20

Hunter wählte die Telefonnummern, die auf den zwei Datenblättern seiner Vermissten angegeben waren. Ein Mr Giles Carlsen, der Manager eines Friseursalons in Brentwood, hatte vor zehn Tagen seine Mitbewohnerin ­Cathy Greene bei der Polizei als vermisst gemeldet. Am ­Telefon teilte er Hunter mit, dass Miss Greene am Morgen zuvor endlich wieder aufgetaucht sei. Sie war mit einem neuen Mann unterwegs gewesen, den sie im Tanzkurs kennengelernt hatte.

Der zweite Kontakt, ein gewisser Roy Mitchell, hatte sich vor zwölf Tagen an die Polizei gewandt, weil seine neunundzwanzigjährige Tochter Laura spurlos verschwunden war. Mr Mitchell erklärte sich bereit, Hunter in einer Stunde in seinem Haus am Fremont Place zu empfangen.

Hancock Park zählt zu den reichsten und begehrtesten Wohngegenden in ganz Südkalifornien. Im Gegensatz zum Rest von L. A. sind die Häuser hier ein gutes Stück von der Straße zurückgesetzt, die meisten Strom- und Telefonleitungen verlaufen unterirdisch, und Zäune sind allgemein verpönt. Als Hunter in den Fremont Place einbog, wurde ihm klar, dass sich die Bewohner um Verletzung ihrer Privatsphäre keine allzu großen Sorgen machen mussten.

Die halbmondförmige Einfahrt vor dem Haus war gepflastert und mündete in einen Parkplatz, der ausreichend Stellfläche für zwei Reisebusse bot. In der Mitte stand ein riesiger gemauerter Springbrunnen. Die Sonne berührte gerade den Horizont, und am Himmel hinter dem zweigeschossigen Haus aus Terrakottaziegeln leuchteten feuerrote Streifen in bester Ansichtskartenmanier. Hunter parkte seinen Wagen und stieg aus.

Eine Frau Mitte fünfzig öffnete ihm. Sie wirkte sehr elegant mit ihren langen Haaren, die sie adrett zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, ihrem bezaubernden Lächeln und einer Haut, für die viele Frauen, die halb so alt waren wie sie, einen Mord begangen hätten. Sie stellte sich als Denise Mitchell vor und geleitete Hunter in ein Arbeitszimmer voller Kunst, Antiquitäten und in Leder gebundener Bücher. Vor einer hohen Anrichte aus Mahagoni mit zahlreichen gerahmten Fotos darauf stand ein Mann. Er war korpulent – ein Donut mehr, und man hätte ihn als fett bezeichnen müssen – und gut fünfzehn Zentimeter kleiner als Hunter. Er hatte volles, aber zerzaustes graues Haar und einen dazu passenden Schnurrbart.

»Sie müssen der Detective sein, mit dem ich eben telefoniert habe«, sagte er und streckte Hunter die Hand hin. »Ich bin Roy Mitchell.«

Der Griff seiner Hand war genauso routiniert wie sein Lächeln: fest genug, um Charakterstärke zu demonstrieren, aber zugleich sanft genug, um sein Gegenüber nicht einzuschüchtern. Hunter zeigte ihm seine Marke, und Roy Mitchell versteifte sich.

»O Gott.«

Er hatte die Worte ganz leise hervorgestoßen, aber doch laut genug, dass seine Frau sie gehört hatte. »Was ist denn?«, fragte sie und trat mit fragendem Blick auf die beiden Männer zu.

»Könntest du uns vielleicht für eine Minute allein lassen, Liebling?«, fragte Roy, der vergeblich versuchte, seine Angst zu verbergen.

»Nein, das kann ich nicht«, sagte Denise, die ihren Blick nun auf Hunter richtete. »Ich will wissen, was los ist. Was wissen Sie über meine Tochter?«

»Denise, bitte.«

»Ich rühre mich nicht vom Fleck, Roy.« Ihr Blick ließ Hunter keine Sekunde lang los. »Haben Sie meine Tochter gefunden? Geht es ihr gut?«

Roy Mitchell wandte den Kopf ab.

»Was ist los, Roy? Warum machst du so ein Gesicht?«

Keine Antwort.

»Jetzt sag doch irgendjemand was!« Ihre Stimme geriet ins Taumeln.

»Ich bin nicht von der Vermisstenstelle, Mrs Mitchell«, sagte Hunter schließlich und zeigte ihr erneut seine Marke. Diesmal sah sie genauer hin als zuvor an der Tür.

»O mein Gott, Sie sind vom Morddezernat?« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Tränen traten ihr in die Augen.

»Es besteht die Möglichkeit, dass ich zu Unrecht hier bin«, sagte Hunter mit ernster, aber beruhigender Stimme.

»Was?« Denises Hände begannen zu zittern.

»Vielleicht sollten wir uns besser hinsetzen.« Hunter deutete auf ein Chesterfield-Ledersofa, neben dem eine mannshohe viktorianische Stehlampe stand.

Die Mitchells setzten sich auf das Sofa, und Hunter nahm auf einem der Sessel gegenüber Platz.

»Wir bemühen uns gerade, eine Frau zu identifizieren, die gewisse Ähnlichkeit mit Ihrer Tochter hat«, erklärte er. »Lauras Name ist einer von vieren, die in Frage kommen.«

»In Frage kommen … als Mordopfer?«, fragte Roy und legte seiner Frau eine Hand aufs Knie.

»Leider ja.«

Denise begann zu schluchzen.

