Prolog

 

 

Prag, Tschechische Republik

vor 15 Jahren

 

Er war nicht Gott.

Allerdings hatte es eine Handvoll von Jahren zwischen seinem Aufstieg zum Thron und der Tötung der Anderen gegeben, in denen er es genauso gut hätte sein können. Die Welt hatte sich nicht nur nach seinen Launen gerichtet, sondern sie gefürchtet.

Er war nicht der Tod.

Er hatte Tod geschaffen, Tod gebracht, sogar den Tod abgewendet, indem er jemanden unsterblich gemacht hatte. Aber der Tod kam nie, um ihn zu holen.

Zeit, um das zu überdenken.

Er schätzte, es war passend, dass er wie Gaius sterben würde. Lucas, ein 900 Jahre alter Vampir-Emporkömmling‘, war geradewegs zu ihm gegangen und hatte ihm den Kopf abgeschlagen, ohne dass Gaius auch nur protestierend mit der Wimper gezuckt hatte. Ein Schwingen seines Schwertes, ein Beseitigen von Asche, und er hatte den Thron bestiegen.

Gaius hatte wochenlang dagesessen, ins Nichts starrend wie ein törichter Narr, bis Lucas beschlossen hatte, dass es genug war, dass verblasste Herrlichkeit und Verehrung ihre Grenzen hatten.

Aber jetzt schlich ihm der Tod hinterher, vergrub seine Klauen langsam und süß in ihm, so dass er es kaum bemerkte. Machte es einen Unterschied? Kümmerte es ihn? Wenn er wieder in diesen katatonischen Zustand verfiele und nie wieder herauskäme, wäre das so schlimm?

In seinem Kopf durchmischte er Erinnerungen wie ein Kartenspiel, blätterte durch statische Bilder seines Lebens: er lachend, verzweifelnd, kämpfend, sogar fickend. Ereignisse, die lebhafte farbenfrohe Gefühlsregungen hervorrufen sollten, doch er verspürte nichts als grau.

Von Geburt an hatte er gewusst, dass er in der Schlacht sterben würde, von ganzem Herzen für etwas kämpfend. Und daher wusste er, dass er nicht der Tod war. Weil der Tod wusste, was er wollte und in der Lage war, es außer Reichweite zu halten.

Der Klang von wildem, männlichem Gelächter drang die Treppe herauf zu seinem Zimmer, und Lucas kam unmittelbar wieder zu sich, sein Herz laut klopfend, als es sich beschleunigte und vorübergehend die Geräusche von unten übertönte. Sein Herzschlag verlangsamte sich, und er blinzelte, dunkle Wimpern verschlossen seine blassblauen Augen. Von draußen vor der Tür kam ein Rascheln von Seide; Marion kam.

Er hatte sie vor Jahrhunderten erschaffen. Sie klopfte, und er bat sie herein. Fast bebend vor Aufregung beugte sie ein Knie , den Kopf bescheiden gesenkt.

„Mein König, Roberto ist aus der Neuen Welt zurückgekehrt. Ich würde Euch bitten zu kommen, um ihn zu empfangen, wenn es Euch beliebt.“

Eine Spur von Begeisterung durchzog ihre Worte. Sie war ungewöhnlich groß, fast einen Meter achtzig, und unangenehm mager, ihre Züge scharf und streng. Marions Haar war ein lebhaftes Rotbraun, ihre Augen resedagrün. Sie sah genauso aus wie mit achtzehn, als sie starb und zum Vampir wurde. Aber Jahrhunderte des harten Lebens, der Ausschweifungen und des Elends hatten sie verhärten lassen und Spuren auf ihrer Zartheit hinterlassen, so dass ihre Vitalität eine brüchige Maske war.

Lucas stand auf und ging die Treppe hinunter; die Vampirwachen standen stramm, als er mit Marion wie mit einem rachsüchtigen Cockerspaniel auf den Fersen vorbeiging. Die Neue Welt nannte sie es, als ob sie noch nie von den Vereinigten Staaten von Amerika gehört hätte.

Er sah im Vorbeigehen auf die Standuhr und bemerkte, dass heute der 31. war und er seit 21 Tagen drinnen gewesen war. War das möglich? Seine Hand ballte sich zur Faust, und er fühlte einen plötzlichen Anfall von Sorge, dass diese Phasen länger wurden.

