sie darüber singen und Balladen schreiben, aber um der Liebe Christi willen, setzt Eure Seele nicht aufs Spiel, indem Ihr Euch auf die Suche danach macht.»
Doch selbst wenn die Warnung des Abbés von einem Engelschor gesungen worden wäre, hätte der Graf nicht darauf gehört.
Er hatte die Kiste, und sie war der Beweis für das, was er glauben wollte.
Der Gral existierte, und er war ausersehen, ihn zu finden. Und das würde er.
Thomas hatte nicht vorgehabt, Robbie den ganzen Weg bis nach Astarac zu begleiten. Das Tal, in dem das verarmte Dorf lag, war bereits geplündert, deshalb hatte er geplant, sich das Tal daneben vorzunehmen, in dem mehrere vielversprechende Weiler lagen, aufgereiht entlang der Straße nach Masseube, und während seine Männer ihr Teufelswerk verrichteten, würde er mit Robbie und einem kleinen Begleittrupp bis zu der Hügelkette oberhalb von Astarac reiten. Wenn von dort keine coredors oder sonstigen Feinde zu sehen waren, sollte der junge Schotte allein weiterziehen.
Wiederum hatte Thomas seine gesamte Horde mitgenommen, abgesehen von den zehn Männern, die die Burg von Castillon d’Arbizon bewachten. Er ließ seine Plünderer in einem kleinen Dorf am Ufer des Gers zurück und machte sich mit Robbie, zehn Bogenschützen und ebenso vielen Soldaten auf den Weg zur nächsten Hügelkette. Geneviève blieb bei Guillaume d’Evecque, der in dem Dorf einen großen Grabhügel entdeckt hatte. Er schwor, an solchen Orten hätten die Menschen früher, bevor das Christentum die Welt erleuchtet hatte, ihr Gold versteckt, und befahl einigen Männern, die Schaufeln zu holen und zu graben. Thomas und Robbie überließen sie ihrer Schatzsuche und ritten weiter, einen gewundenen Pfad hinauf, der durch Kastanienhaine führte, wo die Bauern Zweige schnitten, um damit die frischgepflanzten Weinstöcke zu stützen. Sie sahen keine coredors, und sie hatten auch während des ganzes Weges keine Feinde zu Gesicht bekommen, doch Thomas nahm an, dass es wohl nicht mehr lange dauern würde, bis die Räuber die große Rauchwolke bemerkten, die jetzt von dem Signalfeuer unten im Dorf aufstieg.
Robbie war nervös, was er mit oberflächlichem Geplauder zu überspielen versuchte. «Erinnerst du dich noch an den Stelzenmann in London?», fragte er. «Der jongliert hat, während er auf seinen Stelzen stand? Der war gut. Und schön war’s da. Was hat es noch gekostet, in dem Gasthof zu übernachten?»
Thomas wusste es nicht mehr. «Ein paar Pennys, schätze ich.»
«Ich meine, das sind doch alles Betrüger, oder?», fragte Robbie besorgt.
«Wer?»
«Die Gastwirte.»
«Sie versuchen zu handeln», erwiderte Thomas. «Aber einen Penny nehmen sie immer noch lieber als gar nichts. Außerdem wirst du meist in Klöstern übernachten können.»
«Ja, das stimmt. Aber denen muss man doch auch was geben, oder?»
«Nur eine kleine Spende», sagte Thomas. Sie waren auf der kahlen Hügelkuppe angekommen, und Thomas hielt Ausschau nach Feinden, sah jedoch keine. Er wunderte sich über Robbies seltsame Fragen, doch dann begriff er, dass der Schotte zwar furchtlos in die Schlacht ritt, aber offenbar ein wenig Angst davor hatte, allein zu reisen. Es war eine Sache, im eigenen Land unterwegs zu sein, wo man sich überall verständigen konnte, aber eine ganz andere, Hunderte von Meilen durch Gegenden zu reiten, in denen ein Dutzend verschiedene Sprachen gesprochen wurden. «Am besten suchst du dir andere Reisende, die den gleichen Weg haben wie du», sagte Thomas. «Davon gibt es bestimmt eine Menge, und alle freuen sich über Gesellschaft.»
«Hast du das damals auch gemacht, als du von der Bretagne in die Normandie gewandert bist?»
Thomas grinste. «Nein, ich habe mir die Kutte eines Dominikaners übergezogen. Niemand will mit einem Dominikaner reisen, aber überfallen will ihn auch keiner. Du wirst schon zurechtkommen, Robbie. Jeder Händler wird dich begeistert aufnehmen. Ein junger Mann mit einem scharfen Schwert? Die werden dir ihre schönsten Töchter anbieten, damit du mit ihnen reist.»
«Ich habe einen Eid geschworen», sagte Robbie niedergeschlagen, dann überlegte er einen Moment. «Liegt Bologna in der Nähe von Rom?»
«Kann ich dir nicht sagen.»
«Ich würde mir Rom gerne mal ansehen. Glaubst du, der Papst kehrt irgendwann dahin zurück?»
«Weiß der Himmel.»
«Soll jedenfalls sehr schön sein», sagte Robbie sehnsüchtig. Dann grinste er. «Ich werde ein Gebet für dich sprechen, wenn ich dort bin.»
«Sprich zwei», sagte Thomas. «Eins für mich und eins für Geneviève.»