Roy holte tief Luft. »Ich habe dem anderen Detective ein ganz neues Foto von Laura gegeben. Haben Sie das bekommen?«

Hunter nickte.

»Und trotzdem wissen Sie nicht, ob Ihr unidentifiziertes Mordopfer Laura ist oder nicht?«, fragte Denise, der Mascara über die Wangen lief. »Wie kann das sein?«

Roy schloss eine Sekunde lang die Augen, und eine einzelne Träne rollte an seiner Nase entlang. Hunter sah ihm an, dass er bereits den einzig logischen Schluss gezogen hatte: dass besagtes Mordopfer höchstwahrscheinlich nicht zu erkennen war. »Dann sind Sie sicher gekommen, weil Sie von uns eine Blutprobe für einen DNA-Test haben wollen?«, sagte er.

Wie es schien, war Roy Mitchell besser mit der Polizei­arbeit vertraut als die meisten Menschen. Seit der Einführung von DNA-Analysen konnte man in einer Situation wie dieser zunächst Proben nehmen und sie mit denen des Opfers vergleichen, so dass man keine Unbeteiligten dem Schock und der zutiefst traumatisierenden Erfahrung aussetzen musste, sich das Foto einer grausam entstellten Leiche anzusehen.

Hunter schüttelte den Kopf. »Leider wird uns ein DNA-Test in diesem Fall nicht weiterhelfen.«

Einen Moment lang schien es so, als wäre die Luft im Raum knapp geworden. »Haben Sie ein Bild des Opfers?«, fragte Roy schließlich.

Hunter nickte und blätterte in der Mappe, die er mitgebracht hatte. »Mrs Mitchell«, sagte er und fing ihren Blick ein. »Es kann gut sein, dass diese Frau gar nicht Ihre Tochter ist. Es gibt also keinen Grund für Sie, sich das Foto unbedingt jetzt schon anzusehen.«

Denise starrte Hunter mit tränenverschleierten Augen an. »Ich bleibe hier.«

»Schatz, bitte«, flehte Roy erneut.

Sie sah nicht einmal in seine Richtung.

Hunter wartete kurz ab, doch die Entschlossenheit in ihrem Blick war deutlich zu erkennen. Er legte das Foto vom Gesicht des Opfers vor sie auf den Tisch.

Denise Mitchell brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um sie zu erkennen. »O mein Gott!« Zitternd flogen ihre Hände an den Mund. »Was haben sie mit meinem Kind gemacht?«

Mit einem Schlag wirkte das Zimmer, in dem sie saßen, vollkommen verändert – dunkler, enger, kaum Luft zum Atmen. Hunter saß mehrere Minuten schweigend da, während Roy Mitchell seine Frau zu trösten versuchte. Sie weinte keine hysterischen Tränen, sondern Tränen der Trauer – und der Wut. Unter anderen Umständen hätte Hunter sich verabschiedet, um den Mitchells Zeit zu geben, in Ruhe zu trauern. Er wäre am nächsten Morgen wieder­gekommen und hätte ihnen alle weiteren Fragen gestellt. Aber dieser Fall war nicht so wie andere Fälle, und dieser Mörder war nicht so wie andere Mörder. Hunter hatte keine Wahl. Lauras Eltern waren seine beste, im Moment sogar seine einzige Informa­tionsquelle über Laura. Und er brauchte die Informationen.

Denise Mitchell zog ein Taschentuch aus der Schachtel auf dem Beistelltisch und wischte sich die Tränen weg, bevor sie aufstand. Sie ging zu einem kleinen Schreibtisch am Fenster, auf dem mehrere gerahmte Fotos standen. Die meisten davon zeigten Laura in verschiedenen Stadien ihres Lebens.

Roy folgte ihr nicht, sondern sank immer tiefer im Polster des Sofas zusammen, als könnte er so der Situation entfliehen. Er machte keine Anstalten, seine Tränen wegzu­wischen.

Irgendwann drehte sich Denise zu Hunter um. Sie sah vollkommen anders aus als die Frau, die ihm wenige Minuten zuvor die Tür geöffnet hatte. In ihren Zügen lag unvorstellbare Traurigkeit.

»Wie sehr hat meine Tochter gelitten, Detective?« Ihre Stimme war leise und rau, jedes ihrer Worte voller Schmerz.

Ihre Blicke trafen sich kurz, und Hunter sah eine Mischung aus Gram und Wut tief in ihrem Innern lodern.

»Die Wahrheit ist: Wir wissen es nicht«, gestand er schließ­lich.

Mit zitternder Hand strich sich Denise eine Haarsträhne hinters rechte Ohr. »Wissen Sie, warum, Detective? Warum würde jemand einem Menschen so was antun? Meiner Laura? Sie war das netteste, liebenswürdigste Mädchen, das man sich überhaupt vorstellen kann.«

Hunter hielt ihren Blick fest. »Ich kann nicht mal ansatzweise nachempfinden, was Sie zwei gerade durchmachen, Mrs Mitchell. Und ich will auch nicht so tun, als wäre das hier leicht. Wir suchen selbst nach Antworten, und im Moment kann ich Ihnen noch nicht viel sagen, weil wir so gut wie nichts wissen. Ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe brauche, um den zu finden, der das getan hat. Sie kannten Laura besser als jeder andere.«

Denises Augen ruhten noch immer auf Hunters Gesicht, und er wusste, wie ihre nächste Frage lauten würde, noch bevor ihr die Worte über die Lippen kamen.

