15
Um vierzehn Uhr lagen die Ergebnisse der chemischen Analyse der Farbe vor, mit der die Botschaft an die Decke der Fleischerei gesprüht worden war. Besonders aufschlussreich waren sie nicht. Die Farbe stammte aus einer Dose Montana Tarblack, der vermutlich meistgekauften Sprühfarbe in den Vereinigten Staaten, die von jedem Graffiti-Künstler verwendet wurde. Das graphologische Gutachten bestätigte lediglich, was Hunter bereits vermutet hatte: Um die Worte an die Decke zu sprühen, hatte der Killer nicht seine Schreibhand benutzt – ein einfacher, aber wirkungsvoller Trick. Auf Hunters Veranlassung hin wurde der gesamte Raum, einschließlich der Decke, ein zweites Mal nach Fingerabdrücken untersucht. Jeder Abdruck sollte umgehend mit der nationalen Fingeradruckdatenbank abgeglichen werden.
Hunter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und strich sich langsam mit dem Finger den Nasenrücken entlang. Sein Verstand hatte nach wie vor Mühe, zu begreifen, was hinter einer so sinnlosen Tat stehen konnte.
Wenn die Bombe nicht gewesen wäre, sondern der Täter das Opfer einfach nur zugenäht hätte, wäre die Sache – zumindest aus psychologischer Sicht – einfacher zu erklären gewesen. Das Zunähen des Mundes hätte eine Vergeltungstat nahegelegt: Dem Opfer war eine Lektion erteilt worden, womöglich weil es etwas gesagt hatte, was es nicht hätte sagen sollen. Vielleicht hatte es über die falsche Person gesprochen oder mit der falschen Person oder beides. Das Vernähen der Lippen wäre ganz klar als Symbol dafür zu deuten gewesen, dass jemand zum Schweigen gebracht worden war.
Das Zunähen des Mundes und der Vagina hätten das Motiv in eine etwas andere Richtung gelenkt. Möglicherweise war der Täter vom Opfer sexuell hintergangen worden und hatte Rache genommen. Wenn du unbedingt dein Maul aufreißen und die Beine für einen anderen breit machen musstest, werde ich eben dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt. Damit hätte ein betrogener Ehemann, Freund oder Geliebter ganz oben auf der Liste der Verdächtigen gestanden – eine Möglichkeit, die Hunter keinesfalls verworfen hatte.
Aber all das erklärte nicht die Bombe. Wieso eine Bombe im Körper des Opfers deponieren? Hunter wusste aus Erfahrung, dass die überwältigende Mehrheit der Gewaltdelikte, die man gemeinhin als »Verbrechen aus Leidenschaft« bezeichnete, reine Affekttaten waren, also aus irrationaler Wut und Kontrollverlust heraus verübt wurden. Nur äußerst selten begegnete man ihnen in der Form eines derart sorgfältig geplanten, kalkulierten und brutalen Akts der Vergeltung.
Eine Möglichkeit, die Hunter ebenfalls nicht außer Acht lassen wollte, war, dass sie es mit mehr als einem Täter zu tun hatten – unter Umständen sogar mit einer Gang. Einige der Banden in L. A. waren berüchtigt für ihre Gewaltbereitschaft und ihr skrupelloses Vorgehen. Dass sie sich untereinander in Form brutaler Überfälle oder Morde Warnungen zukommen ließen, geschah häufiger, als der Bürgermeister einzugestehen bereit war. Gangs hatten oft ihre Finger im illegalen Waffenhandel; an eine Bombe oder Granate oder an Teile zu deren Herstellung heranzukommen hätte für sie also kein großes Problem dargestellt. Vielleicht war das Opfer die Freundin eines Bandenführers gewesen. Manche Gangmitglieder betrachteten Frauen als ihren Besitz. Falls sie ihn betrogen hatte – womöglich sogar mit dem Mitglied einer rivalisierenden Gang –, dann hätte das ihre Strafe dafür sein können.
Zu guter Letzt bestand noch die Möglichkeit, dass das Zunähen überhaupt keine symbolische Bedeutung hatte. Captain Blake hatte es bereits angedeutet: Es war durchaus vorstellbar, dass sie es einfach nur mit einem extrem sadistischen Killer zu tun hatten, der Menschen aus purem Vergnügen quälte. Und eins war Hunter klar: Wenn sie mit dieser Einschätzung recht hatte, würden weitere Opfer folgen.
»Die Akten der vermissten Personen, die wir angefragt haben, müssten innerhalb der nächsten Dreiviertelstunde da sein«, meldete Garcia, nachdem er ein Telefonat beendet hatte. Mit dieser Ankündigung riss er Hunter aus seinen Gedanken.
»Sehr gut. Wenn ich bis dahin noch nicht zurück bin, fang schon mal ohne mich an.« Hunter griff nach seiner Jacke. Er kannte nur eine einzige Person in L. A., die über Waffen, Sprengstoff, Zündmechanismen und Gangs Bescheid wusste. Es war Zeit, den einen oder anderen Gefallen einzulösen.
16
D-King war der vermutlich prominenteste Dealer in Hollywood und Northwest Los Angeles. Obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass er mit Drogen handelte, hatte ihm bislang niemand etwas nachweisen können – am allerwenigsten die zuständige Bezirksstaatsanwaltschaft. Dort versuchte man seit mittlerweile acht Jahren händeringend, ihm etwas anzuhängen – ohne Erfolg.
