DREI


 

 

Pete blieb mit seinem Hummer nicht lange allein. Gesichter näherten sich, kleinäugig, lächelnd, undeutlich erinnert. Gesichter über Rosa und Smaragdgrün, Gesichter über weißen Hemden und vernünftigen Drillichshorts. Und auch er von ihnen undeutlich erinnert. Hände wurden geschüttelt, Schultern geklopft, Wangen geküßt, Pflichten getan. Seine und die der Landzunge.

Der allgemeine Eindruck, so erfuhr er, war der, daß er gewachsen und voller geworden sei, und daß er sich gut gemacht habe, ganz allein in der Stadt. Das allgemeine Urteil, soviel wußte er, würde später gefällt, nach Abschluß der zwanglosen Diskussionen. Die Staces und die Pearsons am Abend über ein paar Gläsern. Die Carpenters und die Carters morgen früh auf dem Golfplatz. Weil er von der Landzunge stammte und daher unvermeidlich war. Eine Politik mußte erörtert werden.

Von der Landzunge, also nicht allein, nicht einmal einsam. Es sei denn, er arbeitete wirklich daran, wie sein Vater. Was eine Form von Genußsucht wäre, die seine sorgfältige Objektivität sich nicht gut leisten konnte.

Als endlich auch die letzte Pflicht getan war, durfte er wieder dort anfangen, wo sie ihn gefunden hatten. Er setzte sich ein zweites Mal ins Gras und griff nach seinem Teller. Das Plastikschüsselchen mit Fisch- und Muschelsuppe hatte er geleert, solange sie noch heiß gewesen war, ehe man ihn vorgeladen hatte. Das Urteil, so vermutete er, würde im Laufe der kommenden Woche offenkundig werden. Aufnahme oder jäher Tod. Ihm konnte es gleich sein; so oder so, er war auf ihr Urteil nicht angewiesen. Aber er hatte sich Mühe gegeben. Herr im Himmel, er hatte sein Bestes getan …

»Sie sind Peter, denke ich … Bitte bleiben Sie sitzen!«

Pete blickte über die Schulter hoch. »Und Sie sind Gaston.«

»Verdammt. Also ist es wirklich so offensichtlich.« Millie Carsters letzte Eroberung, kostspielig, jugendlich, zupfte an Hosenbeinen aus grauer Rohseide und ließ sich ins Gras fallen.

»Eigentlich nicht.« Lügner. »Es ist nur, daß ich soviel von Ihnen gehört habe.« Die Wahrheit war, daß die Kräche mit Millie den Neuankömmling gezeichnet hatten.

»Mein Gott, diese geschlossenen Pinkelgemeinden.« Gaston saß vorgebeugt, die Beine gespreizt, und ließ die Handgelenke auf den Knien ruhen. Unter seinen Hosenaufschlägen erstreckte sich ein halbes Schienbein straff sitzender, gerippter blauer Wolle, die in glänzenden orangefarbenen Schuhen endete. »Jungen oder Mädchen?« fragte er.

»Ich dachte, Sie hätten gerade geheiratet.«

»Millie?«

Eine hübsche Frage. »Sie … sie erwähnte Flitterwochen.«

»Eine Rose anderen Namens würde genauso süß duften, meine Freund. Nein, wir sind nicht verheiratet. Überrascht Sie das?«

»Hier auf der Landzunge, ja.«

Gaston pustete die Backen auf. »Man schätzt seine Integrität, verstehen Sie. Also frage ich Sie wieder, Peter, Jungen oder Mädchen?«

Kein Wunder, daß es mit Millie Krach gab. »Wenn ich die Wahl habe, Gaston, Mädchen.«

»Und Sie haben die Wahl?«

Pete blickte umher. Von Grace nirgendwo eine Spur.

»Ich werde überleben.« Auf Komplikationen mit der altmodischen Millie konnte er verzichten. Das Leben war zu kurz. Auf der altmodischen Landzunge viel zu kurz. »Nicht, daß ich das Angebot nicht würdigte.«

»Wir tun, was wir können. Schmeckt Ihnen dieser Hummer?«

Pete verspürte eine jähe, widersinnige Loyalität. »Ihnen nicht?«

Gaston, ein feinfühliger Mensch, nahm die Zurückweisung hin und stand auf. Er befingerte den Hosenboden nach Feuchtigkeit, war beruhigt. »Millie ist ein großartiges Mädchen. Ich möchte nicht, daß Sie falsche Schlüsse ziehen.«

»Natürlich.«

»Nun, wir sehen uns noch, nehme ich an.«

»Gewiß.«

Gaston schlenderte fort und schloß sich geschickt einer anderen Gruppe an. Den Platts, vielleicht. Oder waren es die Carpenters? Pete beobachtete ihn, die letzte Errungenschaft Millies, des großartigen Mädchens, ihr Gaston, der sich so gut mit jungen Leuten verstand. Arme Millie, sie wußte nicht, was sie sich eingehandelt hatte. Es waren nicht Jahre, die zwischen ihnen standen, es war eine Welt. Er mußte es wissen. Der Schweinekerl.

Pete seufzte und wandte sich seinem Essen zu. Der Hummer war längst kalt. Die Butter geronnen. Er stellte den Teller ins Gras. Der Nachmittag war ihm verdorben. Unter den Bäumen spielten Kinder, bloß vier von ihnen. In diesem Augenblick nahm die ganze Huppel-Geschichte, die Rettung der Welt, einen düsteren Aspekt an. Wieviel kindliche Freude blieb ungelebt … Vier Kinder, wo es früher vierzig gegeben haben mußte.

Aber jeder traf seine Wahl, und der Vernunft gebührte Vorrang. Außerdem war alles nur zum Besten. Es gab niemanden, den aus Sentimentalität nach den alten Zeiten der Überbevölkerung verlangte. Wer hatte heutzutage noch den Mut zu Kindern? Und die Geduld?

Sein Vater hatte den Mut einst gehabt, und das hatte er jetzt davon, dort unten am Rand der Wiesenfläche über den Felsen, belagert. Zugegebenermaßen keine Frage von Ursache und Wirkung, war seine Isolation doch ganz allein sein eigenes Werk. Dennoch schien es ein armseliger Lohn. Es mußte eine Möglichkeit geben, zu ihm durchzudringen.

Seine Mutter, die ihre Suppe ausgegeben hatte, kam herüber, bei ihm zu sitzen. Er rückte schuldbewußt zur Seite – auch für sie war es ein armseliger Lohn –, und sie ließ sich neben ihm im Gras nieder. Er räusperte sich. Sie und ihre rücksichtslose Wahrnehmung: sie flammte zwischen ihnen wie ein Schwert.

»Grace Shakewell«, sagte er endlich, um irgend etwas zu sagen. »Hast du sie hier gesehen?«

Aber Maudie antwortete nicht. Sie betrachtete die gespreizten Finger ihrer Rechten und drückte die Haut dazwischen mit dem Mittelfinger der Linken abwärts. »Ich wollte mit dir über Scudder sprechen«, sagte sie.

»Und ich wollte mit dir über Grace sprechen«, sagte er.

Gleich darauf schämte er sich. Zurückweisungen waren in ihrer Familie gang und gäbe. Auch Feigheiten. Aber seine Mutter entschied sich, großzügig zu sein.

»Sie ist Alices Mädchen. Die frühere Alice Wilks. Du wirst dich an sie erinnern. Oder vielleicht nicht – sie verließ die Landzunge, als zu zehn warst oder so. Heiratete einen Kerl namens Shakewell. Niemand von uns bekam ihn je zu sehen – ein hübsches Geheimnis, aber Alice war so. Und als sie zurückkam, da kam sie allein, nur mit Grace. Nicht ein Wort. Fing einfach wieder an, als ob sie nie fort gewesen wäre. Acht, neun Jahre ist das jetzt her. So war Alice. Ist es noch, denke ich.«

»Es tut mir leid – du wolltest über Vater sprechen.«

»Alles zu seiner Zeit.« Maudie lehnte sich zurück, auf einen Ellbogen gestützt, und beschirmte die Augen gegen die Sonne. »Grace unterrichtet Französisch im staatlichen Regionalprogramm. Ein nettes Mädchen. Und ich habe sie hier gesehen. Sie ist gerade unten bei Hartford.«

Sie wies mit einer Kopfbewegung in die Richtung. Pete schaute hin und sah die zwei jenseits der nun verlassenen Tische im Gras. Hartford lag auf dem Rücken, und Grace fütterte ihn mit Brotstückchen. »Ich sprach heute morgen mit ihr«, sagte Pete, »auf der Herfahrt. Sie sagte nur, daß sie oft zu dir käme. Sie sagte, du seist die Größte.«

»Wir kommen miteinander aus, Grace und ich. Wie ich sagte, sie ist ein nettes Mädchen.«

Und seine Schmeichelei elegant abgewehrt. Seine Mutter hatte ihm schon einmal erschreckend deutlich gemacht, wie wenig sie sich für dumm verkaufen ließ. Er mußte wirklich aufhören, sie als eine einfältige alte Frau zu behandeln.