Im Eingang zur großen Halle hielten Lucas und Marion an und ließen die Szenerie auf sich einwirken. Der Raum war fast leer und schummrig beleuchtet. Eine gewölbte Decke war hoch über ihren Köpfen, die Balken altersgeschwärzt. Eine Wand wurde dominiert von einer riesigen Kalksteinfeuerstelle, die nötig war, um genug Wärme für den Raum zu erzeugen, in dem bequem zweihundert Personen zu Abend essen konnten.

Roberto stand auf einem Tisch und lief auf übertriebene Art und Weise, indem er die Füße von der Ferse bis zu den Zehen abrollte, als sei er betrunken. Er begann ein sanftes Lied auf Spanisch zu singen.

„Was hast du getan?“ Lucas Stimme war tief und trügerisch ruhig, als er den Vampir von oben bis unten beäugte, bevor er einen Stuhl vom Esstisch zog, sich mit überschlagenen Beinen setzte und Roberto lässig begutachtete.

„Ich war in Kalifornien, und ich habe eine Frau gefunden“, er fing an zu kichern und versuchte dann damit aufzuhören. „Sie war wie... Blumen, wie Rauschmittel oder Süßigkeiten—“ Er zuckte leichtfertig mit den Schultern, als ob er es aufgegeben hätte, die passenden Worte zu finden.

Er machte eine lange Pause, und als er wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme träumerisch, vielleicht sogar etwas wehmütig. „Dumm, dass ich sie auf einmal ausgetrunken habe.“ Er seufzte, seine roten Lippen zu einer Grimasse nach unten verzogen. „Ihr Blut hat in mir gebrannt, so süß war es. Eine Explosion und jetzt ist es so, als ob Farben durch mich hindurch rasen würden.“

Lucas blieb still. Er wollte jegliche Geste vermeiden, die seine Erschütterung hätte verraten können. „Alle raus!“

Marion wartete, als ob ,alle‘ sie nicht mit einschließen würde. Dachte sie nach all diesen Jahrhunderten schließlich, dass sie mächtig genug war, um ihn herauszufordern? Dann verbeugte sie sich und ging. Er schob sie aus seinen Gedanken. Sie war irrelevant.

Sobald der Raum leer war, fing Lucas an Fragen zu stellen. „Wie viele Leute hast du getötet?“

„Nur die eine! Aber ihre Tochter war auch da. Hat das Ganze mit angesehen. Keine Ahnung, ob sie auch so gut schmecken würde.“

„Wie ist der Nachname?“

Roberto sah auf, ein listiger Ausdruck auf seinem frettchenartigen Gesicht. „Warum? Möchtest du auch etwas? Es wäre mir eine Freude, dich mitzunehmen. Hmm, der Nachname, Happy, nein das war’s nicht. Dee– oh, Moment mal. Dearborn. Glaube ich.“ Dann lachte er wieder.

Roberto benahm sich wie jemand, der das Blut eines Empathen getrunken hatte. Aber sie waren ausgestorben. Es war unmöglich. Wann war es das letzte Mal gewesen, dass er von einem Empathen getrunken hatte? Vor vier-, fünfhundert Jahren?

Lucas erinnerte sich deutlich an den Mann. Der ausgeprägte, intensive Geschmack des Blutes, als es seine Kehle hinunterfloss. Als ob man Wein anstelle von Essig trinkt. Danach war er ausgerastet, hatte sowohl Menschen als auch Vampire getötet, bis die Palette von Gefühlen sich verflüchtigt hatte und ihm nichts als Todessehnsucht geblieben war.

Nur Marion hatte es gewagt, ihn zu suchen, als seine mörderische Raserei die anderen ferngehalten hatte. Sie hatte ihn in Österreich gefunden, an dem See, bei dem er aufgewachsen war, weinend und darauf wartend, dass der Sonnenaufgang ihn töten würde. Marion hatte seine Hand gehalten und tröstend auf ihn eingeredet; ihr mütterlicher Instinkt stand im Vordergrund, als sie ihn überzeugte, dass es nur das Blut und die Magie des Empathen waren, die ihn so aus der Fassung brachten und dass er nicht wirklich sterben, nicht wirklich jeden, dem er begegnete, töten wollte.

Als sie ihn vom Boden hochzerrte, der Himmel rosa und gelb vom bevorstehenden Sonnenaufgang, war er mit ihr gegangen, sich zugrunde gerichtet und hilflos fühlend. Sie hatte ihn in Sicherheit gebracht, indem sie Zuflucht auf einem Friedhof fanden; demselben Friedhof, auf dem er Jahrhunderte zuvor seine Frau und Kinder begraben hatte.