Robbie schwieg. Der Zeitpunkt des Abschieds war gekommen, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatten ihre Pferde gezügelt, nur Jake und Sam waren ein Stück weitergeritten, bis sie auf das Dorf Astarac hinuntersehen konnten.
«Wir sehen uns wieder, Robbie», sagte Thomas, zog den Handschuh aus und streckte ihm seine Hand entgegen.
«Ja, ich weiß.»
«Und wir werden immer Freunde sein, selbst wenn wir auf verschiedenen Seiten des Schlachtfelds stehen.»
Robbie grinste. «Nächstes Mal siegen die Schotten. Jesses, wir hätten euch schon in Durham schlagen müssen! Wir waren so nah dran!»
«Nah dran ist nicht nah genug, wie wir Bogenschützen sagen», gab Thomas schmunzelnd zurück. «Pass auf dich auf, Robbie.»
«Mache ich.» Sie gaben sich die Hand, und genau in dem Augenblick wendeten Sam und Jake ihre Pferde und kamen im Galopp zurück.
«Soldaten!», rief Jake.
Thomas trieb sein Pferd vorwärts, bis er die Straße sehen konnte, die nach Astarac führte, und dort unten, keine halbe Meile entfernt, waren Reiter. Reiter in voller Rüstung, mit Schwertern und Schilden. Sie ritten unter einem Banner, das jedoch schlaff herunterhing, sodass Thomas das Wappen nicht erkennen konnte, und führten Packpferde mit sich, die mit langen, sperrigen Lanzen beladen waren. Ein ganzer Reitertrupp, der genau auf sie zukam beziehungsweise auf die Rauchfahne, die von dem Dorf im nächsten Tal aufstieg, das seine Männer gerade ausraubten. Thomas starrte nur reglos nach unten. Der Tag hatte so friedvoll gewirkt, so frei von jeder Bedrohung, und nun rückte ein Feind an. Wochenlang war ihnen niemand in die Quere gekommen. Bis jetzt.
Robbies Pilgerreise war vergessen, jedenfalls fürs Erste.
Denn es würde einen Kampf geben.
Und so ritten sie alle zurück.
Joscelyn, Herr von Merville, fand, sein Onkel war ein alter Narr, und schlimmer noch, ein reicher alter Narr. Wäre der Graf von Berat freigebig mit seinem Reichtum umgegangen, wäre es etwas anderes gewesen, aber er war ein Geizhals, außer wenn es darum ging, der Kirche zu spenden oder Reliquien zu erstehen, wie diese Handvoll schmutzigen Strohs, die er für eine Truhe voll Gold vom Papst in Avignon gekauft hatte. Joscelyn hatte nur einen einzigen Blick auf die angebliche Kostbarkeit geworfen und war zu dem Schluss gekommen, dass das Stroh aus den päpstlichen Pferdeställen stammte, doch der Graf war nicht davon abzubringen, dass das Jesuskind in seiner Krippe auf diesem Stroh gelegen hatte. Und nun war er in dieses elende Tal von Astarac gekommen, um nach weiteren Reliquien zu suchen. Worum es genau ging, wusste Joscelyn nicht, da weder der Graf noch Vater Roubert damit herausrücken wollten, doch Joscelyn war überzeugt, dass es ein sinnloses Unterfangen war.
Immerhin hatte er den Befehl über dreißig Soldaten, doch selbst das war ein fragwürdiger Vorzug, denn der Graf hatte strikte Anweisung erteilt, dass sie sich nicht mehr als eine Meile von Astarac entfernen durften. «Du bist hier, um mich zu beschützen», hatte er Joscelyn ermahnt, und Joscelyn hatte sich gefragt, wovor. Schließlich würden diese coredors es doch niemals wagen, echte Soldaten anzugreifen. Deshalb versuchte Joscelyn, auf den Dorfwiesen ein Turnier abzuhalten, doch die Soldaten seines Onkels waren größtenteils ältere Männer, die während der vergangenen Jahre kaum gekämpft und sich an ein ruhiges Leben gewöhnt hatten. Obwohl Joscelyn sich bemühte, ihren Kampfgeist zu wecken, nahm es niemand ernsthaft mit ihm auf, und auch wenn sie gegeneinander kämpften, taten sie es halbherzig. Nur seine beiden Gefährten, die er nach Berat mitgebracht hatte, legten ein wenig Enthusiasmus an den Tag, doch er hatte schon so oft gegen sie gekämpft, dass er jede ihrer Bewegungen kannte, und sie kannten seine. Er vertat hier nur seine Zeit, und so betete er erneut und voller Inbrunst darum, dass sein Onkel endlich sterben würde. Denn das war der einzige Grund, weshalb Joscelyn in Berat blieb: damit er so schnell wie möglich die Hand auf den sagenhaften Reichtum legen konnte, der angeblich in den Kellergewölben der Burg lagerte. Und wenn es so weit war, bei Gott, dann würde er ihn ausgeben! Und ein riesiges Feuer würde er machen, mit all den alten Büchern und Pergamenten seines Onkels. Die Flammen würde man bis nach Toulouse sehen! Und was die Gräfin anging, die fünfte Frau seines Onkels, die mehr oder weniger im Südturm der Burg eingesperrt war, damit der Graf sicher sein konnte, dass niemand außer ihm selbst sie schwängerte, die dralle Schlampe würde er gründlich durchpflügen und dann in die Gosse zurückwerfen, aus der sie gekommen war.