»Sie lebt bei ihrer Mutter?«

»Im selben Haus.« Eine klare Unterscheidung. »Sie haben das große Haus draußen jenseits der Schlucht. Erny Wilks kaufte es achtundneunzig. Starb schon neun Jahre später. Hatte sechs Kinder und überließ es Alice; sie ist die jüngste. So war Alice.«

Das große Haus jenseits der Schlucht, und fünf enterbte Tanten und Onkeln. Pete erinnerte sich gut. »War Alice Wilks nicht eine von den Nacktbadern?«

»Du hast es erraten, Junge.« Seine Mutter rümpfte die Nase. »Das war eine Mode, die ich nicht schätzte.«

Herausfordernde Nacktheit war eine Mode, die niemand vermißte. In ihrer Zeit mochte sie einen Sinn gehabt haben. Heutzutage zeigte man, was man für passend oder schön hielt, und machte weiter kein Aufhebens. Aber hier oben waren, nach dem Naserümpfen seiner Mutter zu urteilen, wieder strengere Sitten eingekehrt.

»Ja«, sagte er vorsichtig, »es hat sich vieles geändert.«

Aber seine Mutter ließ sich nicht in Diskussionen darüber ziehen, wieviel sich geändert hatte oder nicht. »Grace ist ein nettes Mädchen. Wenn du daran denkst, einen Hausstand zu gründen, könntest du nichts Besseres tun.«

»Um Himmels willen – ich habe bloß angehalten und sie nach dem Weg gefragt.«

»Den du in siebzehn Jahren natürlich völlig vergessen hattest.«

Er brachte ein breites Lächeln zustande, das ihrer Version seiner Motive stattgab. Tatsächlich hatte er aus ganz anderen, traurigeren Gründen angehalten. Er blickte hinüber zu der Stelle, wo Scudder Laznett noch immer allein über den Felsen saß. Wenn seine Mutter wirklich über ihn hatte sprechen wollen, dann war jetzt die Zeit dazu. Aber bitte, Mutter, keinen Stimmenfang!

»Vater sondert sich ab«, sagte er.

»Hatte nie viel für Gesellschaft übrig. In letzter Zeit noch weniger.«

»Jeder nach seinem Geschmack.«

Und, nachdem das geregelt war: »Aber du kommst gut allein zurecht, nicht wahr?«

»All diese Jahre in der Ferry Lane, Junge, ich hätte sterben können.«

Wenigstens räumte sie ein, daß ihr gegenwärtiges Leben seine Bequemlichkeiten und Befriedigungen hatte. Und was die Vergangenheit anging: »Du hattest die Nachbarn.«

Das stimmte natürlich nicht. Was hatte sie angesichts der alles durchdringenden Anwesenheit ihres Mannes von den Nachbarn haben können? Die Reichen der Oberklasse konnten sich über ihn erheben. Die Leute aus der Ferry Lane waren einfach auf der anderen Seite vorbeigegangen.

Aber seine Mutter war klug genug, nicht über die alten Zeiten zu jammern. »Wie fandest du ihn?«

»Scudder? Er scheint gut beisammen. Recht gut …«

»Ah.«

Nach zwei Meisterstücken von Nicht-Kommunikation trat Stille ein. Zu ihrer Linken warf jemand den Möwen Hummerreste zu.

Pete wandte sich ihr zu. »Er ist nicht krank, oder?«

»Was bringt dich auf den Gedanken, Junge?«

»Du sagtest … bei der Einblendung … ich dachte …«

»Was sagte ich?«

»Es spielt keine Rolle.«

Wieder Schweigen. Aber er hatte ihr genug geholfen. Schließlich war sie es gewesen, die gesagt hatte, daß sie über seinen Vater sprechen wollte.

Unter ihnen, am Rand der Felsen, blickte Scudder auf seine Armbanduhr, trank sein Bier aus und stand auf. Er ging zwischen den schwatzenden Leuten davon. Ausgestreckte Hände wurden ihm dargeboten, scherzhafte Begrüßungen. Er nahm jede Hand und beantwortete jede Begrüßung in einer minimalen Art und Weise, und ging weiter. Sie würden ihn gern mögen, dachte Peter. Um der Kontinuität willen, wenn schon nicht aus anderen Gründen. Auf der Landzunge bedeutete Kontinuität viel.

»Er freut sich, daß du gekommen bist, Pete.«

»Das sagte er.« Also brauchst du nicht davon anzufangen.

»Dann ist das in Ordnung.«

Aber du nicht. Du bist nicht erfreut. Nicht einmal für ihn. Warum also der Druck?

»Ich bin … ein bißchen müde, Mutter. Es war eine lange Fahrt. Ich glaube, ich werde …«

»Ist mir ganz recht, Junge. Geh nur zu!«

Er stand auf, bückte sich nach dem fettigen Plastikschüsselchen und dem Teller, versuchte sich nichts daraus zu machen, daß sie das Bedürfnis hatte, immer und überall zu gewinnen. Er berührte flüchtig ihre Schulter und wandte sich ab. Wenn man stand, erschien das Geplapper lauter, fröhlicher. Er bemühte sich, es so zu hören, wie es war, ungezwungen, und die Leute so zu sehen, wie sie waren, frei und sorglos, ohne den verdrießlichen Wirrwarr seiner Gegenwart in seiner Vergangenheit. Unbefangen ging er unter ihnen. Es mochte sein, daß er Scudders Junge war, aber nicht Scudder Laznett.

»Heda! – Wohin wollen Sie, Scudder Laznetts Junge?«

Es war Grace, die leichtfüßig gelaufen kam, ihn abzufangen. Jenseits der Tische hinter ihr lag Hartford Ganz im Gras und starrte träge zum Himmel auf.

Pete zögerte eine Sekunde lang, schwankend zwischen junger Frau und altem Mann. Dann wählte er, das heißt, sein Fleisch wählte für ihn, er streckte beide Hände aus.

»Ich kenne Sie. Sie sind Grace Shakewell. Sie unterrichten Französisch im staatlichen Programm. Und Ihre Mutter ist die frühere Alice Wilks.«

»Und Ihr Großvater wurde aus einer Schneewehe gezogen, steif wie ein Brett.«

Sie nahm seine Hände. Tröstlich und erfreuend. Lieber Himmel, war sie trostreich!

»Ist dies nicht das herrlichste Hummerpicknick?« sagte sie.

Und es war so.

»Erzählen Sie mir, Grace Shakewell, was aus Ihren fünf enterbten Tanten und Onkeln geworden ist.«

»Sie schicken uns jeden Huppeltag vergiftete Schokolade.«

»Ich habe immer gesagt, daß große Familien etwas Gemütliches an sich haben.«

»Reiben Sie es mir nicht ein. Großvater konnte nichts dafür. Autres Pays, autres moeurs.«

»Machen Sie jetzt kein Gesicht, aber Ihr Beruf scheint durch.«

»Unsinn! Das ist ein Teil unseres europäischen Kulturerbes.«

»Ich bekenne mich infiziert.«

Sie ließ seine Hände los und trat einen Schritt zurück.

»Wissen Sie, wir können nicht gut in diesem Stil weitermachen.«

»Wer würde es wollen?«

»Gott sei Dank.«

Plötzlich war eine Ernsthaftigkeit zwischen ihnen, eine Zukunft.

»Also?«

»Nun …«

Die Worte gingen ihnen aus. Bis sie endlich den Arm hob und sich Strähnen sonnengebleichten Haars aus dem Gesicht streifte.

