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Es regnete immer noch, als Hunter Cypress Park im Nordosten von Los Angeles erreichte. Weder während des Telefonats noch hinterher hatte er ein Wort gesagt, doch Myers hatte auch so Bescheid gewusst. Es war die resi­gnierte Art gewesen, wie er danach für einen kurzen Moment die Augen geschlossen hatte: Es gab ein neues Opfer.

Cypress Park war eine der ersten Vorstädte von Los Angeles. Sie war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums angelegt worden und ursprünglich als Arbeiterwohngegend geplant gewesen, deren Attraktivität in erster Linie von ihrer unmittelbaren Nähe zu den Eisenbahnhöfen herrührte. Dort, in einem der leerstehenden Gebäude entlang der Schienen, hatte man die Leiche gefunden.

Das Areal der alten Eisenbahnhöfe war riesig, lag aber inzwischen größtenteils brach. Eine dieser vielen Brachen grenzte unmittelbar an den Rio de Los Angeles State Park. Eine halbe Meile nördlich davon, immer noch innerhalb des Eisenbahngeländes und eingeklemmt zwischen Schienen und dem L. A. River, lag eine alte Eisenbahnmeisterei. Selbst in der regnerischen, mondlosen Nacht konnte man das Blaulicht der Streifenwagen schon von weitem sehen.

Die Spurensicherung war bereits vor Ort.

Hunter parkte neben Garcias Honda. Ein junger Officer im LAPD-Regenmantel kam zur Fahrertür geeilt, in der Hand einen winzigen Regenschirm. Hunter stellte den Kragen seiner Jacke auf, lehnte den Schirm ab und ging auf das Backsteingebäude zu. Er hatte die Hände tief in den Taschen vergraben und den Blick zu Boden geheftet, damit er nicht in Pfützen trat.

»Detective Hunter?«, rief ein Mann, der hinter der Absperrung stand.

Hunter erkannte die Stimme von Donald Robbins, seines Zeichens Reporter der L. A. Times und Geißel von Hunters Existenz. Er hatte bislang über jeden Fall berichtet, in dem Hunter ermittelt hatte. Sie waren alte Bekannte, aber gewiss keine Freunde.

»Besteht eine Verbindung zwischen dieser Toten und dem Fall, an dem Sie gerade arbeiten? Ist das neue Opfer etwa auch eine Künstlerin?«

Hunter ging weiter, ohne seine Schritte zu verlangsamen oder aufzuschauen. Insgeheim fragte er sich, woher Robbins wusste, dass die Opfer Künstlerinnen waren.

»Kommen Sie, Robert, mir können Sie es doch sagen. Sie machen wieder Jagd auf einen Serienmörder, stimmt’s? Ist es jemand, der es auf Künstlerinnen abgesehen hat?«

Noch immer schenkte Hunter ihm keinerlei Beachtung.

Die Außenwände des Gebäudes zierte ein buntes Durcheinander von Tags und Graffiti. Garcia stand mit zwei Polizisten vor dem Eingang unter einem behelfsmäßig errichteten Schutzdach aus Segeltuch. Auf die eiserne Tür der Meisterei hatte jemand die Silhouette einer Stripteasetänzerin gesprayt, die sich an ihrer Stange nach vorn beugt. Ihre gespreizten Beine bildeten ein perfekt symmetrisches umgedrehtes V.

Garcia hatte sich gerade den Reißverschluss seines Tyvek-Overalls hochgezogen, als er Hunter um die Ecke kommen sah.

»Dir ist schon aufgefallen, dass es regnet, oder?«, meinte er, als Hunter sich unter das Zeltdach duckte.

»Ich mag Regen«, gab Hunter zurück und strich sich mit beiden Händen das Wasser aus den Haaren.

»Ja, das sieht man.« Garcia reichte ihm eine versiegelte Plastiktüte mit einem weißen Overall darin.

»Wer hat die Polizei alarmiert?«, wollte Hunter wissen, während er den Beutel aufriss.

»Ein Obdachloser«, antwortete der Officer, der der Tür am nächsten stand. Er war klein und kompakt und hatte ein Gesicht wie eine Bulldogge. »Er hat ausgesagt, dass er manchmal hier schläft. Heute Nacht war er auf der Suche nach einem trockenen Plätzchen.«

»Wo ist er jetzt?«

Der Officer deutete auf einen Streifenwagen etwa fünfundzwanzig Meter entfernt.