D-King war jung, intelligent, ein skrupelloser Geschäftsmann und eine tödliche Gefahr für jeden, der dumm genug war, sich mit ihm anzulegen. Angeblich handelte er nicht nur mit Drogen, sondern auch mit Frauen, Hehlerware, Waffen … die Liste war endlos. Darüber hinaus besaß er auch eine Reihe legaler Unternehmungen – Nachtclubs, Bars, Restaurants, sogar ein Fitnessstudio. Die Steuerbehörde war ebenfalls machtlos gegen ihn.
Die Wege von Hunter und D-King hatten sich zum ersten Mal drei Jahre zuvor während des berüchtigten Kruzifix-Killer-Falls gekreuzt. Durch eine Verkettung unvorhersehbarer Ereignisse war es zu einer bewaffneten Konfrontation gekommen. Die Entscheidung, die sie schließlich gemeinsam getroffen hatten, um die ausweglose Pattsituation zu beenden, hatte in beiden einen gewissen Respekt für den jeweils anderen geweckt, ungeachtet der Tatsache, dass sie auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes standen.
Hunter suchte und fand D-Kings Adresse im Polizeirechner. Wo sonst sollte er residieren als in Malibu Beach, dem Wohnort der Superreichen und Superberühmten?
Als Hunter seinen Wagen vor dem riesigen, mit Überwachungskameras gespickten Eisentor zum Stehen brachte, musste er zugeben, dass er beeindruckt war. Das zweigeschossige Anwesen sah geradezu majestätisch aus: ein von Efeu überwachsenes Backsteinhaus mit zwei Erkern. Im Abstand von jeweils etwa sieben Metern schmückten quadratische Stützpfeiler aus Granit die Fassade.
Bevor Hunter Gelegenheit hatte, den Knopf an der Gegensprechanlage zu drücken, tönte eine sonore Männerstimme aus dem Lautsprecher.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte Ihren Boss sprechen.«
»Und Sie sind?«
»Sagen Sie D-King, Robert Hunter ist hier.«
In der Gegensprechanlage knackte es, und eine Minute später schwangen die Flügel des Eisentors auf.
Die Zufahrt zum Haus war von millimetergenau zurechtgeschnittenen Hecken gesäumt. Hunter parkte seinen rostigen Buick Lesabre neben einem perlweißen Lamborghini Gallardo, der vor der sechstürigen Garage stand. Er erklomm die Stufen zum Haus und war kaum oben angekommen, als die Tür von einem eins neunzig großen, hundertzwanzig Kilo schweren schwarzen Muskelprotz aufgerissen wurde. Stirnrunzelnd betrachtete dieser Hunters Wagen.
»Ein amerikanischer Klassiker«, sagte Hunter.
Nicht mal der Hauch eines Lächelns zeigte sich im Gesicht des Muskelmanns.
»Folgen Sie mir bitte.«
Das Innere des Hauses war nicht minder beeindruckend als das Äußere. Vier Meter hohe Decken, Designermöbel und Wände voller Ölgemälde – einige Holländer, einige Franzosen und allesamt wertvoll.
Als Hunter über den mit italienischem Marmor ausgelegten Boden des Wohnbereichs schritt, erspähte er eine atemberaubend attraktive schwarze Frau, die im gelben Bikini zwischen mehreren großen Kissen saß. Sie hob den Blick von ihrem Hochglanzmagazin und schenkte Hunter ein einladendes Lächeln. Er erwiderte den Gruß mit einem höflichen Nicken und schmunzelte. So gut haben es nicht mal Rockstars und Spitzensportler.
Der Muskelmann lotste Hunter durch eine gläserne Schiebetür hinaus in den Garten nebst Poolbereich. Vier junge, ausnehmend hübsche Frauen saßen oben ohne am Rand des Schwimmbeckens, kicherten und bespritzten sich gegenseitig mit Wasser. Drei weitere Muskelmänner in Anzügen standen an strategischen Punkten des Gartens und hielten Wache. D-King saß an einem der vier kunstvoll verwitterten Teakholztische neben dem Pool unter einem weißen Sonnenschirm. Sein blaues Seidenhemd war aufgeknöpft und gab den Blick auf eine mit Ketten und Diamanten behängte muskulöse Brust frei. Die Blondine, die neben ihm saß, trug wie ihre Kolleginnen am Pool kein Oberteil. Ein Ring aus Weißgold schmückte ihre linke Brustwarze.
»Detective Robert Hunter?«, sagte D-King mit einem breiten Lächeln, allerdings ohne aufzustehen. »Was geht ab, Bruder? Das nenn ich mal eine Überraschung. Wie lange ist das her – drei Jahre?« Er deutete auf den Stuhl ihm gegenüber.
Hunter nahm Platz. »So in etwa.« Er nickte der Blondine zur Begrüßung zu und bekam ein Zwinkern als Antwort.
