Kapitel 15

 

 

Rom, Italien

Gegenwart

 

Der raschelnde Klang von Samt weckte Valerie auf. Ihr Körper verspannte sich, und sie lag da wie ein überraschter Hase. Sie war sich sicher, dass sie ein Geräusch gehört hatte, aber es war dunkel, noch mitten in der Nacht, und die Tür war abgeschlossen. Oh richtig, abgeschlossene Türen hielten niemand wirklich Gefährlichen draußen.

War es Jack? Wie spät war es? Sie hatte zu viel Angst, als dass es Jack sein konnte.

War Lucas zurückgekommen? Ein unangemessenes Abbild von ihm zu einem lausigen Zeitpunkt, um das zu beenden, was sie begonnen hatten—

Jemand ging im Zimmer auf und ab, versuchte nicht einmal leise zu sein. Nicht Lucas.

Der Gestank von Eisen und verrottenden Blumen war so stark, dass sie ihn in ihrem Rachen schmecken konnte und das Bedürfnis hatte zu würgen. Vampir.

Wenn sie ihre Hand unter ihr Kissen schieben und die Pistole finden könnte, ohne dass der Vampir es bemerkte, würde sie vielleicht davonkommen. Sie bewegte sich langsam und stetig, Augen geschlossen, Atem regelmäßig. Dies war ein Moment, um aufs Ganze zu gehen. Sie war entweder ruhig und erledigte den Mist oder sie würde sterben.

Ein klirrendes Lachen kam aus der Dunkelheit. War Doris Day eine Vampirin?

„Steh einfach auf, Schlafmütze, ich weiß, dass du wach bist. Ich habe genug Lärm gemacht...“, sie machte eine theatralische Pause, „um Tote aufzuwecken!“ Sie lachte über ihren eigenen Witz und Valerie spürte, wie sich ihr Magen vor Entsetzen schmerzhaft verkrampfte. Marion.

„Lass mich dich beruhigen. Deine kleine Pistole ist weg, und wenn du schreist, werde ich jeden töten, der dir zu Hilfe kommt.“

Das Licht ging an, und Valerie sah eine Vision von Karminrot vor sich. Marions rotbraunes Haar war auf ihrem Kopf aufgetürmt, das rote Ballkleid lang und aus etlichen Metern Samt gemacht, als wäre sie bei einer Opernvorstellung im 19. Jahrhundert anstatt in einem miesen, kleinen Hotelzimmer in Italien.

Hysterisch fragte sie sich, ob es eine erforderliche Minimalgröße gab, um Vampir zu sein. Marion, Lucas und Rachel, sie waren alle so groß.

Marion glättete dezent ihre Röcke und ließ sich in demselben Stuhl nieder, den Lucas vor einigen Stunden besetzt hatte. Sie lehnte sich zurück und hielt inne, wie eine Katze, die ein Gespenst sieht. Ihre feinen Nasenflügel blähten sich auf. Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht und war dann verschwunden. Wut? Eifersucht?

Ihr Gesichtsausdruck wurde zu Zufriedenheit, was nicht dazu beitrug, den Angst-bedingten Knoten in Vals Magen zu lösen. Marion strich mit ihrem Finger langsam über die Stuhllehne und rieb dann ihre Hände aneinander, als versuchte sie, etwas Ekelhaftes abzuwischen. „Nun, ich sehe, du bist ein viel beschäftigtes Mädchen gewesen. Jack ist für dich da, Lucas war... genau hier mit dir und jetzt hast du mich. Wir machen einen kleinen Ausflug. So was wie ein Mädchen-Wochenende, aber mit mehr Blut.“ Sie lachte erneut, und Valerie wickelte sich fester in die Decke ein.

Marion erhob den Zeigefinger, als redete sie mit einem unartigen Welpen. „Jetzt hör mir mal zu, Schätzchen, solange du keinen Unfug treibst, solltest du hier lebendig herauskommen. Obwohl, Gott weiß, du es nicht wert zu sein scheinst. Also, spring aus dem Bett und zieh dich an! Wäre es nicht fürchterlich, wenn Jack auftauchen würde und ich wäre hier? Was würde er machen? Kannst du dir das vorstellen? Er hat ziemliche Todessehnsucht... mir gefällt das an einem Mann.“ Sie beendete den Satz entschlossen.

