Thomas schrak hoch. Ein Mann stand vor ihm, eine große, dunkle Gestalt vor dem trüben Morgenlicht, das durch die offene Tür hereinfiel. Instinktiv griff er nach seinem Schwert, doch der Mann wich zurück und machte eine begütigende Geste. «Ich wollte dich nicht wecken», sagte er leise. Seine Stimme war dunkel und ohne jede Drohung.
Der Unbekannte war ein Mönch. Thomas konnte sein Gesicht nicht sehen, doch die weiße Kutte schimmerte in der Dunkelheit. Der Mönch trat wieder näher und betrachtete Geneviève prüfend. «Wie geht es deiner Gefährtin?», fragte er.
Geneviève schlief. Vor ihrem Mund lag eine blonde Haarsträhne, die sich bei jedem Atemzug bewegte. «Gestern Abend ging es ihr schon besser», sagte Thomas leise.
«Das ist gut.» Der Mönch bückte sich, hob Thomas’ Bogen auf und ging damit zur Tür, wo er ihn in dem fahlen grauen Licht musterte. Wie immer verspürte Thomas Unbehagen, wenn ein Fremder seine Waffe in die Hand nahm, doch er sagte nichts, und nach einer Weile lehnte der Mönch den Bogen an Bruder Cléments Arzneitisch. «Ich würde gerne mit dir sprechen», sagte er. «Treffen wir uns im Kreuzgang, wenn du so weit bist?»
Es war ein kalter Morgen. Auf der Wiese zwischen den Olivenbäumen und dem Rasenstück im Innenhof des Klosters lag Tau. In einer Ecke des Kreuzgangs stand ein Wassertrog, an dem die Mönche, die gerade vom Frühgebet kamen, sich Gesicht und Hände wuschen. Thomas suchte den großen Mönch zunächst unter ihnen, entdeckte ihn dann jedoch auf einer niedrigen Mauer zwischen zwei Pfeilern an der Südseite des Kreuzgangs. Der Mönch winkte ihn zu sich, und Thomas sah, dass er sehr alt war. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen und strahlte Wärme und Freundlichkeit aus. «Deine Gefährtin ist in den besten Händen», sagte er zu Thomas, als dieser sich zu ihm setzte. «Bruder Clément ist ein sehr erfahrener Heiler, aber er und Bruder Ramón vertreten unterschiedliche Ansichten, und deshalb muss ich die beiden getrennt halten. Ramón kümmert sich um den Krankentrakt, und Clément versorgt die Aussätzigen. Ramón ist ein richtiger Arzt, ausgebildet in Montpellier, daher müssen wir seinen Anweisungen natürlich folgen, aber er scheint keine anderen Heilmittel zu kennen als das Gebet und den Aderlass. Er setzt sie bei jedem Leiden ein, während Bruder Clément offenbar eine ganz eigene Art von Magie anwendet. Wahrscheinlich sollte ich das missbilligen, aber ich muss gestehen, wenn ich krank wäre, würde ich es vorziehen, von Bruder Clément behandelt zu werden.» Er lächelte Thomas an. «Mein Name ist übrigens Planchard.»
«Der Abt?»
«Ganz recht. Und ihr seid in unserem Haus herzlich willkommen. Es tut mir leid, dass ich euch gestern nicht begrüßen konnte. Bruder Clément hat mir erzählt, du machst dir Sorgen, weil ihr im Aussätzigenspital untergebracht seid? Das brauchst du nicht. Meiner Erfahrung nach wird das Leiden nicht durch Kontakt mit Erkrankten übertragen. Ich habe seit vierzig Jahren mit Aussätzigen zu tun, und wie du siehst, fehlt mir nicht einmal ein Finger, und Bruder Clément lebt und arbeitet bei ihnen, ohne sich je angesteckt zu haben.» Der Abt verstummte und bekreuzigte sich, und Thomas dachte zuerst, der alte Mann wolle das Böse in Form dieser unheilbaren Krankheit abwenden, doch dann sah er, dass Planchard zur anderen Seite des Kreuzgangs hinüberschaute. Thomas folgte seinem Blick. Zwei Mönche trugen einen Leichnam auf einer Bahre hinaus. Das Gesicht des Toten war mit einem weißen Tuch bedeckt, und auf seiner Brust lag ein Kruzifix, das nach wenigen Schritten hinunterfiel, sodass die Mönche anhalten und es aufheben mussten. «Wir hatten hier letzte Nacht ein wenig Aufregung», sagte Planchard ruhig.
«Aufregung?»
«Du hast doch sicher die Glocke gehört, oder? Leider wurde sie zu spät geläutet. Nach Einbruch der Dunkelheit sind zwei Männer in das Kloster gekommen. Da unser Tor nie verschlossen ist, hatten sie keine Schwierigkeiten, bei uns einzudringen. Sie haben den Torwächter an Händen und Füßen gefesselt und sind in den Krankentrakt gegangen. Dort lag der Graf von Berat, umgeben von seinem Knappen und drei Soldaten, die ein schreckliches Gefecht im benachbarten Tal überlebt hatten.» Planchard deutete mit der Hand nach Westen, ließ jedoch nicht erkennen, ob er ahnte oder wusste, dass Thomas an dem Kampf beteiligt gewesen war. «Einer der Soldaten schlief im Zimmer des Grafen. Er wachte auf, als die Eindringlinge hereinkamen. Sie töteten ihn, dann schnitten sie dem Grafen die Kehle durch und flohen, so schnell sie konnten.» Der alte Abt schilderte die Ereignisse mit gleichmütiger Stimme, als kämen solche finsteren Morde in St. Sévère häufiger vor.
«Der Graf von Berat?», fragte Thomas.
«Ein trauriger Mann», sagte Planchard. «Ich mochte ihn, aber ich fürchte, er war einer von Gottes Narren. Er war erstaunlich gelehrt, besaß jedoch keinerlei gesunden Menschenverstand. Seinen Pächtern war er ein strenger, erbarmungsloser Herr, aber der Kirche hat er immer großzügig gespendet. Früher dachte ich, er wolle sich den Weg in den Himmel erkaufen, doch dann erfuhr ich, dass er sich sehnsüchtig einen Sohn wünschte, und Gott hat ihm diesen Wunsch nie erfüllt. Armer Mann.» Der Abbé blickte dem toten Grafen nach, der zum Tor des Klosters getragen wurde, dann lächelte er Thomas warmherzig an. «Einige von meinen Mönchen meinten, du wärst der Mörder.»
«Ich?», rief Thomas entgeistert.
«Ich weiß, dass du es nicht warst», sagte Planchard. «Die wirklichen Mörder wurden ja gesehen, als sie davongaloppierten.» Er schüttelte den Kopf. «Aber die Brüder steigern sich leicht in etwas hinein, und unser Haus hat in letzter Zeit leider einige Aufregungen erlebt. Verzeih mir, ich habe dich noch gar nicht nach deinem Namen gefragt.»
«Thomas.»
«Ein guter Name. Nur Thomas?»
«Thomas von Hookton.»
«Das klingt sehr englisch», sagte Planchard. «Und du bist Soldat?»
«Bogenschütze.»
«Kein Mönch?», fragte Planchard mit leisem Schmunzeln.
Thomas musste lächeln. «Ihr wisst davon?»
«Ich weiß, dass ein englischer Bogenschütze namens Thomas als Mönch verkleidet nach Castillon d’Arbizon gegangen ist. Ich weiß, dass er sehr gut Lateinisch sprach, dass er die Burg eingenommen und dann Elend im Land verbreitet hat. Ich weiß, dass er viele Tränen ausgelöst hat, Thomas, viele Tränen. Menschen, die sich ihr ganzes Leben abgemüht haben, um etwas für ihre Kinder aufzubauen, mussten zusehen, wie es innerhalb von wenigen Augenblicken niederbrannte.»
Thomas wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er starrte auf den Boden. «Ihr wisst doch bestimmt noch mehr», sagte er nach einer Weile.
«Ich weiß, dass ihr beide, du und deine Gefährtin, exkommuniziert seid.»
«Dann sollte ich nicht hier sein», sagte Thomas und deutete auf den Kreuzgang. «Ich bin aus allen geweihten Orten verbannt», fügte er verbittert hinzu.
«Du bist auf meine Einladung hier», erwiderte Planchard freundlich, «und falls Gott diese Einladung missbilligt, wird Er bald genug Gelegenheit haben, mich zur Rede zu stellen.»
Thomas betrachtete den Abbé, der die Musterung geduldig über sich ergehen ließ. Da war etwas an Planchard, das Thomas an seinen Vater erinnerte, wenngleich ohne dessen Wahnsinn. In dem vom Alter gezeichneten Gesicht lagen Mitgefühl, Weisheit und Autorität, und Thomas stellte fest, dass er den Mann mochte. Sehr sogar. Er wandte den Blick ab. «Ich habe nur Geneviève beschützt», murmelte er als Erklärung für die Exkommunikation.
«Die Begine?»
«Sie ist keine Begine.»
«Das hätte mich auch überrascht», sagte Planchard, «denn ich bezweifle, dass es in dieser Gegend Beginen gibt. Diese Ketzer sind eher im Norden angesiedelt. Sie nennen sich die Brüder und Schwestern des Freien Geistes, und sie glauben, dass alles von Gott kommt und daher alles gut ist. Ein verlockender Gedanke, nicht wahr? Nur dass sie tatsächlich alles meinen – auch jede Sünde und jede Untat.»