»Wurde sie …« Ihre Stimme brach, als sie erneut mit den Tränen kämpfte, die ihr die Kehle zuschnürten. »… vergewaltigt?«

Jetzt endlich sah Roy Mitchell auf. Mit starrem Blick sah er von seiner Frau zu Hunter.

Es gab nur sehr wenige Dinge im Leben, die Hunter mehr hasste, als trauernde Eltern anzulügen, aber ohne Autopsie konnte er Denise und Roy nur eine Antwort geben: dass er es nicht wusste. Diese Ungewissheit würde sie ein Leben lang verfolgen, das wusste er als Psychologe. Sie konnte sie ihre Ehe kosten, vielleicht sogar ihren Verstand.

»Nein, sie wurde nicht vergewaltigt«, sagte er mit festem Blick und ohne zu zögern. Manche Lügen waren besser als die Wahrheit.

21

Der qualvolle Moment dehnte sich, bis Denise endlich den Blickkontakt mit Hunter abbrach und erneut die Fotos auf dem Schreibtisch betrachtete. Sie nahm einen kleinen silbernen Rahmen in die Hand.

»Laura war immer sehr begabt, wissen Sie? Ein sehr künstlerischer Mensch.« Sie kam zu ihm und reichte ihm das gerahmte Bild. Darauf war ein kleines Mädchen zu sehen, etwa acht Jahre alt, von Wachsmalstiften und winzigen Wasserfarbtöpfchen umgeben. Sie sah so glücklich aus, und ihr Lächeln war so ansteckend, dass Hunter es unwillkürlich erwidern musste. Für einen Moment vergaß er, dass dieses Mädchen auf die denkbar grausamste Weise aus dem Leben gerissen worden war.

»In der Schule hat sie in Kunst jedes Jahr eine Auszeichnung bekommen«, sagte Denise voller Stolz.

Hunter hörte ihr zu.

Ein wehmütiges Lächeln zuckte um Denises Mundwinkel, aber sie hielt es zurück. »Sie hat erst spät angefangen, professionell zu malen, aber sie hat Kunst schon immer geliebt. Das Malen war ihre Zuflucht. Immer wenn sie wegen irgendwas traurig war, hat sie sich zu ihren Pinseln geflüchtet. Die Malerei hat sie geheilt, als sie noch ein Kind war.«

»Geheilt?« Schlagartig war Hunters Miene angespannt, und sein Blick sprang zwischen Denise und Roy hin und her.

»Eines Tages, als Laura acht war, bekam sie aus heiterem Himmel einen Anfall«, erklärte Denise. »Sie konnte nicht mehr atmen und sich nicht bewegen. Sie hat die Augen verdreht und wäre fast erstickt. Das hat uns zu Tode erschreckt.«

Roy nickte und redete weiter. »Wir waren mit ihr bei vier verschiedenen Ärzten. Spezialisten, wie sie alle behaupteten.« Er schüttelte den Kopf, als ärgerte er sich noch immer über sie. »Aber keiner konnte uns erklären, was sie hatte. Sie hatten nicht die blasseste Ahnung.«

»Sind diese Anfälle danach wieder aufgetreten?«

»Ja, noch ein paarmal«, sagte Denise. »Sie hat jede Untersuchung mitgemacht, die man sich nur denken kann, sogar Computertomographien. Sie haben nichts gefunden. Niemand wusste, was ihr fehlt. Niemand konnte uns sagen, was die Anfälle ausgelöst hat. Ungefähr eine Woche nach dem letzten Anfall hat Laura dann zum ersten Mal einen Pinsel in die Hand genommen. Und das war’s. Die Anfälle sind nie wiedergekommen.« Denise fasste sich mit der Fingerspitze in den rechten Augenwinkel, um die Träne aufzufangen, die sich dort gebildet hatte und ihr nun die Wange hinabzulaufen drohte. »Ganz egal was die anderen sagen, ich weiß genau, dass wir es der Malerei zu verdanken haben, dass die Anfälle aufgehört haben. Das Malen hat sie gesund gemacht.«

»Sie sagten, sie hat während der Anfälle schlecht Luft bekommen?«

Denise nickte. »Wir hatten jedes Mal fürchterliche Angst um sie. Sie konnte nicht atmen, die Farbe ihrer Haut veränderte sich.« Sie hielt inne und wandte den Blick ab. »Wenn ich daran denke, wie oft sie hätte sterben können …«

»Und dann haben die Anfälle einfach aufgehört?«

»Ja«, sagte Roy. »Gleich nachdem sie angefangen hatte zu malen.«

Hunter erhob sich und gab Denise den Bilderrahmen zurück. »War Laura mit jemandem zusammen?«

Denise stieß einen tiefen Seufzer aus. »Laura hat sich nie wirklich auf jemanden eingelassen. Das war noch so ­einer ihrer Selbstschutzmechanismen.« Sie trat zum Barschrank neben dem hohen Bücherregal. »In jedem Artikel über sie, in dem es darum geht, wie ihre Karriere angefangen hat, steht etwas darüber, wie sehr sie damals darunter gelitten hat, dass ihr Verlobter sie betrogen hat. Sie hat ihn im Bett mit einer anderen Frau erwischt. Das hat etwas in ihr zerstört.« Denise schenkte sich einen doppelten Whisky aus einer Karaffe ein und ließ zwei Eiswürfel ins Glas fallen. »Wollen Sie auch einen?« Sie hob ihr Glas.

Single Malt war Hunters große Leidenschaft, und anders als die meisten verstand er es, den Geschmack und die Qualität zu würdigen, statt sich bloß damit zu betrinken.

»Danke, nein.«

»Roy?« Sie drehte sich zu ihrem Mann um.