Manchmal träumte er davon, seinen Onkel umzubringen, aber er wusste, dass das unweigerlich Ärger heraufbeschwören würde, und so beschränkte er sich darauf zu warten, denn der alte Mann würde ja ohnehin bald sterben. Und während Joscelyn vom Erbe träumte, träumte der Graf vom Gral. Er hatte beschlossen, die Überreste der Festung zu durchsuchen, und da die Kiste in der Kapelle gefunden worden war, befahl er einem Dutzend Leibeigener, die alten Steinplatten hochzustemmen, um die Gewölbe darunter zu erforschen, in denen sich, wie er vermutet hatte, Gräber befanden. Die schweren Dreiersärge wurden aus ihren Nischen gezerrt und aufgebrochen. Unter der Außenhülle befanden sich Bleisärge, die mit einer Axt aufgehackt und auseinandergebogen werden mussten. Das Blei wurde auf einen Wagen geladen, um es nach Berat mitzunehmen, doch der Graf hoffte auf einen weit wertvolleren Fund, sobald die Innensärge, die meist aus Ulmenholz bestanden, geöffnet würden. Er fand Skelette, ausgedörrt und verblichen, die Fingerknochen noch zum Gebet verschränkt, und in manchen Särgen fand er auch Grabbeigaben. Einige der Frauen waren mit Halsketten oder Armreifen begraben worden, und der Graf zerrte die brüchigen Leichentücher beiseite, um zu ergattern, was er konnte, doch den Gral fand er nicht. Nur Schädel und Hautreste, zäh und dunkel wie altes Pergament. Eine der Toten hatte noch immer langes goldenes Haar, was den Grafen in Staunen versetzte. «Ob sie wohl hübsch war?», sagte er zu Vater Roubert. Er sprach durch die Nase und musste ständig niesen.
«Sie wartet auf das Jüngste Gericht», erwiderte der Prior, der diese Grabräuberei missbilligte, säuerlich.
«Sie muss noch jung gewesen sein», bemerkte der Graf und griff nach dem Haar der Toten, doch sobald er es berührte, zerfiel es zu Staub. In einem Kindersarg lag ein altes Schachbrett, mit Scharnieren versehen, sodass es in eine flache Kiste passte. Zum Erstaunen des Grafen waren die Felder, die auf seinen eigenen Schachbrettern schwarz gefärbt waren, hier durch kleine Vertiefungen gekennzeichnet, doch was ihn noch viel mehr interessierte, waren die alten Münzen, die anstelle der Schachfiguren in der Kiste lagen. Sie zeigten den Kopf Ferdinands, des ersten Königs von Kastilien, und waren aus purem Gold. «Dreihundert Jahre alt!», sagte der Graf zu Vater Roubert und ließ die Münzen in seine Börse gleiten. Dann befahl er, die nächste Gruft zu öffnen. Nachdem die Toten durchsucht waren, wurden sie wieder in ihre Holzsärge gelegt und in die Gruft hinabgelassen, damit sie dort weiter auf das Jüngste Gericht warten konnten. Vater Roubert sprach für jeden ein Gebet, und etwas in seinem Tonfall ärgerte den Grafen, denn er spürte, dass er kritisiert wurde.
Am dritten Tag, als alle Särge geplündert waren, ohne dass der Gral zum Vorschein gekommen war, befahl der Graf seinen Leibeigenen, an der Rückwand der Gruft zu graben, unter der Apsis, wo einst der Altar gestanden hatte. Eine Weile sah es so aus, als gäbe es dort nichts als eine Schicht Erde und dann den nackten Felsen, auf dem die Festung erbaut war, doch gerade als der Graf den Mut verlor, zog einer der Leibeigenen eine silberne Schatulle aus der Erde. Der Graf fühlte sich schwach und fror, obwohl er sich gegen die Kälte dick eingepackt hatte. Er nieste, seine Nase war wund und lief, und seine Augen brannten, doch beim Anblick der dunkel angelaufenen Schatulle vergaß er seine Beschwerden. Er entriss sie dem Leibeigenen und eilte damit hinaus ans Tageslicht, wo er mit einem Messer das Schloss aufbrach. Im Innern lag eine Feder. Nichts weiter als eine Feder. Sie sah gelb aus, war jedoch vermutlich einmal weiß gewesen, und der Graf nahm an, dass sie von einer Gans stammte. «Warum vergräbt jemand eine Feder?», fragte er Vater Roubert.
«Es heißt, der heilige Severus habe in diesem Tal den Flügel eines Engels geheilt», erwiderte der Dominikaner und beäugte die Feder misstrauisch.
«Natürlich!», rief der Graf aus. Das erklärte die gelbliche Farbe, denn der Flügel war gewiss golden gewesen. «Eine Engelsfeder!», sagte er ehrfurchtsvoll.
«Wohl eher eine Schwanenfeder», sagte Vater Roubert abfällig.
Der Graf untersuchte die silberne Schatulle, die von der Erde schwarz verfärbt war. «Das könnte ein Engel sein», sagte er und deutete auf einen Schnörkel an der Außenseite.
«Oder auch nicht.»
«Ihr seid nicht gerade hilfreich, Roubert.»
«Ich bete jeden Abend darum, dass Eure Suche von Erfolg gekrönt wird», erwiderte der Prior pikiert, «aber ich sorge mich auch um Eure Gesundheit.»