«Geneviève ist keine Begine», wiederholte Thomas, doch sein energischer Tonfall konnte einen leisen Zweifel nicht verhehlen.
«Ich bin sicher, sie ist eine Ketzerin», sagte Planchard gutmütig. «Wer von uns ist das nicht? Aber» – sein Tonfall wurde strenger – «sie ist auch eine Mörderin.»
«Wer von uns ist das nicht?», erwiderte Thomas.
Planchard runzelte die Stirn. «Sie hat Vater Roubert getötet.»
«Weil er sie gefoltert hat.» Thomas zog den Ärmel hoch und zeigte dem Abt die Brandmale auf seinem Arm. «Ich habe meinen Folterer auch getötet, und er war ebenfalls Dominikaner.»
Der Abt blickte zum Himmel, der sich zusehends bewölkte. Thomas’ Mordgeständnis schien ihn nicht zu beunruhigen, ja, er nahm es offenbar gar nicht zur Kenntnis, denn er wechselte das Thema. «Neulich musste ich an einen der Psalmen Davids denken», sagte er. «‹Dominus pascit me nihil mihi deerit.›»
«‹In pascuis herbarum adclinavit me›», führte Thomas das Zitat fort.
«Ich verstehe, weshalb sie dich für einen Mönch gehalten haben», bemerkte Planchard amüsiert. «Ist dieser Psalm nicht so zu verstehen, dass wir Schafe sind und der Herr unser Hirte? Warum sollte er uns sonst auf die Weide führen und mit einem Stab beschützen? Aber was ich nie so recht begriffen habe, ist, warum der Hirte den Schafen die Schuld gibt, wenn sie krank werden.»
«Gott gibt uns die Schuld?»
«Ich kann nicht für Gott sprechen», sagte Planchard, «nur für die Kirche. Wie sagte Jesus? ‹Ego sum pastor bonus, bonus pastor animam suam dat pro ovibus suis.› Ich bin der gute Hirte, und der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Die Kirche führt das Werk Jesu fort oder sollte es zumindest, doch manche Geistliche sind allzu erpicht darauf, die vermeintlich schwachen Mitglieder ihrer Herde auszumerzen.»
«Und Ihr gehört nicht dazu?»
«Nein, aber lass dich von dieser Schwäche nicht zu dem Irrglauben verleiten, ich würde deine Tat billigen. Ich billige weder deine Tat, Thomas, noch die deiner Gefährtin, aber ebenso wenig kann ich eine Kirche gutheißen, die den Schmerz als Mittel einsetzt, um die Liebe Gottes in eine sündige Welt zu bringen. Böses zeugt Böses, es breitet sich aus wie Unkraut. Gute Taten hingegen sind zarte Schösslinge, die sorgfältige Pflege brauchen.» Er hing eine Weile seinen Gedanken nach, dann lächelte er Thomas an. «Aber meine Pflicht liegt auf der Hand, nicht wahr? Ich sollte euch beide dem Bischof von Berat übergeben, auf dass seine Scheiterhaufen Gottes Werk verrichten.»
«Und Ihr seid gewiss ein Mann, der seine Pflicht erfüllt», erwiderte Thomas sarkastisch.
«Ich bin ein Mann, der – Gott stehe mir bei – versucht, gut zu sein. So zu sein, wie Jesus es wollte. Manchmal wird uns eine Pflicht von anderen aufgetragen, und wir müssen prüfen, ob sie uns hilft, gut zu sein. Ich billige eure Taten nicht, aber ich sehe ebenso wenig, welchen Sinn es haben sollte, euch zu verbrennen. Also werde ich meinem Gewissen folgen, das mich anweist, euch nicht dem Scheiterhaufen des Bischofs zu übergeben. Im Übrigen» – er lächelte erneut – «wäre es eine schreckliche Verschwendung von Bruder Cléments Heilkräften, euch zu verbrennen. Er hat mir gesagt, er will eine Knocheneinrenkerin aus dem Dorf kommen lassen, die versuchen soll, die Rippe deiner Gefährtin zu richten. Allerdings hat er mich gleich gewarnt, dass Rippen sich nur sehr schlecht richten lassen.»
«Bruder Clément hat mit Euch gesprochen?»
«Du lieber Himmel, nein! Der arme Bruder Clément kann überhaupt nicht sprechen. Er war einst Galeerensklave. Die Mohammedaner haben ihn bei einem Überfall auf Livorno gefangen genommen – oder war es Palermo? Sie haben ihm die Zunge herausgerissen, vermutlich weil er sie beleidigt hat, und noch etwas anderes abgeschnitten, was wohl der Grund dafür war, dass er Mönch wurde, nachdem eine venezianische Galeere ihn gerettet hatte. Jetzt kümmert er sich um die Bienenstöcke und pflegt unsere Aussätzigen. Wenn er mir etwas mitteilen will, zeigt und gestikuliert er oder malt etwas in den Staub, und irgendwie schaffen wir es, uns zu verständigen.»
«Was werdet Ihr denn mit uns tun?», fragte Thomas.
«Tun? Ich? Gar nichts! Ich werde höchstens für euch beten und euch alles Gute wünschen, wenn ihr aufbrecht. Aber ich wüsste gern, weshalb ihr hier seid.»
«Weil wir exkommuniziert worden sind und meine Leute nichts mehr mit mir zu tun haben wollten.»
«Ich meine, warum ihr überhaupt in die Gascogne gekommen seid», sagte Planchard geduldig.
«Der Earl of Northampton hat mich geschickt.»
«Ich verstehe.» Planchards Tonfall ließ erkennen, dass er Thomas’ Ausweichmanöver durchschaute. «Aber der Earl hatte doch gewiss seine Gründe, oder?»
Thomas schwieg. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kreuzgangs erblickte er Philin; er hob die Hand zum Gruß, und der coredor lächelte ihm zu. Offenbar ging es seinem Sohn schon wieder besser.
Planchard ließ nicht locker. «Warum hat der Earl dich geschickt, Thomas?»
«Castillon d’Arbizon gehörte einst zu seinem Besitz. Er wollte es zurückhaben.»
«Es war nur sehr kurze Zeit in seinem Besitz», entgegnete Planchard scharf, «und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Earl so arm an Ländereien ist, dass er Männer losschicken muss, eine unbedeutende Stadt in der Gascogne zu erobern, noch dazu nachdem in Calais eine Waffenruhe vereinbart worden ist. Er muss einen sehr guten Grund gehabt haben, um gegen diese Waffenruhe zu verstoßen, meinst du nicht?» Er wartete einen Moment, dann lächelte er über Thomas’ Sturheit. «Weißt du noch mehr von diesem Psalm, der mit den Worten ‹Dominus reget me› beginnt?»
«Ein wenig», sagte Thomas vorsichtig.
«Dann kennst du vielleicht auch die Worte ‹calix meus inebrians›?»
«‹Mein Becher macht mich trunken›», übersetzte Thomas.
«Ich habe mir nämlich heute Morgen deinen Bogen angesehen, aus reiner Neugier, weil ich schon so viel über den englischen Kriegsbogen gehört, aber seit langer Zeit keinen mehr zu Gesicht bekommen habe. Dabei ist mir aufgefallen, dass dein Bogen etwas hat, das die meisten anderen Bogen sicher nicht haben: ein silbernes Abzeichen. Und auf dem Abzeichen, junger Mann, war das Wappen der Vexilles.»
«Mein Vater war ein Vexille», sagte Thomas.
«Dann bist du also von edler Geburt?»
«Nein, ein Bastard. Mein Vater war Pfarrer.»
«Pfarrer?» Planchard sah ihn überrascht an.
«Ja», sagte Thomas. «In England.»
«Ich habe gehört, dass einige der Vexilles nach England geflohen sind, aber das war vor vielen Jahren. Noch vor meiner Geburt. Warum kehrt ein Vexille nach Astarac zurück?»
Wieder schwieg Thomas. Die Mönche gingen zum Tor hinaus, Hacken und Pflöcke über der Schulter. «Wohin haben sie den toten Grafen gebracht?», fragte er, um dem Abt nicht antworten zu müssen.
«Er muss natürlich zurück nach Berat, um bei seinen Vorfahren bestattet zu werden», sagte Planchard, «und sein Leichnam wird stinken, bis er in der Kathedrale ankommt. Ich weiß noch, wie sein Vater zu Grabe getragen wurde. Der Gestank war so furchtbar, dass der größte Teil der Trauergemeinde nach draußen floh. Was hatte ich noch gleich gefragt? Ach ja, warum kehrt ein Vexille nach Astarac zurück?»
«Warum nicht?», entgegnete Thomas.
Planchard erhob sich. «Komm, Thomas, ich möchte dir etwas zeigen.» Er führte Thomas in die Klosterkirche. Beim Eintreten tauchte der Abt den Finger in das Gefäß mit Weihwasser, beugte, zum Hochaltar gewandt, das Knie und bekreuzigte sich. Beinahe zum ersten Mal in seinem Leben führte Thomas diese Demutsgeste nicht aus. Er war exkommuniziert. Die alten Rituale hatten für ihn keine Wirkung mehr, weil er von ihnen ausgeschlossen war. Er folgte dem Abt durch das weite, verlassene Mittelschiff zu einer Nische neben einem Seitenaltar, wo Planchard einen Schlüssel aus der Kutte nahm und damit eine kleine Tür aufschloss. «Dort unten ist es dunkel», warnte der alte Mann, «und ich habe keine Laterne, also pass auf, wohin du trittst.»