Der schüttelte den Kopf.

Denise zuckte mit den Schultern, nippte an ihrem Whisky und schloss die Augen, als die Flüssigkeit ihr die Kehle hinabrann.

»Um irgendwie mit dem Schmerz fertig zu werden, hat Laura sofort wieder angefangen zu malen. Davor hatte sie mehrere Jahre lang nicht gemalt. Ein Galeriebesitzer hat rein zufällig eins ihrer Bilder gesehen, und das war der Anfang ihrer Karriere. Aber davor hat sie sehr gelitten.«

»An ihrem gebrochenen Herzen?«, fragte Hunter.

Denise nickte und wandte den Blick ab. »Patrick hat damals darauf bestanden, schon nach vier Monaten zusammenzuziehen«, fuhr sie fort. »Er hat Laura gesagt, dass er es ohne sie nicht aushielte, dass er sie mehr lieben würde als alles andere auf der Welt. Er konnte gut mit Worten umgehen. Ein Charmeur, der normalerweise immer das bekam, was er wollte. Bestimmt kennen Sie die Sorte Mann. Und Laura hat ihm geglaubt. Sie ist ihm und seinem Charme verfallen.«

»Sie sagten, er heißt Patrick.«

Denise nickte. »Patrick Barlett.«

Hunter schrieb den Namen in sein Notizbuch.

»Laura hat in einer Bank gearbeitet, Patrick war ein großer Investor. So haben sie sich kennengelernt. Sie hat von seiner Affäre erfahren, weil ihr an dem Tag nach der Mittags­pause schlecht wurde«, erinnerte sich Denise. »Sie hatte irgendwas Verdorbenes gegessen. Ihr Chef hat ihr den Rest des Tages freigegeben, und sie ist nach Hause gegangen. Patrick war in ihrem Bett mit seiner Sekretärin oder Assistentin oder irgendeinem anderen Flittchen.« Sie schüttelte den Kopf. »Bei jemandem, der so intelligent ist, hätte man doch gedacht, dass er wenigstens in ein Hotel geht.« Sie lachte nervös auf. »So viel zu seiner unsterblichen Liebe. Das war gerade mal drei Monate nachdem sie zusammengezogen waren. Seitdem hat Laura keine Beziehung mehr angefangen. Affären, kleine Romanzen – aber nichts Ernstes.«

»Gab es in jüngster Zeit irgendjemanden?«

»Niemanden, der Laura wichtig genug gewesen wäre, dass sie uns davon erzählt hätte.«

»Und nachdem sich Laura von Patrick getrennt hatte, war es vorbei zwischen ihnen?«

»Für sie ja.«

»Und für ihn?«

»Ha!«, rief Denise voller Verachtung. »Er hat sie nie losgelassen. Er hat versucht, sich zu entschuldigen, mit Blumen und Geschenken und Telefonanrufen und was ihm sonst noch so alles einfiel, aber Laura wollte nichts mehr von ihm wissen.«

»Wie lange hat er das gemacht?«

»Er hat nie aufgehört.«

Hunter hob erstaunt die Brauen.

»Erst letzten Monat war er auf ihrer Ausstellung und hat sie angefleht, zu ihm zurückzukommen. Sie hat ihm gesagt, er soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.«

»Das heißt, er versucht es immer wieder. Er bittet sie um Verzeihung und tut alles, um sie zurückzuerobern – wie lange geht das schon so?«

»Vier Jahre«, sagte Roy. »Patrick gehört zu den Männern, die kein Nein akzeptieren. Er ist es gewohnt, zu kriegen, was er will, egal was es kostet.«

22

Das Wort besessen schoss Hunter durch den Kopf. Die meisten Menschen hätten nach vier Jahren den deutlichen Fingerzeig verstanden und mit der Sache abgeschlossen. Denise erzählte ihm davon, wie besitzergreifend und eifersüchtig Patrick gegenüber Laura gewesen war, und dass er, obschon er während ihrer Beziehung niemals gewalttätig geworden sei, ein ernsthaftes Problem damit hatte, sein aufbrausendes Temperament zu beherrschen.

»Kennen Sie irgendjemanden, der außer Ihnen noch einen Schlüssel zu Lauras Wohnung gehabt haben könnte?«

Denise nippte erneut an ihrem Drink und dachte eine Minute lang nach, bevor sie sich fragend zu ihrem Mann umwandte.

»Nicht dass wir wüssten«, sagte dieser.

»Laura hat nie erwähnt, dass sie jemand anderem einen Schlüssel gegeben hat?«

Ein energisches Kopfschütteln von Denise. »Laura hat niemandem erlaubt, in ihre Wohnung zu gehen, und in ihr Atelier schon gar nicht. Die eigene Arbeit war für sie eine sehr persönliche Angelegenheit. Sie war kommerziell erfolgreich, aber sie hat nie des Geldes wegen gemalt, sondern nur für sich selbst. Es war ihre Art, das auszudrücken, was in ihr vorging. Sie hat nicht einmal gerne ausgestellt, und normalerweise ist das doch der Traum eines jeden Künstlers. Soweit ich weiß, hat sie nie einen Mann mit in ihre Wohnung genommen. Und sie hat sich nie, niemals emotio­nal auf jemanden eingelassen.«

»Was ist mit engen Freunden?«

»Ich war ihre engste Freundin.« Denises Stimme zitterte kurz.