»Holen wir uns ein Bier!«

»Nein, ich kann nicht. Nicht jetzt …« Er hielt inne. Es gab Prioritäten. Sie würde es verstehen. »Es handelt sich um meinen Vater – er kam nur meinetwegen hierher. Und nun ist er allein nach Hause gegangen, und ich muß ihm nach.«

»Natürlich müssen Sie. Ein anderes Mal, dann.«

Er beugte sich rasch zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Leben Sie wohl!«

»Sie auch.«

Darauf wandte sie sich ab und ging fort, und er blickte ihr nach. In ihrer Einfachheit war ein Versprechen, das bestimmte Versprechen von Gemeinsamkeit. Sie trug ihre Jugend zufrieden, wie ein gern getragenes Kleid, weder smaragdgrün noch rosa. Tatsächlich sah er nun, als er sie aufmerksam betrachtete, daß sie Weiß trug. Weiße Shorts und eine Bluse, die sie vorn über einer Handbreit gebräunter Haut zusammengeknotet hatte.

Ohne Eile machte er sich auf den Rückweg zum Haus. Als er die Straße entlang ging, dachte er an Grace. Und er dachte an Emma, in der Stadt. Es war ihm schwergefallen, sie zu verlassen. Aber eine Woche der Trennung würde ihnen guttun, hatte sie gesagt. Damals hatte es auch Prioritäten gegeben, und sie hatte verstanden. Vielleicht besser als er. Denn auch sie besuchte ihre Eltern an diesem Goldenen Huppeltag. Sie besuchte sie oft, es war nur eine Stunde mit dem Auto, und morgen würde sie wieder in der Stadt sein.

Emsige Emma. Emma an seinem Tisch. Emma in seinem Haus, in seinem Bett, und er in ihrem. Eine wechselseitige Bedeutung. Aber sie nahm es leicht – es gab andere Tische, andere Häuser, andere Betten. Mit der Zeit sogar andere Bedeutungen. Gleichwohl war es ihn hart angekommen, sie zu verlassen.

Am alten Schuppen der Küstenwache bog er ab und ging die sandüberwehte Straße, die sich zwischen den Bäumen zu der Schulman-Villa hinaufwand. Grace lehrte Französisch im staatlichen Programm. Emma war Ärztin. Vorwärtsstrebende Leute, verständig und ausgeglichen. Er dachte an Millie Carter. Und an seine Mutter. Was, fragte er sich, war an Millie Carter oder seiner Mutter vorwärtsstrebend? Zugegeben, ihr Leben neigte sich dem Ende zu. Aber nichts, das wußte er genau, war an Millie Carter oder seiner Mutter jemals vorwärtsstrebend gewesen. Deshalb waren sie mit Gaston oder Scudder sitzengeblieben. Und das war sicherlich die niederträchtigste Reduktion von allem.

Er betrat das Haus, blieb stehen und lauschte. Das Gemurmel entfernter Stimmen drang an sein Ohr: die Stimmen seines Vaters und zweier anderer, eines Mannes und einer Frau. Er stieg die Treppe hinauf. Oben auf der durchsonnten Galerie waren die Stimmen lauter hörbar, die Worte noch unverständlich, aber der Tonfall hastig und dringend. Sie schienen aus einem Raum am Ende des zur Rechten abzweigenden Korridors zu kommen.

Pete stand still, eine Hand auf dem Treppengeländer. »Scudder?« rief er. »Scudder?«

Die Stimmen verstummten augenblicklich. Durch die offenen Fenster der Galerie hörte er nur noch Möwengeschrei und das leise Rauschen der Brandung. Rasch ging er zu der Tür am Ende des Korridors. Hinter ihr war alles still. Er klopfte, ein Sohn, ein Fremder in seines Vaters Haus.

»Bist du’s?«

Er hatte bereits gerufen und wußte, daß er gehört worden war. »Darf ich eintreten?«

Er hörte Bewegung, dann wurde die Tür aufgesperrt. Aufgesperrt?

»Dieses gottverdammte Hummerpicknick«, sagte sein Vater. »Dachte mir, ich könnte mit der Arbeit vorankommen.«

Pete trat an ihm vorbei in den Raum. Früher einmal war es ein Kinderzimmer gewesen. Nun waren davon nur die Gitterstäbe an den Fenstern geblieben. Und die Tierbilder an den Wänden, und ein betagtes 3D-Videospiel in einer Ecke. Der Rest war die Werkstatt seines Vaters: aufgeräumte Arbeitstische, Reihen von Prüfgeräten, Ersatzteile in säuberlichen Reihen, ein Schreibtisch mit einer Lampe und einem Drehstuhl, Wartungs- und Ersatzteilhandbücher, ein Datenanschluß mit Ausdruckstation, und eine umfangreiche Anordnung von Bildschirmen, alle ausgeschaltet.

Auf dem Schreibtisch sah Pete eine offene Mappe liegen, eine Seite, die zur Hälfte mit der schwerfälligen Handschrift seines Vater bedeckt war, einen Füllhalter mit abgeschraubter Kappe, der darauf lag.

»Ich wollte dich nicht stören.«

»Du hast mich nicht gestört. Da ist nichts, was nicht warten könnte.«

»Aber du hast sie unterbrochen.«

»Wen unterbrochen?« Auch sein Vater hatte die offene Mappe gesehen. Ruhig setzte er sich an den Schreibtisch, schraubte die Füllhalterkappe auf. »Wen unterbrochen?« Mit einer selbstverständlichen Bewegung schloß er die Mappe und schob sie zur Seite. Unter zusammengezogenen, beinahe haarlosen Brauen fixierte er Pete mit einem unverwandten kalten Blick. »Wen unterbrochen?«

Pete sah, daß Scudder die Stimmen leugnen würde, wenn er ihn drängte. Und er wollte ihn nicht in die Enge treiben. Außerdem ging es ihn nichts an. Wenn Scudder seine Geheimnisse wollte, konnte er sie haben.

»Reg dich nicht auf! Mir ist bloß eingefallen, daß es nach vier ist. Du hättest gerade auf diesen Notruf antworten können, den du bekommen hast.«

»Der? Das war rasch erledigt. Hatte nichts zu bedeuten – wie ich dir sagte.«

»Das freut mich.«

Scudder entspannte sich. »Wie kommt es, daß du mir die Ehre erweist?«

»Ich sah dich weggehen und dachte, daß ich mich dir anschließen könnte. Es macht dir nichts aus?«

»Nicht, wenn du dich benimmst. Deine Mutter laß ich hier nicht rein – sie wirbelt schon Staub auf, wenn sie nur herumguckt.«

Er lachte, heh, heh, heh, wie irgendein Bühnengreis. »Sie hat ihre eigenen Bildschirme, weißt du, unten im Arbeitszimmer des alten Schulman.«

Es gab noch einen zweiten Stuhl, auf dem ein Stoß Ausdruckbogen lag. Pete nahm ihn vorsichtig weg und setzte sich.

»Eine großartige Einrichtung, die du hier hast. In unserer Zentrale habe ich Schlechteres gesehen.«

»Ich bin einer, der seine Arbeit liebt. Sie ist mein Vergnügen und mein Gewinn. So war es immer. Wirst dich erinnern.«

Pete erinnerte sich. Die Arbeit – und er selbst –, mit schrecklicher Ausschließlichkeit geliebt. Trotzdem, im alten Haus der Ferry Lane hatte es nie etwas von dieser Art gegeben. Dann wurde ihm klar, daß die Welt in siebzehn Jahren eine lange Entwicklung durchgemacht hatte; und Scudder Laznett wahrscheinlich mit ihr.

»Du liebst auch die Landzunge«, sagte er und ließ die andere Liebe, die zu ihm selbst, unbewußt aus.

Scudder zuckte die knochigen Schultern. »Muß wohl so sein. Ich bin immer noch hier, nicht wahr?«

»Aber das Hummerpicknick liebtest du nicht.« Ein Scherz, natürlich. Aber dennoch dieses nackte, gefährliche Wort: Liebe.

»Das ist es, was hier faul ist.« Sein Vater beugte sich vor und stieß mit dem Zeigefinger in die Luft. »Immer so zu tun, als ob sich nichts änderte. Als ob die Veränderungen alle verschwinden würden, wenn sie nur fest die Augen zumachten. Aber den Gefallen tun sie ihnen nicht.«

»Würdest du es so wollen?« Dies war festerer Boden. Vielleicht ließe sich sogar ein Gespräch anbahnen.

Scudder kratzte sich die stopplige Altmännerwange. »Nichts ist vollkommen.«

»Das ist keine Antwort.«

»Vielleicht nicht.«

Eine gewährenlassende, willkommene Toleranz. »Aber wenn du so alt bist wie ich, dann – wie alt bist du eigentlich? Dreiunddreißig?«

»Vierunddreißig, seit dem letzten Geburtstag.«

Scudder starrte ihn an. Eine lange Pause folgte.