Aus dem Kirchenschiff fiel dämmriges Licht auf die Treppe, und als Thomas unten ankam, hob Planchard die Hand. «Warte hier», sagte er. «Ich werde es holen. In der Schatzkammer kann man ohne Licht nichts erkennen.»
Thomas wartete. Als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah er, dass das Kellergewölbe acht rundbogenförmige Öffnungen aufwies. Dann erkannte er, dass es kein normales Gewölbe, sondern ein Beinhaus war, und wich entsetzt zurück. In den Nischen waren Knochen gestapelt. Totenschädel starrten ihn an. Einer der Rundbogen war nur zur Hälfte gefüllt; der freie Raum wartete auf die Brüder, die täglich oben in der Kirche beteten. Dies war der Keller der Toten, das Vorzimmer zum Himmel.
Er hörte das Klacken eines Schlosses, dann näherten sich Schritte, und Planchard erschien mit einer kleinen Holzkiste in der Hand. «Halte sie ins Licht und sieh sie dir an», sagte er. «Der Graf hat versucht, sie mir zu stehlen, aber als er mit dem Fieber hierhergebracht wurde, habe ich sie mir zurückgeholt. Kannst du sie gut sehen?»
Thomas hielt die Kiste in den schwachen Lichtschein, der von oben herabschien. Die Kiste war alt, das Holz spröde und die Bemalung außen und innen so verblasst, dass sie kaum noch zu erkennen war. Doch dann sah er auf der Vorderseite die Überreste jener Worte, die ihm so vertraut waren, die ihm seit dem Tod seines Vaters keine Ruhe mehr gelassen hatten: Calix Meus Inebrians.
Der Abt nahm Thomas die Kiste wieder ab. «Es heißt, sie wurde in einem kostbaren Reliquiar auf dem Altar der Burgkapelle gefunden. Aber sie war leer, als man sie fand, Thomas. Hast du verstanden?»
«Sie war leer», wiederholte Thomas.
«Ich glaube, ich weiß, was einen Vexille nach Astarac lockt, aber hier ist nichts für dich, Thomas, gar nichts. Die Kiste war leer.» Er brachte die Kiste zurück in die Schatzkammer, stieg mit Thomas die Treppe hinauf und verschloss die kleine Tür wieder. Dann bedeutete er Thomas, sich gemeinsam mit ihm auf den steinernen Sims zu setzen, der sich rund um das ansonsten leere Mittelschiff zog. «Die Kiste war leer», wiederholte Planchard. «Ich weiß, du glaubst, dass sie einst gefüllt war, und ich vermute, du bist gekommen, um das zu finden, was dort hineingehört.»
Thomas nickte. Er sah zu, wie zwei Novizen die Kirche fegten. Ihre Besen aus Birkenreisig scharrten leise über die großen Steinplatten. «Ich bin auch gekommen, um den Mann zu finden, der meinen Vater ermordet hat.»
«Du weißt, wer es war?»
«Mein Vetter. Guy Vexille. Wie ich gehört habe, nennt er sich Graf von Astarac.»
«Und du glaubst, er ist hier?», fragte Planchard überrascht. «Ich habe noch nie von diesem Mann gehört.»
«Ich glaube, er wird kommen, wenn er erfährt, dass ich hier bin.»
«Und dann willst du ihn töten?»
«Vor allem will ich wissen, wie er auf den Gedanken gekommen ist, dass mein Vater im Besitz des Grals war», sagte Thomas.
«Stimmt es denn?»
«Ich weiß es nicht», erwiderte Thomas wahrheitsgemäß. «Ich vermute, er glaubte, dass es so war. Aber manchmal war er auch einfach verrückt.»
«Verrückt?», hakte Planchard sanft nach.
«Er hat Gott nicht verehrt, sondern mit Ihm gerungen. Er wetterte gegen Gott, schrie, flehte und weinte. Die meisten Dinge sah er sehr deutlich, aber Gott verwirrte ihn.»
«Und wie ist es mit dir?»
«Ich bin Bogenschütze», sagte Thomas. «Ich muss die Dinge sehr deutlich sehen.»
«Dein Vater hat Gott die Tür geöffnet und war geblendet, während du es vorziehst, die Tür geschlossen zu halten?»
«Mag sein», sagte Thomas abwehrend.
«Was hoffst du denn mit dem Gral zu erreichen, wenn du ihn findest?»
«Frieden. Und Gerechtigkeit.» Es war keine wohlüberlegte Antwort, sondern eher ein Versuch, Planchards Frage abzuwimmeln.
«Ein Soldat, der den Frieden sucht», sagte der Abbé amüsiert. «Du bist voller Widersprüche. Du hast also getötet, gestohlen und gebrandschatzt, um Frieden zu schaffen.» Er hob die Hand, um Thomas’ Protest abzuwehren. «Ich muss dir sagen, Thomas, meiner Ansicht nach wäre es besser, wenn der Gral nicht gefunden würde. Falls ich ihn fände, würde ich ihn in die Tiefen des Meeres schleudern, dorthin, wo die Ungeheuer hausen, und niemandem etwas davon sagen. Doch falls jemand anders ihn findet, wird er nur zu einer weiteren Trophäe, um die machtgierige Männer Krieg führen werden. Könige werden darum kämpfen, Männer wie du werden dafür sterben, Kirchen werden sich daran bereichern, und es wird niemals Frieden geben. Aber wer weiß, vielleicht hast du ja recht? Vielleicht wird der Gral uns ein Zeitalter der Fülle und des Friedens bescheren, und ich bete dafür, dass es so kommt. Doch der Fund der Dornenkrone hat keine solchen Wohltaten gebracht, und warum sollte der Gral mächtiger sein als die Dornenkrone unseres Herrn? In Flandern und England gibt es Schalen mit Seinem Blut, doch auch sie bringen keinen Frieden. Ist der Gral kostbarer als Sein Blut?»
«Manche Leute glauben das», gab Thomas zu.
«Und diese Leute werden töten, um in seinen Besitz zu kommen», sagte Planchard. «Sie werden ihre Gegner zerfleischen wie ein Wolf die Lämmer, und du erzählst mir, der Gral wird Frieden bringen?» Er seufzte. «Dennoch – vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es an der Zeit, dass der Gral gefunden wird. Wir können ein Wunder gebrauchen.»
«Um Frieden zu erlangen?»
Planchard schüttelte den Kopf. Mit ernstem, traurigem Gesicht starrte er lange zu den beiden Novizen hinüber. «Ich habe es noch niemandem gesagt, Thomas», brach er schließlich sein Schweigen, «und es wäre klug, wenn du es nicht weitererzählen würdest. Bald werden es alle wissen, aber dann ist es ohnehin zu spät. Vor einigen Tagen habe ich einen Brief von einer Zisterze in der Lombardei bekommen. Unsere Welt wird sich von Grund auf verändern.»
«Wegen des Grals?»
«Ich wünschte, es wäre so. Nein, weil im Osten eine Seuche wütet. Eine furchtbare Seuche, eine Pestilenz, die sich ausbreitet wie Rauch, die jeden tötet, mit dem sie in Berührung kommt, und niemanden verschont. Es ist eine Plage, Thomas, die geschickt worden ist, uns zu peinigen.» Der Abbé betrachtete die Staubkörnchen, die in dem Streifen Sonnenlicht tanzten, der durch eines der hohen, schmucklosen Fenster hereinfiel. «So eine Seuche kann nur ein Werk des Teufels sein», fuhr Planchard fort und bekreuzigte sich. «Mein Bruder Abt berichtet, in einigen Städten in Umbrien sei die Hälfte der Bevölkerung daran gestorben, und er rät mir, das Tor zu verriegeln und keine Besucher einzulassen, aber wie kann ich das tun? Wir sind hier, um den Menschen zu helfen, nicht um ihnen Gottes Tür zu versperren.» Er hob den Blick, als suche er zwischen den mächtigen Dachbalken göttliche Unterstützung. «Eine Finsternis wird kommen, Thomas, die größte Finsternis, die die Menschheit je gesehen hat. Falls du den Gral findest, wird er vielleicht ein wenig Licht in diese Finsternis bringen.»
Thomas musste an die Vision denken, die Geneviève unter den Blitzen gehabt hatte: eine große Finsternis und über ihm ein helles Licht.
«Für mich war die Suche nach dem Gral immer eine Besessenheit», fuhr Planchard fort, «die Jagd nach einer Schimäre, die nur Böses hervorbringt, doch jetzt weiß ich, dass nichts so bleiben wird, wie es war. Nichts. Vielleicht brauchen wir ein wundersames Symbol der Liebe Gottes.» Er seufzte. «Ich war sogar versucht, mich zu fragen, ob diese Pestilenz von Gott gesandt worden ist. Vielleicht will Er uns durch Sein Feuer reinigen, auf dass die, die verschont werden, Seinen Willen tun. Ich weiß es nicht.» Er schüttelte traurig den Kopf. «Was wirst du tun, wenn deine Gefährtin wieder wohlauf ist?»
«Ich bin hierhergekommen, um alles über Astarac zu erfahren», erwiderte Thomas.
«Die Mühsal des Menschen kennt weder Anfang noch Ende», sagte Planchard lächelnd. «Würdest du mir einen Rat verübeln?»
«Natürlich nicht.»