Lucas hatte geträumt und gefühlt, war nahezu zum Menschlichen zusammengeschrumpft, und all das nur wegen des Blutes eines Mannes. Empathen waren schon immer die größte Schwäche der Vampire, zugleich Fluch und Balsam. Eine Droge, von der er gedacht hatte, dass sie lange ausgerottet war. Doch hier war Roberto, sternhagelvoll, nach Zauberei und Blut stinkend, der klare Duft der Frau an seiner Kleidung und seiner Haut.

Gefährlich. Doch seine Fangzähne schmerzten von dem plötzlichen Verlangen, das ihn überflutete. Selbst nach dem letzten Mal, dem Schmerz, den er gefühlt hatte, begehrte er es noch. Zumindest war es Emotion, etwas zu fühlen, wenn alles, was er Jahrhunderte lang gefühlt hatte, leere Dunkelheit war.

Es wäre Wahnsinn, sich dem hinzugeben; ein potenzieller Albtraum anstelle von Robertos trunkener Glückseligkeit.

Aber die Frau war tot, oder nicht?

Keine Rache, keine übernatürliche Verbindung, mit der sie die Herrschaft über ihn gewinnen und seine Gefühle manipulieren könnte. Roberto hatte gesagt, es gab eine Tochter, aber ihr Blut könnte normal sein, die Kraft eine Anomalität. Dies könnte die letzte Chance sein, an der Gabe eines Empathen teilzuhaben.

Die Entscheidung war gefällt, Lucas packte Roberto und biss ihm in den Hals, bevor Roberto sich verteidigen konnte. Blut lief in einem heißen Strom in ihn hinein. Der Geschmack war bitter, da er von einem anderen Vampir kam, aber darunter verbarg sich eine dezente Süße und Würze, die ihn infizierte.

Nur mal probieren und dann höre ich auf.

Er wusste, das war gelogen. Er würde erst aufhören, wenn der Rausch des Blutes vorüber war. Lucas trank gierig, als käme er gerade aus der Wüste; eine unbestimmte Zeit verging, bevor er sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst wurde. Sich zusammennehmend, zwang er sich selbst, langsamer zu trinken; er empfand körperlichen Schmerz, als er seine Fangzähne aus dem Fleisch löste.

Er schleuderte Roberto von sich, und Roberto stolperte weg von ihm, das zerfetzte Fleisch an seinem Hals mit der Hand zusammenhaltend.

Lucas taumelte von Roberto weg, die Hand auf seinen Mund haltend. Was mache ich denn? Seine Hand war erstarrt, Blut bedeckte seine Lippen und jetzt auch seine Hände. Er wollte seine Lippen lecken, das Blut von seinen Fingern saugen, zu Roberto zurückgehen, um mehr zu finden. Was für ein Fehler.

Seine Hände zitterten, jeden Moment würde es ihn überwältigen.

Sein ganzer Körper pulsierte im Takt seines Herzens, als das Blut ihn durchströmte und jeden Nerv, jedes Blutgefäß und jede Zelle veränderte, während er darauf wartete, dass die Magie einsetzte.

Er war der Blitz in einem Gewittersturm.

War überhaupt genug Zeit, um Roberto zu beseitigen, bevor er dem Blut erlag? Er musste ihn töten, konnte es nicht riskieren, dass irgendjemand von der Tochter erfuhr.

Die Tochter.

Geschwind ging er zu Roberto zurück und verfolgte den schreienden Mann, den Tod noch für einige Augenblicke hinauszögernd. Mit einem einzigen Hieb durchstieß seine Faust Robertos Rücken und drang in seine Brust, ergriff das Herz des Mannes und riss es heraus, so dass Roberto sich in Asche auflöste.

Lucas fühlte sich eingesperrt, als der Drang, sich zu bewegen, zu rennen, zu weinen, zu lachen und der Schmerz in ihm um die Übermacht konkurrierten.

Nein.

Er hatte sich unter Kontrolle. Nach fast zweitausend Jahren war er sein eigener Herr. Er war der Älteste und Stärkste. Lucas folgte seinem eigenen Gesetz.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Gefühle trafen ihn wie Brenneisen, und er fiel auf die Knie, sein totes Herz hämmerte im Stakkatorhythmus. Seine Hände fuhren zu seiner Brust, als ob er den Schmerz, der von seinem Herzen ausstrahlte, ergreifen könnte.