»Das hättest du nicht tun sollen, Pete. Das ist ein dummes Gefühl, als ob ich das Alter meines eigenen Sohnes nicht wüßte. Es war nicht nett, mich zu korrigieren.«

Pete blickte auf die Schreibtischfläche, den sorgfältig beiseite geschobenen Ordner. Wenigstens hatte er jetzt einen Namen.

»Was sollte ich sagen? Du stelltest mir eine direkte Frage, nicht wahr?«

Sein Vater stand unvermittelt auf. »Ich glaube, niemand hat dir das Zimmer gezeigt, das deine Mutter hergerichtet hat.« Er machte eine nachlässige Geste. »Wollen wir der Sache abhelfen?«

»Um Himmels willen, was sollte ich sagen?«

Aber Scudder war schon zur Tür gegangen. Er öffnete sie und ging hinaus ohne sich umzusehen. Konnte jemand wirklich so empfindlich sein? Pete folgte ihm schweigend durch den Korridor, bis Scudder nahe der Treppe vor einer Tür haltmachte und sie aufstieß.

»Das ist das Schlafzimmer des alten Schulman. Hoffe, es ist großartig genug für dich.«

Pete trat nicht ein. Zwei Minuten lang hatte er geglaubt, er habe gewonnenes Spiel. Und nun dies. Er versuchte Zeit zu gewinnen.

»Mein Koffer … Ich glaube, ich habe ihn unten gelassen.«

Scudder lehnte sich gegen die offene Tür. »Von allein wird er nicht heraufkommen, nehme ich an.«

»Scudder – tut mir leid.«

»Mir auch.«

Pete gab auf, ging ins Erdgeschoß, seinen Koffer zu holen, und fühlte auf der Treppe den Blick seines Vaters auf sich. Er war plötzlich wütend. Als er den Koffer ergriff, war er nahe daran, ihn aus dem Haus zum Wagen zu tragen. Der alte Teufel. Der verrückte alte Teufel! Aber dann ließ er es doch sein und stieg wieder die Treppe hinauf.

Scudder wartete, bis er oben anlangte. »Ich habe zu tun«, sagte er. »Du bleibst da, ja?«

Aber es war mehr eine Feststellung als eine Frage, ohne eine Antwort abzuwarten, ging er durch den Korridor zurück zu seinem Arbeitszimmer. Er schloß die Tür hinter sich, und Pete hörte den Schlüssel im altmodischen Schloß kratzen.

Das Schlafzimmer des alten Schulman war ein Schaustück grotesken Protzentums. Ein französisches Empire-Baldachinbett, dessen schwere Draperien aus roter Seide aus der Höhe herabstürzten und zu beiden Seiten in gerafftem Faltenwurf bis zum Boden hingen. Das Mobiliar spindelbeinig, blaßgrün und golden. Eine Menge von Spiegeln in verzierten Goldrahmen, dazwischen vergoldete Wandleuchter. Pete hatte momentan das Gefühl, daß er das Monstrum sei.

Er warf den Koffer auf das Bett, ging zum offenen Fenster und atmete, auf den Sims gestützt, die kräftige Seeluft ein. Unter ihm zog sich ein mit Gestrüpp bewachsener Hang zu den Felsen und dem endlosen Heben und Senken des Atlantik hinab. Er beobachtete das langsame Anschwellen und Zurücksinken der Wellen, und sein Zorn verflog.

Scudder machte sich etwas aus ihm, soviel, daß er um sich schlug. Soviel, daß er ihn beim Namen nannte. Aber das war bestenfalls eine bittere Freude … Und selbst hier lag eine Arroganz, eine Anmaßung seiner eigenen überlegenen Wahrnehmungen. So subtil die Analyse, so unvoreingenommen die Weisheit, so kühl der Edelmut. Nichts davon war geeignet, ihn mit sich selbst zufrieden zu machen. Dennoch machte auch er sich etwas daraus, in seiner eigenen Weise.

Ungefähr um fünf kam ein, Anruf. Pete lag auf dem Bett und starrte zum Baldachin auf. Er ließ es läuten und wartete, daß Scudder abnehme. Er war schon lästig genug gefallen. Aber das Läuten dauerte an, und schließlich nahm er selbst ab.

»Pete Laznett.«

»Pete – Hartford hier. Mann Gottes, wie geht es dir?«

»Gut.«

»Freut mich, das zu hören. Paß auf, Pete – ich habe dich beim Hummerpicknick vermißt. Aber heute abend ist oben bei Alice eine Party. Wir fragten uns, ob du nicht kommen möchtest.«

Pete ließ den Kopf ins Kissen zurücksinken und schloß die Augen. Alice mußte Alice Shakewell sein. Das Haus, wo auch Grace wohnte. Aber: »Danke, Hartford, aber es war ein langer Tag für mich. Ich bin erst heute gekommen, weißt du. Sag allen meinen Dank, aber ich glaube, ich werde lieber nicht kommen.«

»Schade. Nun ja, aber es heißt, daß du bleibst. Vielleicht ein anderes Mal.«

»Gewiß – Und Hartford, mein Beileid zum Tode deines Vaters.«

»Meines Vaters?« Hartfords Stimme hörte sich überrascht an. »Das ist Jahre her.«

»Trotzdem, es tut mir leid.«

Pete legte auf. Es tat ihm wirklich leid. Basil Ganz war sein Gott gewesen, furchteinflößend, aus der Ferne verehrt. Eine lederige Gestalt, unrasiert, piratenhaft. Es hieß, mit dem Aufkommen der Hummerzucht sei er zum Millionär geworden. Aber zu Petes Zeiten hatte er mit seinem mickrigen, unwürdigen Sohn im elendesten Haus an der Ferry Lane gewohnt. Und nun war er seit Jahren tot.

Es traf zu, daß Pete müde war. Aber nicht von der vierstündigen Fahrt. Er war der Party ausgewichen, weil er Grace ausgewichen war. Weil ihm im Augenblick nicht einmal der Anschein spontaner Menschlichkeit möglich war. Nur Analyse, Weisheit und kühler Edelmut.

Bald darauf kehrte seine Mutter vom Hummerpicknick zurück. »Wo ist jeder?« rief sie von unten herauf.

Als niemand antwortete, hörte er sie weitergehen. Eine Minute später drangen die gedämpften Geräusche von Fernsehstimmen und Musik herauf. Er wälzte sich vom Bett und ging hinunter zu ihr.

»Da bist du ja, Junge. Ach, meine armen Füße … Dann hast du Scudder gefunden?«

Nicht zu ihrem Vergnügen, nein.

»Hartford hat angerufen. Lud mich zu einer Party ein. Ich habe abgesagt.«

»Du hättest gehen sollen.«

»Es ist mein erster Abend. Ich wollte mit euch zu Hause bleiben.«

Maudie Laznett saß in der genauen Mitte eines Polsters auf einem langen niedrigen Sofa, die Knie beisammen, die Hände im Schoß gefaltet. Das Fernsehen zeigte Huppeltagsfeiern in einem kleinen Gebirgsdorf.

»Du wirst dich eingewöhnen«, sagte seine Mutter. »Wir sind nichts Besonderes.« Sie beugte sich vor, um eine Ansammlung von Kristalldosen und Vasen auf dem Kaffeetisch zu arrangieren. »Habe ich dir schon von Dr. Besserman erzählt? Er kommt Donnerstagnachmittag.«

»Besserman? Ich glaube, du erwähntest einmal etwas von …«

»Er ist mein Kopfdoktor. Ich möchte gern, daß du ihn kennenlernst.«

Jetzt erinnerte er sich. Und erinnerte sich auch, daß er überlegt hatte, warum in aller Welt ausgerechnet sie einen Kopfdoktor brauchen sollte.

Also sagte er in scherzhaftem Ton: »Du meine Güte, Mutter, wozu in aller Welt solltest ausgerechnet du einen Kopfdoktor brauchen?«

»Brauchen? Wer sagte etwas von brauchen?« Sie setzte sich wieder zurück, legte die Hände in den Schoß. »Dr. Besserman ist verrückt wie ein Eichhörnchen. Er heitert mich auf.«

Auf dem Bildschirm hatte die Szene gewechselt: Huppeltagsfeiern in einer Wüstenoase. Und das Seltsame war, als er sie jetzt von Angesicht zu Angesicht sah, daß da eine Munterkeit zu sein schien, eine entspannte Leichtigkeit, an die er sich aus seiner Kindheit nicht erinnerte. Jedenfalls hatte er sie in der farblos-gezwungenen, stumm vorwurfsvollen Frau der Video-Einblendungen seither nicht gesehen. Aber er war genauso schlimm – was hatte er ihr bei diesen Gelegenheiten von seinem wahren Selbst geboten? Ausgenutzte Mutter, herzloser Sohn, so hatten sie ihre beiderseitigen Vorstellungen vor Jahren inszeniert, und dabei war es dann geblieben … Neben der Munterkeit glaubte er jetzt sogar eine Fähigkeit zur Selbstparodie auszumachen.