«Dann geh fort von hier, Thomas», sagte der Abbé mit Nachdruck. «Weit fort. Ich weiß nicht, wer den Grafen von Berat getötet hat, aber es ist nicht schwer zu erraten. Sein Neffe – der Ritter, den ihr gefangen genommen habt – ist ein törichter, aber starker und rücksichtsloser Mann. Ich bezweifle, dass der Graf Lösegeld für ihn gezahlt hätte, doch nun ist der Neffe seinerseits Graf und kann selbst über das Lösegeld verhandeln. Und wenn er sucht, was auch sein Onkel suchte, wird er jeden Rivalen töten, in diesem Fall dich. Also sei vorsichtig. Und brich so bald wie möglich auf.»
«Bin ich hier nicht willkommen?»
«Ihr seid beide von Herzen willkommen», sagte Planchard, «aber heute Morgen ist der Knappe des Grafen losgeritten, um den Tod seines Herrn zu melden, und der Junge weiß, dass ihr hier seid, du und das Mädchen. Er kennt vielleicht eure Namen nicht, aber ihr beide seid – wie soll ich sagen – recht auffällig. Wenn jemand darauf aus ist, dich zu töten, Thomas, wird er wissen, wo er dich findet. Deshalb ist mir so daran gelegen, dass du gehst. In diesem Haus sind genug Morde geschehen, ich will nicht, dass noch einer dazukommt.» Er stand auf und legte Thomas sanft die Hand auf den Kopf. «Gott sei mit dir, mein Sohn», sagte er, dann verließ er die Kirche.
Und Thomas spürte, wie die Finsternis sich über ihn senkte.
Joscelyn war Graf von Berat.
Er sagte es sich immer wieder, und jedes Mal stieg eine Woge der Freude in ihm auf. Graf von Berat! Herr des Geldes. Villesisle und sein Kumpan waren mit der Nachricht aus Astarac zurückgekehrt, der alte Mann sei im Schlaf verschieden. «Bevor wir im Kloster angekommen waren», erklärte Villesisle in Anwesenheit von Robbie und d’Evecque. Später jedoch, als sie unter sich waren, gab er zu, dass die Sache nicht so glatt und unblutig verlaufen war.
«Du bist ein Idiot», herrschte Joscelyn ihn an. «Was hatte ich dir gesagt?»
«Ich sollte ihn ersticken.»
«Und stattdessen verteilst du sein Blut im ganzen Zimmer?»
«Wir hatten keine andere Wahl», erwiderte Villesisle missmutig. «Einer seiner Soldaten war im Raum und zog das Schwert. Aber was macht das schon? Der Alte ist tot, oder?»
Er war tot, mausetot, und das war das Einzige, was zählte. Der vierzehnte Graf von Berat war auf dem Weg zum Himmel oder zur Hölle, und damit gehörte die Grafschaft Berat mitsamt ihren Burgen, Lehen, Städten, Leibeigenen, Ländereien und Fässern voller Münzen Joscelyn.
Joscelyn strahlte eine neue Autorität aus, als er Robbie und d’Evecque gegenübertrat. Zuvor, als er noch im Zweifel gewesen war, ob sein Onkel ihn freikaufen würde, hatte er sich Mühe gegeben, höflich zu sein, da seine Zukunft vom guten Willen seiner Bewacher abhing. Nun jedoch verhielt er sich kühl und von oben herab, denn schließlich waren sie lediglich Abenteurer, während er einer der reichsten Edelmänner von ganz Südfrankreich war. «Mein Lösegeld», verkündete er ohne Umschweife, «beträgt zwanzigtausend Florin.»
«Vierzig», entgegnete d’Evecque sofort.
«Er ist mein Gefangener!», beschwerte sich Robbie.
«So? Und du würdest dich mit zwanzig zufriedengeben, obwohl er vierzig wert ist?»
«Mir genügen zwanzig», sagte Robbie, und es war in der Tat ein Vermögen, würdig eines königlichen Herzogs. Auf englische Währung umgerechnet, entsprach die Summe dreitausend Pfund, genug, um ein ganzes Leben lang dem Luxus zu frönen.
«Und dreitausend Florin zusätzlich für die gefangenen Pferde und meine Soldaten.»
«Einverstanden», sagte Robbie, bevor d’Evecque etwas einwenden konnte.
D’Evecque ärgerte sich über Robbies Eilfertigkeit. Zwanzigtausend Florin waren ein sehr gutes Lösegeld, mehr als er je zu hoffen gewagt hätte, als die Reiter durch die Furt gekommen und in den Hinterhalt gestürmt waren, aber er fand trotzdem, dass Robbie zu schnell eingewilligt hatte. Normalerweise dauerte es Monate, ein Lösegeld auszuhandeln, es wurde endlos gefeilscht, Angebote, Gegenangebote, Forderungen und Drohungen wurden hin- und hergesandt, doch Joscelyn und Robbie hatten die ganze Angelegenheit in wenigen Augenblicken geregelt. «Das heißt» – d’Evecque musterte Joscelyn misstrauisch –, «Ihr bleibt hier, bis das Geld da ist.»
«Dann werde ich auf ewig hierbleiben», erwiderte Joscelyn. «Ich muss erst mein Erbe antreten, bevor ich an das Geld herankomme.»
«Ich soll Euch also einfach gehen lassen?» D’Evecque schnaubte verächtlich.
«Ich begleite ihn», erbot sich Robbie.
D’Evecque blickte zwischen dem jungen Schotten und Joscelyn hin und her und begriff, dass die beiden sich verbündet hatten. Dann war wohl Robbie derjenige gewesen, der Joscelyns Schild von der Wand genommen hatte. Der Normanne hatte es durchaus bemerkt, aber beschlossen, nichts dazu zu sagen. «So, du begleitest ihn, und er ist dein Gefangener, ja?»
«Genau», sagte Robbie.
«Aber ich befehle hier», wandte d’Evecque ein, «und ein Teil des Lösegelds gehört mir. Uns.» Er machte eine Handbewegung, um die Garnison einzuschließen.
«Ihr werdet es bekommen», sagte Robbie.
D’Evecque sah Robbie unverwandt an, und der junge Schotte wich seinem Blick aus. Offensichtlich wusste Robbie nicht so recht, auf wessen Seite er stand, und d’Evecque vermutete, dass er nicht zurückkommen würde, wenn er mit Joscelyn nach Berat ritt. Also ging der Normanne zu der Nische, in der das Kruzifix hing, das Thomas Geneviève vor die Augen gehalten hatte. Er nahm es von der Wand und legte es vor Robbie auf den Tisch. «Schwöre auf das Kreuz, dass wir unseren Anteil bekommen.»
«Ich schwöre es», sagte Robbie feierlich und legte die Hand auf das Kruzifix. «Bei Gott und beim Leben meiner Mutter.» Joscelyn, der das Ganze beobachtete, lächelte amüsiert.
D’Evecque gab nach. Er hätte darauf bestehen können, Joscelyn und die übrigen Gefangenen in Castillon d’Arbizon festzuhalten, und irgendwie hätte sich gewiss eine Möglichkeit gefunden, das Lösegeld überbringen zu lassen, doch das hätte zu wochenlanger Unruhe geführt. Robbies Anhänger – und das waren nicht wenige – hätten ihm vorgeworfen, durch das Warten riskiere er, dass das Geld überhaupt nicht gezahlt würde, oder sie hätten behauptet, er wolle das ganze Geld für sich allein, Robbie hätte den Unmut weiter geschürt, und letzten Endes wäre die ganze Garnison auseinandergebrochen. Vermutlich würde sie ohnehin zerfallen, denn ohne Thomas gab es keinen zwingenden Grund hierzubleiben. Die Männer hatten nie gewusst, dass sie auf der Suche nach dem Gral waren, aber sie hatten Thomas’ Zielstrebigkeit gespürt, waren überzeugt gewesen, dass ihr Tun eine Bedeutung hatte. Nun jedoch waren sie nur noch eine Bande herrenloser Soldaten, die das Glück hatten, eine Festung erobert zu haben. Keiner von ihnen würde lange bleiben, dachte d’Evecque. Selbst wenn Robbie ihm seinen Anteil nicht auszahlte, würde er sehr viel reicher davonreiten, als er gekommen war, aber wenn Robbie sich an seinen Schwur hielt, hätte er sogar genug Geld, um eine Truppe aufzustellen und sich an denen zu rächen, die ihm seine Ländereien in der Normandie weggenommen hatten.
«Ich erwarte, dass das Geld innerhalb einer Woche hier ist», sagte d’Evecque.
«Zwei», entgegnete Joscelyn.
«Eine Woche!»
«Ich werde es versuchen», sagte Joscelyn lässig.
D’Evecque schob das Kruzifix über den Tisch. «Eine Woche!»
Joscelyn musterte d’Evecque lange, dann legte er einen Finger auf den gekreuzigten Jesus. «Wenn Ihr darauf besteht», sagte er. «Eine Woche.»
Am nächsten Morgen machte Joscelyn sich auf den Weg. Er ritt in voller Rüstung, mitsamt Banner, Pferden und Soldaten, und an seiner Seite ritt Robbie Douglas, gefolgt von weiteren sechzehn Soldaten, allesamt Gascogner, die Thomas gedient hatten, es jetzt aber vorzogen, das Gold des Grafen von Berat zu nehmen. D’Evecque blieben nur die Männer, mit denen er nach Castillon d’Arbizon gekommen war, aber das waren die Bogenschützen. Er stand auf der Burgwehr des Turms und sah Joscelyn und Robbie nach, wie sie davonritten. John Faircloth, der englische Soldat, gesellte sich zu ihm. «Verlässt Robbie uns?», fragte er.
D’Evecque nickte. «Ja. Den sehen wir nicht wieder.»
«Und was machen wir jetzt?»
«Wir warten auf das Geld, dann verschwinden wir.»