Dann war es vorüber. Für einen kurzen Moment dachte er, dass es das war, dass er im Laufe der letzten vierhundert Jahre so abgestorben und mächtig geworden war, dass die Magie ihn berührte, aufflackerte und verstarb.

Dann begann ein Pulsieren.

Es ist nicht vorbei.

Ein leichter Kuss von Empfindung, der fast sichtbar war wie das Hitzeflimmern von Asphalt, lief ihm die Wirbelsäule hinunter.

Dies war ein fataler Fehler.

Gefühle brachen über ihm zusammen. Freudengefühle erfüllten ihn, bis er lachen wollte, wie Roberto es getan hatte, lachen als ob er sorglos, glücklich und sterblich wäre. Aber er konnte sich nicht erinnern, wie man lacht, so dass stattdessen ein kratziges Geräusch seiner Kehle entfuhr.

Das Gefühl veränderte sich, wurde ein starkes Pulsieren, das ein tiefes Pochen in seinem Geschlecht hinterließ. Er war plötzlich hart, zum Zerplatzen voll, qualvoll, schmerzend. Verlangen ergriff ihn, und er begann zu zittern, aus Drang zu–

Nein.

Doch das Blut strömte durch ihn, drang in jede Zelle und jedes Molekül seiner Existenz, ihn weiter treibend.

Er hatte diese Macht vergessen. Das Auf und Ab von Emotionen, das selbst eine kleine Menge Blut in ihm bewirkte.

Er hatte es gewusst und vergessen.

Lucas erinnerte sich daran, ein Mensch zu sein, an die erfahrenen und geschenkten Freuden. Fast konnte er weibliche Hitze um sich herum fühlen, wie es war, die Schenkel einer Frau sich lustvoll um seinen Kopf schlingen zu fühlen. Das wimmernde Stöhnen, wenn er sie intensiv küsste. Seit er ein Vampir geworden war, waren Empfindungen und Gefühle gedämpft, aber nicht im Moment. Im Augenblick fühlte er sich wieder menschlich.

Begierde wurde zu einem Feuer in ihm, verzehrte ihn, so dass er nichts als Verlangen war. Er fiel auf die Knie und starrte auf seine zu Fäusten geballten Hände. Er fluchte, war überrascht zu bemerken, dass seine eigenen Hände seinen Schwanz umfassten. Seine Hüfte hob sich stoßweise, während sein Körper Erlösung forderte, obwohl sein Verstand sich sträubte.

Und verlor.

Sein ganzer Körper war ergriffen, Lustgefühle durchströmten ihn und zeigten ihm die Macht erneut. Er sollte nicht dagegen ankämpfen, das wusste er, aber es war wider seine Natur nachzugeben und daher versuchte er, dem Ruf des Blutes zu widerstehen.

Ihm stockte der Atem, als er sich an die volle Süße des Blutes erinnerte. Er presste sich selbst reflexartig, als die Erinnerung an Geschmack durch sein Bewusstsein und dann durch seinen Körper schoss.

Wie eine Lawine fegte der Orgasmus durch ihn hindurch, seine geistige Abwehr kollabierte und er spürte die heftigen Zuckungen seines Schwanzes, als er kam. Er atmete schwer, unfähig sich zu bewegen, als die Nachbeben der Lust ihn packten und freigaben.

Ein Empath.

Lucas stolperte auf seine Füße und ging in sein Zimmer, während er sich gleichgültig seiner Kleidung auf dem Weg zur Dusche entledigte.

Seine Gedanken rasten und er erinnerte sich daran, wie die Welt vor Jahrhunderten gewesen war. Eine unruhige Balance von Vampiren, Hexen, Werwölfen, Empathen und Fey. Jahrhunderte lang hatte es nur Vampire gegeben, alle Anderen waren verschwunden. Aber ein Empath war entkommen. Vielleicht waren die Vampire nicht so alleine, wie sie gedacht hatten. Vielleicht waren die Anderen verstreut oder versteckten sich. Was würde geschehen, wenn sie zurückkommen könnten? Die Balance in der Welt könnte wieder hergestellt und die Vampire beherrscht werden. Könnte er sie finden? Wollte er das?

Der Gedanke war... verlockend.

Und dann erinnerte er sich daran, dass die tote Empathin eine Tochter hatte.

Interessant.