«Ach, das ist nur eine verstopfte Nase», sagte der Graf, obgleich er Schlimmeres fürchtete. Ihm war schwindlig, und seine Gelenke schmerzten, doch wenn er den Gral fand, würden all diese Beschwerden verschwinden. «Eine Engelsfeder!», wiederholte der Graf staunend. «Ein Wunder! Das ist doch gewiss ein Zeichen, oder?» Und dann geschah ein weiteres Wunder, denn der Mann, der die silberne Schatulle gefunden hatte, kam heraus und verkündete, hinter der festen Erdschicht sei eine Mauer. Der Graf drückte Vater Roubert die Schatulle mit der himmlischen Feder in die Hand, stürmte zurück in die Gruft und kletterte auf den Erdhaufen, um die Mauer selbst in Augenschein zu nehmen. Es war nur ein kleines Stück davon zu sehen, doch dieses Stück bestand aus einem gemeißelten Steinquader. Der Graf riss dem Mann die Schaufel aus der Hand und schlug damit gegen den Stein. Es klang hohl. «Legt sie frei!», befahl er aufgeregt. «Legt sie frei!» Triumphierend strahlte er Vater Roubert an. «Das ist es! Ich weiß es!»
Doch der Prior teilte seine Aufregung über die verborgene Mauer nicht, sondern sah zu Joscelyn auf, der, in seine schimmernde Turnierrüstung gekleidet, bis an den Rand der offenen Gruft geritten war. «Da ist eine Rauchsäule», sagte er. «Drüben im nächsten Tal.»
Es kostete den Grafen größte Überwindung, sich von der Mauer loszureißen, doch schließlich kletterte er auf eine Leiter und blickte nach Westen, wo eine schmutzig braune Rauchfahne in den blassen Himmel stieg. Sie schien in der Tat aus dem benachbarten Tal zu kommen. «Die Engländer?», fragte der Graf überrascht.
«Wer sonst?», entgegnete Joscelyn. Seine Männer warteten am Fuß des Pfades, der zu der Festung hinaufführte. Sie waren gewappnet und bereit. «Wir könnten in einer Stunde dort sein», sagte Joscelyn. «Und sie rechnen bestimmt nicht mit uns.»
«Aber sie haben Bogenschützen», warnte der Graf. Dann nieste er erneut geräuschvoll.
Vater Roubert beobachtete den Grafen missmutig. Vermutlich hatte sich der alte Mann ein Fieber zugezogen, und es war seine eigene Schuld, weil er unbedingt bei dieser Kälte seine Ausgrabungen veranstalten musste.
«Sei vorsichtig», sagte der Graf mit tränenden Augen. «Mit Bogenschützen ist nicht zu spaßen.»
Joscelyn sah aus, als wolle er zu einer gereizten Antwort ansetzen, doch Vater Roubert kam ihm zuvor. «Wir wissen, dass sie in kleinen Gruppen reiten, Herr, und sie lassen stets einige ihrer Bogenschützen zurück, um ihre Festung zu bewachen. Vielleicht sind dort drüben nicht mehr als ein Dutzend dieser verhassten Kerle.»
«Und vielleicht bekommen wir nie wieder eine solche Gelegenheit», warf Joscelyn ein.
«Wir haben nicht viele Männer», sagte der Graf zweifelnd.
Wessen Schuld war das wohl?, dachte Joscelyn grimmig. Er hatte seinem Onkel gesagt, er solle mehr Soldaten mitnehmen, aber der alte Trottel hatte darauf beharrt, die dreißig würden genügen. Jetzt starrte der Graf wie verhext auf eine dämliche Mauer, die am Ende der Gruft freigelegt worden war, und zog feige den Schwanz ein. «Dreißig Mann reichen aus», beharrte Joscelyn, «wenn die Engländer nur so wenige sind.»
Vater Roubert sah zu der Rauchfahne hinüber. «Ist das nicht der Sinn und Zweck dieser Feuer, Herr?», fragte er. «Uns wissen zu lassen, wenn der Feind nah genug ist, um zuzuschlagen?» Das war eine der Aufgaben der Signalfeuer, doch der Graf wünschte, Henri Courtois, der Anführer seiner Truppen, wäre hier, um ihm mit seinem Rat zur Seite zu stehen. «Und wenn die feindliche Truppe klein ist», fuhr der Prior fort, «werden dreißig Mann in jedem Fall ausreichen.»
Schließlich nickte der Graf, da er befürchtete, dass er keine Ruhe haben würde, die geheimnisvolle Mauer zu untersuchen, solange er nicht seine Zustimmung gab. «Aber sei vorsichtig!», mahnte er seinen Neffen. «Schick einen Aufklärungstrupp vor! Denk an den Rat von Vegetius!» Da Joscelyn jedoch noch nie von Vegetius gehört hatte, würde es ihm schwerfallen, dessen Rat zu beherzigen. Der Graf schien so etwas zu ahnen, denn er hatte plötzlich einen Einfall. «Nimm Vater Roubert mit. Er wird dir sagen, ob ein Angriff sicher ist oder nicht. Hast du mich verstanden, Joscelyn? Vater Roubert wird dich beraten, und du wirst seinen Rat befolgen.» Diese Taktik bot zwei Vorteile. Zum einen war der Prior ein vernünftiger und intelligenter Mann, der nicht zulassen würde, dass dieser Hitzkopf von Joscelyn eine Dummheit beging, aber vor allem wäre der Graf damit von der verdrießlichen Gegenwart des Dominikaners befreit. «Bis Einbruch der Dunkelheit seid ihr zurück», befahl der Graf. «Und denkt an Vegetius. Denkt um Himmels willen an Vegetius!» Die letzten Worte rief er ihnen hastig zu, während er wieder in die Gruft hinabkletterte.