«Verschwinden? Einfach so?»
«Was in Gottes Namen sollen wir denn sonst tun? Der Earl of Northampton will diese Stadt nicht, John. Er wird niemanden zur Verstärkung schicken. Wenn wir hierbleiben, sterben wir.»
«Und der Gral?», fragte Faircloth. «Hat der Earl uns deshalb hierhergeschickt? Wusste er davon?»
D’Evecque nickte. «Die Ritter der Tafelrunde», sagte er mit spöttischem Lachen. «Das sind wir.»
«Sollen wir nicht weitersuchen?»
«Der Gral ist nichts als ein gottverdammtes Hirngespinst», erwiderte d’Evecque heftig. «Thomas glaubte halb daran, und der Earl fand, es wäre einen Versuch wert. Aber das Ding existiert nicht. Die ganze Sucherei ist purer Schwachsinn. Und Robbie hat sich mittlerweile auch noch den Kopf verdrehen lassen, aber er wird ihn ebenso wenig finden, weil er nicht zu finden ist. Es gibt nur uns und einen Haufen Feinde, und deshalb nehmen wir unser Geld und gehen nach Hause.»
«Was ist, wenn sie das Lösegeld nicht schicken?», fragte Faircloth.
«Es gibt doch noch Ehre, oder etwa nicht?», empörte sich d’Evecque. «Ich meine, wir plündern, stehlen, vergewaltigen und töten, aber wir würden uns niemals gegenseitig übers Ohr hauen. Gütiger Jesus! Wenn es so weit käme, könnte man ja niemandem mehr vertrauen.» Er hielt inne und spähte zu Joscelyn und seinem Gefolge hinüber, die am Ende des Tals Halt gemacht hatten. «Sieh dir die Bastarde an», sagte er. «Stehen da, beobachten uns und fragen sich, wie sie uns hier rauskriegen.»
Die Reiter warfen tatsächlich einen letzten Blick auf den Turm von Castillon d’Arbizon. Joscelyn sah zu, wie die Flagge des Earl of Northampton dreist in der leichten Brise spielte, und spuckte verächtlich auf die Straße. «Wollt Ihr ihnen wirklich das Geld schicken?», fragte er Robbie.
Die Frage überraschte Robbie. «Selbstverständlich», sagte er. Sobald er die geforderte Summe ausbezahlt bekam, erforderte die Ehre, dass er Guillaume d’Evecque seinen Anteil zukommen ließ. Ihm wäre nie eingefallen, das nicht zu tun.
«Aber sie haben das Banner meines Feindes gehisst», wandte Joscelyn ein. «Wenn du ihnen das Geld schickst, was hindert mich daran, es mir zurückzuholen?» Abwartend sah er Robbie an.
Robbie versuchte, die Tragweite dieser Andeutung auszuloten, sie mit seinem Verständnis von Ehre zu vereinen, doch solange er das Geld schickte, fand er, war der Ehre Genüge getan. «Sie haben keine Waffenruhe gefordert», sagte er zögernd, und das war genau die Antwort, die Joscelyn hören wollte, denn sie bedeutete, dass er zum Angriff übergehen konnte, sobald das Geld bezahlt war. Lächelnd trieb er sein Pferd wieder an.
Sie erreichten Berat gegen Abend. Ein Soldat war vorausgeritten, um in der Stadt die Ankunft des neuen Herrn anzukündigen, und so empfing eine Delegation von Ratsherren und Geistlichen Joscelyn eine halbe Meile vor dem Osttor. Sie knieten nieder, um ihn willkommen zu heißen, und die Geistlichen boten dem Grafen einige wertvolle Reliquien der Kathedrale dar: eine Sprosse von Jakobs Leiter, das Gerippe eines der Fische von der Speisung der Fünftausend, die Sandale der heiligen Gudula und ein Nagel von der Kreuzigung eines der beiden Diebe, die zusammen mit Jesus gestorben waren. Sie alle waren Geschenke des alten Grafen an die Stadt, und man erwartete von dem neuen Grafen, dass er vom Pferd stieg und den Reliquien in ihren kostbaren Schreinen aus Silber, Gold und Kristall seine Verehrung erwies. Joscelyn wusste das sehr genau, doch er beugte sich nur im Sattel vor und fragte mit schneidender Stimme: «Wo ist der Bischof?»
«Er ist krank, Herr.»
«Zu krank, um mich zu begrüßen?»
«Er ist krank, Herr, sehr krank», sagte einer der Geistlichen. Joscelyn starrte den Mann einen Moment finster an, dann entschloss er sich, die Erklärung zu akzeptieren. Er stieg ab, kniete kurz nieder, bekreuzigte sich vor den dargebotenen Reliquien und bedachte die Ratsherren, die ihm symbolisch die Schlüssel der Stadt auf einem grünen Samtkissen reichten, mit einem knappen Nicken. Eigentlich hätte Joscelyn die Schlüssel entgegennehmen und mit ein paar freundlichen Worten zurückgeben sollen, doch er war hungrig und durstig, und so schwang er sich wieder in den Sattel und ritt an den knienden Ratsherren vorbei.
Der Trupp galoppierte zum Westtor, dessen Wachen ebenfalls vor ihrem neuen Herrn niederknieten, dann erklommen die Reiter den Hügel, auf dem Berat errichtet war. Zu ihrer Linken, leicht erhöht auf einem Felsplateau, stand die Kathedrale, ein langgezogener, flacher Bau ohne Turm, zu ihrer Rechten führte eine gepflasterte Straße zu der Burg, die ganz oben auf dem Kalkfelsen thronte. An den Häusern der Stadt hingen bunte Schilder, sodass die Männer hintereinander reiten mussten, begleitet von den Jubelrufen der Bürger, die die Straße säumten.
Die Straße öffnete sich auf einen Marktplatz, der mit matschigen Gemüseresten bedeckt war und nach dem Mist von Kühen, Schafen und Ziegen stank. Die Burg lag jetzt vor ihnen, und die Tore schwangen auf, als die Wachen die Flagge von Berat erblickten, die Joscelyns Knappe trug.
Dann wurde es für Robbie verwirrend. Ein Diener nahm ihm das Pferd ab, nach einigem Hin und Her bekam er eine Kammer im Ostturm zugewiesen, in der ein Bett für ihn hergerichtet war und ein Feuer brannte, und später gab es ein wildes Gelage, zu dem auch die verwitwete Gräfin eingeladen war. Zu Robbies Überraschung war sie jung, drall und hübsch, und nachdem das Mahl beendet war, packte Joscelyn sie am Handgelenk und nahm sie mit in sein neues Schlafgemach, das Zimmer des alten Grafen. Robbie blieb im großen Saal, wo die Soldaten drei Dienerinnen die Kleider vom Leib rissen und sich der Reihe nach an ihnen vergingen. Andere zerrten, weil Joscelyn sie ermuntert hatte, bevor er verschwunden war, bündelweise Pergamente aus den Regalen und warfen sie in das große, kräftig lodernde Feuer. Henri Courtois beobachtete das Ganze, ohne etwas zu sagen, betrank sich aber ebenso hemmungslos wie Robbie.
Am nächsten Morgen wurden die restlichen Regale leergeräumt. Die Bücher flogen durch ein Fenster in den Burghof, wo wiederum ein großes Feuer entzündet war. Die Regale wurden zerhackt und folgten den Büchern und Pergamenten. Bester Laune überwachte Joscelyn die Räumungsaktion, und zwischendrin empfing er Besucher. Einige von ihnen waren Bedienstete seines Onkels gewesen – Jäger, Waffenschmiede, Kellermeister und Schreiber – und wollten sich vergewissern, dass ihre Arbeit auch weiterhin gebraucht wurde. Andere waren niedere Adlige aus seinem Herrschaftsgebiet, die kamen, um ihren Lehnseid zu erneuern, indem sie ihre Hände zwischen die des jungen Grafen legten und den Kuss empfingen, der den Eid besiegelte. Auch Bittsteller kamen, die Gerechtigkeit forderten, sowie Männer, denen der verstorbene Graf noch Geld schuldete und die nun hofften, dass sein Nachfolger die Schulden begleichen würde. Die Priester der Stadt baten den Grafen um Geld, damit sie Messen für den Verstorbenen lesen konnten, und die Ratsherren von Berat sprachen in ihren rot-blauen Roben vor, um Joscelyn davon zu überzeugen, dass die Steuern in der Stadt gesenkt werden mussten. Neben all dem brüllte Joscelyn seinen Männern immer wieder zu, sie sollten alles verbrennen, was beschrieben war, und als ein junger Mönch ängstlich protestierte, er habe noch nicht alle Unterlagen gesichtet, warf Joscelyn ihn kurzerhand aus dem großen Saal. Wenig später entdeckte er die Kammer des Mönchs, in der noch weitere Dokumente lagen. Auch die landeten vor den verzweifelten Augen des Mönchs im Feuer.
Gerade als dieser neu entdeckte Haufen Pergamente aufloderte, dass die Glutfetzen durch den Burghof wirbelten und das Strohdach der Stallungen gefährdeten, erschien der Bischof, offenbar kerngesund. Er kam mit einem Gefolge von einem Dutzend weiterer Geistlicher, und unter ihnen war auch Michel, der Knappe des alten Grafen.
