– 4 –
DER LAUF DES SCHICKSALS
Die Pflegeeltern, die Margot vom Krankenhaus abholten, waren erstaunlich propere Leute. Proper im Sinne von: weißes Hemd und Seidenkleid. Aber auch in jedem anderen Sinne.
Ich kam sofort dahinter, dass die beiden vierzehn Jahre lang vergeblich versucht hatten, ein Kind zu bekommen. Der Mann, ein Rechtsanwalt namens Ben, schleppte sich mit tief in den Taschen vergrabenen Händen über den Flur. Das Leben hatte ihn gelehrt, das Schlimmste zu erwarten und sich vom Besten überraschen zu lassen. Kenne ich irgendwoher. Seine Frau – eine sehr kleine, sehr breite Person namens Una – trippelte neben ihm her. Sie hatte sich bei ihm untergehakt und rieb mit der freien Hand das goldene Kruzifix, das sie um den Hals trug. Beide sahen äußerst besorgt aus. Dr. Edwards hatte offenbar kein rosiges Bild von Margots Gesundheit gezeichnet.
Man setzte mich in das Gitterbett, als sie kamen. Ich hatte meine Beine zwischen den kalten grünen Gitterstäben hindurchgesteckt und ließ sie baumeln. Margot lachte über die Grimassen, die ich schnitt. Schon da hatte sie so ein dreckiges Lachen. Ein Lachen, für das man den Kopf in den Nacken werfen muss. Ihre Haare waren durcheinander, dünn und blond – genau der Farbton, dem ich den Rest meines Lebens immer wieder mithilfe von Bleichmitteln nachjagte – und blaue, kugelrunde Augen, die einst grau werden würden. Zwei Zähnchen hatten sich ihren Weg durch das rosa Zahnfleisch gebahnt. Hin und wieder konnte ich ihre Eltern in ihr wiedererkennen: Sie hatte Micks kantigen Kiefer. Und den Schmollmund ihrer Mutter.
Una, die Pflegemutter, schlug sich mit der Hand auf die Brust und schnappte nach Luft. »Sie ist wunderschön!« Sie wandte sich Dr. Edwards zu, der mit verschränkten Armen und Grabesmiene hinter ihnen stand. »Sie sieht so gesund aus!«
Una und Ben sahen einander an. Ben ließ erleichtert die Schultern sinken, die er bisher vor lauter Anspannung fast bis zu den Ohren hochgezogen hatte. Sie fingen an zu lachen. Wie schön. Ich freue mich immer wieder, wenn ich das Rückgrat einer funktionierenden Ehe sehe. Und es verblüfft mich auch immer wieder. In Unas und Bens Fall war dieses Rückgrat ihr gemeinsames Lachen.
»Würden Sie sie gerne mal halten?« Dr. Edwards nahm mir Margot vom Schoß. Ihr breites Grinsen verschwand, und sie fing an zu quengeln, aber ich hielt mir einen Finger vor die geschürzten Lippen und zog noch eine Grimasse. Sie kicherte.
Una zirpte wahre Lobeshymnen auf das Kind, und endlich drehte Margot sich zu ihr um und lächelte sie über das ganze Gesicht an. Was weitere Begeisterungsausbrüche von Una auslöste. Zaghaft nahm Ben eine von Margots speckigen Händen in seine und machte ein paar glucksende Geräusche. Ich lachte, und Margot lachte auch.
Dr. Edwards rieb sich übers Gesicht. Er hatte diese Szene schon so oft gesehen. Er hasste das, er hasste die Schuldgefühle, und darum schleuderte er den Leuten immer das Allerschlimmste entgegen, um jegliche Schuld von sich abzuwenden. Er sagte:
»Sie wird ihren dritten Geburtstag nicht erleben.«
Una sah man die Erschütterung deutlich an.
»Warum?«
»Ihr Herz entwickelt sich nicht, wie es sollte. Es versorgt die übrigen Organe nur unzureichend mit Blut. Irgendwann wird ihr Gehirn nicht mehr mit Sauerstoff versorgt werden. Und dann stirbt sie.« Er seufzte. »Ich möchte auf jeden Fall vermeiden, dass Sie mir hinterher Vorwürfe machen, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
Ben sah zu Boden und schüttelte den Kopf. Seine schlimmsten Ängste waren wahr geworden. Vom Tag ihrer Hochzeit an hatte ein Fluch auf Una und ihm gelastet, redete er sich ein. Wie oft hatte er seine Frau bereits weinen sehen. Wie oft hätte er am liebsten selbst geweint. Mit jeder Enttäuschung kam er der Wahrheit nur einen Schritt näher: dass das Leben grausam ist und mit einem Sarg und Würmern endet.