Joscelyn blickte missmutig auf den Prior hinunter. Er mochte die Kirchenmänner nicht und Vater Roubert erst recht nicht, aber wenn die Gesellschaft des Dominikaners der Preis war, den er für die Gelegenheit zahlen musste, Engländer zu töten, so sollte es ihm recht sein. «Habt Ihr ein Pferd, Vater?»
«Ja, Herr.»
«Dann holt es.» Joscelyn wendete seinen Hengst und ritt hinunter ins Tal. «Ich will die Bogenschützen lebend!», sagte er zu seinen Männern. «Damit wir uns die Belohnung holen können.» Und danach würden sie den Engländern die verfluchten Finger abhacken, ihnen die Augen ausstechen und sie dann verbrennen. Davon träumte Joscelyn, während er seine Männer nach Westen führte. Am liebsten wäre er losgestürmt, um das Tal zu erreichen, bevor die Engländer verschwanden, doch Soldaten auf dem Weg in die Schlacht kamen nun mal nicht schneller voran. Einige der Pferde, wie auch das von Joscelyn selbst, trugen Rüstungen aus Leder und Kettenpanzer, und das Gewicht dieser Rüstungen, ganz zu schweigen von dem ihrer Reiter, bedeutete, dass sie nur im Schritt geritten werden konnten, damit sie noch frisch genug für den Angriff waren. Einige Männer hatten Knappen, und diese niederen Wesen führten die Packpferde mit den schweren, sperrigen Lanzenbündeln. Soldaten galoppierten nicht in die Schlacht, sondern trotteten gemächlich wie Ochsen.
«Ihr denkt an den Rat Eures Onkels, Herr?», sagte Vater Roubert zu Joscelyn, um seine Nervosität zu überspielen. Für gewöhnlich war der Prior ein ernster und beherrschter Mann, seiner mühsam errungenen Würde stets bewusst, doch nun befand er sich auf unbekanntem und gefährlichem, aber auch erregendem Terrain.
«Der Rat meines Onkels», erwiderte Joscelyn verdrossen, «bestand darin, auf Euren Rat zu hören. Also sagt mir: Was wisst Ihr vom Kriegshandwerk?»
«Ich habe Vegetius gelesen», sagte Vater Roubert steif.
«Und wer zum Teufel war das?»
«Ein Römer, Herr, und er gilt bis heute als höchste Autorität in Kriegsdingen. Er hat ein Werk mit dem Titel Epitoma Rei Militaris verfasst – Die Grundlagen des Militärwesens.»
«Und was empfehlen diese Grundlagen?», fragte Joscelyn sarkastisch.
«Im Wesentlichen, wenn ich mich recht entsinne, dass man an den Flanken des Feindes nach einer Schwachstelle suchen und auf keinen Fall ohne gründliche Erkundung angreifen soll.»
Joscelyn, der seinen großen Turnierhelm über den Vorderzwiesel gestülpt hatte, blickte hinunter auf die zierliche Stute des Geistlichen. «Ihr habt das leichteste Pferd, Vater», sagte er amüsiert. «Am besten übernehmt Ihr die Erkundung.»
«Ich?» Vater Roubert sah ihn schockiert an.
«Reitet voraus, schaut, was die Bastarde treiben, dann kommt zurück und berichtet uns. Ihr sollt mich doch beraten, oder? Wie zum Henker wollt Ihr das tun, wenn Ihr nicht vorher die Lage erkundet habt? Steht doch sogar in Eurem schlauen Buch. Halt, doch nicht jetzt, verdammter Trottel!» Die letzten Worte rief Joscelyn, weil Vater Roubert gehorsam vorwärtsgetrabt war. «Sie sind nicht da oben, sondern im nächsten Tal.» Er deutete mit dem Kopf auf den Rauch, der dichter zu werden schien. «Also wartet, bis wir zwischen den Bäumen auf der anderen Seite des Hügels sind.»
Tatsächlich sahen sie sogar ein paar Reiter oben auf der kahlen Hügelkuppe, aber sie waren weit entfernt und flohen, sobald sie Joscelyn und seine Männer erblickten. Wahrscheinlich coredors, dachte Joscelyn. Jeder wusste, dass die coredors den Engländern hinterherschlichen, in der Hoffnung, einen Bogenschützen lebend zu erwischen und dafür die Belohnung des Grafen zu kassieren. Allerdings fand Joscelyn, die einzige Belohnung, die ein coredor verdient hatte, war ein langsamer Tod am Strick.
Als Joscelyn auf der Kuppe ankam, waren die coredors verschwunden. Nun konnte er fast das ganze Tal überblicken, von Masseube im Norden bis zu der Straße, die sich im Süden auf die Pyrenäen zuschlängelte. Die Rauchfahne erhob sich direkt vor ihnen, doch das Dorf, das die Engländer ausraubten, war hinter Bäumen verborgen, und so befahl Joscelyn dem Prior vorauszureiten; zum Schutz gab er ihm seine beiden eigenen Soldaten mit.