Der Bischof schlug seinen Stab auf das Pflaster, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Als der neue Graf geruhte, seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, zeigte der Bischof mit dem Stab auf ihn. Stille breitete sich im Burghof aus, da die Männer spürten, dass etwas in der Luft lag. Joscelyn, dessen breites Gesicht von der Hitze des Feuers glänzte, zog eine finstere Miene. «Was wollt Ihr?», fuhr er den Bischof an, der seiner Ansicht nach nicht genügend Ehrerbietung an den Tag gelegt hatte.
«Ich will wissen», entgegnete der Bischof, «wie Euer Onkel gestorben ist.»
Joscelyn trat ein paar Schritte auf die Abordnung zu. Der Klang seiner Stiefel hallte von den Mauern wider. Im Hof befanden sich mindestens hundert Männer, und einige von ihnen, die bereits vermutet hatten, dass der alte Graf ermordet worden war, bekreuzigten sich. Doch Joscelyn ließ sich davon nicht beeindrucken. «Er ist im Schlaf gestorben», sagte er laut. «Er war krank.»
«Eine seltsame Krankheit, die zu einer aufgeschlitzten Kehle führt.»
Im Hof erklang Gemurmel, das sich schnell zu empörtem Protest steigerte. Henri Courtois und einige der Soldaten des alten Grafen griffen nach dem Schwertknauf, doch Joscelyn blieb ungerührt. «Was werft Ihr mir vor?», herrschte er den Bischof an.
«Euch werfe ich gar nichts vor», erwiderte der Bischof. Er wollte sich nicht mit dem neuen Grafen anlegen, zumindest jetzt noch nicht, sondern ihn über seine Schergen angreifen. «Aber Euren Männern. Dieser Knappe» – er schob Michel nach vorn – «hat gesehen, wie sie Eurem Onkel die Kehle durchgeschnitten haben.»
Wiederum erklang entsetztes Gemurmel, und einige der Soldaten stellten sich neben Courtois, als wollten sie den Truppenführer ihrer Unterstützung versichern. Joscelyn beachtete die Unruhe nicht, sondern wandte sich an Villesisle. «Ich habe dich geschickt», sagte er laut, «meinen lieben Onkel um ein Gespräch zu bitten. Und jetzt höre ich, dass du ihn getötet hast?»
Villesisle war so schockiert über die Anschuldigung, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Er schüttelte nur den Kopf, aber so zögernd, dass alle Umstehenden von seiner Schuld überzeugt waren. «Ihr wollt Gerechtigkeit, Bischof?», rief Joscelyn über die Schulter.
«Das Blut Eures Onkels schreit danach», sagte der Bischof, «und Eure Anerkennung als rechtmäßiger Erbe ist davon abhängig.»
Joscelyn zog sein Schwert. Er trug keine Rüstung, nur Beinlinge, Stiefel und ein gegürtetes wollenes Wams, während Villesisle in einen Ledermantel gekleidet war, der ihn vor den meisten Schwertstreichen schützen würde. «Lassen wir den Kampf entscheiden», sagte er zum Bischof.
Villesisle wich zurück. «Ich habe doch nur das getan, was Ihr –», begann er, musste jedoch hastig ausweichen, da Joscelyn ihn mit zwei schnellen Schwertstreichen attackierte. Villesisle bekam Angst. War dies etwa kein harmloses Klingenkreuzen, um den Bischof zu besänftigen, sondern ein richtiger Kampf? Er zog ebenfalls das Schwert. «Herr», sagte er flehend zu Joscelyn.
«Gib dir Mühe, dass es echt aussieht», flüsterte Joscelyn ihm zu. «Alles andere regeln wir hinterher.»
Erleichterung durchströmte Villesisle. Er grinste und machte seinerseits einen Ausfall, den Joscelyn parierte. Die Umstehenden bildeten einen Halbkreis vor dem Feuer, um den beiden Raum zu geben. Villesisle war kein Anfänger, er hatte in zahlreichen Turnieren und Gefechten gekämpft, aber Joscelyn war größer und stärker, und diese Vorteile brachte er jetzt auch zum Einsatz. Er schwang sein Schwert in kraftvollen Hieben, die Villesisle verzweifelt parierte. Villesisle wich Schritt um Schritt zurück, dann sprang er zur Seite, sodass Joscelyns mörderischer Hieb nur die rauchige Luft zerteilte, und ging sofort mit einem Ausfallschritt zum Angriff über, doch Joscelyn hatte damit gerechnet, wehrte den Stoß ab und drängte so machtvoll nach vorn, dass Villesisle das Gleichgewicht verlor und rücklings auf dem Pflaster landete, Joscelyn drohend über ihm. «Ich muss dich vielleicht einsperren», flüsterte Joscelyn ihm kaum hörbar zu, «aber nicht für lange.» Laut sagte er: «Ich habe dir befohlen, meinen Onkel aufzusuchen und mit ihm zu sprechen. Leugnest du das?»
Villesisle spielte bereitwillig mit. «Ich leugne es nicht, Herr.»
«Sag das noch mal!», befahl Joscelyn. «Lauter!»
«Ich leugne es nicht, Herr!»
«Stattdessen hast du ihm die Kehle durchgeschnitten», sagte Joscelyn und bedeutete Villesisle aufzustehen. Sobald sein Gegner auf den Beinen war, ging er wieder zum Angriff über. Die Umstehenden hielten Joscelyn für den besseren Kämpfer, doch Courtois hatte Zweifel, ob Villesisle sein ganzes Können einsetzte. Er hieb auf seinen Gegner ein, ohne ihn ernsthaft zu bedrängen, sodass Joscelyn mit Leichtigkeit ausweichen konnte. Neben Joscelyn loderten die brennenden Bücher und Pergamente, und er wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Wenn ich diesem Mann Blut entlocke», rief er dem Bischof zu, «werdet Ihr das als Zeichen seiner Schuld anerkennen?»
«Das werde ich», sagte der Bischof, «aber es wird keine ausreichende Strafe sein.»
«Die Strafe überlasse ich Gott», erwiderte Joscelyn und grinste Villesisle verschwörerisch zu. Dann näherte er sich seinem Gegner scheinbar achtlos, sodass seine rechte Seite ungeschützt war, und Villesisle verstand, dass es eine Einladung zum Angriff war, um den Kampf echt wirken zu lassen. Gehorsam schwang er seine schwere, unhandliche Klinge, in der Erwartung, dass Joscelyn den Schlag parieren würde, doch stattdessen wich Joscelyn zurück und verstärkte den Schwung noch mit seiner eigenen Klinge, sodass Villesisle von der Wucht herumgerissen wurde. Da holte Joscelyn blitzschnell aus und stieß Villesisle die Schwertspitze in den Hals. Kalt lächelnd drehte er die Klinge und bohrte sie tiefer. Mit einem Ausdruck fassungslosen Erstaunens sank Villesisle auf die Knie. Sein Schwert fiel klirrend zu Boden. Während er noch röchelnd zu atmen versuchte, stieß Joscelyn mit aller Kraft nach, sodass die Klinge sich tief in Villesisles Brust bohrte. Der Sterbende kniete noch immer aufrecht, gehalten von dem Schwert, das in seiner Luftröhre steckte, dann drehte Joscelyn die Klinge erneut, packte den Griff mit beiden Händen und zog sie mit einem einzigen machtvollen Schwung heraus. Zuckend fiel Villesisle auf das Pflaster, und eine Blutfontäne spritzte Joscelyn über die Arme.
Die Zuschauer sahen wie erstarrt zu, als Villesisle sterbend zu Boden sank.
Joscelyn wandte sich um und suchte nach Villesisles mörderischem Gefährten. Der Mann versuchte zu fliehen, wurde jedoch von den Soldaten festgehalten und in den Halbkreis gestoßen. Er fiel vor Joscelyn auf die Knie und flehte um Erbarmen. «Er will, dass ich ihn verschone», rief Joscelyn dem Bischof zu. «Würdet Ihr das tun?»
«Er verdient gerechte Strafe», sagte der Bischof.
Joscelyn wischte die blutige Klinge am Saum seines Wamses ab, schob sie zurück in die Scheide und sah Henri Courtois an. «Hängt ihn», befahl er knapp.
«Herr …», begann der Mann, doch Joscelyn fuhr herum und trat ihm so fest ins Gesicht, dass er ihm den Kiefer ausrenkte. Als der Mann sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, holte Joscelyn erneut mit dem Fuß aus und riss ihm mit seiner Stiefelspore halb das Ohr ab. Dann packte er den blutenden Mann in gespielter Raserei, riss ihn hoch und warf ihn mit der Kraft eines turniergestählten Kämpfers rücklings in das Feuer. Der Mann stieß einen gellenden Schrei aus. Die Zuschauer schnappten entsetzt nach Luft, und einige wandten sogar den Blick ab. Der Mann versuchte verzweifelt, aus den Flammen zu entkommen, doch Joscelyn stieß ihn zurück, obwohl er sich selbst dabei in Gefahr brachte. Erneut schrie der Mann auf, als Haare und Kleider Feuer fingen und die glühende Hitze sich in seine Haut fraß. Sein Körper wand sich in grauenhaften Zuckungen, bis er schließlich reglos in der lodernden Glut liegen blieb.
«Zufrieden?», fragte Joscelyn zum Bischof gewandt, dann ging er, die Asche von seinem Ärmel streifend, davon.
Doch der Bischof war noch nicht fertig. Er folgte Joscelyn in den großen Saal, wo der neue Graf, durstig von seinen Anstrengungen, sich gerade einen Becher Rotwein einschenkte. Mit gereizter Miene drehte Joscelyn sich um.
«Die Ketzer», sagte der Bischof. «Sie sind in Astarac.»