Val stand auf, ihre Beine ziemlich stabil, als sie zu ihrem Kleiderschrank ging, um etwas zum Anziehen zu finden. „Es wird verdammt frostig werden, also zieh dir etwas Warmes an. Falls du etwas von Lucas hast, wäre das noch besser. Du möchtest ja nicht, dass ein hungriger Vampir vergisst, dass du markiertes Eigentum bist. Sein Geruch wird sie auf Abstand halten.“

Val nahm ihre Jeans und setzte sich hin, um sie anzuziehen. „Nein, ich habe nichts von ihm. Ich glaube, du verstehst das falsch. Er hat wirklich kein Interesse an mir. Es ist eine Geschäftsbeziehung.“

Marions Stimme war tödlich leise. „Welche Geschäfte sollte er denn mit einer Jägerstochter haben? Du bist zu dämlich zum Sprechen. Falls du für ihn nicht von Wert bist, kann ich dich genauso gut sofort töten. Also, versuch’s noch mal...“

Sie glitt herüber, ihre Knöchel strichen Vals Wange hinunter und blieben an ihrem Hals ruhend liegen. Finger gruben sich in ihren Puls. Es tat weh und erschwerte das Atmen. Val begann sich schwach zu fühlen.

„Sag mir, dass du von Wert bist. Sag mir, dass er sich für dich entscheiden wird, und du kannst mitkommen.“ Die Finger drückten stärker zu, und Valerie bekam keine Luft mehr.

„Ja!“, keuchte sie.

Marion ließ sie los, vor Freude in die Hände klatschend. „Großartig! Dies wird Spaß machen. Zieh dich endlich an!” Sie ließ sich erneut auf dem Stuhl nieder und blätterte durch eine Zeitschrift, während Val ihre Atmung wieder unter Kontrolle bekam.

„Also, erzähl mir davon.“

Val hielt inne. „Wovon?“

„Von Lucas. Ist er nicht toll im Bett? So potent. So kraftvoll. Obwohl ich zugebe, dass ich ziemlich überrascht bin. Eine Jägerstochter. Nach all dieser Zeit, wer hätte gedacht, dies wäre der Schalter zum Klicken. Knipsen? Was macht man mit einem Schalter? Es ist kein Ast mehr, mit dem man zuschlägt, oder?“

Val wusste nicht, was sie sagen sollte und entschied, dass die Fragen rhetorisch waren. Sie knöpfte ihre Jeans zu und suchte nach einem Shirt.

Marion riss eine Seite aus der Zeitschrift und wedelte Valerie damit zu. „Tu dies mal in deine Handtasche. Ich will dieses Kleid. Ich hätte etwas mit Taschen tragen sollen. Komisch, nicht war, all dieser Stoff und keine Tasche.“

Urkomisch.

Val sah sich im Zimmer um, der Moment erschien ihr sehr surreal . Marion wollte über Jungs und Mode sprechen? Ich bin ganz schön im Arsch.

„Wie viel von deinem Blut hat er gehabt? Wie oft trinkt er von dir? Hat er dir schon versprochen, dich zu verwandeln?“

Das waren ganz schön viele Fragen. „Nein. Er hat nicht angeboten, mich zu verwandeln.“

Marion spitzte ihre Lippen. „Das ist merkwürdig. Aber er hat dich auf unseren kleinen Ball mitgenommen, und ich weiß, wie er dich beobachtet hat. Oh, war er aufgebracht, als du auf der Tanzfläche fast gestorben wärst.“

Die ganze Sache erschien Valerie etwas verschwommen, das kann bei lebensbedrohlichem Blutverlust zweifellos schon mal vorkommen, aber „aufgebracht“ schien ihr nicht die passende Beschreibung für Lucas’ Verhalten in der letzten Nacht zu sein. „Ruhig mit Augenblicken der Verärgerung“ schien treffender.