»Kann ich Ihnen irgendwas anbieten, Detective?«, fragte D-King und nickte in Richtung seiner blonden Gespielin. »Lisa hier kann ganz fantastische Cocktails mixen.«
Hunters Blick glitt kurz zu Lisa, die ihn kokett angrinste. »Alles, was dein Herz begehrt.«
Hunter schüttelte den Kopf. »Im Moment nichts, danke.«
»Okay«, sagte D-King. »Sie sind also nicht wegen der Gesellschaft oder den Drinks hier. Was kann ich für Sie tun, Detective?«
Hunter sah erneut unauffällig zu Lisa, dann wieder zu D-King. Der verstand den Wink.
»Lisa, warum gehst du nicht und spielst ein bisschen mit den anderen Mädels.« Es war nicht als Frage formuliert. Lisa löste den Sarong, den sie um die Hüften trug, und erhob sich. Erst jetzt fiel Hunter auf, dass sie darunter nichts anhatte. Dennoch zeigte sie nicht die geringste Spur von Scham, als sie einen Augenblick lang genüsslich vor ihm stehen blieb. Sie hatte den vollkommensten Körper, den er je gesehen hatte. Schließlich drehte sie sich langsam um und ging davon, wobei sie die Hüften schwang, als befände sie sich auf dem Laufsteg. Im Kreuz direkt über dem Gesäß hatte sie eine Tätowierung, die lautete: Ich weiß genau, dass du guckst.
»Genau so, Baby, zeig’s uns«, rief D-King ihr hinterher, bevor er sich an Hunter wandte. »Geben Sie’s zu, Detective, ich weiß, wie man das Leben genießt, oder? Hugh Heffner und Larry Flynt kacken so was von ab gegen mich. Der Playboy und der Hustler können mir die schwarze Beule lecken, bis sie glänzt. Meine Mädchen sind viel heißer als alles, was die zu bieten haben.«
»Was wissen Sie über selbstgebaute Sprengsätze?«
Das Grinsen verschwand aus D-Kings Gesicht. »Ich weiß, dass sie bum machen.«
Hunter hatte sein Pokerface aufgesetzt und wartete.
»Offiziell gar nichts.«
»Und inoffiziell?«
D-King kratzte sich eine Narbe über der linken Augenbraue mit dem kleinen Finger, während er Hunter aufmerksam ansah. »Wenn Sie inoffiziell hier sind, warum trinken Sie dann nicht was?«
»Weil ich keinen Durst habe.«
Sie taxierten einander mehrere Sekunden lang schweigend.
»Bei unserer ersten Begegnung haben Sie erst ewig lang Bullshit gelabert, bevor Sie zur Sache gekommen sind. Ich hoffe, über so was sind wir inzwischen hinaus. Worum geht’s wirklich, Detective?«
Hunter beugte sich vor und legte ein Foto vom Gesicht ihres Mordopfers auf den Tisch. Er drehte es so, dass D-King es richtig herum betrachten konnte.
»Fuck, Bruder, vergessen Sie’s.« D-King zuckte zusammen und wich instinktiv zurück. »Sie haben mir schon mal ein Bild von einer Toten gezeigt, und danach war die Scheiße so was von am Dampfen.«
»Kennen Sie sie?«
»Mit genau der gleichen Frage hat damals der ganze Mist angefangen.« D-Kings Blick glitt zurück zum Foto, und unwillkürlich fuhr er sich mit den Fingerspitzen über die Lippen. »O Mann, das ist echt abgefuckt. Der Arschwichser hat ihr den Mund zugenäht?«
»Kennen Sie sie?«, wiederholte Hunter seine Frage.
»Sie ist keins von meinen Mädchen, wenn Sie das wissen wollen«, antwortete D-King nach einer kurzen Pause.
»Könnte sie denn eine Prostituierte gewesen sein?«
»Nicht mit der Visage.« Sofort hob er in einer beschwichtigenden Geste die Hände. »Sorry, ganz mieser Witz. Heutzutage kann so gut wie jede im Geschäft sein. Hübsch genug ist sie ja, aber ich glaub nicht, dass ich sie schon mal gesehen hab.« Er versuchte, in Hunters ausdruckslosem Gesicht zu lesen, scheiterte aber. »Das Problem ist, heute versuchen’s so viele Mädchen auf eigene Faust. Basteln sich eine eigene Website und so weiter; wissen Sie, was ich meine? Schwer zu sagen. Aber wenn sie eine Edelnutte hier in der Gegend um Hollywood gewesen wär, wüsste ich’s.«
Die vier Frauen, die am Rand des Pools gespielt hatten, beschlossen, dem Beispiel von Lisa zu folgen, die in einem aufblasbaren Sessel auf dem Wasser schwamm und einen knalligbunten Cocktail schlürfte.
D-Kings Blick wanderte erneut zum Foto. »Das ist echt abartig, Mann. Und bei dem kranken Scheiß, mit dem Sie immer zu tun haben, hat er’s garantiert gemacht, als sie noch gelebt hat, oder?«
»Könnte das eine Gang gewesen sein?«, fragte Hunter. »Oder ein Zuhälter?«
D-Kings Miene verdüsterte sich. Der Polizei zu helfen stand nicht sehr weit oben auf seiner Prioritätenliste. »Was weiß ich«, sagte er abweisend.