«Die Ketzer sind vermutlich überall», entgegnete Joscelyn gleichgültig.
«Das Mädchen, das Vater Roubert getötet hat, ist dort», beharrte der Bischof. «Und der Mann, der sich geweigert hat, es dem Scheiterhaufen zu übergeben.»
Joscelyn erinnerte sich an die zierliche blonde Gestalt in der silbernen Rüstung. «Ach, das Mädchen», sagte er interessiert. Er leerte seinen Becher und schenkte sich nach. «Woher wisst Ihr, dass sie dort sind?»
«Michel war da. Er hat es von den Mönchen erfahren.»
«Ah ja», sagte Joscelyn. «Michel.» Mit mörderischem Funkeln im Blick trat er auf den Knappen seines Onkels zu. «Michel, der Geschichten erzählt. Der zum Bischof rennt, anstatt zu seinem neuen Herrn zu kommen.»
Ängstlich wich Michel zurück, doch der Bischof stellte sich schützend vor ihn. «Michel dient jetzt mir», sagte er, «und wer Hand an ihn legt, greift die Kirche an.»
«Wenn ich ihn also töte, wie er es verdient hätte, bringt Ihr mich auf den Scheiterhaufen, ja?» Verächtlich spuckte Joscelyn in Michels Richtung. «Was wollt Ihr von mir?»
«Ich will, dass die Ketzer festgenommen werden», erwiderte der Bischof. Dieser neue, gewalttätige Graf machte ihn nervös, aber er zwang sich, ihm die Stirn zu bieten. «Ich verlange im Namen Gottes und im Dienst Seiner heiligen Kirche, dass Ihr Männer aussendet, um die Begine, die einst unter dem Namen Geneviève bekannt war, und den Engländer, der sich Thomas nennt, zu finden und hierherzuschaffen. Ich will, dass sie brennen.»
«Aber nicht bevor ich mit ihnen gesprochen habe», meldete sich eine unbekannte Stimme zu Wort. Es war eine schneidende, kalte Stimme, und alle Männer im Saal, einschließlich des Bischofs und des neuen Grafen, blickten zur Tür, in der ein Fremder aufgetaucht war. Joscelyn hatte Hufgetrappel wahrgenommen, als er in den Turm hinaufgestiegen war, sich jedoch nichts dabei gedacht, da in der Burg den ganzen Morgen über reges Kommen und Gehen geherrscht hatte. Nun jedoch begriff er, dass Fremde in Berat angekommen sein mussten, und ein halbes Dutzend von ihnen stand jetzt im Eingang des großen Saals. Der Mann, der gesprochen hatte, war offenbar ihr Anführer. Er war noch größer als Joscelyn, aber hager, mit einem harten, fahlen Gesicht, das von schwarzem Haar umrahmt war, und vollständig in Schwarz gekleidet: schwarze Stiefel, schwarze Hosen, schwarzes Wams und schwarzer Mantel, dazu ein schwarzer, breitkrempiger Hut und eine mit schwarzem Tuch verkleidete Schwertscheide. Sogar seine Sporen waren aus schwarzem Metall, und Joscelyn, der ebenso fromm war wie ein Inquisitor barmherzig, verspürte unvermittelt den Drang, sich zu bekreuzigen. Da nahm der Fremde den Hut ab, und Joscelyn erkannte ihn. Es war der geheimnisvolle Ritter, der auf den Turnierfeldern Europas so reich geworden war, der einzige Gegner, den Joscelyn nie besiegt hatte. «Ihr seid der Harlekin», sagte er anklagend.
«Ich trete bisweilen unter diesem Namen auf», bestätigte der Fremde, woraufhin der Bischof und die übrigen Geistlichen sich bekreuzigten, denn der Name bedeutete, dass er ein Liebling des Teufels war. «Doch in Wirklichkeit heiße ich Guy Vexille.»
Der Name sagte Joscelyn nichts, doch die Kirchenmänner bekreuzigten sich ein zweites Mal, und der Bischof erhob seinen Stab, als wolle er sich verteidigen.
«Und was zum Teufel tut Ihr hier?», fragte Joscelyn herrisch.
«Ich bin gekommen», sagte Vexille, «um Licht in diese Welt zu bringen.»
Ein kalter Schauer überlief Joscelyn. Er wusste nicht, warum, er spürte nur eine instinktive Furcht vor diesem Mann, der sich Harlekin nannte und Licht in die Finsternis bringen wollte.
Die Knocheneinrenkerin verkündete gleich, sie könne nicht viel tun, und das, was sie tat, fügte Geneviève höllische Schmerzen zu, doch nachdem die Prozedur beendet war, wusch Bruder Clément der Gepeinigten sanft das Blut von Schulter und Brust, träufelte Honig auf die Wunde und verband sie erneut mit Sackleinen. Immerhin verspürte Geneviève plötzlich großen Hunger, was ein gutes Zeichen war. Sie aß alles, was Thomas ihr brachte, obwohl es weiß Gott wenig genug war, denn er selbst hatte bei seiner Plünderung alles Essbare aus Astarac mitgenommen, und die Vorräte des Klosters waren nahezu aufgebraucht, weil die Mönche sie an die Dorfleute weitergegeben hatten. Doch es gab noch ein wenig Käse, Birnen, Brot und Honig, und Bruder Clément kochte wieder einen großen Topf Suppe für alle. Die Aussätzigen zogen mit ihren Klappern in den Wald, um die Pilze dafür zu suchen. Zweimal am Tag gingen einige von ihnen zur Rückseite des Klosters und erklommen eine Treppe, die in einen kahlen steinernen Raum führte. Durch ein kleines Fenster konnte man von dort den Altar der Kirche sehen. Hier durften die Aussätzigen beten, und am zweiten und dritten Tag nach seinem Gespräch mit Abbé Planchard begleitete Thomas sie. Er ging nur widerstrebend, da er als Exkommunizierter eigentlich keine Kirche mehr betreten durfte, doch Bruder Clément zog ihn hartnäckig am Arm und strahlte über das ganze Gesicht, als Thomas schließlich nachgab.
Am Tag nach der qualvollen Behandlung durch die Knocheneinrenkerin kam Geneviève mit ihm. Das Gehen bereitete ihr keine Schwierigkeiten, obgleich sie noch geschwächt war und den linken Arm kaum bewegen konnte. Aber der Bolzen hatte ihre Lunge verfehlt, und deshalb – und dank Bruder Cléments Pflege – hatte sie überlebt. «Ich dachte, ich müsste sterben», gestand sie Thomas.
Er dachte an die drohende Seuche, aber da er nichts weiter darüber gehört hatte, beschloss er, Geneviève erst einmal nichts davon zu sagen. «Du wirst nicht sterben», sagte er. «Aber du musst den Arm bewegen.»
«Ich kann nicht. Es tut weh.»
«Du musst», wiederholte er. Als seine Arme und Hände von der Folter gemartert gewesen waren, hatte Thomas gedacht, er würde sie nie wieder benutzen können, doch seine Freunde, vor allem Robbie, hatten ihn gezwungen, mit dem Bogen zu üben. Anfangs hatte er gedacht, es sei hoffnungslos, doch nach und nach waren seine Fähigkeiten zurückgekehrt. Er fragte sich, wo Robbie jetzt wohl war. War er in Castillon d’Arbizon geblieben? Die Vorstellung erschreckte ihn. Würde Robbie ihm nach Astarac folgen? War aus ihrer Freundschaft wirklich Hass geworden? Und falls Robbie nicht kam, wer dann? Die Nachricht, dass er im Kloster war, würde sich auf die übliche, unsichtbare Weise ausbreiten – Gespräche im Gasthaus, Straßenhändler, die die Neuigkeiten von Dorf zu Dorf trugen –, und es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand in Berat aufhorchte. «Wir müssen bald von hier verschwinden», sagte er zu Geneviève.
«Wohin?»
«Weit weg. Vielleicht nach England?» Er wusste, er war gescheitert. Er würde den Gral hier nicht finden, und selbst wenn sein Vetter auftauchte, wie sollte Thomas ihn besiegen? Er war allein, nur mit einer verletzten Frau an seiner Seite, während Guy Vexille mit einem ganzen Trupp Soldaten reiste. Der Traum war vorbei, und es war Zeit zu gehen.
«Ich habe gehört, in England ist es kalt», sagte Geneviève.
«Die Sonne scheint jeden Tag», erwiderte Thomas mit ernster Miene, «die Ernte ist üppig, und die Fische springen aus den Flüssen direkt in den Topf.»
Geneviève lächelte. «Dann musst du mir Englisch beibringen.»
«Ein bisschen kannst du doch schon.»
«Ich kenne ‹verflucht›, ‹verdammt›, ‹gottverdammt› und ‹Himmelherrgott noch mal›.»
Thomas lachte. «Du hast das Englisch der Bogenschützen gelernt, aber den Rest bringe ich dir auch noch bei.»
Er beschloss, dass sie am nächsten Tag aufbrechen würden. Er schnürte seine Pfeile zusammen und säuberte Genevièves Kettenhemd. Dann band er die Pferde im Olivenhain an einen Baum, damit sie grasen konnten, und da es noch früher Nachmittag war, machte er sich zu Fuß auf den Weg zu der Burgruine. Er wollte sich noch ein letztes Mal die Festung ansehen, in der seine Vorfahren einst geherrscht hatten.