Joscelyn und die übrigen Soldaten hatten fast den Fuß des Hügels erreicht, als Vater Roubert zurückkam. «Sie haben uns nicht gesehen», berichtete er aufgeregt. «Sie können nicht wissen, dass wir hier sind.»
«Seid Ihr sicher?»
Der Dominikaner nickte. Seine ruhige Würde war einer plötzlich entdeckten Begeisterung für das Kriegshandwerk gewichen. «Die Straße zum Dorf führt durch den Wald, Herr, und ist gut vor Blicken geschützt. Etwa hundert Schritt vom Ufer entfernt lichten sich die Bäume, und man kann den Fluss in einer flachen Furt überqueren. Wir haben ein paar Männer gesehen, die Kastanienzweige ins Dorf trugen.»
«Die Engländer haben sie nicht daran gehindert?»
«Nein, die sind dabei, einen Grabhügel im Dorf aufzuhacken. Es scheinen nicht mehr als ein Dutzend zu sein. Das Dorf liegt nochmals etwa hundert Schritt vom Fluss entfernt.» Vater Roubert war stolz auf seinen Bericht: ausführlich und genau, eine Erkundung, die auch Vegetius selbst nicht hätte besser ausführen können. «Ihr könnt also bis auf zweihundert Schritt auf das Dorf vorrücken», schloss er, «und Euch unbemerkt kampfbereit machen, bevor Ihr angreift.»
Es war in der Tat ein beeindruckender Bericht. Joscelyn warf seinen beiden Soldaten einen fragenden Blick zu, und die beiden nickten. Einer von ihnen, ein Pariser namens Villesisle, grinste. «Wir brauchen sie nur noch abzuschlachten.»
«Was ist mit Bogenschützen?», fragte Joscelyn.
«Wir haben nur zwei gesehen», erwiderte Villesisle.
Das Beste hatte Vater Roubert sich für den Schluss aufgehoben. «Und einer von den beiden war die Begine!»
«Die Ketzerin?»
«Gott wird mit Euch sein!», sagte der Prior voller Inbrunst.
Joscelyn lächelte. «Wie lautet also Euer Rat, Vater?»
«Greift an!», rief er erregt. «Greift an! Und Gott wird uns den Sieg schenken!»
Als Joscelyn den Waldrand erreichte, sah er, dass alles genau so zu sein schien, wie Vater Roubert es ihm geschildert hatte. Die Engländer jenseits des Flusses, die offenbar nichts von ihren Feinden ahnten, hatten keine Wachposten aufgestellt, sondern waren damit beschäftigt, den Grabhügel in der Mitte des Dorfes aufzubuddeln. Joscelyn zählte nur zehn Mann und die eine Frau. Er stieg kurz ab, damit sein Knappe die Schnallen seiner Rüstung festzurren konnte, dann hievte er sich wieder in den Sattel und setzte seinen großen Turnierhelm mit dem rot-gelben Federbusch und den kreuzförmigen Sehschlitzen auf. Er schob den linken Unterarm durch die Schlaufen seines Schildes und vergewisserte sich, dass sein Schwert locker in der Scheide saß, dann ließ er sich seine Lanze reichen. Sie war aus Eschenholz, sechzehn Fuß lang und mit einer Spirale in Rot und Gelb bemalt, den Farben des Herrn von Merville. Ähnliche Lanzen waren den besten Turnierrittern in ganz Europa zum Verhängnis geworden, und diese würde nun Gottes Werk tun. Seine Männer bewaffneten sich ebenfalls mit ihren Lanzen, einige davon in Weiß und Orange bemalt, den Farben von Berat. Ihre Lanzen waren nur dreizehn oder vierzehn Fuß lang, da keiner von Berats Männern stark genug war, um ein so großes Exemplar zu tragen, wie Joscelyn es im Turnier verwendete. Die Knappen zogen ihre Schwerter. Visiere wurden heruntergeklappt und begrenzten die Außenwelt auf ein paar helle Schlitze. Joscelyns Hengst, der wusste, dass es nun in die Schlacht ging, scharrte mit den Hufen. Alle standen bereit, die Engländer ahnten nichts von der Bedrohung, und Joscelyn war endlich von der Leine seines Onkels gelassen.
Und so, die Soldaten zu einem engen Kordon formiert und Vater Rouberts Gebet in den Ohren, griff er an.
Gaspard dachte, der Herr müsse Seine Hand über ihn halten, denn gleich der erste Versuch, das Gold in die fein ziselierte Form zu gießen, die zuvor das Wachsmodell seines Messkelchs umschlossen hatte, gelang. Er hatte Yvette gesagt, vielleicht brauche er elf oder zwölf Versuche, und er sei nicht einmal sicher, ob es überhaupt gelingen würde, denn die Details waren so filigran, dass das flüssige Gold womöglich gar nicht in alle Ecken und Winkel gelangen würde. Doch als er mit pochendem Herzen die Form aus gebranntem Ton zerschlug, sah er, dass seine Wachskreation nahezu makellos wiedererstanden war. Hier und da war eine Einzelheit ein wenig verformt, und an einigen Stellen hatte das Gold den Rand eines Blattes oder die Spitze eines Dorns nicht vollständig ausgefüllt, aber diese kleinen Fehler waren schnell ausgebessert. Er feilte die rauen Ränder glatt und polierte den ganzen Kelch. Das dauerte eine Woche, und als er fertig war, sagte er Charles Bessières nicht, dass er seine Arbeit vollendet hatte, sondern behauptete, es sei noch einiges zu tun, weil er es einfach nicht über sich brachte, die von ihm erschaffene Pracht aus der Hand zu geben. Aus seiner Sicht war es die schönste Goldschmiedekunst, die je erschaffen worden war.