„Trinkt er jeden Tag von dir? Ist es ein Quickie oder ist dir hinterher schwindelig?“

Es schien keine gute Idee zu sein, ihr zu sagen, dass Lucas ihr Blut nicht wollte. Er hatte ihr gesagt, dass ein Vampir sie vielleicht töten würde, weil sie eine Empathin war. „Es ist seine Entscheidung. Wir machen, was auch immer er will.“

Marion schnaufte und hob eine Hand an ihre Brust, als wäre sie schockiert. „Lass mich dir mal einen Ratschlag geben. Von Frau zu... Mädchen“, sagte sie herablassend.

Da Marion jedem unter 300 Jahren die Wiege stahl, fasste Val dies nicht als Beleidigung auf.

„Gib ihm nicht, was auch immer er will. Du wirst ihn sehr schnell verlieren. Lass ihn nie gelangweilt werden. Obwohl, eigentlich ist Lucas schon seit gut zweihundert Jahren gelangweilt, nichts, was du tust, kann ihn sehr lange bei der Stange halten, schätze ich. Wie unterhält man einen Mann, dessen Ausgabe des Kamasutra aus Holzschnitten besteht?“ Marion lachte.

War das ein Witz? Meinte sie es... ernst?

Val zog sich fertig an, legte einen Mantel um und ging ihre Handtasche holen. Sie brauchte die Handtasche. Sie wusste nicht, wie viel das Weihwasser und der Pflock ihr wirklich nützen konnten. Wenn es zum Nahkampf kommen würde, war sie erledigt, aber sie musste wenigstens irgendetwas haben!

Sie trug ihre Handtasche quer über den Körper, damit sie nicht herunterfallen würde, während Marion sie aufmerksam beobachtete. Sie warf die Zeitschrift leicht zur Seite, doch ihre übermenschliche Kraft ließ sie mit enormer Wucht an die Wand knallen, so dass eine kleine Wolke aus Farbe und Putz abbröckelte und auf dem Cover landete.

„Richtig. Du weißt, wie man das macht. Leg die Arme um mich, Liebling“, sagte Marion frivol.

Val blinzelte und sah weg, wollte nicht sehen, wie Marion auf sie zukam, fürchtete sich aber gleichzeitig davor, wegzusehen. Sie fühlte, wie Marions knochige Arme sie umklammerten und sie vorwärts zogen, so dass ihre Körper einander berührten.

Sie musste ihren Kopf drehen, um nicht in Marions kleine Brüste gedrückt zu werden. Die Kälte begann an ihren Füßen, peitschte um sie herum, sich aufwärts ausbreitend, als wäre sie eine Pflanze, die im Winterfrost gefangen wurde.

Die Reise war fürchterlich, schmerzhaft und desorientierend. Als sie sich in einem dunklen kellerartigen Raum materialisierten, hingen kleine Eisstücke an ihren Fingern.

Val rieb ihre eisigen Hände an ihrer Kleidung, und Marion zuckte mit den Schultern, während ein Grinsen ihre Lippen umspielte. „Verdammt sei dieser Mann, er ist in allem so gut. Er lässt mich wie eine Amateurin aussehen. Bring nächstes Mal einen Hut mit.“

Val sprach und bemerkte, wie ihr Atem Wolken vor ihr bildete: „Warum ihn verdammen?“

Marion schüttelte leicht den Kopf und sah sich um, als versuchte sie, sich zu orientieren. „Nun, zuallererst, weil er es verdient. Er ist die letzten paar hundert Jahre unmöglich gewesen. Weißt du, früher war er unglaublich – fabelhaft im Bett und wenn du zerstören und plündern wolltest, war er der Mann, den du im Rücken haben wolltest.“

Sie schüttelte angewidert den Kopf. „Aber jetzt? Die schlechteste Unterhaltung! Keine Partys. Er versucht noch nicht einmal, uns zu unterhalten oder glücklich zu machen. Früher hatte er Durchsetzungsvermögen!“ Sie machte eine Pause, ihr Kopf vogelartig zur linken Seite geneigt, als sie aufmerksam horchte.