»Irgendjemand außerhalb der Familie?«

»Maler sind sehr einsame Menschen, Detective. Sie verbringen die meiste Zeit allein vor ihrer Leinwand. Sie hatte Bekannte, aber niemanden, den man als engen Freund bezeichnen könnte.«

»Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihren alten Klassenkameraden, Kommilitonen oder Arbeitskollegen?«

Denise hob die Schultern. »Vielleicht hat sie mal mit ­jemandem telefoniert oder ist hin und wieder was trinken gegangen, aber ich könnte Ihnen nicht sagen, mit wem.« Sie hielt inne. »Der einzige Mensch, der mir in den Sinn kommt, ist Calvin Lange, der Kurator der Daniel Rossdale Art Gallery. Der hat ihre Karriere damals in Gang gebracht. Er mochte sie sehr gern und sie ihn auch. Sie haben oft ­telefoniert und sich auch regelmäßig getroffen.«

Roy nickte zustimmend.

Hunter notierte sich Calvin Langes Namen. Dann wanderte sein Blick wieder zu den gerahmten Fotos auf dem Schreibtisch. »Als bekannte Künstlerin hatte sie doch bestimmt auch Fans.«

Denise nickte stolz. »Viele haben ihre Arbeit geliebt und bewundert.«

»Hat Laura Ihnen gegenüber jemals von besonders …«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… hartnäckigen Fans gesprochen?«

»Sie meinen … wie ein Stalker?« Denise’ Stimme setzte kurz aus.

Hunter nickte.

Denise stürzte den Rest ihres Whiskys in einem Schluck hinunter. »Ich hatte vorher gar nicht daran gedacht, aber sie hat tatsächlich vor einigen Monaten mal so was erwähnt.«

Hunter stellte den Bilderrahmen hin, den er in der Hand gehalten hatte, und machte einen Schritt auf Denise zu. »Was genau hat sie gesagt?«

Denise starrte auf eine Stelle des weißen Nepalteppichs in der Mitte des Zimmers, während sie sich zu erinnern versuchte. »Nur dass sie einige E-Mails von jemandem bekommen hat, der schreibt, er würde sie und ihre Arbeit verehren.«

»Hat sie Ihnen die E-Mails gezeigt?«

»Nein.«

Hunter sah fragend zu Roy, aber auch der schüttelte den Kopf.

»Hat sie Ihnen gesagt, was in den E-Mails stand?«

Denise schüttelte den Kopf. »Laura hat die Sache heruntergespielt, sie hat gesagt, es sei bloß ein Fan, der von ihrer Arbeit schwärmt. Aber ich hatte das Gefühl, dass die E-Mails ihr irgendwie Angst gemacht haben.«

Erneut kritzelte Hunter etwas in sein Notizbuch.

Denis trat näher und blieb eine Armeslänge von Hunter entfernt stehen. Sie schaute ihm in die Augen. »Wie gut sind Sie und Ihr Team, Detective?«

Hunter runzelte die Stirn, als habe er nicht ganz verstanden, worauf sie hinauswollte.

»Ich will wissen, ob Sie das Schwein kriegen werden, das mir meine Tochter weggenommen hat.« Die Trauer in ihrer Stimme war verschwunden, an ihre Stelle war glühender Zorn getreten. »Und sagen Sie mir ja nicht, dass Sie Ihr Bestes geben werden. Das tut die Polizei immer, und meistens reicht das nicht. Ich weiß, dass Sie Ihr Bestes geben werden, Detective. Ich will, dass Sie mir in die Augen sehen und mir sagen, dass Ihr Bestes auch gut genug ist. Sagen Sie mir, dass Sie ihn kriegen werden. Und sagen Sie mir, dass dieses Monster für das, was es getan hat, bezahlen wird.«

23

Mit Hilfe der kleinen Fernsteuerung, die Leonid Kudrov ihr gegeben hatte, öffnete Whitney Myers das Tor zur Tiefgarage von Katias Apartmentkomplex. Als sie hineinfuhr, fiel ihr sofort Katias feuerrotes Mustang-Cabrio V6 auf, das auf einem der zwei für die Bewohner des Penthouse-Apartments reservierten Stellplätze parkte. Myers lenkte ihren Wagen auf den leeren Platz daneben, stieg aus und legte die rechte Hand auf die Motorhaube des Mustang. Kalt. Durchs Seitenfenster warf sie einen Blick ins Innere. Dort schien alles so weit in Ordnung. Ein Licht blinkte am Armaturenbrett und signalisierte, dass die Alarmanlage eingeschaltet war. Myers richtete sich auf und ließ den Blick durch die Tiefgarage schweifen. Sie war gut beleuchtet, dennoch gab es zahlreiche dunkle Nischen und Ecken, in denen sich jemand verbergen konnte. Sie sah nur eine einzige Überwachungskamera an der Decke. Sie war auf die Garagenzufahrt ausgerichtet.

Aus der Schachtel auf der Rückbank ihres Wagens holte Myers ein Paar Latexhandschuhe, bevor sie mit dem Aufzug zum Penthouse hochfuhr. Dort angekommen, zückte sie den Schlüssel, den sie ebenfalls von Leonid Kudrov bekommen hatte, und betrat die Wohnung. Keine Alarmanlage. Keine Einbruchsspuren.

Sie schloss leise die Tür hinter sich und blieb dann einen Moment lang stehen. Das Wohnzimmer war riesig und sehr stilvoll eingerichtet. Myers sah sich gründlich um. Etwas Ungewöhnliches fiel ihr nicht ins Auge. Keinerlei Hinweise auf einen Kampf oder eine Auseinandersetzung.