»Kommen Sie, D-King, sehen Sie sie sich noch mal an.« Hunter tippte energisch auf das Foto. Trotzdem blieb sein Tonfall ruhig. Er wusste, dass die drei Muskelmänner im Garten ihn nicht aus den Augen ließen. »Ihr Mund war nicht der einzige Teil ihres Körpers, den der Täter zugenäht hat. Wer auch immer das war, er hat sie wirklich brutal zugerichtet. Und Sie hatten recht, er hat es gemacht, als sie noch am Leben war.«
D-King rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Bei Gewalt gegen Frauen hörte es für ihn auf. Seine Mutter war von seinem betrunkenen Vater totgeprügelt worden, während er im Schrank eingesperrt gewesen war und alles mit angehört hatte. Er war damals zehn Jahre alt gewesen. Er hatte ihre Schreie und ihr verzweifeltes Flehen nie vergessen. Genauso wenig wie das Knacken ihrer brechenden Knochen, als sein Vater wieder und wieder auf sie einschlug. Er hörte die Geräusche fast jede Nacht in seinen Träumen.
D-King lehnte sich zurück und inspizierte seine Fingernägel. Dann schnippte er jeden einzelnen mit dem Daumen derselben Hand. »Wollen Sie wissen, ob das das Markenzeichen einer bestimmten Gang ist? Eine Art Racheaktion?« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, möglich wär’s. Wenn sie einem Homeboy gehört hat und sie hat ihn beklaut oder hinter seinem Rücken einen anderen gevögelt, dann könnte ihr so was durchaus passieren. Manche Typen haben es nicht gern, wenn man ihnen auf der Nase rumtanzt. Dann muss ein Exempel statuiert werden, verstehen Sie? Für einige Gangs wäre das sogar noch harmlos.« Er verstummte und betrachtete erneut das Foto. »Aber falls das die Quittung dafür ist, dass sie jemandem gehört hat und trotzdem hintenrum mit einem anderen rumgemacht hat, dann müssten Sie noch eine zweite Leiche haben – nämlich die des Penners, mit dem sie es getrieben hat. Diese Art von Rache gibt’s nur im Doppelpack, Detective.« Er schob Hunter das Foto hin. »Und was hat das mit selbstgebauten Sprengsätzen zu tun?«
»Mehr, als man denkt.«
D-King lachte leise. »Sie lassen sich nie in die Karten schauen, was?« Er nahm einen Schluck von dem dunkelgrünen Drink, der vor ihm auf dem Tisch stand. »Soll ich Ihnen mal was sagen? Wenn ich mich an unsere letzte Begegnung erinnere, will ich lieber gar nicht wissen, worum’s hier geht.« Er musterte Hunter wie ein Pokerspieler seinen Gegner, kurz bevor er alle seine Chips setzt, dann tippte er mit dem Zeigefinger auf das Foto. »Aber das ist absolut widerlich, Mann, und ich bin Ihnen sowieso noch was schuldig, also kann ich mich mal umhören. Ich melde mich dann bei Ihnen.«
17
Garcia schaltete den Ventilator ein und stellte sich einen Moment lang davor, bevor er zurück an seinen Schreibtisch ging. Er wollte sich lieber nicht ausmalen, wie heiß es im Sommer in diesem Büro wurde.
Er war am Rechner die Fotos vom Leichenfundort durchgegangen, hatte sie vergrößert und genau studiert und nach Hinweisen gesucht, die ihnen bei der Identifizierung des Opfers irgendwie weiterhelfen konnten – bis jetzt ohne Erfolg. Sie hatte keine Tätowierungen oder Operationsnarben. Die Muttermale und Sommersprossen, die man auf ihren Armen, am Bauch, am Hals und auf der Brust sehen konnte, waren allesamt nicht markant genug, um ein Erkennungsmerkmal zu sein. Soweit ersichtlich, war sie von Natur aus brünett, und ihre Brüste waren echt.
An ihren Armen gab es keine Einstichstellen, und sie war weder abgemagert, noch sah sie kränklich aus. Falls sie also ein Junkie gewesen war, sah man es ihr nicht an. Trotz der Stellen im Gesicht, auf die Hunter hingewiesen hatte, an denen die Haut fleckig und alt aussah, konnte das Opfer allerhöchstens dreiunddreißig Jahre alt sein. Falls es stimmte, dass die Augen das Fenster zur Seele waren, dann war ihre Seele von Todesangst erfüllt gewesen, als sie gestorben war.
Garcia beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb sich mit den Handballen die Augen. Dann griff er nach seiner Tasse, doch der Kaffee darin war längst kalt geworden. Bevor er dazu kam, sich einen neuen einzugießen, kündigte der Signalton an seinem Rechner das Eintreffen einer neuen E-Mail an. Die Akten der Vermisstenfälle, die er angefragt hatte. Man hatte ihm versprochen, sie innerhalb von fünfundvierzig Minuten zu schicken. Das war inzwischen zwei Stunden her.
Garcia öffnete die E-Mail und stieß einen hellen Pfiff aus. In den vergangenen vierzehn Tagen waren zweiundfünfzig Frauen im Alter von siebenundzwanzig bis dreiunddreißig Jahren mit weißer Hautfarbe, braunen Haaren, haselnussbraunen Augen und einer Körpergröße zwischen eins fünfundsechzig und eins dreiundsiebzig als vermisst gemeldet worden. Er dekomprimierte die angehängte Datei, die die einzelnen Vermisstenakten enthielt, und begann, sie auszudrucken, zuerst die Fotos, dann die dazugehörigen Datenblätter.