Valerie hörte nichts.

„Ich kann ihn hier irgendwo spüren. Na dann, komm schon!“

Marion eilte los und Val beeilte sich, um mitzuhalten, fast joggend. Ihre Gelenke schmerzten von dem kalten Trip, und sie musste sich fragen, warum es so anders gewesen war als mit Lucas zu reisen. War es rohe Macht oder schützte er sie irgendwie?

Sie kamen an eine Treppe und Marion eilte hinauf, war schon oben, als Val bloß ein paar Stufen gegangen war. Sie bog um die Ecke und lief weiter, während Val versuchte, sich schneller zu bewegen. Sie hielt es für keine gute Idee, sich zu verirren.

Sie musste zu Lucas gelangen. Er würde sie beschützen. Selbst wenn sie versuchte abzuhauen, würde sie nicht sehr weit kommen, da Marion so schnell war. Sie hörte Marion eine freundliche Begrüßung rufen; dann kam sie zurück und sah Val die Treppe herunter an, ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht, als könne Val sich auf eine Überraschung freuen.

Oh Scheiße.

Marion hielt einen Finger an ihre Lippen, Valerie signalisierend, dass sie still sein solle, bevor sie wieder verschwand.

Was sollte sie machen? Sollte sie still sein? Was wenn es Lucas war? Sie versuchte angestrengt etwas zu verstehen, aber Marions Stimme war zu leise. Marion kam zurück und bedeutete Val die Treppe hinaufzukommen. „Überraschung! Was denkst du? Sie hatten keine in blond.“

Rachel stand vor ihr, trug ein maßgeschneidertes, schwarzes Herrenhemd mit Spitzen an den Säumen und einem hohen Kragen. Ihre Hose war aus schwarzer Wolle und endete an wahnsinnig hochhackigen Schuhen, die sie wie ein Laufsteg-Modell aussehen ließen. Ihre blutroten Lippen waren zu einem missbilligenden Ausdruck verzogen. Rachel sah Val sorgfältig von oben bis unten an, als sei sie ein Alien, vielleicht ein Einhorn.

Rachels Stimme war leicht und feminin. „Was zum Teufel willst du denn mit ihr?“

Marion gackerte Rachel an, als sei das eine dumme Frage, und lehnte sich dann zu ihr, um ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund zu geben. Rachel erwiderte den Kuss geistesabwesend, ihre Augen nicht von Val abwendend.

„Sie ist unsere Versicherung. Sie wird Lucas zwingen, Primogenitur für die Herausforderung einzuhalten.“

Rachel sah schließlich von Val weg, Verwirrung im Gesicht. „Was ist Primogenitur?“

Marion kicherte wie ein Schulmädchen, ihre skelettartige Hand in einer Parodie von Weiblichkeit an ihren Mund fahrend. „Oh ihr Amerikaner! Keine Kultur! Keinen Sinn für Tradition.“

Rachel warf Val einen Blick zu, der zu sagen schien: ,Kannst du glauben, dass ich mich jeden Tag hiermit herumschlage?‘ Rachel hatte sie gestern fast umgebracht. Sie waren nicht dick befreundet.