»Wer hat seine Aussage aufgenommen?« Hunter sah Garcia an, der den Kopf schüttelte.

»Bin gerade erst angekommen.«

»Sergeant Travis«, antwortete der Officer. »Er ist bei ihm.«

Hunter nickte. »War einer von Ihnen schon drinnen?«

»Nein, wir sind erst nach der Spurensicherung angekommen. Wir haben den Befehl, draußen zu bleiben, uns von diesem Scheißregen durchweichen zu lassen und für euch Wichtigheimer von Mord I den Türöffner zu machen.«

Garcia warf Hunter einen Blick zu und runzelte die Stirn.

»Es war wohl gerade Schichtende, als Sie den Funkspruch reinbekommen haben, was?«, meinte Hunter.

»Als wenn’s hier irgendeinen interessiert.« Der Officer fuhr sich mit zwei Fingern über seinen Schnurrbartflaum.

Hunter schloss seinen Overall. »Also dann, Officer …?«

»Donikowski.«

»Also dann, Officer Donikowski. Ihr Augenblick ist gekommen: Machen Sie einen auf Türöffner.« Mit dem Kinn deutete er zum Eingang.

Garcia grinste.

Der erste Raum war etwa fünf Meter breit und sieben Meter lang. Auch hier waren die Wände voller Graffiti. Durch das offene Fenster links neben der Tür wehte der Regen her­ein. In einer Ecke lag ein Haufen aus leeren Konserven­dosen und Einwickelpapieren, daneben eine alte Strohma­tratze. Der Boden war übersät mit Müll und Unrat. Hunter konnte nirgendwo Blut entdecken.

Das vertraute weiße Licht der Tatortlampen kam aus dem nächsten Raum, aus dem auch leises Gemurmel zu hören war.

Als sie auf die Tür zugingen, nahm Hunter eine Kombination verschiedener Gerüche wahr – hauptsächlich Urin, Schimmel und Müll. All das waren Gerüche, wie man sie in einem alten, verlassenen Gebäude, das gelegentlich von Obdachlosen als Schlafplatz genutzt wurde, erwartet hätte. Aber da war noch eine vierte, schwächere Komponente, und sie hatte nichts mit der einsetzenden Leichenfäulnis zu tun. Es war etwas anderes. Etwas, das er schon einmal gerochen hatte. Hunter blieb stehen und schnupperte in die Luft. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Garcia dasselbe tat, und sein Partner war auch derjenige, der den Geruch als Erster wiedererkannte. Als er ihn das letzte Mal gerochen hatte, war ihm innerhalb von Sekunden das Essen hochgekommen. Diesmal war es nicht anders.

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Der zweite Raum war kleiner als der erste, aber genauso verdreckt: Wände voller Graffiti, Fensterrahmen ohne Scheiben, Müllhaufen in den Ecken und jede Menge Unrat auf dem Boden. Dr. Hove und Mike Brindle standen an der hinteren Seite in der Nähe der Tür, die zu einem dritten Raum führte. Auf dem Fußboden neben ihnen stand das tragbare Röntgengerät, das sie bereits im Keller der Vorschule in Glassell Park zum Einsatz gebracht hatten. Etwa drei Schritte von dem Gerät entfernt lag die nackte Leiche einer dunkelhaarigen Frau. Schon von weitem erkannte Hunter den dicken schwarzen Faden, mit dem ihr Mund und Vagina zugenäht worden waren. Blut war diesmal allerdings kaum zu sehen.

»Wo ist Carlos?«, fragte Dr. Hove. »Er wollte doch draußen auf Sie warten.«

Hunter antwortete nicht. Er bewegte sich nicht, atmete nicht. Er stand einfach nur da und starrte in das Gesicht der Toten. Ihre Haut hatte eine grau-violette Farbe angenommen, was darauf hindeutete, dass sich das Blut bereits gesenkt hatte. Wie bei den zwei vorangegangenen Opfern war die untere Gesichtshälfte infolge der Stiche am Mund stark angeschwollen, aber trotzdem kam sie Hunter irgendwie bekannt vor. Er spürte, wie seine Haut zu brennen begann, als sein Körper Adrenalin ausschüttete.