Er schenkte sich eine frische Tasse Kaffee ein und schob die Ausdrucke zu einem Stapel zusammen. Die Fotos wurden in der Regel von denjenigen zur Verfügung gestellt, die die betreffende Person als vermisst meldeten. Die Vermisstenstelle bat grundsätzlich um ein aktuelles Foto, trotzdem war sich Garcia bewusst, dass einige der Bilder durchaus ein Jahr alt sein konnten oder sogar noch älter. Gewisse Abweichungen in Bezug auf Haarlänge, Frisur oder Gesichtsfülle aufgrund von Gewichtszu- oder -abnahme würde er also mit einkalkulieren müssen.
Das Hauptproblem jedoch war, dass er als Vergleichsmaterial nur die eine am Fundort gemachte Nahaufnahme vom Gesicht des Opfers hatte. Die Schwellung um den Mund herum und der dicke schwarze Faden, durch den die Lippen eng aufeinandergepresst wurden, machten die untere Hälfte ihres Gesichts so gut wie unkenntlich. Eine Übereinstimmung zwischen dem Leichenfoto und einem der Bilder aus der Vermisstenstelle zu finden würde eine langwierige und mühselige Arbeit werden.
Eine Stunde später hatte Garcia die in Frage kommenden Frauen auf zwölf eingegrenzt, doch allmählich wurden seine Augen müde, und je länger er die Fotos anstarrte, desto weniger Unterschiede konnte er erkennen.
Er legte die zwölf Fotos in drei Reihen zu jeweils vier Bildern auf seinen Schreibtisch, daneben platzierte er die jeweiligen Datenblätter. Die Fotos waren allesamt von passabler Qualität. Es gab sechs Passfotos; bei dreien war die Vermisste aus einem Gruppenfoto herausgeschnitten worden; eins zeigte eine Brünette mit nassen Haaren auf einem Jetski; ein weiteres eine lachende Frau, die am Rand eines Swimmingpools saß; auf dem letzten Bild war eine Frau an einem festlich gedeckten Tisch mit einer Champagnerflöte in der Hand zu sehen.
Garcia wollte gerade einen weiteren Durchgang starten, als Hunter zur Tür hereinkam und seinen Partner tief über den Schreibtisch gebeugt dasitzen sah.
»Sind die von der Vermisstenstelle?«, wollte Hunter wissen.
Garcia nickte.
»Und?«
»Na ja, ich habe mit zweiundfünfzig möglichen Kandidatinnen angefangen und sie über eine Stunde lang mit den Fotos vom Fundort unserer Leiche verglichen. Die Schwellungen im Gesicht des Opfers machen die ganze Sache ziemlich schwierig. Jetzt sind noch die hier übrig.« Er deutete mit dem Kinn auf die zwölf Fotos auf seinem Schreibtisch. »Aber so langsam fangen meine Augen an, mir Streiche zu spielen. Ich weiß gar nicht mehr, worauf ich eigentlich achten soll.«
Hunter bezog hinter Garcias Schreibtisch Aufstellung. Sein Blick sprang von Bild zu Bild, wobei er auf jedem einige Sekunden lang verweilte. Danach schaute er sich erneut das Foto des nicht identifizierten Opfers an. Er schob die Bilder dichter zusammen und ordnete sie neu, bevor er nach einem Blatt Papier griff.
»Man kann jedes Gesicht nach verschiedenen Kriterien beurteilen«, sagte er und legte das weiße Blatt Papier so auf das linke Foto der oberen Reihe, dass es zwei Drittel verdeckte. »So werden auch Phantomzeichnungen angefertigt. Einzelne Merkmale werden Stück für Stück zu einem Ganzen zusammengesetzt.«
Garcia rückte näher heran.
»Die Form des Kopfes und der Ohren, dann Augenbrauen, Augen und Nase, Mund, Kieferkontur, Kinn …« Jedes Mal wenn Hunter ein Merkmal nannte, deckte er das restliche Gesicht mit dem Blatt ab. »Hier können wir grob dasselbe Prinzip anwenden.«
Wenige Minuten später hatten sie weitere acht Fotos aussortiert.
»Ich würde sagen, unser Opfer ist eine von diesen vier Frauen«, verkündete Hunter schließlich. »Sie haben alle die gleichen Merkmale – ovales Gesicht, kleine Nase, mandelförmige Augen, stark geschwungene Augenbrauen, markante Wangenknochen … genau wie unser Opfer.«
Garcia signalisierte seine Zustimmung durch ein Nicken.
Hunter überflog die Datenblätter, die Garcia hinten an die Fotos geheftet hatte. Sämtliche Frauen wurden seit über einer Woche vermisst. Sie wohnten und arbeiteten in den unterschiedlichsten Gegenden der Stadt. Auf den ersten Blick schienen die vier Frauen bis auf ihr Aussehen nicht das Geringste gemeinsam zu haben.
Hunter warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wir müssen sie heute noch überprüfen.«
Garcia schnappte sich seine Jacke. »Von mir aus können wir sofort los.«
Hunter reichte ihm zwei der vier Fotos. »Nimm du die hier, ich nehme die anderen beiden.«
Garcia nickte.