Das gefiel ihm an ihr. Vorwärtsstrebend mochte sie nicht sein, aber von irgendwo war ihr mit dem Nahen des Alters ein Sinn für Humor zugeflogen. Aber nicht, das hoffte er, dank dem Kopfdoktor Besserman.

Trotzdem, er hätte sich gern vergewissert. Er ging um das Ende des Sofas und setzte sich zu ihr. »Hoffentlich durchwühlt er deinen Kopf nicht mit Laserstrahlen.«

»Wir sprachen einmal darüber. Er traut den Gehirnkarten nicht; sagt, die Lasertechniker verließen sich noch immer auf bloße Vermutungen.«

Pete stimmte dem zu. Er hatte schreckliche Geschichten gehört.

»Pillen, dann? Stimmungsmacher?«

»Das Dumme war, wir konnten uns nicht auf die Stimmung einigen, die wir wollten.«

Pete lachte. »Was macht er dann?«

»Er hört zu. Sagt, es sei das Neueste.« Sie warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. »Soweit ich mich erinnere, war es schon in den achtziger Jahren das Neueste. Aber das sage ich ihm nicht. Es wäre unhöflich … Wie dem auch sei, es schadete damals nicht, also wird es auch jetzt nicht schaden.«

»Aber wenn er immer wiederkommt, muß er glauben, daß etwas los ist. Hat er dir gesagt, was?«

»Alles mögliche. Alles und nichts. Was mich angeht, ich glaube, er kommt wegen der Abwechslung. Aber der Mann macht mir Spaß – also, warum sich beklagen?«

Es hörte sich harmlos an. »Solange es dir nichts ausmacht, ihm einen bezahlten Tag auf dem Land zu bieten.«

»Er macht es billig, Junge. Hatte mal einen Prediger zu Besuch, ganz umsonst, aber der war geschwätzig. Wollte nicht zuhören. Ich mag Leute, die zuhören.«

Pete nickte gedankenvoll in den Fernseher. Huppeltagsfeiern im Londoner Hyde Park. Er war überrascht, daß seine Mutter so bereitwillig einem Kopfdoktor den Vorzug vor einem Geistlichen gab. Er hätte erwartet, daß sie sich andersherum entscheiden würde – traurige alte Leute wendeten sich Gott zu, nicht wahr? Aber vielleicht war seine Mutter gar nicht so traurig gewesen, schon vor dem Kopfdoktor nicht.

»Wie bist du an diesen Dr. Besserman gekommen?«

»Durch die gelben Seiten, wo sonst? Man läßt die Finger Spazierengehen.«

Das leuchtete ein. »Was brachte dich auf den Gedanken, du könntest einen Kopfdoktor brauchen?«

»Es ist komisch, wie diese Dinge sich entwickeln. Er war überhaupt nicht für mich, verstehst du.«

»Für Scudder?«

Seine Mutter nickte. »Vielleicht auch für mich, ein bißchen. Weil ich es war, die mit ihm leben mußte.«

Scudder und Dr. Besserman. Pete versuchte es sich vorzustellen. »Du dachtest also, Scudder sei verrückt?«

»Denkt das nicht jeder?«

Nein. Nein, wirklich nicht … Aber er scheute eine Meinungsverschiedenheit; sie wäre zu enthüllend gewesen. »Was war der Anlaß?« fragte er statt dessen.

Maudie lächelte und bewegte den Kopf ruckartig zur Seite und zurück. »Bring ihn dazu, daß er selbst es dir erzählt!« sagte sie.

Pete wandte den Kopf und sah seinen Vater mit verschränkten Armen hinter ihnen in der Türöffnung stehen. Fünfunddreißig Jahre Ehe hatten Maudie irgendwie sensibilisiert, so daß sie seine Ankunft gespürt hatte.

»Ist das nicht nett?« sagte Scudder boshaft. »Der Junge und seine Mutter einträchtig vor dem Fernseher. Wie in den Werbespots.«

Er kam herein. »Was soll ich dir sagen, Pete? Was muß ich dir sagen?«

Pete war verwirrt.

Nicht so seine Mutter. »Erzähl ihm«, sagte sie ruhig, »wie es war, als du Dr. Bessermans Bekanntschaft machtest!«

Scudder lachte mitteilsam. »Dieser blöde Besserman. Ich hab’s ihm gezeigt.«

Er trat zum Fernseher und schaltete ihn aus. »Der Kerl ist ein offenes Buch, sag ich dir. Nahm ihm auf Anhieb hundert Dollar ab.«

Maudie runzelte die Stirn. »Wo sind deine Manieren? Es hätte sein können, daß wir fernsehen wollten.«

»Und gleichzeitig schnattern? Könnte gut sein.«

Er lachte wieder und lehnte sich gegen den dunklen Bildschirm. »Pete ist vierunddreißig, Maudie«, sagte er plötzlich. »Wußtest du das?«

»Es kommt hin. Nullfünf geboren, nicht?«

»Keine Ahnung. Bin nur sein Vater, nehme ich an.«

Eine lange Pause folgte. Pete schlug die Beine übereinander und blickte sie an. Auch Maudie zog es vor zu schweigen. »Du wolltest von Dr. Besserman erzählen«, erinnerte sie ihren Mann endlich, als die Stille drückend zu werden drohte.

»Ja. Der blöde Besserman.« Er wandte sich zu Pete. »Es ist alles in den Augen, Junge. Wenn so einer zwei Zehner zeigt, weiß man, daß die dritte Karte noch einer ist.«

Pete versuchte zu verstehen. »Ihr spieltet Poker?«

»Und ob wir Poker spielten. Der Kerl hatte diese hirnrissige Theorie, daß man die Leute beim Kartenspielen am schnellsten kennenlernen könne. Und um bares Geld, was das betrifft.« Er streifte imaginäre Staubflocken von seinem Hemdsärmel. »Naja … als ich mir den Burschen angesehen hatte, glaubte ich nicht, daß ich gegen ihn verlieren könnte. Und ich hatte recht. Ich hatte recht, nicht wahr, Maudie?«

»Hast du meistens, Scudder.«

»Das erste Mal, runde hundert Dollar. Wie ich Armon unten beim Picknick sagte, wenn ich spiele, dann wirklich.«

»Du spielst nicht oft, Scudder. Aber wenn du es tust, dann ist es dir ernst damit.«

Pete erinnerte sich der Beschreibung, die seine Mutter von Dr. Besserman gegeben hatte, und ihm schien es, daß sie nicht mehr als die Wahrheit gesagt hatte: der Mann war verrückt wie ein Eichhörnchen.

»Was geschah dann?« fragte er. »Beim zweiten Mal?«

Scudder ließ sich mit der etappenweisen Bedächtigkeit des alten Mannes zwischen ihnen auf das Sofa nieder.

»Es gab kein zweites Mal. Das erste Mal war genug. Der Kerl sagte, ich sei der geistig gesündeste von allen verfluchten Halsabschneidern, die er kenne.«

Pete lächelte. Vielleicht doch nicht so verrückt, was das anging.

Seine Mutter rückte ein kleines Stück zur Seite. »Ich wünschte, du würdest nicht so fluchen, Scudder, und du bringst das Sofa in Unordnung.«

»Macht nichts. Wozu ist es schließlich da?« Er machte es sich bequem, streckte die Arme aus. Einer legte sich um Maudies Schultern. »Wie wär’s, wenn ich dich auch ein bißchen in Unordnung brächte, Maudie?«

»Wenn du das tätest, Scudder, würde es für längere Zeit das letzte Mal sein.«

Scudder lachte heiter sein Altmännerlachen: Heh, heh, heh.

Pete betrachtete die beiden. Sie brauchten ihn nicht, waren einander genug, alte Schmierenkomödianten, die gut aufeinander eingespielt waren. Es war das erste Mal, daß er mit ihnen zusammen in einem Zimmer saß, er war sich unbehaglich bewußt, daß seine verschiedenen Selbstdarstellungen miteinander in Konflikt geraten waren. Jetzt erst begann ihm klar zu werden, daß seine Eltern es wahrscheinlich nicht einmal bemerken würden.