Sie ging zur Wendeltreppe in der Ecke und stieg ins Obergeschoss hinauf. Auf der Galerie fand sie Katias Wagenschlüssel in einer Schale auf einer hohen Kommode, auf der zahlreiche Familienfotos standen.

Myers ging den Flur entlang in Katias Schlafzimmer. Die Wände waren in Rosa und Weiß gehalten, und auf dem tadellos gemachten Doppelbett saßen genügend Stofftiere, um eine ganze Kinderkrippe wochenlang bei Laune zu halten. Myers überprüfte die Kopfkissen. Kein Geruch. In diesem Bett hatte vergangene Nacht niemand gelegen.

Auf der gepolsterten Bank am Fußende des Bettes lagen zwei Koffer. Beide waren aufgeklappt, aber wie es aussah, hatte Katia keine Gelegenheit gehabt, sie auszupacken. Die Tür zum Balkon war von innen verriegelt. Auch hier gab es keine Einbruchsspuren.

Als Nächstes nahm sich Myers den begehbaren Kleiderschrank vor. Beim Anblick von Katias Kleider-, Schuh- und Handtaschensammlung verschlug es ihr fast den Atem.

»Wow.« Mit den Fingerspitzen strich sie über ein Kleid von Giambattista Valli. »Eine Traumgarderobe«, murmelte sie. »Geschmack hatte sie.«

Im angrenzenden Badezimmer merkte sie, dass ein Handtuch vom Handtuchhalter fehlte.

Myers verließ das Schlafzimmer und betrat den nächsten Raum – Katias Übungsraum. Er war groß, aber spärlich möbliert: eine Stereoanlage auf einem Sideboard aus Holz, mehrere Notenständer, ein Minikühlschrank in der Ecke und an der Wand ein bequemer Sessel. Katias Geigenkasten lag auf einem kleinen Beistelltisch neben der Tür. Ihre kostbare Lorenzo Guadagnini lag darin.

Leonid hatte ihr gesagt, dass Katia ihre geliebte Guadagnini nie aus den Augen ließ. Wenn sie sie nicht bei sich trug, bewahrte sie sie grundsätzlich, ohne Ausnahme, im Safe auf, der hinter dem großen Porträt von Tschaikowski verborgen war.

Myers fand das besagte Porträt und überprüfte den Safe. Verschlossen. Trotz ihrer anfänglichen Vermutung, dass Katia lediglich ein paar Tage abgetaucht war, beschlich sie langsam, aber sicher ein ungutes Gefühl.

Sie ging zurück nach unten und betrat die Küche, die so groß war wie manch eine Stadtwohnung. Oberflächen und Böden waren aus schwarzem Marmor, die Küchengeräte aus Edelstahl. Über der Kochinsel in der Mitte hingen so viele Töpfe und Pfannen, dass dagegen ein mittelgroßes Res­taurant alt ausgesehen hätte.

Das Erste, was Myers auffiel, war das Handtuch, das im Bad gefehlt hatte. Es lag einige Schritte vom Kühlschrank entfernt auf dem Fußboden. Sie hob es auf und hielt es sich an die Nase – ein süßer, fruchtiger Duft, der mit dem der De­signer-Haarspülung in Katias Badezimmer übereinstimmte.

Myers sah sich um. Auf dem Tisch stand eine Flasche Weißwein. Keine Gläser. Auch kein Korkenzieher. Aber was ihr wirklich ins Auge stach, was das rote Licht, das am Anrufbeantworter am hinteren Ende des Küchentresens blinkte. Sie ging hin und warf einen Blick auf die Anzeige.

Sechzig Nachrichten.

»Katia muss eine sehr beliebte Frau sein.«

Myers drückte auf Play.

»Sie haben sechzig neue Nachrichten«, verkündete eine monotone Frauenstimme. »Nachricht eins.«

Totenstille.

Myers runzelte die Stirn.

Am Ende kam ein Piepsen, und die Maschine sprang zur zweiten Nachricht.

Stille.

Zur dritten.

Stille.

Und zur vierten.

Stille.

»Was zum Teufel –?« Myers ließ sich auf einem in der Nähe stehenden Barhocker nieder. Ihr Blick ging zu der großen Uhr, die über der Tür an der Wand hing.

Eine Nachricht nach der anderen lief ab, und bei keiner hörte sie auch nur das leiseste Geräusch. Nach der vielleicht fünfzehnten oder zwanzigsten Nachricht fiel Myers etwas auf. Sie bekam eine Gänsehaut.

»Das kann nicht sein«, murmelte sie, drückte auf Stopp und sprang zur ersten Nachricht zurück, um sie erneut ­abzuspielen. Ihr Blick kehrte zur Uhr über der Tür zurück, und diesmal wartete sie, bis die neunundfünfzigste Nachricht zu Ende war. Neunundfünfzigmal Schweigen, aber das Muster, das sie entdeckt hatte, verriet ihr, dass auch die­­ses Schweigen seine ganz eigene, finstere Bedeutung hatte.

»Ich glaub das nicht.«

Die letzte Nachricht hatte angefangen, und als plötzlich völlig unerwartet ein Rauschen aus dem Lautsprecher drang, fuhr Myers vor Schreck zusammen.

»Mein Gott …« Sie presste eine Hand auf ihr heftig pochendes Herz. »Was war das denn?« Sie sprang an den Anfang der Nachricht zurück und beugte sich dichter über den Anrufbeantworter, während sie sie erneut abspielte.

Rauschen.

Myers ging noch dichter heran.