»Und ruf mich an, falls du was rausfindest.«
18
Eine Dreiviertelstunde nachdem sie den Anruf bekommen hatte, passierte Whitney Myers das hohe eiserne Tor des luxuriösen Anwesens in Beverly Hills. Sie parkte ihre gelbe Corvette C6 am Ende des großen kopfsteingepflasterten Hofs, nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie sich ins Haar, um sich die glänzende lange schwarze Mähne aus dem Gesicht zu halten. Sie nahm ihren Aktenkoffer vom Beifahrersitz, sah auf die Uhr und lächelte. Angesichts des notorisch dichten L.-A.-Nachmittagsverkehrs und der Tatsache, dass sie in Long Beach gewesen war, als der Anruf sie erreicht hatte, waren fünfundvierzig Minuten gewissermaßen Lichtgeschwindigkeit.
Auf den Stufen zum Hauseingang wurde sie von Andy McKee begrüßt. Er war Anwalt und in gleichem Maße klein, dick und genial.
»Whitney«, sagte er und wischte sich mit einem weißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Danke, dass Sie so schnell kommen konnten.«
»Kein Problem«, sagte sie, während sie sich die Hand gaben. »Wer wohnt hier? Das Haus ist ein Traum.«
»Er wartet drinnen auf Sie.« McKee beäugte sie anerkennend, und erneut erschienen Schweißperlen auf seiner Stirn.
Whitney Myers war sechsunddreißig Jahre alt, hatte dunkle Augen, eine schmale Nase, hohe Wangenknochen, volle Lippen und ein markantes Kinn. Ihr Lächeln war eine Waffe, mit der sie selbst starke Beine in Pudding verwandeln konnte. Schon viele selbstbewusste und redegewandte Männer hatten angefangen, zusammenhangloses Zeug zu stammeln und wie kleine Kinder zu kichern, nachdem sie es auf sie losgelassen hatte. Sie sah aus wie ein Model an seinem freien Tag, und dass sie sich nicht sonderlich viel Mühe mit ihrem Äußeren gab, machte sie nur noch schöner.
Myers hatte mit einundzwanzig Jahren als Polizistin angefangen. Sie hatte härter als alle anderen Kollegen in ihrer Dienststelle gearbeitet, um so schnell wie möglich Detective zu werden. Ihre Intelligenz, Kombinationsgabe und ihre durchsetzungsstarke Persönlichkeit halfen ihr auf dem Weg nach oben, so dass sie mit siebenundzwanzig endlich ihre heißersehnte Marke in der Hand hielt.
Ihr Captain hatte nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass Myers’ besondere Begabung in ihrer Überredungskunst lag. Sie war ruhig, artikuliert, aufmerksam und sehr überzeugend, wenn es darum ging, ihren Standpunkt darzulegen. Außerdem konnte sie gut mit Menschen umgehen. So kam es, dass Myers nach einem sechsmonatigen Intensivkurs beim FBI zu einer der Chefvermittlerinnen für die Dienstabschnitte West und Valley sowie die zentrale Vermisstenstelle ernannt wurde.
Doch ihre Karriere als Detective bei der Elite des LAPD hatte vor drei Jahren ein jähes Ende genommen, nachdem ihr Versuch, einen Selbstmörder davon abzuhalten, von einem achtzehnstöckigen Hochhaus in Culver City zu springen, in eine Katastrophe gemündet war.
Nach dem Vorfall kam Myers’ gesamtes Leben auf den Prüfstand. Es wurde eine interne Ermittlung eingeleitet, die herausfinden sollte, ob sie korrekt gehandelt hatte, und die Dienstaufsicht stürzte sich auf sie wie ein tollwütiger Hund. Die Ermittlungen gingen nach mehreren Wochen ohne Ergebnis zu Ende, und ein Disziplinarverfahren blieb ihr erspart, doch ihre Tage beim LAPD waren vorbei. Seither betrieb sie ihre eigene Detektivagentur, die auf das Aufspüren vermisster Personen spezialisiert war.
Myers folgte McKee durchs Haus, an einer Doppeltreppe vorbei und dann einen Flur entlang, an dessen Wänden zahlreiche Fotos berühmter Filmstars hingen. Der Flur führte sie schließlich ins Wohnzimmer, das so beeindruckend aussah, dass Myers eine ganze Weile brauchte, bis sie den Mann entdeckt hatte, der an einem der Bogenfenster stand. Er war knapp ein Meter neunzig groß und breitschultrig. In der rechten Hand hielt er ein fast leeres Glas Scotch. Obwohl er Mitte fünfzig sein musste, merkte Myers schon von weitem, dass er sich einen jugendlichen Charme bewahrt hatte.
»Whitney, darf ich Ihnen Leonid Kudrov vorstellen?«, sagte McKee.
Leonid stellte sein Glas ab und schüttelte Myers die Hand. Sein Griff war ein wenig zu fest, und aus seiner Miene sprach dasselbe wie aus den Mienen aller ihrer Auftraggeber: Verzweiflung.
19
Myers lehnte das Angebot eines Drinks ab. Sie hörte aufmerksam zu, während Kudrov erzählte, und machte sich bei jedem zweiten Satz Notizen.