Scudders Arm war noch immer um Maudies Schultern gelegt. Nun begann er sie schaukelnd hin und her zu ziehen. »Deine Mutter dachte sich, bei mir wäre eine Schraube locker. Oder mehrere. Also ließ sie diesen Kopfdoktor kommen. War das nicht rücksichtsvoll von ihr?«

»Nicht nur ich denke, daß du verrückt bist.« Das Geschaukel war offensichtlich ein unerwünschter Übergriff. »Jeder weiß das.«

»Besserman nicht. Der verdammte Kopfdoktor, den du gerufen hast, weiß es nicht.«

Sie entzog sich seinem Arm, stand auf, ging zum Fernseher und rückte den bereits zurechtgerückten Programmausdruck obenauf noch einmal zurecht. »Es gibt verrückt und verrückt. Doktorenverrücktheit und Einfache-Leute-Verrücktheit.«

»Und ich bin verrückt nach Art der einfachen Leute.« Scudder gähnte. »Und der verdammte Besserman kommt immer noch her. Wozu macht dich das? Doktorenverrückt?«

Sie wandte sich zu ihm. »Dann sind wir ein gutes Gespann«, sagte sie ruhig.

Pete rückte unruhig auf seinem Platz. Die Schaunummer war fade geworden. Bringt den Tanzbär auf die Bühne.

»Hört zu!« sagte er fröhlich. »Warum gehen wir drei heute abend nicht aus? Machen uns einen lustigen Abend? Es ist Huppeltag – wir könnten zu diesem Lokal auf der anderen Seite der Bucht gehen. Das gibt es doch noch, oder?«

Maudie blickte ihn überrascht an, beinahe so, als ob sie seine Anwesenheit vergessen hätte. »Connollys Spielcasino? Das gibt es noch. Da sollten sie jetzt Simulatoren mit dieser neuen abgestuften Rückkopplung haben, habe ich gehört.« Sie rümpfte die Nase. »Das ist was für Leute, die nichts Besseres zu tun haben.«

Scudder, auf der anderen Seite, zeigte sich nachtragend. »Unser kleiner Junge will feiern, daß er geboren worden ist«, sagte er höhnisch.

»Dann hätte er zu der Ganz-Party gehen sollen. Du und ich, sind zu alt für Connolly. Oder siehst du uns vielleicht zum Mond fliegen? Oder auf einem Kamel um die Pyramiden reiten? Mit unseren alten Knochen?«

Das war tatsächlich die Kernfrage. Durch Bio-Rückkopplung abgestufte Simulationen waren eine beliebte Sache, auch bei Leuten, die bei weitem gebrechlicher waren als sie. Aber Maudie billigte es aus Prinzip nicht.

»Dann eben bloß zum Essen«, sagte Pete diplomatisch. »Man kann doch dort noch essen, nicht wahr?«

Scudder zog die Arme an sich und verschränkte sie auf der Brust. »Du hast gehört, was deine Mutter sagte. Sie und ich, wir sind zu alt für Connolly.« Er machte eine Pause. »Oder vielleicht bloß zu verrückt.«

Wie er es einfließen ließ. Der Bastard. Pete begann zu schwitzen. Er fühlte eine Panik aufkommen, von der er seit siebzehn Jahren frei gewesen war. Der alte Teufel … Maudie seufzte. »Die Sache ist die«, sagte sie zu der Wand gegenüber, »daß ich schon eine gute Mahlzeit bereitet habe.«

»Siehst du, was ich meine, Pete?« Scudder drückte sich erfreut in die Polster. »Deine Mutter hat schon eine gute Mahlzeit bereitet.«

Und er fing gerade erst an. Und Pete steckte wieder in geflickten Jeans und stieß unruhig mit dem Fuß gegen das Tischbein. Nein …

Er beugte sich zu seinem Vater. »Hör auf damit!« sagte er rauh.

Scudder beäugte ihn kalt, schrecklich. »Was ist das? Was sagst du da?«

»Ich sagte, hör auf herumzuhacken! Es gibt dir so ein dummes Aussehen. Warum es nicht auf sich beruhen lassen?«

Da. Es war getan. Pete wartete auf den Sturm, aber keiner kam. Statt dessen sperrte Scudder die Augen weit auf und verzog verdrießlich den Mund. »Wie du meinst, Junge«, höhnte er. »Wie du meinst!«

Er begann ohne Melodie trotzig durch die Zähne zu pfeifen. Und wenn dies der Sieg war, dann wollte Pete nichts damit zu tun haben.

Schweigen. Bis Maudie rechtschaffen verkündete: »Brathähnchen, Salat nach Art des Küchenchefs, Bratkartoffeln. Als Nachspeise Pekan-Nußtorte. Eine wirklich gute Mahlzeit.«

Hack, hack. »Du auch, Mutter«, sagte Pete. »Ihr tut es beide.«

Und so war es, sie wußte es selbst und lächelte ihr gespanntes graues Lächeln.

Scudder hörte auf zu pfeifen, zog die Füße ein, beugte sich vor und stand schwerfällig auf. Dann wandte er sich umständlich dem Sofa zu und strich die Kissen glatt, wo er gesessen hatte. »Manchen Leuten kann man es anscheinend nicht recht machen«, murmelte er. »Noch nie, wie ich mich erinnere.«

Darauf ging er mit lebhaften Schritten zur Tür. »Sollte jemand anrufen, ich bin unten am Strand.«

Auch Maudie verzog sich, wenn auch weniger gerissen, so gut sie konnte. Sagte zu Pete: »Abendessen pünktlich um halb acht«, und ging steif hinaus.

Petes Hände zitterten. Er legte sie auf die Knie, lehnte sich zurück und atmete tief. Seine Eltern bloßzustellen, ihnen die Meinung zu sagen: vielleicht hatte er ihnen Unrecht getan. Er hatte aus Furcht reagiert. Nicht aus Mitleid, aus Furcht für sich selbst. Und Enttäuschung … So daß er es war, der sich nun beschmutzt fühlte, gedemütigt.

Warum sollten sie nicht auf einander herumhacken, wenn es das war, was sie wollten, in Gottes Namen? Sie mußten Regeln haben, andernfalls hätten sie sich längst kurz und klein geschlagen. Wer war er, enttäuscht zu sein, daß ihre Regeln nicht die seinigen waren? Ohne Liebe, nach fünfunddreißig Jahren, was sonst konnte er erwarten? Und Liebe hatte es zwischen ihnen nie gegeben.

Er schloß die Augen. Natürlich mochte es Liebe gegeben haben; alles war möglich. Genauso wie er aus Mitleid reagiert haben mochte, statt aus Furcht … Und die Enttäuschung war ganz und gar sein Problem.

Aber sie waren so kindisch.

Auch das: sein Problem, nicht ihres.

Er bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen. Nun, da dies zwischen ihnen stand, wie, zum Teufel, sollten sie weitermachen? Was, zum Henker, konnten sie zueinander sagen, wenn sie das nächste Mal zusammenkamen, bei diesem verdammten Brathähnchen?

 

Das Abendessen, in dem weißen Speisezimmer mit den hohen Fenstern, war ein großer Erfolg. Scudder verspätete sich und stampfte unbußfertig Sand von den Schuhen, als er zum Tisch kam. Maudie machte allgemeine Bemerkungen über Leute, die in Kuhställen leben sollten. Und Pete, der seinerzeit unverzeihliche Dinge zu Emma gesagt hatte, und zu denen vor ihr, und überlebt hatte, und unverzeihliche Dinge zu Grace sagen und auch sie überleben würde, erinnerte sich an hundert ähnliche Kunstgriffe und sah, wie lächerlich er zu Übertreibungen neigte. Endgültigkeit gab es zwischen Menschen kaum jemals. Nichts war vergessen und wenig wurde dazugelernt. Gewisse Augenblicke wurden jedoch geziemend ausgetilgt.

Sie tranken Wein zum Abendessen, einen ausgezeichneten 27er Puilly Fuisse. Das Brathähnchen war köstlich, der Salat ein Traum, und die Pekan-Nußtorte so süß, daß sie geradezu auf der Zunge zerging. Und anschließend saßen sie zu dritt vor dem Fernseher, bis Schlafenszeit war: Berichte vom Huppeltag, gefolgt von einem Huppeltags-Korruptionsdrama aus der Welt der Geschäftsspiele. Und wenn sie auch nicht gerade miteinander sprachen, nun, das war kaum zu erwarten. Nicht so bald, nicht an diesem ersten Abend. Und auch später nicht, es sei denn, er bemühte sich sehr darum.