Und so fertigte er noch einen Deckel für den Kelch. Er war kegelförmig, wie die Abdeckung eines Taufbeckens, und auf die Spitze setzte er ein Kreuz, den Rand besetzte er mit Perlen, und in den Mantel des Kegels arbeitete er die Symbole für die vier Evangelisten ein: einen Löwen für den heiligen Markus, einen Ochsen für Lukas, einen Engel für Matthäus und einen Adler für Johannes. Dieses Stück, das nicht ganz so filigran war wie der eigentliche Kelchhalter, kam ebenfalls gelungen aus der Form, er feilte und polierte es, und dann setzte er alles zusammen. Den goldenen Halter, den alten grünlichen Glaskelch und den neuen perlenbesetzten Deckel. «Sagt dem Kardinal», trug er Charles Bessières auf, als das kostbare Stück, in Tuch eingeschlagen und auf Stroh gebettet in einer Holzkiste verpackt war, «die Perlen stehen für die Tränen der Mutter Gottes.»
Charles Bessières scherte es nicht, wofür sie standen, aber er musste widerstrebend zugeben, dass der Kelch prachtvoll geworden war. «Wenn er meinem Bruder zusagt, wirst du deinen Lohn und die Freiheit bekommen.»
«Können wir dann zurück nach Paris?», fragte Gaspard voller Eifer.
«Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt», log Charles. «Aber erst wenn ich es euch sage.» Er gab seinen Männern Anweisung, Gaspard und Yvette sorgsam zu bewachen, während er fort war, dann brachte er den Kelch zu seinem Bruder nach Paris.
Als das kostbare Stück ausgepackt und zusammengesetzt vor ihm stand, faltete der Kardinal die Hände vor der Brust und starrte es lange an. Schließlich beugte er sich vor und musterte das alte Glas genauer. «Scheint es dir nicht auch so, als hätte der Glaskelch selbst einen leichten Goldschimmer?», fragte er seinen Bruder.
«Hab ihn mir nicht angeschaut», lautete die mürrische Antwort.
Vorsichtig nahm der Kardinal den Deckel ab, hob den alten Glaskelch aus der goldenen Halterung und hielt ihn ans Licht. Offenbar hatte Gaspard in einem Augenblick ahnungsloser Genialität eine fast unsichtbare, hauchfeine Schicht Blattgold darumgelegt und dem schlichten Glas dadurch einen nahezu überirdischen Schimmer verliehen. «Der echte Gral», erklärte er seinem Bruder, «soll sich angeblich in Gold verwandeln, wenn das Blut Christi hineingefüllt wird. Das hier könnte dafür durchgehen.»
«Er gefällt dir also?»
Der Kardinal setzte den Kelch wieder zusammen. «Er ist prachtvoll», sagte er staunend. «Ein Wunder.» Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Niemals hätte er damit gerechnet, auch nur etwas halb so Schönes zu bekommen. Er war so hingerissen, dass er für einen kurzen Moment sogar sein Streben nach dem Papstthron vergaß. «Wer weiß, Charles» – in seiner Stimme lag ehrfürchtige Scheu –, «vielleicht ist er ja echt! Vielleicht war das Glas, das ich gekauft habe, wirklich der Gral. Vielleicht hat Gott mich zu ihm geführt!»
«Heißt das, ich kann Gaspard umbringen?», fragte Charles, ungerührt von der Schönheit des Kelchs.
«Und dieses Weib», sagte der Kardinal, ohne den Blick von dem prachtvollen Objekt zu lösen. «Ja, tu es. Und dann geh nach Süden. Nach Berat, südlich von Toulouse.»
«Berat?» Von dem Ort hatte Charles noch nie gehört.
Der Kardinal lächelte. «Der englische Bogenschütze ist aufgetaucht. Ich wusste, dass er kommen würde! Der elende Kerl hat mit einer kleinen Truppe Castillon d’Arbizon eingenommen, das, wie man mir gesagt hat, in der Nähe von Berat liegt. Er ist wie ein reifer Apfel, der nur noch gepflückt werden muss, Charles, deshalb schicke ich Guy Vexille zum Ernten. Und ich will, dass du Vexille begleitest.»
«Du traust ihm nicht?»
«Natürlich nicht.» Der Kardinal hob den Kelch erneut hoch und betrachtete ihn noch einmal ehrfürchtig, dann legte er ihn zurück in die mit Stroh gefüllte Kiste. «Und das hier nimmst du mit.»
«Den Kelch?» Charles starrte ihn entgeistert an. «Was in Gottes Namen soll ich denn damit?»
«Ich weiß, es ist eine schwere Verantwortung», erwiderte der Kardinal und drückte seinem Bruder die Kiste in die Hand, «aber den Legenden zufolge war der Gral im Besitz der Katharer, wo sonst also sollte er gefunden werden, wenn nicht in der Nähe der letzten Ketzerburg?»
Charles war verwirrt. «Du willst, dass ich ihn finde?»