»Haben Sie die Polizei verständigt?«, fragte sie, während Kudrov sich nachschenkte.
»Ja, sie haben sich meinen Namen aufgeschrieben, aber mir überhaupt nicht richtig zugehört. Stattdessen haben sie irgendeinen Schwachsinn von mindestens vierundzwanzig Stunden und mündigen Erwachsenen und so weiter gefaselt und mich in der Warteschleife versauern lassen. Deshalb habe ich mich an Andy gewandt, und er hat Sie angerufen.«
Myers nickte. »Weil Ihre Tochter dreißig Jahre alt ist und Sie Ihre Vermutung, dass sie entführt wurde, nicht durch stichhaltige Beweise untermauern konnten, müssen wenigstens vierundzwanzig Stunden verstreichen, bis sie offiziell als vermisst gilt. Das ist gängige Praxis.« Myers’ Stimme war von Natur aus souverän und vertraueneinflößend.
»Vierundzwanzig Stunden? In vierundzwanzig Stunden könnte sie längst tot sein! Das ist unverantwortlich.«
»Manchmal auch länger, je nach Beweislage.«
»Ich habe versucht, ihm das zu erklären«, warf McKee ein und wischte sich erneut über die Stirn.
»Ihre Tochter ist erwachsen, Mr Kudrov«, erklärte Myers. »Eine erwachsene Frau, die vielleicht einfach nur vergessen hat, dass sie mit Ihnen zum Mittagessen verabredet war.«
Kudrov sah erst Myers, dann McKee an. »Hat sie irgendein Wort von dem verstanden, was ich gesagt habe?«
»Durchaus«, gab Myers zurück, bevor sie die Beine übereinanderschlug und in ihren Notizen blätterte. »Sie haben beim Mittagessen eine halbe Stunde auf sie gewartet, aber sie kam nicht. Sie haben sie mehrmals angerufen. Sie hat nicht abgenommen und auch auf keine Ihrer Nachrichten hin zurückgerufen. Sie sind unruhig geworden und zu ihrer Wohnung gefahren. Dort haben Sie ein Handtuch auf dem Küchenfußboden gefunden, aber darüber hinaus kam Ihnen nichts verdächtig vor bis auf eine Flasche Weißwein, die Ihrer Meinung nach im Kühlschrank hätte stehen müssen. Der Autoschlüssel lag in einer Schale im Obergeschoss. Die teure Violine Ihrer Tochter haben Sie in ihrem Übungsraum gefunden, obwohl sie eigentlich in den Safe gehört hätte. Soweit Sie es beurteilen konnten, gab es keine Anzeichen eines Kampfes oder gewaltsamen Eindringens, und es schien auch nichts gestohlen worden zu sein. Der Portier des Gebäudes hat ausgesagt, dass Katia am vergangenen Abend keinen Besuch empfangen habe.« Gelassen klappte sie ihr Notizbuch zu.
»Reicht das denn nicht?«
»Lassen Sie mich Ihnen kurz darlegen, wie die Polizei die Sache beurteilen würde. Wie sie sie beurteilen muss. Es gibt in dieser Stadt ungleich mehr Vermisstenfälle als zuständige Detectives. Deswegen lautet die oberste Regel: Prioritäten setzen – nur dann Ressourcen investieren, wenn außer Frage steht, dass die betreffende Person tatsächlich verschwunden ist. Wenn es sich um einen Minderjährigen handelt, wird sofort landesweit Alarm ausgelöst. Es wird eine Meldung an sämtliche Dienststellen und an die Medien herausgegeben. Aber bei mündigen Erwachsenen, die seit weniger als vierundzwanzig Stunden verschwunden sind, sieht das Protokoll vor, dass zunächst eine Checkliste abgearbeitet wird.«
»Eine Checkliste? Wollen Sie mich verarschen?«
Ein kurzes Kopfschütteln. »Verarsche kommt dabei nicht ins Spiel.«
»Und was steht auf dieser Checkliste?«
Myers beugte sich vor. »Handelt es sich um einen Erwachsenen, der erstens: womöglich Hilfe braucht? Zweitens: einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte? Drittens: medizinische Hilfe benötigt? Viertens: noch nie von zu Hause weggelaufen oder für längere Zeit abgetaucht ist? Fünftens: von einem Elternteil entführt worden sein könnte? Und sechstens: geistig oder körperlich behindert ist?« Myers legte ihre Sonnenbrille neben sich auf den Beistelltisch. »Von dieser Liste trifft nur ein einziger Punkt auf Ihre Tochter zu, nämlich dass sie bisher noch nie verschwunden ist. Miss Kudrov ist eine selbständige, finanziell unabhängige, nicht gebundene erwachsene Frau im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Die Polizei würde demnach zunächst einmal davon ausgehen, dass sie vielleicht einfach mal rauswollte und spontan weggefahren ist. Sie muss niemandem Rechenschaft über ihre Aktivitäten ablegen. Sie hat keine Arbeit, bei der sie von neun bis fünf im Büro sitzt, und sie ist nicht verheiratet. Sie haben gesagt, sie ist gerade von einer langen Konzerttournee mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra zurückgekommen.«
Kudrov nickte.