»Robert«, rief Hove erneut.

Erst jetzt nahm Hunter sie wahr.

»Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut.«

»Wo ist Carlos? Ich dachte, er ist bei Ihnen.«

»Ich bin hier«, meldete sich Garcia, als er hinter Hunter durch die Tür trat. Er war ein wenig blass um die Nase. Der eigenartige Geruch, den sie draußen wahrgenommen hatten, war in diesem Raum noch stärker. Garcia presste die Hand vor den Mund und schüttelte sich, während er krampf­haft versuchte, die Kontrolle über seinen rebellierenden Magen zu behalten.

Schweigend trat Hunter auf die Leiche zu und ging neben ihr in die Hocke. In ihrem Gesicht zeigten sich erste Anzeichen von Aufschwemmung. Auch ohne sie anzufassen, wusste er, dass die Totenstarre vollständig ausgebildet war. Sie war seit mindestens zwölf Stunden tot. Ihre Augen waren geschlossen, aber die Gesichtszüge kamen ihm bekannt vor – die Nase, die Wangenknochen, die Form ihres Kinns. Hunter rückte noch näher heran und betrachtete ihre Hände. Fast alle Fingernägel waren abgesplittert oder eingerissen. Trotz der violetten Verfärbung der Haut konnte Hunter auf den ersten Blick keine größeren Hämatome am Körper erkennen. Schnitt- und Schürfwunden schien es ebenfalls keine zu geben. Die Auftreibungen waren also keine Folge körperlicher Misshandlung.

Hunter ging um die Leiche herum. An der rechten Schulter trug sie ein schwarzes Tribal-Tattoo.

Garcia betrachtete die Leiche aus sicherer Entfernung. Nach wie vor hielt er sich die Hand vor Mund und Nase.

»Kennen Sie sie?«, fragte Hove, der aufgefallen war, wie Hunters Blick immer wieder zu ihrem Gesicht glitt. »Ist das noch eine Malerin von Ihrer Vermisstenliste?«

Garcia schüttelte den Kopf. »Mir kommt sie nicht bekannt vor. Ich weiß, das Gesicht ist ein bisschen angeschwollen, aber ich glaube nicht, dass sie auf unserer Liste stand.«

»Sie ist keine Malerin«, sagte Hunter und erhob sich. »Sie ist Musikerin.«

77

Garcias Blick kehrte zum Gesicht der Leiche zurück, und er runzelte die Stirn. Hunter hatte ihm von Katia Kudrov erzählt, und er hatte sich ihre Fotos genau angesehen. Die Tote am Boden sah nicht aus wie sie.

»Es ist nicht Katia Kudrov«, bestätigte Hunter, der die Gedanken seines Partners erraten hatte.

Garcias Stirnrunzeln verstärkte sich.

»Du kennst sie?«, fragte er.

»Sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Ich habe sie schon mal gesehen, ich weiß nur nicht, wo.«

»Woher weißt du dann, dass sie Musikerin ist?«, wollte Brindle wissen.

»Sie hat Hornhaut an allen Fingerspitzen der linken Hand, außer am Daumen, da ist die Hornhaut am ersten Knöchel.«

Brindle sah ihn fragend an.

»Das passiert automatisch, wenn man ein Saiteninstrument spielt«, erklärte Hunter. »An den Fingerkuppen bildet sich Hornhaut, weil man die Saiten runterdrückt, und am Daumen, weil die Hand am Steg hin- und hergleitet. Dabei ist es ganz egal, ob man Geige spielt oder Cello, Gitarre, Bass oder irgendwas anderes.«

Dr. Hove nickte. »Einer meiner Kriminaltechniker nimmt seit einiger Zeit Gitarrenunterricht. Er beklagt sich ständig darüber, dass ihm die Fingerkuppen weh tun, und zupft andauernd lose Hautfetzen ab.«

Hunter drehte sich um und sah zum Eingang »Wurde sie hier gefunden? In diesem Raum?«

Brindle nickte. »In genau derselben Position, wie du sie jetzt siehst. Anders als bei der Leiche in Glassell Park mussten wir sie fürs Röntgen nicht erst umdrehen, sie lag bereits auf dem Rücken. Es gibt keine Anzeichen, dass jemand anders vor uns die Leiche angefasst hat.«

Hunters Blick glitt flüchtig über Decke und Wände. »Was ist in dem Raum da?« Er deutete auf die nächste Tür.