Una dagegen verfügte über eine genetisch veranlagte Neigung zum Optimismus.
»Aber … Wie können Sie da so sicher sein?«, plapperte sie los. »Könnte ihr Herz sich denn nicht erholen und stärker werden? Ich habe von Kindern gelesen, die alle möglichen Krankheiten überlebt haben, nachdem sie erst mal ein glückliches Zuhause gefunden hatten …«
Ich erhob mich. Courage rüttelt mich auf. Immer schon. Seine Courage war es gewesen, die ich an Toby am allermeisten gemocht hatte.
»Nein, nein, nein, nein«, sagte Dr. Edwards und klang dabei etwas kalt. »Ich kann Ihnen versichern, dass wir in diesem Fall richtig liegen. Ventrikuläre Tachykardie ist eine ganz unselige Krankheit und im Moment praktisch unheilbar …«
»Ma ma ma«, sagte Margot.
Una keuchte und quietschte vor Rührung. »Haben Sie das gehört? Sie hat mich Mama genannt!«
Dr. Edwards’ Mund stand noch immer offen. Sag noch mal Mama, ermunterte ich Margot. »Ma ma MA!«, sagte sie und kicherte. Was soll ich sagen? Ich war ein verdammt niedliches Kind.
Una lachte und schaukelte Margot in ihren Armen. Dann wandte sie Dr. Edwards vollends den Rücken zu.
Natürlich hatte ich mir Margots Herz bereits angesehen. Es war so groß wie eine Pflaume und stotterte ab und zu ein wenig. Das Licht, das von ihm ausging, flackerte manchmal ein bisschen und ließ an Intensität nach. Ich wusste, dass da irgendetwas nicht stimmte. Aber ich konnte mich an keine Herzprobleme erinnern. Also abgesehen davon, dass mir als Teenager das Herz das eine oder andere Mal gebrochen wurde, weil meine Liebe nicht erwidert wurde. Die Sache mit der Herzkrankheit konnte also wohl kaum so ernst sein, wie Dr. Edwards sie jetzt hinstellen wollte.
Sie wird leben, flüsterte ich Una zu. Einen Moment lang stand sie mucksmäuschenstill, als habe ein lang gehegter Herzenswunsch endlich mit seiner Erfüllung in irgendeiner Ecke des Universums Kontakt aufgenommen. Sie schloss die Augen und sprach ein Gebet.
In dem Moment sah ich Unas Schutzengel. Ein großer schwarzer Mann tauchte hinter ihr auf, umarmte sie von hinten und drückte seine Wange gegen ihre. Sie schloss die Augen und war für eine kurze Weile von einem weißen Leuchten umgeben. Es war ein wunderschöner Anblick. Das Licht der Hoffnung. Fast ein halbes Jahr im Krankenhaus, und jetzt sah ich es zum ersten Mal. Er sah zu mir auf und zwinkerte mir zu. Dann war er wieder weg.
Danach drehte sich alles nur noch um Formulare. Hier unterschreiben, da unterschreiben. Dr. Edwards stellte einen ganzen Stapel Rezepte aus und trug eine Reihe von Untersuchungsterminen ein, zu denen Una und Ben mit Margot erscheinen sollten. Ich sah, wie Ben die Farbe aus dem Gesicht wich – er hatte die letzte Nacht nicht geschlafen –, während Una nickte und summte und sang und nicht zuhörte. Also lauschte ich besonders aufmerksam. Als Dr. Edwards die Termine nannte, stupste ich Una an. Schreib die mal besser auf.
Es war Schwester Harrison, die Margots Namen nach einer langen Diskussion zwischen Dr. Edwards und den Krankenschwestern im Pausenraum bestimmte. Etwas widerwillig hatte sie den Namen ausgesprochen, nachdem Schwester Murphy »Graìnne« vorgeschlagen hatte, was in meinen Ohren gar nicht gut klang. Es war meine bescheidene Wenigkeit, die Schwester Harrison den Namen zuflüsterte. Als die anderen sie fragten, wie sie darauf gekommen war, bezog sie sich auf Margot Fonteyn, die Ballerina. Den Nachnamen, Delacroix, hatte sie von ihrer biologischen Mutter, die mit Vornamen Zola geheißen hatte.