„Also, Primogenitur bezog sich früher auf Grundbesitz. Es bedeutete, dass der erstgeborene Sohn das ganze Land, das Haus und das Geld bekam und die anderen Kinder so gut wie nichts. Es ist sechshundert Jahre her, seit es eine Herausforderung gegeben hat.“ Sie richtete sich auf und nahm eine belehrende Haltung ein, ihre Hände vor ihr zusammengefaltet, ihre Stimme die einer Lehrerin, die eine gute Tracht Prügel schätzte. „Der Herausgeforderte — in diesem Fall Lucas — hat das Recht, sich auf Primogenitur zu berufen. Falls er verliert, wird nicht seine gesamte Blutlinie ausgelöscht. Er kann einen wählen, der überlebt. Aber es muss nicht der Erstgeborene sein. Vampire versuchen so sehr am Leben zu bleiben, dass die Gefahr, dass eine ganze Blutlinie ausgelöscht wird, genügt um Anhänger abzuhalten. Solange man beim gegenwärtigen König bleibt, ist man sicher. Aber Primogenitur bedeutet auch, dass einige dieser Angsthasen, die unentschlossen sind, uns vielleicht unterstützen.“ Sie sah sehr zufrieden aus, als sie beobachtete, wie Rachel über diese Informationen nachdachte.

Rachel runzelte die Stirn. „Aber sie ist keine Vampirin. Würde er nicht Dimitri wählen oder jemanden, der unmittelbar seiner Schöpfung entstammt?“

Marions Kleinmädchen-Stimme war wieder da. „Du musst besser aufpassen bei diesen Dingen. Ich bin sicher, dass wir das schon durchgegangen sind. Nicht wahr? Wie auch immer, Dimitri ist jetzt Haupt seiner eigenen Linie. Lucas hat seit mehr als zweihundert Jahren keinen Vampir geschaffen. Mir fällt niemand ein, von dem er wollen würde, dass er lebend den Raum verlässt.“ Ein riesiges Grinsen teilte ihr Gesicht. „Abgesehen von ihr. Er wird sie nicht sterben lassen! Er wird sich für sie entscheiden müssen, um sie zu beschützen. Es ist ein Tauschhandel, Liebling. Du wirst sicher sein, falls ich verliere. Sie wird sicher sein, falls er verliert. Es ist eine Situation, in der wir nur gewinnen können! Küss mich dafür, dass ich etwas Wundervolles mache.“ Sie schloss die Augen und beugte sich vor, die Lippen gespitzt.

Rachel ignorierte das nach oben gestreckte Gesicht. „Du glaubst wirklich, dass sie ihm so wichtig ist?“

Marion hielt ihre Augen geschlossen, immer noch auf einen Kuss wartend. „Ja. Ehem.“

Ein Lächeln spielte um Rachels Mund, als sie sich nach vorne beugte, um Marion zu küssen. Der Kuss war zaghaft, nicht mehr als eine kurze Berührung der Lippen. Marion erschauerte und lehnte sich nach vorne, so dass Rachel ihr Gewicht stützte. Sie nahm Marions Lippen in ihren Mund und biss stark zu, und Marion kreischte vor Überraschung oder Schmerz. Sie zog Marion in ihre Arme, sie ernsthaft küssend, bis Blut Marions Kinn hinunter floss.

Val wurde übel und sie sah zu Boden.

Das Paar trennte sich, und Rachel wischte die einzelne Blutspur auf Marions Kinn mit ihrem Daumen ab, ihn in den Mund steckend, während Marion sie leidenschaftlich beobachtete.

Gott sei Dank hatte sie nicht gegessen, bevor sie herkam.

Sie mochte Schwule, es war ihr völlig egal, worauf sie standen, aber mordlustige Lesben, die gegenseitig ihr Blut tranken, erforderten ein bisschen mehr Toleranz als Val aufbringen konnte. Man musste ja irgendwo mal eine Grenze ziehen, nicht wahr?

Marion schnipste mit den Fingern, und ein langer, schwarzer Umhang erschien. Sie hängte ihn Val um, verbarg damit ihr Gesicht. „Jetzt wirst du still und hilfreich sein. Du wirst alles machen, was ich dir sage, genau so wie ich es dir sage, oder ich werde etwas von dir brechen, einen Arm oder das Genick. Verstehst du?“

Val nickte ruckartig.

„Großartig. Ich hasse Missverständnisse.“

Rachel streckte ihren Arm aus, und Marion ergriff ihn, als sie voran gingen.

„Sag mir, was zu erwarten ist“, sagte Rachel.