»Dasselbe wie hier und drüben«, gab Dr. Hove zurück. »Mehr Graffiti, mehr Müll.«

Hunter zog an der Tür, die sich knarrend öffnete. Die Tatortlampe war hell genug, um auch den Großteil des nächsten Raums auszuleuchten.

»Da drin gibt es kein Bett, keinen Tisch, keinen Tresen? Sie wurde einfach hier auf dem Boden abgelegt?«

»Nein«, sagte Brindle. Er legte den Kopf in den Nacken, und sein Blick ging zur Decke. »Oben.«

Erneut spähte Hunter in den dritten Raum. Links neben der Tür führte an der Wand eine Treppe ins obere Geschoss.

»Zwei von meinen Leuten sind oben«, fuhr Brindle fort. »Wie es aussieht, wurde sie auf einem Holztisch abgelegt.« Er wusste, was Hunter als Nächstes fragen würde, und nickte, noch bevor die Frage kam. »Der Tisch war durch Holzblöcke um etwa dreißig Zentimeter erhöht, genau wie in Glassell Park.«

»Die Botschaft …?«

Wieder nickte Brindle. »Es ist in dir drin. Diesmal hat er es an die Decke geschrieben.«

Auch Garcia sah sich flüchtig im nächsten Raum um. »Das heißt, sie ist vom Tisch geklettert und hat es die Treppe runter bis hierher geschafft, bevor sie gestorben ist?«

»Bevor sie zusammengebrochen ist«, korrigierte Dr. Hove, woraufhin sich beide Detectives zu ihr umwandten. »Bis zum Eintreten des Todes hat es noch eine ganze Weile gedauert. Sie muss schreckliche Qualen gelitten haben.«

»Wahrscheinlich ist sie bis hier unten gekrochen«, erklärte Brindle weiter. »Sie muss eine sehr starke Frau gewesen sein, körperlich und mental, mit einem ungeheuren Überlebenswillen. Die Schmerzen waren so groß, dass sich die meisten Menschen an ihrer Stelle nicht einmal hätten bewegen können, geschweige denn, dass sie es vom ersten Stock bis hier runter geschafft hätten.«

Hunters Blick wanderte zum Röntgengerät auf dem Boden und zum dazugehörigen Laptop. Er schien ausgeschaltet zu sein.

Brindle und Hove folgten seinem Blick. »Nach unserem bisherigen Kenntnisstand und in Anbetracht der Tatsache, dass die Tötungsart und wesentliche Merkmale der Tat dieselben sind«, sagte die Rechtsmedizinerin, »kann man wohl davon ausgehen, dass der Täter wieder eine Art Selbstauslöser verwendet hat. Allerdings war es diesmal weder ein Fächermesser noch eine Bombe. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.«

Garcia räusperte sich unbehaglich, während Hove den Laptop aus dem Ruhezustand aufweckte.

»Wir waren gerade mit den Aufnahmen fertig, als ihr gekommen seid«, erklärte Brindle.

Die Detectives traten näher, als die Röntgenaufnahme des Gegenstandes, den der Mörder im Unterleib der Leiche zurückgelassen hatte, langsam auf dem Bildschirm Gestalt annahm.

Niemand sagte ein Wort.

Hunter und Garcia kniffen die Augen zusammen, während sie zu erkennen versuchten, was sie da gerade anschauten.

»Ausgeschlossen«, stieß Hunter irgendwann hervor. »Ist das da, was ich denke, dass es ist?«

Brindle und Hove nickten gleichzeitig. »Sieht ganz so aus, ja.«

Wenige Sekunden verstrichen, dann hatte auch Garcia den Gegenstand erkannt, und seine Augen weiteten sich in fassungslosem Entsetzen.