Ben und Una wohnten in einer der reichsten Gegenden Belfasts, ganz in der Nähe der Universität. Ben arbeitete ziemlich viel von zu Hause aus. Sein Arbeitszimmer nahm die gesamte Dachetage ihres dreistöckigen viktorianischen Hauses ein und lag direkt über Margots Kinderzimmer, das vor Spielsachen in allen Formen und Farben überquoll.
Über die Zeit, die ich dort verbrachte, legte sich ein Schleier des Argwohns. Irgendetwas war da doch im Busch. Ich konnte mich überhaupt nicht an Ben und Una erinnern. Ich hatte keine Ahnung, dass die beiden je eine so wichtige Rolle in meinem Erdenleben gespielt hatten. Margot befand sich nur selten im kunstvoll handgeschnitzten Mahagoni-Gitterbettchen im Kinderzimmer. Viel öfter saß sie tagsüber auf Unas rechter Hüfte und kuschelte sich nachts an ihre linke Brust. Sie lag so warm und geborgen zwischen Una und Ben.
Sie sprachen viel über Adoption, und ich unterstützte sie nach Kräften in diesem Vorhaben. Jedes Mal, wenn Ben die Angst überkam – »Und wenn sie stirbt?« –, kitzelte ich Margot, bis sie ausgelassen lachte oder die Ärmchen ausstreckte, während sie versuchte, ihre ersten Schritte zu machen. Una war verliebt. Ich auch – in diese wunderbare mütterliche Frau. Ich hatte diese Art Frauen bisher nie verstanden. Una wachte jeden Morgen noch vor Sonnenaufgang mit einem Lächeln auf den Lippen auf und konnte manchmal Stunden damit verbringen, die in ihren Armen schlafende Margot einfach nur anzusehen, wiederum selig lächelnd. Manchmal strahlte das goldene Licht um sie so grell, dass ich mich abwenden musste.
Doch dann tauchte ein anderes Licht auf. Wie eine Schlange schlich es sich eines Nachmittags unbemerkt durch die Hintertür herein und legte sich als dunkles, stahlblaues Band um Ben und Una, während sie am Esstisch saßen und mit rosa Muffins, einer einzelnen Kerze und einem Berg von Geschenken Margots ersten Geburtstag feierten. Dieses Licht – eigentlich war es mehr ein Schatten – hatte etwas Intelligentes, Lebendiges an sich. Es bemerkte mich und schnellte zurück, als ich mich vor Margot aufbaute, bewegte sich dann aber langsam auf Una und Ben zu. Da tauchte Unas Schutzengel kurz auf. Doch statt das dunkle Licht aufzuhalten, trat er zur Seite. Wie Efeu rankte das Schattenlicht sich um Bens Bein, wo es dann zu dunklem Staub zerfiel.
Ich ging im Wohnzimmer auf und ab. Ich war wütend. Ich hatte das Gefühl, man hätte mir eine Aufgabe zugeteilt, aber vergessen, mir auch die Fähigkeiten dafür mitzugeben, diese Aufgabe zu erfüllen. Wie sollte ich denn jemanden beschützen, wenn immer wieder irgendwelche Dinge auftauchten, von denen mir keiner was gesagt hatte?
Ben und Una wussten von nichts und feierten unbeschwert weiter Margots Geburtstag. Sie trugen das Kind über die Treppe in den Garten hinunter, wo sie dann direkt vor Bens Kamera die ersten Schritte machte.
Mich beschlich der Gedanke, dass Ben vielleicht recht hatte. Wenn alles so gut klappte, konnte das doch nur die Ruhe vor dem Sturm sein.
Den ganzen Nachmittag ging ich ziellos umher, bis ich schließlich weinte. Ich kannte Margots Kindheit nur zu gut. Was mich viel mehr bedrückte als die Aussicht darauf, die ganze Missbrauchsgeschichte noch einmal zu durchleben, war eigentlich der Umstand, hier und jetzt zu sehen, wie mein Leben auch hätte verlaufen können. Ich beschloss zu handeln. Wenn Margot von Ben und Una adoptiert würde, wäre ihr eine Kindheit in Geborgenheit und Liebe gewiss. Sie würde zu einem ausgeglichenen Menschen heranwachsen, der höchstwahrscheinlich weniger zur Selbstsabotage neigte. In jenem Moment hätte ich meine unsterbliche Seele dafür gegeben, dass Margot in einer Umgebung aufwächst, die ihr das Gefühl gibt, liebenswert zu sein.