Am nächsten Morgen erwachte Pete frühzeitig. Ein seltsam milchiges Licht sickerte durch die geschlossenen Vorhänge. Im Haus war es still. Er blieb eine Weile im Prunkbett des alten Schulman liegen und lauschte dem leisen Geräusch der Brandung und machte Pläne. An erster Stelle stand seine Arbeit, um zehn Uhr, und dann wieder um drei. Instruktionen von der Spielzentrale und dann zwei Sitzungen mit Teilnehmern. Die Unterlagen waren in seinem Koffer. Vier Stunden im Höchstfall. Abgesehen davon, gehörte der Tag ihm.

Pläne. Er begriff, daß er keine hatte. Außer daß es Scudder gab. Und seine Mutter. Und Grace. Und Hartford und Gaston und Millie und Armon. Und die Landzunge …

Mit einem Ruck warf er die Decke von sich und stand auf. Er fühlte sich gefangen, hielt Ausschau nach dem Schalter, der die elektrisch betriebenen Vorhänge öffnete. Sie waren zugezogen gewesen, als er am Vorabend heraufgekommen war. Irgendwie war seine Mutter vor ihm oben gewesen – vielleicht als sie zur Schlafenszeit ihre Malzmilch bereitet hatte. Er hatte seit siebzehn Jahren keine mehr getrunken. Nun suchte er nach dem Schalter für die Vorhänge und konnte ihn nicht finden.

Natürlich, Winton Schulman III., der Millionär, mußte ein Zimmermädchen gehabt haben. Keine Servomechanismen für Winston Schulman. Zimmermädchen waren das Zeichen wahren Reichtums. Angesichts dessen waren die kostspieligen Lomparexe wahrscheinlich eine spätere Hinzufügung. Pete ging zum Fenster und zog die Vorhänge selbst zurück. Ah, das einfache Leben!

Der Ausblick, der ihn erwartete, war von erstickender Weiße. Zu seinen Füßen ein paar Meter des Gestrüpp überwachsenen Abhangs, armselig in dem farblosen, perlweißen Licht. Und dann, Weiße. Feuchtigkeit sammelte sich entlang dem unteren Rand der Fensterscheibe. Und die unsichtbar rauschenden Wellen hörten sich an, als ob sie überall wären.

Pete kannte diese Nebel. Manchmal lösten sie sich im Laufe des Vormittags unter der heißen Sonnenstrahlung auf, manchmal nicht. Als Junge hatte er sie aufregend gefunden. Heute vermehrte der Nebel lediglich seine bedrängende, planlose Klaustrophobie.

Eilig kleidete er sich an, schritt durch das stille Haus die Treppe hinunter, um an den Strand zu gehen. All diese leeren Räume schienen unvorbereitet ertappt, erstarrt. Nur in der Küche ein wenig Leben. Seine Mutter. Scudder … Er verließ das Haus durch die Küchentür und über den gepflasterten Hof, schlug den Pfad ein, der über den Felsen dahinführte. Nasses Laubwerk streifte ihn. Das Haus war sofort hinter ihm verschwunden. Er ging in einer abgeschlossenen weißen Hemisphäre der bekannten Welt. Er begann sich besser zu fühlen.

Der Pfad führte abwärts, überquerte auf verwittertem Steg eine kleine Schlucht. Die See kam in Sicht, ein paar Meter, ausgehöhlt aus dem Nebel, ein dunkles Heben und Senken, die dunkle Oberfläche schaumgefleckt. Möwen schwammen stumm, neigten den Kopf auf die Seite, um zu ihm aufzublicken. Endlich endete der Pfad in roh ausgehauenen Stufen, die zum Strand hinabführten.

Er zog Schuhe und Socken aus und stand eine kleine Weile. Seine Füße fühlten die harten Sandriffel. Dann ging er los, trabte über die glatte Sandfläche, von einem weißen Gischtausläufer zum nächsten. Zweckvolle Bewegung. Der Nebel war feucht in seinem Gesicht, beperlte seine Brauen. Seine Füße klopften auf den nassen Sand, seine Hosenbeine zischten bei jedem Schritt. Er lief, ganz in der Bewegung verloren, bis seine enggewordene Stadtlunge ihn nicht weiter tragen konnte. Er war, wo er war. Nirgendwo.

Er machte halt. Seine Welt umschloß jetzt zwei gebleichte Stücke Treibholz, Strandkies, ungezählte Muschelschalen und eine zerbrochene Seeigelschale. Er machte kehrt und ging langsam hinunter zum Rand des Wassers. Eine Welle zischte mit ihrem Ausläufer beinahe bis an seine Zehen, bis der Sand das Wasser verschluckte. Er war der erste Mensch, er war der letzte. Der nächste Wellenausläufer kam höher herauf, schnell und kalt, durchnäßte seine Hosenaufschläge.

Plötzlich, aber gar nicht überraschend, war Grace neben ihm. Und er wußte nicht recht, ob er froh darüber war.

Eine Weile schwiegen sie beide. Wellen kamen, glitten zurück. Die Ebbe hatte eingesetzt. Dann sagte Grace: »Du hast von Nebelhörnern gelesen. Ich wünschte, wir hätten sie noch.«

Ihre Verträumtheit verdroß ihn. »Funkfeuer besorgen das besser.«

Sie griff nach seiner Hand. »Man muß irgendwo anfangen.«

Das mochte sein. Also nahm er ihre Hand in seiner auf und drückte sie. »Dr. Livingstone, nehme ich an. Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe nicht. Ich meine, ich wußte nicht, daß du es warst. Ich hörte bloß jemanden laufen und war neugierig.«

»Die Welt ist klein.«

»Nein, ist sie nicht. Aber die Landzunge ist klein.«

Er wandte sich von der See ab, um Grace anzuschauen. Sie trug einen blauen einteiligen Trainingsanzug. »Du kommst oft zum Strand herunter?«

Sie nickte. »Jeden Morgen. Zum Üben.«

»Masochistin. Diese täglichen Synthadosen schaffen mich.«

»Pillen …« Sie rümpfte die Nase. »Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich dich wie einen geplatzten Auspuff schnaufen hörte.«

Er gab es zu. »Kommst du wirklich zum Üben hierher?«

»Wenigstens bringt es mich aus dem Haus. An manchen Tagen ist es notwendig, daß ich an die Luft komme. Heute zum Beispiel.«

»Wegen des Nebels?«

»Wegen der Party.«

Hartfords Party, bei Alice. »Auch keine Kompensatoren?«

»Überhaupt keine Pillen. Ich finde, wenn man schon zu Parties gehen muß, dann soll man auch die Folgen tragen.«

Er dachte darüber nach. Auf den ersten Blick puritanisch, hoffnungslos voriges Jahrhundert. Aber er war nicht sicher. Was tat er hier auf der Landzunge, aus freien Stücken, wenn nicht das Ertragen von Folgen?

»Gehen wir?« sagte er.

Sie gingen Hand in Hand den Strand entlang. Der Nebel öffnete sich vor ihnen, schloß sich hinter ihnen.

»War es eine gute Party?«

»Sehr gut. Du hättest kommen sollen.«

»Ich … da ist diese Sache mit meinen Eltern. Es ist lange her.«

»Maudie hat es mir erzählt.«

Seine Haltung versteifte sich. »Was hat Maudie dir erzählt?«

»Ober deinen Weggang. Ober Scudder.«

»Es war nicht nur wegen Scudder. Was hat sie über ihn gesagt?«

»Daß sie um dich gekämpft hätten. Wie dumm das war. Daß sie verlor.«

Bekenntnisse. Von der Zeit getrübt, und so selbstgefällig. Er stieß Graces Hand von sich. »Nein«, sagte er. »Ich war es, der verlor.«

Schweigend gingen sie, bis sie die Felsen erreichten.

»Ich glaube; wir alle verloren«, sagte Pete, sagte es für sie.