78

Die Digitaluhr an Hunters Mikrowelle zeigte drei Uhr zweiundvierzig an, als er seine Wohnung betrat und die Tür hinter sich schloss. Als Erstes ging er herum und schaltete überall das Licht ein. Er hatte genug von der Dunkelheit. Er war müde, aber ausnahmsweise war er dankbar für seine Schlaflosigkeit. Er wusste nicht, ob er die Kraft hätte, mit den Alpträumen fertig zu werden, die ihn ohne Zweifel heimsuchen würden, kaum dass er die Augen geschlossen hätte.

Nach dem Abtransport der Leiche hatten Hunter und Garcia noch lange in der alten Eisenbahnmeisterei nach Hinweisen gesucht, vor allem im oberen Stockwerk. Der Raum dort war groß und hatte früher vermutlich als einer der Hauptlagerräume gedient. An zwei Wänden standen Holzregale, die bis zur Decke reichten. Eine große Tischlerbank nahm die Mitte des Raums ein. Wie Brindle gesagt hatte, war sie durch Holzblöcke um etwa dreißig Zentimeter erhöht worden. Es lag so viel Schutt und Abfall herum, dass es Wochen dauern würde, bis die Kriminaltechnik alles gesichtet hatte, und wahrscheinlich Monate, bis sämtliche Tests abgeschlossen waren. Genau wie an den anderen zwei Leichenfundorten fanden sie auch hier dieselbe Botschaft: ES IST IN DIR DRIN. Und wie in der leerstehenden Fleischerei war sie mit Sprühfarbe an die Decke geschrieben. Falls es draußen vor der Halle Reifenspuren in der weichen Erde gegeben hatte, waren sie durch den Regen weggewaschen worden.

Der Obdachlose, der die Leiche gefunden hatte, war Ende sechzig und erschreckend mager. Er hatte einen langen Fußmarsch auf sich genommen, um für die Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben und dem Regen zu entkommen, den er bereits abends in der Luft gerochen hatte. Er hatte in der alten Meisterei niemanden gesehen, nur die Tote, die nackt und mit zugenähtem Mund wie eine Puppe am Boden gelegen hatte. Obwohl er sich ihr nicht genähert hatte, zitterte er immer noch am ganzen Körper, als Hunter endlich Zeit fand, ihn zu befragen.

Es war exakt sieben Tage her, seit sie Laura Mitchells Leiche gefunden hatten. Kelly Jensens Leiche war drei Tage ­später aufgetaucht, und nun hatten sie ein drittes, noch ­unbekanntes Opfer. Wenn man Dr. Winston und den jungen Sektionsassistenten mitzählte, die bei der Explosion in der Rechtsmedizin ums Leben gekommen waren, machte das fünf Tote innerhalb einer Woche. Die Ermittlungen traten auf der Stelle, und der Killer mordete ungehindert weiter.

In der Küche goss Hunter sich ein Glas Wasser ein und trank es in großen Schlucken, als müsste er in seinem Innern ein Feuer löschen. Er schwitzte wie nach einem Dauerlauf. Er griff nach seinem Handy und wählte die Nummer von Whitney Myers, bevor er ans Wohnzimmerfenster trat. Zehn Minuten zuvor hatte es endlich aufgehört zu regnen. Der Himmel war schwarz und trübe. Kein einziger Stern war zu sehen.

»Hallo …?«, meldete sich Myers nach dem ersten Klingeln.

»Sie ist es nicht.« Seine Stimme war schwer. »Es ist nicht Katia.«

»Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

Eine spannungsgeladene Pause.

»Wissen Sie denn, wer es ist?«, fragte Myers als Nächstes. »Steht sie auf der Vermisstenliste?«

»Nein, tut sie nicht, aber sie kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Bekannt inwiefern?«

»Ich glaube, ich habe sie schon mal gesehen, mir fällt bloß nicht ein, wo.«

»Im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit?«

»Ich glaube, nicht.«

»Im Gerichtssaal? Als Zeugin oder Opfer?«

»Nein, irgendwo anders.«

»In einer Bar vielleicht?«

»Ich weiß es nicht.« Hunter fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Seine Fingerspitzen verweilten einen Augenblick lang im Nacken und fuhren wie aus alter Gewohnheit die hässliche Narbe nach. »Ich habe nicht das Gefühl, dass ich ihr schon mal begegnet bin. Ich glaube, ich habe bloß ein Bild von ihr gesehen. Vielleicht in einer Zeitschrift oder in der Werbung …«

»Ist sie berühmt?«

»Keine Ahnung. Vielleicht irre ich mich auch. Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf darüber, aber es fällt mir einfach nicht ein, und ich bin todmüde.«

Myers schwieg.