Später kam Nandita. Ich erzählte ihr alles: von der Geburt, vom Krankenhaus, von der Lichtschlange. Sie nickte und presste in einer nachdenklichen Geste beide Handflächen gegeneinander.
»Das Licht, das du gesehen hast, ist der Lauf des Schicksals«, erklärte sie. »Seine Farbe weist darauf hin, dass es sich um ein tragisches Schicksal handelt.«
Ich bat sie fortzufahren.
»Jeder Lauf eines Schicksals hat seinen Ursprung in der Entscheidung eines Menschen. In diesem Fall sieht es ganz so aus, als handele es sich um keine gute Entscheidung.«
Ich äußerte meinen Unmut darüber, dass ich Bens Schutzengel noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Auch das konnte Nandita erklären.
»Nur Geduld«, sagte sie. »Schon bald wirst du alles sehen.«
»Aber was mache ich denn jetzt mit diesem Lauf des Schicksals?« Ich sprach die Bezeichnung nur widerwillig aus. Sie verharmloste die Dinge gnadenlos.
»Nichts«, sagte Nan. »Deine Aufgabe besteht darin …«
»… Margot zu beschützen. Ja, ich weiß. Genau das versuche ich ja. Aber ich kann sie schließlich nicht beschützen, wenn ich nicht weiß, was dieses Licht bedeutet, oder?«
Ich fand heraus, was es bedeutete. Kurz bevor es passierte.
Ben arbeitete wie üblich zu Hause, Margot schlief. Der Duft von frisch gebackenem Brot stieg von der Küche nach oben. Er lockte ihn vom Schreibtisch weg, lang genug, um mir Gelegenheit zu geben, einen Blick auf den Fall zu werfen, mit dem er gerade befasst war: ein Terrorist unter Mordanklage. Um den Namen des Terroristen entdeckte ich einen zarten, kreisförmigen Schatten.
Ich bin nicht blöd. Ich kapierte sofort.
Nur, weil es sich um eine menschliche Entscheidung handelte und ich darum angehalten war, es so geschehen zu lassen, konnte ich doch nicht die Hände in den Schoß legen und tatenlos bleiben. Als das Schattenlicht sich wieder herein- und zielgerichtet an Ben und Una hochschlängelte, trampelte ich nach Kräften darauf herum. Es wusste natürlich, dass ich da war, aber dieses Mal zog es sich nicht wieder zurück. Es war jetzt stärker als beim letzten Mal, es war grau wie der Himmel vor einem Wolkenbruch und so greifbar wie ein Gartenschlauch. Doch nichts, was ich tat, ließ es verschwinden. Ich schrie, und es verschwand nicht. Ich legte mich mit dem ganzen Körper darauf und beschwor es, zu sterben, doch es verschwand nicht.
Ben hatte Monate gebraucht, Una zu überzeugen, dass sie Margot auch einmal der Obhut eines anderen Menschen überlassen konnten. Jetzt, da die Adoption in greifbare Nähe gerückt war, wollte er seine Frau gerne ausführen, um mit ihr zu feiern. Lily, die sanftmütige ältere Nachbarin von gegenüber, erklärte sich bereit, ein paar Stunden auf Margot aufzupassen, während Ben und Una bei einem romantischen Abendessen bei Kerzenlicht saßen.
Ich sah, wie der Schatten ihrem Wagen folgte. Er war überhaupt nicht an Margot interessiert. Die Kleine krabbelte fröhlich in Lilys Küche herum, beschäftigte sich mit einem Holzlöffel und einer nackten Barbiepuppe und strahlte jenes sanfte goldene Licht aus, das Una auf sie übertragen hatte.
Als die Autobombe explodierte, sah ich, wie das Licht ein wenig blasser wurde, aber ich sorgte dafür, dass es nicht ganz erlosch. Wenn mir nur so viel von Unas Liebe bliebe, wäre ich zufrieden. Was hatte ich auch für eine Wahl?