Der Kardinal ging zu einem Betstuhl und kniete sich darauf. «Der Heilige Vater ist kein junger Mann mehr», sagte er fromm. Tatsächlich war Clemens erst sechsundfünfzig, lediglich acht Jahre älter als der Kardinal, aber Louis Bessières quälte die Vorstellung, Papst Clemens könne sterben und sein Nachfolger würde gewählt, bevor er Gelegenheit hatte, den Gral zu präsentieren und damit seine Ansprüche anzumelden. «Wir haben nicht die Zeit, in Ruhe abzuwarten. Ich brauche den Gral, und zwar jetzt!» Er schwieg einen Moment. «Aber falls Vexille von Gaspards Kelch erfährt, wird er versuchen, ihn dir wegzunehmen, deshalb musst du ihn töten, sobald er seine Pflicht erfüllt hat. Und seine Pflicht besteht darin, den englischen Bogenschützen zu finden. Also töte Vexille und bring diesen Bogenschützen zum Reden, Charles. Zieh ihm die Haut Zoll für Zoll ab und streu Salz auf sein Fleisch. Er wird reden, und wenn er dir alles über den Gral gesagt hat, was er weiß, dann töte ihn ebenfalls.»
«Aber wir haben doch einen Gral», sagte Charles und hielt die Kiste hoch.
«Wenn es einen echten gibt, Charles», erklärte der Kardinal geduldig, «und wenn der Engländer uns verrät, wo er ist, dann brauchen wir den hier nicht. Aber wenn aus dem Engländer nichts herauszuholen ist, wirst du verkünden, er habe dir diesen Gral gegeben. Du bringst ihn nach Paris, wir singen ein Te Deum, und in ein oder zwei Jahren gehe ich nach Avignon. Nach einer gewissen Zeit werden wir den Papstsitz nach Paris verlegen, und dann wird die ganze Welt ihren bewundernden Blick auf uns richten.»
Charles dachte über den Plan nach und fand ihn unnötig kompliziert. «Warum präsentieren wir den Gral nicht einfach hier?»
«Weil niemand mir glauben wird, wenn ich ihn in Paris finde», erwiderte der Kardinal, den Blick auf ein elfenbeinernes Kruzifix an der Wand geheftet. «Nein, er muss von weit her kommen, und Gerüchte über seine Entdeckung müssen ihm vorauseilen, damit die Leute auf den Straßen bei seiner Ankunft niederknien.»
Das verstand Charles. «Und warum bringen wir Vexille nicht sofort um?»
«Weil er besessen genug ist, den echten Gral zu finden, und wenn er tatsächlich existiert, dann will ich ihn haben. Die Leute wissen, dass er ein Vexille ist und dass seine Familie einst im Besitz des Grals war, wenn er also an der Entdeckung beteiligt ist, wirkt das Ganze umso überzeugender. Außerdem ist er von adliger Geburt. Er kann Truppen anführen, und er wird seine ganze Kraft und Gerissenheit brauchen, um diesen Engländer aus seinem Schlupfloch zu holen. Glaubst du vielleicht, siebenundvierzig Ritter und Soldaten würden dir folgen?» Der Kardinal hatte die Truppe aus Untergebenen seiner Vögte zusammengestellt, den Adligen, die die Ländereien verwalteten, die der Kirche von Fürsten übertragen worden waren, in der Hoffnung auf Vergebung ihrer Sünden. Diese Männer würden den Kardinal teuer zu stehen kommen, denn im Gegenzug brauchten die Vögte ein Jahr lang keine Steuern zu entrichten. «Du und ich stammen aus der Gosse, Charles», sagte der Kardinal, «und Soldaten würden dich verachten.»
«Es muss doch Hunderte von Rittern geben, die mit Freuden bereit wären, den Gral zu suchen», sagte Charles.
«Sogar Tausende», bestätigte der Kardinal, «aber sobald sie ihn gefunden hätten, würden sie ihn dem König bringen, und dieser Trottel würde ihn sich von den Engländern abnehmen lassen. Vexille ist mir ergeben, soweit er sich überhaupt jemandem unterordnet, aber ich weiß, was er tun wird, wenn er den Gral hat: Er wird ihn stehlen. Und deshalb musst du ihn töten, bevor er dazu Gelegenheit hat.»
Charles runzelte die Stirn. «Das wird nicht einfach sein.»
«Darum schicke ich ja dich, Charles. Dich und deine mörderische Bande. Enttäusche mich nicht.»
In dieser Nacht fertigte Charles einen neuen Behälter für den falschen Gral. Er nahm einen Zylinder aus Leder, wie ihn die Armbrustschützen für ihre Bolzen verwendeten, schob den kostbaren Kelch hinein, geschützt durch ein Leintuch und Sägespäne, und versiegelte den Deckel des Zylinders mit Wachs.
Am nächsten Tag erhielt Gaspard seine Freiheit. Ein Messer schlitzte ihm den Bauch bis zur Kehle auf, sodass er langsam in einer Blutlache verendete. Yvette schrie so laut, dass ihre Stimme versagte und sie nur noch nach Luft ringen konnte, und sie leistete keinerlei Widerstand, als Charles ihr das Hemd vom Körper schnitt. Zehn Minuten später, als Zeichen der Dankbarkeit für den Genuss, den sie ihm bereitet hatte, verhalf er ihr zu einem schnellen Tod.
Dann wurde der Turm verschlossen.
Und Charles Bessières, den ledernen Köcher sorgsam an seinem Gürtel befestigt, führte seine Männer nach Süden.