Hunter verließ seinen Platz am Fenster und begann, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.

»Wenn Sie mir ein Foto von ihr mailen, kann ich Ihnen vielleicht helfen«, bot Myers an.

»Auf den Tatortfotos wird sie niemand erkennen. Sie ist seit mehr als zwölf Stunden tot. Der Killer könnte sie gestern abgeladen haben oder sogar vorgestern. Es war pures Glück, dass ein Obdachloser sich das Gebäude für die Nacht als Schlafplatz ausgesucht hat, sonst wäre sie unter Umständen schon vollständig verwest gewesen, bis wir sie gefunden hätten.« Hunter blieb vor seinem Bücherregal stehen und überflog gedankenverloren die Titel. Am fünften Buch in der obersten Reihe blieb sein Blick hängen. »Verdammt!«

»Was? Was ist denn?«

Hunter strich mit dem Finger über den Buchrücken.

»Jetzt weiß ich, wo ich sie schon mal gesehen habe.«

79

Hunter musste bis halb acht warten, bevor er sich Gewissheit darüber verschaffen konnte, wer das jüngste Opfer war.

Die Hauptstelle der Los Angeles Public Library in der West 5th Street konnte ohne Weiteres als Hunters zweites Zuhause gelten, so viel Zeit verbrachte er dort. Sie öffnete um zehn Uhr, aber er kannte viele Mitarbeiter und wusste, dass besonders eine von ihnen, Maria Torres aus dem Archiv, immer schon sehr früh dort war.

Hunters Verdacht hatte ihn nicht getrogen. Er hatte das Gesicht der Toten tatsächlich schon einmal gesehen. Wann immer er in den letzten Wochen die Abteilung für Kunst, Musik und Freizeit im ersten Stock der Bibliothek durchstreift hatte, war er an ihrem Bild vorbeigekommen. Im Aufsteller mit Mitarbeiterempfehlungen fand sich in der Kategorie Jazzgitarre eine ihrer CDs: Fingerwalking. Der Aufsteller stand direkt im Mittelgang. Das Cover der CD zeigte ein Schwarzweißporträt der Künstlerin.

Von der Bibliothek aus fuhr Hunter ins Rechtsmedizinische Institut, nachdem Dr. Hove angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass die Autopsie abgeschlossen sei. Er brauchte zwanzig Minuten, und als er ankam, war Garcia bereits dort.

Hove sah zu Tode erschöpft aus. Kein noch so dick aufgetragenes Make-up konnte die dunklen Tränensäcke verbergen, ihre Augen schienen tiefer in ihre Höhlen gesunken zu sein, und ihre Haut wirkte bleich und stumpf wie die von jemandem, der seit Monaten kein Sonnenlicht mehr gesehen hat. Ihre Schultern waren wie unter einer unsichtbaren Last vornübergebeugt.

»Sieht so aus, als hätte keiner von uns heute Nacht viel geschlafen«, meinte Garcia mit einem Blick auf Hunters schwere Lider, als dieser sich am Eingang zum Sektionssaal zu ihnen gesellte. »Ich habe es bei dir zu Hause versucht, aber –«

Hunter nickte. »Ich war in der Bibliothek.«

Garcia schnitt eine Grimasse und sah auf die Uhr. »Ist dir der Lesestoff ausgegangen?«

»Ich wusste, dass ich das Opfer schon mal gesehen habe«, erklärte Hunter. »Ihr Name ist Jessica Black.« Er zog eine CD-Hülle aus seiner Jackentasche.

Garcia und Hove betrachteten nacheinander das Cover.

»Innen drin ist noch ein anderes Foto.«

Hove zog das Booklet heraus und schlug es auf. In der Mitte war ein Ganzkörperfoto von Jessica zu sehen. Sie stand mit dem Rücken an eine Ziegelwand gelehnt, die ­Gitarre neben sich. Sie trug ein ärmelloses schwarzes Top, Jeans und schwarze Cowboystiefel. An ihrer rechten Schulter war deutlich eine Tätowierung zu erkennen. Dr. Hove musste nicht erst nachsehen, sie wusste sofort, dass es dieselbe Tätowierung war wie die der Toten auf dem Sektionstisch. Sie hatte sie oft genug betrachtet.