»Das war bestimmt sehr anstrengend. Vielleicht hat sie sich einfach ins nächste Flugzeug gesetzt und ist auf die Bahamas geflogen. Vielleicht hat sie gestern Abend jemanden in einer Bar kennengelernt und beschlossen, irgendwo ein paar unbeschwerte Tage mit ihm zu verbringen.«
Leonid fuhr sich mit der Hand durch die kurzgeschnittenen Haare. »Das hat sie aber nicht. Ich kenne Katia. Wenn sie eine Verabredung mit mir oder mit irgendjemandem sonst nicht hätte wahrnehmen können, dann hätte sie angerufen. Das ist einfach ihre Art, sie lässt andere Leute nicht hängen, mich schon gar nicht. Wir haben eine sehr innige Beziehung. Wenn sie beschlossen hätte, sich eine Auszeit zu nehmen, dann hätte sie mir zumindest gesagt, wo sie hinwill.«
»Was ist mit ihrer Mutter? Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie beide nicht mehr zusammen sind?«
»Ihre Mutter ist vor einigen Jahren gestorben.«
Myers sah Leonid mit festem Blick an. »Das tut mir leid.«
»Katia ist nicht einfach spontan in den Urlaub gefahren. Ich sage es Ihnen, ihr ist etwas zugestoßen.«
Er begann, im Raum auf und ab zu gehen. Er war sichtlich aufgewühlt.
»Mr Kudrov, bitte –«
»Nennen Sie mich nicht immer Mr Kudrov«, sagte er barsch. »Ich bin nicht Ihr Lehrer. Nennen Sie mich Leo.«
»Also gut, Leo. Ich zweifle doch gar nicht an Ihren Worten. Ich erkläre Ihnen bloß, warum die Polizei sich so verhalten hat, wie sie sich verhalten hat. Wenn Katia in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht wieder auftaucht, dann werden sie sich auf den Fall stürzen wie die Geier auf ein Stück Aas. Sie werden sämtliche ihnen zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um sie zu finden. Aber machen Sie sich auf einiges gefasst, denn bei Ihrem Bekanntheitsgrad wird es einen richtigen Karneval geben.«
Leonid sah mit zusammengekniffenen Augen zu McKee, bevor sein Blick zu Myers zurückwanderte. »Karneval?«
»Als ich sagte, dass das LAPD alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel nutzen würde, habe ich das genauso gemeint. Das schließt Sie und Ihren Status mit ein. Man wird Sie bitten, sich mit einem Appell an die Öffentlichkeit zu wenden, weil das dem Fall eine persönliche Note verleiht. Vielleicht müssen Sie sogar eine Pressekonferenz hier in Ihrem Haus geben. Man wird Katias Foto im Fernsehen und in den Zeitungen bringen, und höchstwahrscheinlich wird es ein Familienfoto sein – das mögen sie lieber, weil es mehr … zu Herzen geht. Das Foto wird tausendfach vervielfältigt und überall in L. A. zu sehen sein, vielleicht sogar in ganz Kalifornien. Es wird Suchtrupps geben. Man wird Sie um Kleidungsstücke für die Spürhunde bitten. Man wird Haare und andere Proben für DNA-Analysen von Ihnen haben wollen. Die Presse wird vor Ihrem Gartenzaun campieren.« Myers hielt kurz inne, um Atem zu schöpfen. »Wie gesagt, es wird ein Karneval werden, aber die Vermisstenstelle des LAPD leistet ausgezeichnete Arbeit.« Sie machte eine kleine dramatische Pause. »Leo, bei Ihrem Status und Ihrer Einkommensklasse müssen wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Ihre Tochter entführt wurde, um Lösegeld von Ihnen zu erpressen. Hat noch niemand mit Ihnen Kontakt aufgenommen?«
Leonid schüttelte den Kopf. »Ich war den ganzen Tag zu Hause und habe im Büro genaue Anweisungen hinterlassen, dass jeder unbekannte Anrufer sofort zu meiner Privatnummer umgeleitet wird. Bis jetzt hat sich niemand gemeldet.«
Myers nickte.
»Irgendwas stimmt nicht, das habe ich im Gefühl.« Leonid sah Myers mit einem verzweifelten Blick an. »Ich will nicht, dass die Sache überall in den Medien breitgetreten wird, es sei denn, es gibt wirklich keine andere Möglichkeit. Andy hat mir gesagt, dass Sie die Beste in Ihrem Metier sind. Besser als die Vermisstenstelle des LAPD. Können Sie sie finden?« Es war weniger eine Frage als eine verzweifelte Bitte.
Myers warf McKee einen Blick zu, wie um zu sagen: Ich bin geschmeichelt.
Er antwortete mit einem scheuen Lächeln.
»Ich werde tun, was ich kann.« Myers nickte. Ihre Stimme war fest und selbstsicher.
»Dann tun Sie es.«
»Haben Sie ein aktuelles Foto von Ihrer Tochter?«
Kudrov war auf die Frage vorbereitet und reichte Myers ein zwanzig mal dreißig Zentimeter großes Farbfoto von Katia.
Myers betrachtete es flüchtig. »Außerdem brauche ich noch die Schlüssel zu ihrer Wohnung und Namen und Telefonnummern von allen, mit denen sie vielleicht Kontakt gehabt haben könnte. Und zwar am besten bis gestern.«