Als er das Kloster verließ, begegnete er Philin. Der coredor hatte seinen Sohn aus dem Krankentrakt abgeholt, ihn auf sein Pferd gesetzt und führte ihn nun Richtung Süden. Das Bein des Jungen war mit einigen der Kastanienstöcke geschient, die die Mönche sonst als Stütze für die Weinreben verwendeten. «Ich will nicht zu lange hierbleiben», sagte Philin zu Thomas. «Ich werde immer noch wegen Mordes gesucht.»
«Planchard würde dir doch sicher Schutz bieten», wandte Thomas ein.
«Ja, aber das würde die Familie meiner Frau nicht davon abhalten, Männer loszuschicken, um mich zu töten. In den Hügeln sind wir sicherer. Galdrics Bein wird dort genauso gut heilen wie anderswo. Und falls du einen Unterschlupf suchst –»
«Ich?» Thomas war überrascht über das Angebot.
«Einen guten Bogenschützen können wir immer gebrauchen.»
«Ich glaube, ich kehre nach Hause zurück. Nach England.»
«Dann möge Gott dich beschützen, mein Freund», sagte Philin und bog nach Westen ab, während Thomas weiter nach Süden und durch das Dorf ging. Einige der Leute dort bekreuzigten sich, als sie ihn erblickten, was bewies, dass sie ihn erkannten, doch niemand versuchte sich für das zu rächen, was er und seine Männer ihnen angetan hatten. Vielleicht hätten sie es gern getan, doch er war groß und kräftig und trug ein langes Schwert am Gürtel. Als er den Pfad zur Ruine hinaufging, merkte er, dass ihm drei Männer folgten. Er blieb stehen und drehte sich zu ihnen um, doch sie machten keine Anstalten, sich ihm zu nähern, sondern beobachteten ihn nur aus sicherem Abstand.
Es war ein guter Ort für eine Burg, dachte Thomas. Auf jeden Fall besser als Castillon d’Arbizon. Die Festung von Astarac stand auf einem Felsvorsprung und war nur über den schmalen Pfad zu erreichen, über den er gekommen war. Ursprünglich war der gesamte Felsvorsprung von einer hohen Mauer umschlossen gewesen, doch davon waren nur noch moosbewachsene Steinhaufen übrig, die ihm höchstens bis zur Hüfte reichten. Ein Rechteck aus zerfallenen Mauerresten, an das sich im Osten ein Halbrund anschloss, zeigte, wo die Kapelle gewesen war, und als Thomas über die großen Steinplatten ging, unter denen seine Vorfahren begraben lagen, sah er, dass jemand erst vor kurzem daran herumgewerkelt hatte. Kratzspuren zeigten an, wo sie hochgehebelt worden waren. Er überlegte, ob er versuchen sollte, eine der Platten anzuheben, doch dazu hatte er weder die Zeit noch das nötige Werkzeug, und so ging er zur Westseite, wo der Burgturm gestanden hatte, jetzt nur noch ein steinernes Gerippe, durch das Wind und Regen fegten. Als er an dessen Fuß ankam, drehte er sich noch einmal um, doch seine Verfolger schienen das Interesse an ihm verloren zu haben. Waren sie hier, um etwas zu bewachen? Womöglich den Gral? Bei dem Gedanken schoss ihm ein glühender Blitz durch die Adern, doch dann gewann er seinen Gleichmut wieder. Es gab keinen Gral. Der Wahnsinn seines Vaters hatte ihm diesen hoffnungslosen Traum in den Kopf gesetzt.
An einer Seite des Turms führten die Überreste einer Treppe nach oben, und Thomas stieg hinauf bis zu der Stelle, wo sich einst der Boden des ersten Stockwerks von Wand zu Wand gespannt hatte. Dort gähnte ein riesiges Loch in der fünf Fuß dicken Mauer, und Thomas kletterte hinein. Er blickte hinunter ins Tal, folgte mit den Augen dem Lauf des Flusses und versuchte erneut, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu empfinden, ein Echo seiner Vorfahren einzufangen, doch vergeblich. Er hatte etwas empfunden, als er nach Hookton zurückgekehrt war, sowenig er davon auch wiedergefunden hatte, aber hier spürte er nichts. Und der Gedanke, dass Hookton ebenso zerstört war wie diese Burg, weckte in ihm die Frage, ob ein Fluch über den Vexilles lag. Die Leute hier erzählten sich, dass die dragas, die Frauen des Teufels, Blumen hinterließen, wo sie gingen. Hinterließen die Vexilles Ruinen? Vielleicht hatte die Kirche doch recht. Vielleicht verdiente er es, exkommuniziert zu werden. Er blickte nach Westen, in die Richtung, in die er sich wenden musste, wenn er heimwärts wollte.
Und da sah er die Reiter.
Sie waren oben auf der Hügelkette, ein gutes Stück von ihm entfernt, und sie schienen aus der Richtung von Berat zu kommen. Es waren viele, und es waren Soldaten, denn was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, war das Aufblitzen von Metall.
Ungläubig starrte er hinüber. Dann setzte sein Verstand wieder ein, und er lief los, die Treppe hinunter, über den von Unkraut überwucherten Innenhof, durch das zerborstene Tor, an den drei Männern vorbei und den Pfad hinunter, durch das Dorf und dann Richtung Norden, bis er keuchend am Tor des Aussätzigenspitals ankam. Bruder Clément öffnete ihm, und Thomas stürmte an ihm vorbei. «Soldaten», rief er nur, lief weiter zur Hütte und schnappte sich seinen Bogen, die zusammengeschnürten Pfeile, ihre Mäntel und Kettenhemden und die Taschen. «Komm schnell», rief er zu Geneviève, die vorsichtig Bruder Cléments frischgesammelten Honig in kleine Gläser füllte. «Frag nicht, komm.»
Sie eilten zum Olivenhain, doch als Thomas sich umsah, bemerkte er Soldaten auf der Straße, die nördlich von St. Sévère durch das Tal führte. Die Männer waren noch ein gutes Stück entfernt, doch wenn sie zwei Reiter erblickten, die vom Kloster aufbrachen, würden sie ihnen folgen. Fliehen konnten sie also nicht mehr, sie mussten sich verstecken. Er blieb stehen und überlegte kurz.
«Was ist?», fragte Geneviève.
«Soldaten. Wahrscheinlich aus Berat.»
«Da auch.» Sie deutete in Richtung Süden. Die Leute aus dem Dorf kamen auf das Kloster zugelaufen, und das konnte nur bedeuten, dass Soldaten anrückten.
Thomas fluchte. Er nahm Geneviève an der Hand und lief mit ihr zur Rückseite des Klosters, auf den Pfad, den die Aussätzigen nahmen, wenn sie zur Kirche wollten. Die Glocke des Klosters begann zu läuten, um die Mönche zu warnen, dass bewaffnete Fremde in ihr Dorf gekommen waren.
Und Thomas wusste, warum. Wenn die Soldaten sie fanden, würden er und Geneviève auf dem Scheiterhaufen enden. Hastig erklomm er die Treppe zum Gebetsraum der Aussätzigen, warf seinen Bogen, die Pfeile und das übrige Gepäck durch das Fenster, das auf den Altar hinausging, und kletterte hinterher. Die Öffnung war schmal, doch er zwängte sich hindurch und ließ sich auf den Steinboden der Kirche fallen. «Komm!», drängte er Geneviève. Am anderen Ende des Mittelschiffs ging die Tür auf, und Leute drängten herein. Geneviève stöhnte vor Schmerz, als sie sich durch das kleine Fenster schob. Sie blickte angstvoll nach unten, doch Thomas streckte die Arme aus und fing sie auf. «Hier entlang.» Er schnappte sich die Sachen und eilte mit ihr am Chor vorbei zum Seitenaltar, wo die Statue des heiligen Benedikt traurig auf die verängstigen Dorfbewohner herabblickte.
Die Tür in der Nische dahinter war verschlossen, was Thomas nicht überraschte. Er schob Geneviève beiseite und trat mit dem Absatz gegen das Schloss. Der Knall hallte wie ein Paukenschlag durch die Kirche, und die Tür bebte heftig, doch sie gab nicht nach. Er trat ein zweites Mal dagegen, kräftiger, und beim dritten Mal krachte es, Holz splitterte, und der Riegel des Schlosses sprengte den alten Türrahmen. «Pass auf, die Treppe ist rutschig», sagte er und führte sie die Stufen hinunter in die Finsternis des Beinhauses. Vorsichtig tastete er sich zu dem Rundbogen vor, der nur halb gefüllt war, warf seine Sachen hinter den Knochenstapel und hob Geneviève hoch. «Klettere nach hinten durch», sagte er, «und räum die Knochen beiseite.»
Da er wusste, dass er ihr nicht folgen konnte, ohne Dutzende von Rippen und Arm- und Beinknochen hinunterzuwerfen, ging er von Rundbogen zu Rundbogen und riss überall Knochen heraus. Schädel kullerten über den Boden, Ellen und Schienbeine klapperten, und erst als das ganze Kellergewölbe mit Gebeinen übersät war, folgte er Geneviève und half ihr, zwischen den ältesten Knochen hinten an der Wand Raum zu schaffen. Sie zerrten die Rippen und Beckenknochen und Schulterblätter beiseite, bis sie sich schließlich ein tiefes, dunkles Versteck inmitten der Toten geschaffen hatten.
Und dort, in der Finsternis, umgeben von Gebeinen, warteten sie.
Sie hörten, wie die Tür in den Angeln quietschte. Sahen das kleine, flackernde Licht einer Laterne, das groteske Schatten an die gewölbte Decke warf.
Und hörten die klirrenden Schritte der Männer, die gekommen waren, sie zu töten.