»Ich habe es eben erst rausgefunden«, erklärte Hunter. »Ich habe von unterwegs gleich die Einsatzzentrale angerufen und sie gebeten, mir ihre Adresse zu geben und alles, was sie sonst noch über sie in Erfahrung bringen können. Wir gehen die Informationen durch, sobald wir hier fertig sind.« Er nickte Garcia zu, der die Geste erwiderte. »Die Vermisstenstelle weiß nichts von ihr«, fuhr er fort. »Ihr Verschwinden wurde nie gemeldet.«

Schweigend betraten sie den Sektionssaal und blieben vor dem Obduktionstisch stehen. Alle Blicke wandten sich Jessicas Gesicht zu. Die Fäden waren gezogen worden, aber die Löcher, wo Nadel und Faden ihre Haut durchbohrt hatten, waren blieben. Um ihren Mund herum waren Kratzspuren zu sehen. Hunter wusste, dass Jessica sie sich selbst beigebracht hatte, als sie in blinder Panik mit dem, was noch von ihren Fingernägeln übrig war, an den Nähten gezerrt hatte. Niemand konnte sich auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr sie gelitten haben musste.

»Wir hatten recht.« Dr. Hove brach als Erste das Schweigen. Ihre Stimme klang heiser und gepresst. »Der Killer hat sie von innen verbrannt.«

Garcia kämpfte gegen ein Zittern an. »Wie?«

»Genau so, wie wir vermutet haben. Er hat eine Leuchtfackel in ihren Körper eingeführt.«

Garcia schloss die Augen und wich instinktiv einen Schritt zurück. Das war der Grund gewesen, weshalb sich ihm in der vorigen Nacht der Magen umgedreht hatte: der Geruch von verbranntem Fleisch. Es war einer der Gerüche, die man nie mehr vergaß, wenn man sie einmal gerochen hatte. Auch Garcia nicht.

»Nun ja, keine Leuchtfackel im eigentlichen Sinne«, berichtigte Dr. Hove sich selbst, »aber etwas Ähnliches.« Sie deutete hinter sich auf den langen Tresen, wo auf einem Stahltablett ein Metallzylinder lag. Er war etwa dreizehn Zentimeter lang und hatte einen Durchmesser von fünfzehn Millimetern. »Das ist die Aluminiumröhre, die wir in ihrem Unterleib gefunden haben.«

Hunter trat näher, um sich die Röhre genauer anzusehen. Sie war an einem Ende versiegelt. Niemand sprach, also fuhr Dr. Hove fort.

»Die am weitesten verbreiteten Leuchtfackeln sind Si­gnalfackeln. Zu beschaffen sind sie kinderleicht, man findet sie auf jedem Boot im Hafen oder auch in Notfallkoffern im Auto, die so ziemlich überall erhältlich sind. Aber es sind nicht die einzigen Arten von Fackeln, die man kaufen …« Sie hielt inne, und ihr Blick glitt zurück zum Zylinder auf dem Tablett. »… oder selber herstellen kann.«

»Pyrolante«, sagte Hunter.

Hove nickte. »Genau. Anders als bei Leuchtfackeln besteht ihr Hauptzweck nicht darin, möglichst hell zu brennen und ein weithin sichtbares Warnsignal zu erzeugen. Ihr Zweck ist es, möglichst heiß zu brennen.« Sie nahm den Zylinder in die Hand. »Im Wesentlichen ist eine Leuchtfackel nichts weiter als ein Behälter voller Chemikalien, die ein helles Licht oder starke Hitze erzeugen können, ohne zu explodieren. Und genau so etwas hat der Täter gebaut und in sein Opfer eingeführt.«

»Wie lange hat das Ding gebrannt?«, wollte Hunter wissen.