Und was sie dann hörte, vom lauten Störgeräusch fast vollständig verdeckt, jagte ihr einen eiskalten Schauer über den Körper.

24

Noch bevor Hunter das Grundstück der Mitchells verlassen hatte, rief er vom Wagen aus die Einsatzzentrale an, damit man ihm dort sämtliche verfügbaren Informatio­nen über Lauras Exverlobten Patrick Barlett zusammenstellte. Sie mussten dringend mit ihm sprechen.

Nachdem er aufgelegt hatte, drückte Hunter die Kurzwahltaste für Garcias Telefon. Er berichtete ihm, was er von den Mitchells erfahren hatte, und eine halbe Stunde später trafen sie sich in Lakewood am Eingang eines alten Lagerhauses in der Nähe von Long Beach, das man in Loft­apartments umgewandelt hatte.

Hunter war schweigsam und bedrückt, und Garcia musste nicht erst fragen, weshalb. Es war schon schlimm genug, Eltern mitzuteilen, dass ihre Tochter einem barba­rischen Killer zum Opfer gefallen war. Ihnen auch noch sa­gen zu müssen, dass sie ihr Kind nicht würden beerdigen können, weil ein Sprengsatz ihre Leiche in Stücke gerissen hatte, das war geradezu alptraumhaft.

Schweigend fuhren sie im Lift ins obere Stockwerk.

Laura Mitchells Wohnung war ein beeindruckendes, zweihundert Quadratmeter großes Loft. Der Wohnbereich war mit schwarzen Ledermöbeln und dicken Teppichen schlicht, aber elegant gehalten. Auch Küche und Schlafbereich rechts beziehungsweise links vom Eingangsbereich waren geräumig, modern und mit viel Geschmack eingerichtet.

Den größten Teil des Apartments nahm das Atelier in Anspruch. Es lag im hinteren Teil und wurde durch große Fenster, darunter zwei Dachfenster, erhellt. Leinwände in allen nur erdenklichen Größen standen und lagen herum. Die größte war mindestens zwei mal vier Meter groß.

»Wow, ich fand Lofts schon immer toll«, meinte Garcia, während er sich staunend umsah. »Hier würde unsere Wohnung viermal reinpassen.« Er blieb stehen und warf einen Blick auf die Tür. »Keine Einbruchsspuren. Du hast gesagt, ihre Eltern haben zuletzt vor zweieinhalb Wochen von ihr gehört?«

Hunter nickte. »Laura und ihre Mutter standen sich sehr nahe. Sie haben sich fast jeden zweiten Tag getroffen oder miteinander telefoniert. Das letzte Mal haben sie am 2. März miteinander gesprochen, das war ein Mittwoch wenige Tage nach der Finissage von Lauras letzter Ausstellung in einer Galerie in West Hollywood. Danach hat ihre Mutter es am 5. März noch mal versucht und ist sofort misstrauisch geworden, als sie niemanden erreicht hat.«

»Zwischen dem zweiten und dem fünften?«, sagte Garcia und kniff die Augen zusammen. »Das war vor ungefähr zwei Wochen.«

Hunter holte tief Luft, und seine Miene verhärtete sich. »Und wenn sie von unserem Killer entführt wurde …« Er musste den Gedanken nicht vollenden, um seine Tragweite deutlich zu machen.

»Verdammt!«, stieß Garcia hervor, als es ihm klarwurde. »Sie ist gestern getötet worden. Wenn ihr Mörder derjenige ist, der sie auch entführt hat, dann hat er sie zwei Wochen lang festgehalten.«

Hunter ging zum Schlafbereich.

»Waren die Kollegen von der Vermisstenstelle schon hier?«

»Ja, Detective Alex Peterson vom West Bureau hat die Ermittlungen geleitet«, sagte Hunter und zog eine Schublade des Nachttischchens auf: eine Schlafmaske, zwei Lippenpflegestifte mit Kirschgeschmack, eine kleine Taschenlampe und eine Schachtel Tic Tacs. »Ich habe mich schon mit ihm in Verbindung gesetzt und ihm erklärt, dass der Fall inzwischen ein Mordfall ist. Er sagte, er hätte nicht viele Informationen, aber das, was er hat, will er uns schicken. Er hat ihren Laptop auf dem Sofa im Wohnzimmer gefunden. Die Kriminaltechnik hat ihn untersucht, aber es waren nur ihre Fingerabdrücke drauf.«

»Und die Dateien auf der Festplatte?«

Hunter legte den Kopf schief. »Der Rechner ist passwortgeschützt. Er wurde an die IT weitergeleitet, aber die Sache hatte bisher keine erhöhte Dringlichkeit. Ich habe erst vor ein paar Minuten mit ihnen gesprochen, es gibt also noch keine Ergebnisse.«

Sie warfen einen Blick in Lauras Kleiderschrank. Darin hingen mehrere Kleider, darunter einige Designerstücke, Jeans, T-Shirts, Blusen, Jacken und eine beachtliche Anzahl von Schuhen und Handtaschen. In der Küche warf Hunter einen Blick in den Kühlschrank, dann in die Schränke und den Mülleimer. Nichts Außergewöhnliches. Sie gingen weiter ins Wohnzimmer, wo Hunter ein paar Minuten damit verbrachte, sich die Fotos und die Titel der Bücher im Regal neben dem Sofa anzusehen, bevor er ins Atelier weiterging.