Sie lehnte sich rasch an ihn und küßte seine Wange. »Laß uns noch nicht zurückgehen! Wir haben gerade erst angefangen.«

Also wandten sie sich strandaufwärts und folgten den Felsen, bis sie zu den Stufen des Strandklubs kamen und sie erstiegen. Pete machte eine Pause, um Socken und Schuhe anzuziehen. Die Sonnenterrasse unter ihrer durchnäßten blauweißen Markise lag ungemein verlassen da, die Stühle und Tische willkürlich erstarrt in pompejanischen Attitüden. Grace führte ihn über die Terrasse und am Klubhaus vorbei zur Straße. Sie hatten gerade erst angefangen. In einigen der Häuser, an denen sie vorbeigingen, war jetzt Bewegung, und da und dort drangen ihnen Frühstücksdüfte an die Nase. Geschirr klapperte, Stimmen erhoben sich hinter Obergeschoßfenstern, Türen wurden zugeschlagen. Aber die Häuser selbst blieben ungewisse, zerfließende graue Umrisse im Nebel, beruhigend fern. Und überall tropfte es von den Bäumen.

Sie sprachen über die Landzunge. Sie sprachen über das Hummerpicknick vom Vortag. Sie sprachen über ihre Arbeit. Sie sprachen über sich.

Sie lachten oft, leise in der stillen weißen Luft. Manchmal führte das Lachen sie zwanglos zusammen, und ihre Gesichter fanden sich in einer Berührung, dann gingen sie weiter. Sie kamen zu einem schiefen Wegweiser, der in gotischen Buchstaben zur Schlucht wies. Pete erinnerte sich an seines Vaters UFO, und Grace sagte, sie werde ihm zeigen, wo das Loch sei. Sie verließen die Straße und folgten einem verrottenden Plankenweg durch das Unterholz. Die Häuser blieben zurück; sie schreckten eine Taube auf, die mit heftigen, lauten Flügelschlägen aufflatterte und im Nebel verschwand. Die Bäume waren dicht und dunkel um sie, ein endlos scheinender Wald bemooster Stämme, wo es nach moderndem Laub, Feuchtigkeit und Fäulnis roch.

Bei einem niedrigen Hügel aus Blöcken, gefleckt mit gelben Flechten und naßglänzend, verließ Grace den Plankenweg und führte Pete einen kaum erkennbaren Pfad entlang. Sie duckten sich unter tief hängenden Ästen und kamen unvermittelt an den Rand einer offenen, völlig baumlosen Fläche, in deren Mitte ein verbranntes Loch tief in Erde und Fels geschlagen war, genau kreisförmig. Der Nebel hatte sich hier vom Boden gehoben und ruhte wie ein Dach über der Fläche, auf den umgebenden Wald gestützt.

Nichts regte sich. Der Rand des Kraters war besetzt mit den verkohlten Zacken geschwärzter Baumstümpfe, zwischen denen Farne und Gräser schon wieder den verbrannten Erdboden besiedelten. Aber der Krater selbst war noch immer nackt, ausgebrannt und öde.

In einer so tödlichen Gegenwart konnte Pete nur flüstern. »Hat man nichts gefunden?«

»Anscheinend ist das üblich. Die Reibungshitze des Luftwiderstandes ist so groß, daß die Meteoriten oft verglühen, bevor sie den Boden erreichen.«

Solch wissenschaftliche Erkenntnisse ließen seine Ehrfurcht abstumpfen. »Man glaubt also, daß es ein Meteorit war?«

»Wenn es ein UFO war, dann kann man sich nur schwer vorstellen, welche Materialien derart hohen Temperaturen widerstanden haben sollten.«

»UFO-Konstrukteure sind schlaue Leute.«

Und Meteoriten waren langweilig. Er ließ sie stehen und kletterte in den Krater hinab. Er war tiefer, als es von oben den Anschein gehabt hatte, und der Durchmesser mochte einhundert Meter betragen. Die Luft war überraschend kalt. Er erreichte den Mittelpunkt, blickte zurück zu Grace und winkte.

»Ich bin sicher, daß es ein UFO war«, rief er.

»Sie hatten bloß nicht mit unserer Atmosphäre gerechnet. Die brannte sie auf.« Er hielt inne, blickte umher, lachte. »Ein komisches Gefühl«, sagte er. »Als ob ich in ihrem Grab stünde.«

»Was denn? Ich habe nicht verstanden.«

»Nicht so wichtig.« In Gelächter veritas. Und er war lange genug am Kraterboden gewesen. Zu lange. Er kletterte wieder hinaus, bohrte die Hände in die feuchte schwarze Erde, um Halt zu finden.

»Außerdem«, sagte Grace, »sieht man nicht, wie es ein UFO gewesen sein könnte. Es müßte eine Geschwindigkeit wie ein Meteorit gehabt haben und mehr oder weniger senkrecht herabgestürzt sein. Was nicht sehr wahrscheinlich ist. Übrigens auch nicht bei Meteoriten.«

Er langte schnaufend bei ihr an. »Warum nicht?« Nachdem er heil aus dem Loch herausgekommen war, widerstrebte es ihm, seine Theorie aufzugeben. »Senkrecht herab, und dann vielleicht wieder hinauf, wie einer von diesen Raumtransportern. Wer sagt übrigens, daß das Ding senkrecht heruntergekommen ist?«

»Die Bäume sagen es.« Sie zeigte. »Sieh selbst!«

Er sah selbst. Im ganzen Umkreis des Kraters stand die Wand der Bäume in einem gleichmäßigen Winkel leicht nach außen geneigt. Der Luftdruck schien mit gleicher Stärke in alle Richtungen gewirkt zu haben. Wenn etwas vom Himmel gefallen war, dann war es offensichtlich senkrecht herabgestürzt.

»Aber es könnte trotzdem ein UFO gewesen sein. Start und Landung auf Raketentriebwerken oder was immer. Warum nicht?«

»Weil es nur einen Krach gab, Pete, deshalb. Einen einzigen gewaltigen Knall. Ein halbes Hundert Fensterscheiben gingen zu Bruch. Und der alte hölzerne Anbau von Sadie Platts Haus fiel zu einem Bretterhaufen zusammen.«

»Die Bildschirme zerstört. Ich weiß es, Scudder erzählte es mir. Aber es ist doch möglich.«

»Natürlich ist es möglich.« Grace zögerte. »Es ist bloß, daß eine Bombe sehr viel wahrscheinlicher ist.«

»Eine Bombe? Was für eine Bombe?«

Sie hob die Schultern. »Weiß man nicht. Es ist nichts übriggeblieben. Ich sagte es dir.«

»Alle Bomben hinterlassen Splitter. Und sie fallen nicht senkrecht vom Himmel.«

»Stimmt. Aber sie können auch gelegt werden.« Dann nahm sie mit einer raschen Bewegung wieder seine Hand und sagte: »Ich habe um neun Unterricht. Es ist Zeit, daß wir umkehren.«

Er widerstrebte. »Wer würde hier draußen auf der Landzunge Bomben hochgehen lassen, in Gottes Namen?«

»Wie soll ich es wissen? Kommst du?«

Er starrte sie an, plötzlich zu Tode erschrocken. Aber sie hatte sich bereits umgewandt und nach einem Augenblick folgte er ihr den Pfad entlang. Sie erreichten den Plankenweg und gingen weiter, bis ihre Wege sich trennten: sie ging zum Haus der vormaligen Alice Wilks, er zur Schulman-Villa. Bis zu diesem Punkt hatten sie kaum gesprochen. Weil er die Antwort auf seine Frage wußte und sie wahrscheinlich auch.

Sie standen an der Wegscheide. Der Nebel begann sich aufzulösen, über den Bäumen zeigten sich Flecken blauen Himmels.

»Bis später«, sagte sie.

»Heute abend?«

»Komm zum Abendessen!« Dann: »Es tut mir leid, ich wollte den Mund halten.«

»Übertriebene Verschwiegenheit ist abscheulich. Hat deine Mutter dir das nicht gesagt?«

Sie lachte. »Du bist wirklich unmöglich. Abendessen um acht.«

Sie trennten sich. Das Haus der Carters, seitab zur Rechten, war jetzt in riesigen Umrissen sichtbar. Sonnenlicht strömte in schräg einfallenden Säulen durch die Bäume. Pete machte sich auf dem Heimweg. Scudder Laznett. Wenn hier draußen jemand Bomben hochgehen ließ, dann mußte es Scudder Laznett sein. Bomben, die keine Spuren hinterließen, die alle Bildschirme zerstörten, ein halbes Hundert Fenster zerbrachen, Sadie Platts alten Anbau in einen Bretterhaufen verwandelten … Aber es war nicht der Weltuntergang. Der angerichtete Schaden war nicht groß – wenigstens darauf hatte Scudder geachtet. Ein Loch im Wald, das bald zuwachsen würde. Und überhaupt, wenn man sich auf ein Abendessen mit Grace freuen konnte, und ohne Mundhalten, war es nicht der Weltuntergang.