Hove zuckte die Achseln. »Kommt darauf an, was für Chemikalien er verwendet hat und in welchen Mengen. Der Zylinder geht sofort ins Labor, sobald wir hier fertig sind. Aber viel hätte er nicht gebraucht. Pyrolante erzeugen beim Verbrennen eine extreme Hitze. Wenige Sekunden Kontakt reichen aus, um menschliches Gewebe vollständig zu karbonisieren.« Sie verstummte und rieb sich langsam das Gesicht. »Die Verletzungen, die das Fächermesser im zweiten Opfer angerichtet hat …« Sie schüttelte den Kopf. »… sind Peanuts gegen das hier.«

Garcia holte tief Luft und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Dr. Hove drehte den Zylinder um und zeigte ihnen einen winzigen Knopf am versiegelten Ende. »Derselbe hochempfindliche erschütterungsaktivierte Auslöser. Als ihre Füße den Boden berührt haben, hat es klick gemacht, und es gab einen winzigen Funken. Genug, um die Chemikalien in der Röhre in Brand zu setzen. So ähnlich wie bei einem Ofenanzünder.«

»Wie kann denn im Innern des menschlichen Körpers ein Feuer brennen?«, fragte Garcia. »Es braucht doch Sauerstoff.«

»Aus genau demselben Grund, aus dem eine Signalfackel unter Wasser brennen kann«, antwortete Hunter. »Sie enthalten ein Oxidationsmittel, das Sauerstoff aus der Umgebung abspalten kann. Unterwasserleuchtfackeln enthalten besonders viel davon, so dass selbst in einer sauerstofffreien Umgebung das Feuer nicht erlischt.«

Garcia sah Hunter an, als wäre der ein Außerirdischer.

Erneut nickte Dr. Hove. »Je mehr Oxidationsmittel, desto stärker die anfängliche Deflagration.«

Daran wiederum hatte Hunter nicht gedacht.

»Und im Klartext heißt das …?«, fragte Garcia.

»Wenn der Funke auf die Chemikalien trifft, erzeugt das … sagen wir, eine thermische Reaktion. Diese Reaktion sorgt dafür, dass sich die gesamte Wirkladung auf einmal entzündet, aber ohne zu explodieren. Genau das bezeichnet man als Deflagration – eine Art sehr schnellen Verbrennungsvorgang. Bei einer Verpuffung entsteht eine Blase aus extrem heißem Gas. In unserem konkreten Fall ist diese Gasblase oben aus der Röhre herausgeschossen wie eine Kugel aus einem Pistolenlauf. Diese Blase musste sich ausdehnen, bis ihre Energie verbraucht war.« Dr. Hove machte mit der rechten Hand eine Faust und öffnete dann langsam die Finger, um den Vorgang zu veranschaulichen. »Sie hat sich nicht sehr stark ausgedehnt, wahrscheinlich nur wenige Millimeter, aber dabei wurde alles, womit sie in Berührung gekommen ist, im Wesentlichen zu Asche verbrannt.«

Garcia spürte, wie erneut sein Magen rebellierte.

»Die Schmerzen, die sie hatte, müssen … unbeschreiblich gewesen sein«, sagte Hove. »Die meisten Brandopfer sterben durch den Rauch, nicht durchs Feuer. Im Prinzip kollabiert die Lunge, weil sie den Rauch nicht verarbeiten kann, und man erstickt – oft tritt der Tod ein, bevor man überhaupt irgendwelche Schmerzen aufgrund der Ver­brennungen spürt. Aber das war hier nicht der Fall. Es gab keinen Rauch, den sie hätte einatmen können. Sie hat den Schmerz mit jedem Nerv gespürt.« Hove legte den Zylinder weg und atmete aus. »Wie Ihnen bekannt ist, wurden die inneren Organe des zweiten Opfers quasi zerfetzt. Sie hat sehr gelitten, aber gleichzeitig haben die Verletzungen auch zu einem enorm hohen Blutverlust geführt. Wir alle wissen, dass der Körper, sobald der Mensch eine bestimmte Menge an Blut verliert, einfach herunterfährt – eine Art Winterschlaf- oder Narkoseeffekt. Es wird kalt, man wird müde, der Schmerz verschwindet, und man verliert das Bewusstsein, bevor man stirbt.« Hove fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Aber nicht bei Verbrennungen. Der Blutverlust ist minimal, und es tritt keinerlei Narkoseeffekt ein. Nur unvorstellbarer Schmerz.«