Marion seufzte theatralisch. „Na schön. Mal sehen. Alle werden dort ankommen, etwas plaudern und einander auf den letzten Stand bringen — die Zeit vergeht manchmal so schnell. Ich erinnere mich, das letzte Mal, als wir ein Treffen hatten, hat Genevieve immer noch diesen albernen Witz darüber gemacht, mich nicht mehr gesehen zu haben seit Pompeji vor die Hunde gegangen ist. Du verstehst, was daran so albern ist, nicht wahr? Das war 79 n. Chr., verdammt noch mal. Selbst Lucas gab es da noch nicht! Wie auch immer, also, man muss etwas schwatzen, dann werden wir uns hinsetzen, und Lucas wird fordern, dass alle ihm Lehnstreue schwören. Der Erste ist Bruce, großer Berg von einem Mann mit einer wunderbar schlimmen Narbe in seinem Gesicht. Sie hat ihn das Auge gekostet, armer Rohling. Wie auch immer, er ist ein Schwertkämpfer.“

„Hat er eine Chance, Lucas zu töten?“

„Um Himmels willen, nein! Dies ist eine Frage von Zermürbung. Wir bombardieren ihn mit Männern, bis der Job erledigt ist. Wir werden ihn wie ein Vogel zerpicken. Und was für ein Picker Bruce ist. Oh pfff, sei doch nicht gleich eifersüchtig. Wenn er ein, zwei gute Stöße schafft — nein, ich versuche nicht, dich zu verärgern — dann sollte das genügen.“

„Lucas ist fast unbesiegbar. Ich mache mir Sorgen, dass—“

„Nein, Liebling, pssst. Lucas war nahezu unbesiegbar, aber nach letzter Nacht ist er ziemlich geschwächt. Selbst wenn er seit letzter Nacht ein paar Werwölfe hinuntergeschlungen hätte, wäre er noch nicht wieder völlig bei Kräften. Durch das Gift, den Blutverlust und die Machtübertragung zusammen ist er geschwächt. Sieh dir bloß die lebende Tote hier an. Es hat verdammt viel erfordert, sie wieder hinzukriegen.” Marion warf Val einen Blick zu. „Bruce wird ihm bestimmt ein, zwei Hiebe versetzen und das werden andere auch, die ganze Nacht lang. Hab Vertrauen. Lucas wird vor Sonnenaufgang tot sein. Und ich werde eine Tiara bekommen.“

Valerie versuchte leise zu bleiben, um jedes Wort zu erhaschen. War es wahr, dass Lucas in so schlechter Verfassung war? Sie dachte daran, wie er letzte Nacht durch die Tür ging, noch nicht einmal versuchte, sich zu entmaterialisieren.

Sie steckte ihre Hand in ihre Handtasche, hoffend, dass der Umhang jegliche Bewegung verbergen würde. Sie fand den Pflock, aber ließ ihn darin. Die Flasche mit Weihwasser war klein, aber sehr viel leichter in ihrer Hand zu verstecken. Selbst wenn es nichts half, sie brauchte irgendetwas, um sich ein bisschen zuversichtlicher zu fühlen.

Sie liefen einen breiten Gang hinunter. Der Boden war mit Steinplatten bedeckt, und sie konnte Wasser tropfen hören, wie in einer Höhle. Fackeln waren in regelmäßigen Abständen angezündet, schattige Flecken von Dunkelheit gähnten dazwischen.

Sie kamen an eine Flügeltür, vor der zwei Wachen ausdruckslos standen. Sie trugen Schwerter, und ihre Köpfe waren von Helmen verdeckt, wie Ritter von vor langer Zeit. Marion hielt an und klopfte mit ihren Knöcheln an den Helm, der Klang im Gang widerhallend. „Das Erste, was ich machen werde, ist, diese verdammten Rüstungen loszuwerden! Er weigert sich, zu modernisieren!“

Die Wachen öffneten die Türen, und Marion holte tief Luft, während sie ihr Haar glatt strich. „Auf geht’s. Besorgen wir mir einen Thron!“, sagte sie fröhlich.