Laura Mitchells Stilrichtung war die Lyrische Abstraktion, und ihre Arbeiten bestanden zum größten Teil aus Formen und Farbflächen, die nach keinem erkennbaren Muster auf die Leinwände verteilt waren. Der Boden des Ateliers, der mit Klecksen in allen Farben des Regenbogens bedeckt war, stellte fast ein eigenes modernes Kunstwerk dar. Dutzende fertige Bilder lehnten, in mehreren Gruppen geordnet, an der westlichen Wand. Insgesamt drei Staffeleien waren an unterschiedlichen Stellen im Raum aufgestellt, zwei von ihnen mit weißen Tüchern verhängt. Auf der dritten, mittleren Staffelei stand ein sechzig mal neunzig Zenti­meter großes halbfertiges Bild. Hunter betrachtete es einen Moment lang, bevor er die Tücher über den anderen beiden Staffeleien lüftete. Die Bilder darunter schienen ebenfalls noch in Arbeit zu sein.

Garcia ging indes einige der fertigen Gemälde an der Wand durch.

»Ich habe es ja nicht so mit moderner Kunst.«

»Was meinst du damit?«, wollte Hunter wissen.

»Das hier zum Beispiel.« Er trat beiseite, damit Hunter sich das betreffende Bild ansehen konnte. Es war ein weiteres sechzig mal neunzig Zentimeter großes Gemälde, in dem pastellgrüne und orangefarbene Töne vorherrschten, umgeben von leuchtendem Rot und einigen Akzenten in Blau und Gelb. Soweit Garcia erkennen konnte, war die Verteilung der Farben vollkommen willkürlich.

»Was ist damit?«

»Es heißt ›Männer verirrt im Wald der Riesenbäume‹.«

Hunter hob eine Braue.

»Eben. Ich sehe keine Männer, ich sehe keinen Wald, und ich sehe auch nichts, was annähernd wie ein Baum aussieht.« Er schüttelte den Kopf. »Versteh einer die Künstler.«

Hunter schmunzelte und trat zu einem der großen Fenster. Es war von innen verriegelt. Erneut ließ er den Blick durch den Raum schweifen, bevor er die Stirn runzelte und ins Schlafzimmer zurückkehrte, wo er ein zweites Mal Lau­ras Garderobe in Augenschein nahm.

»Hast du was gefunden?«, fragte Garcia, der zusah, wie Hunter entschlossenen Schrittes im Bad verschwand.

»Noch nicht.« Er durchwühlte den Korb mit Schmutz­wäsche.

»Wonach suchst du denn?«

»Nach ihrer Arbeitskleidung.«

»Was?«

»Im Wohnzimmer stehen drei Fotos von Laura bei der Arbeit. Auf allen dreien trägt sie dasselbe grüne Oberteil und dieselben Jogginghosen, beide voller Farbspritzer.« Er warf einen Blick hinter die Tür. »Und alte Tennisschuhe. Hast du die hier irgendwo gesehen?«

Instinktiv sah Garcia sich um. »Nein.« Verwirrung spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Was willst du mit ihren Arbeitskleidern?«

»Gar nichts, ich will bloß wissen, ob sie weg sind.« Hunter kehrte ins Atelier zurück und deutete auf die Staffelei mit dem halbfertigen Bild. »Es sieht so aus, als hätte Laura zuletzt an dem Bild da gearbeitet. Und jetzt pass auf.« Er zeigte auf eine Palette voller eingetrockneter Farbreste in verschiedenen Tönen. Sie lag auf einer hölzernen Ablage neben der Staffelei. Rechts daneben stand ein Glas mit vier Pinseln in verschiedenen Größen. Die Flüssigkeit im Glas war trübe und ölig. Auf der Palette lag ein weiterer Pinsel, der in einem dicken angetrockneten Farbklecks festklebte. Die Borsten waren steif von leuchtend gelber Farbe. »Und jetzt sieh dich mal in ihrem Atelier um«, fuhr Hunter fort. »Sie scheint mir ein ziemlich ordentlicher Mensch gewesen zu sein. Aber selbst wenn nicht – Maler lassen nicht einfach den Pinsel, den sie gerade benutzen, irgendwo liegen, so dass die Farbe eintrocknet. Sie hätte ihn ja bloß ins Terpentinglas stellen müssen.«

Garcia überlegte kurz. »Irgendwas hat sie abgelenkt, während sie gearbeitet hat. Vielleicht ein Geräusch, ein Klop­fen an der Tür …«, sagte er, indem er Hunters Gedankengang fortsetzte. »Sie hat den Pinsel hingelegt und ist nachsehen gegangen.«

»Und der einzig logische Grund, weshalb wir ihre Arbeitskleider und Schuhe nicht finden können, ist, dass sie sie zum Zeitpunkt ihrer Entführung getragen hat.«

Hunter blieb neben mehreren fertigen Bildern stehen, die an der Wand lehnten. An der großen Leinwand ganz rechts fiel ihm etwas auf. Auf ihr war ein faszinierender Farbverlauf zu sehen, von gelb an einem Ende zu rot am anderen. Er machte ein paar Schritte zurück und legte den Kopf schief. Die Leinwand lehnte hochkant in einem Winkel von etwa fünfundsechzig Grad an der Wand, aber eigentlich musste man das Bild quer betrachten, nicht längs. Aus der Entfernung hatte die Farbkombination etwas geradezu Hypno­tisches. Laura besaß Talent und ein erstaunliches Gespür für Farben, aber das war es nicht, was Hunters Aufmerksamkeit erregt hatte.

Er trat auf das Bild zu, ging daneben in die Hocke und betrachtete eingehend den Fußboden um die Leinwand her­­um, bevor er einen Blick dahinter warf.

»Na, das ist aber interessant.«