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DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN

Als Nan mich das nächste Mal besuchte, stellte ich ihr eine Frage, die mir seit Grogors Besuch auf der Seele gebrannt hatte.

»Was würde passieren, wenn ich den Ausgang von Margots Leben verändern würde?«

Wir befanden uns auf dem Dach von Margots Wohnung, von wo aus wir die zahllosen über die ganze Stadt verteilten und ständig in Bewegung scheinenden orangefarbenen Lichtvierecke sehen konnten, in denen sich hin und wieder die Silhouetten von sich umarmenden, streitenden, einsamen Menschen abzeichneten und an in Bernstein gefangene Insekten erinnerten.

Sie ließ mit der Antwort lange auf sich warten. Und dann blies sie mir den Marsch. »Du weißt ganz genau, dass wir nicht hier sind, um die Symphonie neu zu orchestrieren. Wir sind hier, um sicherzustellen, dass die Symphonie so gespielt wird, wie der Komponist sich das gedacht hat.«

Ich hatte immer wieder Schwierigkeiten, ihren Metaphern zu folgen. »Aber du hattest mir doch früher mal gesagt, dass ich die Teile des Puzzles neu legen kann, oder? Und wenn ich jetzt das ganze Bild ändern, wenn ich ein besseres Bild daraus machen würde?«

»Wer hat dich in letzter Zeit besucht?« Sie war so weise.

»Grogor«, gestand ich.

Sie zuckte zusammen. »Der Dämon, der deine Mama umgebracht hat?«

»Du hast gesagt, Mama sei an ihren Schuldgefühlen gestorben.«

»Hat Grogor auch erwähnt, was der Preis dafür wäre, das Bild zu ändern?«

»Nein.«

Sie warf die Hände hoch in die Luft. »So etwas hat immer seinen Preis. Und genau darum ändern wir nie mehr als das, wozu wir angewiesen sind: Der Navigator bestimmt den Kurs des Flugzeugs, nicht die Passagiere. Aber das weißt du ja schon. Oder?«

Ich nickte hastig. »Natürlich, klar. War nur ’ne Frage.«

»Unsere Aufgabe besteht aus vier Teilen: beobachten, beschützen, aufzeichnen …«

»… lieben«, beendete ich ihren Satz. Ja, das wusste ich alles.

»Nur so aus Neugier«, meldete ich mich nach einer angemessenen Pause wieder zu Wort. »Was ist denn der Preis?«

Sie kniff die Augen zusammen. »Wieso willst du das wissen?«

Ich erklärte ihr – so gut ich das jemandem erklären konnte, der nicht in der schier unerträglichen Lage war, sein eigener Schutzengel zu sein und nonstop bis zur Selbstzerfleischung zu bereuen, zu bereuen, zu bereuen –, dass es ganz einfach Dinge in meiner Vergangenheit gab, die ich gerne besser angepackt hätte. Und dass ich mir etwas Besseres für Theo wünschte. Etwas Besseres als eine lebenslängliche Haftstrafe wegen Mordes.

»Der Preis ist folgender«, sagte sie und streckte mir ihre leere Handfläche entgegen. »Jetzt, in diesem Moment, hast du die Möglichkeit, in den Himmel zu kommen. Es liegt in deiner Hand. Engel sind nämlich nicht nur Diener, musst du wissen. Man gibt uns Arbeit, damit wir beweisen können, dass wir es wert sind, in den Himmel zu kommen. Die meisten von uns haben zu ihren Lebzeiten nicht genug von dieser Arbeit geleistet. Und der Preis ist dieser.« Sie klatschte die andere Hand auf die offene Handfläche der ausgestreckten Hand. »Wenn dein Engeldasein beendet ist, wirst du nicht in den Himmel kommen.«

Ich fing an zu weinen. Ich erzählte ihr, dass ich Toby liebte, aber dass Margot die Scheidung eingereicht hatte. Womit eine Versöhnung mit Toby ja wohl ausgeschlossen war.

Sie seufzte. »Ich habe das auch schon mal durchgemacht. Habe tausend Fragen gestellt, mir Vorwürfe gemacht, Verluste erlitten. Du wirst Gott sehen. Du wirst den Himmel sehen. Und im Himmel ist kein Platz für anderes als Freude. Denk dran.«

Aber jedes Mal, wenn ich die Sehnsucht und den Schmerz in Tobys Gesicht sah, wenn er Theo abholte, jedes Mal, wenn ich Margots Träume von einem Leben an Tobys Seite sah, wie sie weinte und wie ihr Hass gegen Toby sich angesichts seines Verrats immer tiefer in ihr Herz grub, klangen mir Grogors Worte in den Ohren. Bis die Lügen, die hinter ihnen hervorschienen, vollkommen verblassten.

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Sind wir uns je der entscheidenden Augenblicke unseres Lebens bewusst? Jener Augenblicke, die sich in unser Leben pressten und für immer Abdrücke darin hinterließen? Wären wir jemals in der Lage, diese Momente auszumachen, selbst wenn wir zurückkehren und unser Leben noch einmal leben könnten, selbst wenn wir sämtliche kritischen Momente aneinanderreihen könnten wie die Verdächtigen einer Straftat – würden wir sie identifizieren können? Ja, Sir, es ist der Verdächtige mit der scharfen Bemerkung. Ja, genau, Herr Kommissar, er ist esder, der meinem Vater so ähnlich sieht. Aber natürlich erkenne ich ihn wiederdas ist der, der mein Leben in die Gosse gesteuert hat.

Ich hatte den Versuch aufgegeben, die entscheidenden Momente meines Lebens als solche zu erkennen. Margot war Margot, und ich konnte nur das tun, was meine ursprüngliche Aufgabe gewesen war. Es war der letzte, aber wichtigste Teil meiner Mission, der mir so unendlich schwerfiel – Margot zu lieben. Sie machte es mir weiß Gott nicht leicht.

Nur ein Beispiel:

Margot macht sich fertig, um zur Arbeit zu gehen. Und sie hat kolossale Lust auf einen Drink. Sie holt die Flasche hinter dem Kamin hervor und schleudert sie gegen die Wand. Sie ist leer. Überall Glassplitter. Theo wacht auf. Er ist bereits spät dran, er muss zur Schule. Er ist sieben. Von seinem Vater hat er die sanften Augen und die roten Haare geerbt. Von seiner Mutter das Temperament: In null Komma nichts wütend und genauso schnell wieder ganz sanft. Er vergöttert seinen Vater. Er versucht, Geschichten zu schreiben wie sein Dad, ist aber Legastheniker. Er ärgert sich über seine umgedrehten Buchstaben und Rechtschreibfehler.

Margot schreit Theo an, er solle aufstehen. Sie war es, die vergessen hatte, ihn zu wecken, aber auch das vergisst sie, und er krabbelt aus dem Bett und geht ins Badezimmer. Er will pinkeln, doch Margot schubst ihn zur Seite, weil sie hinter dem Spülkasten etwas sucht. Er blafft sie an. Sie blafft zurück. Sie hat rasende Kopfschmerzen, und durch ihn werden sie nur noch schlimmer.

»Du machst sowieso alles nur schlimmer«, hält sie ihm vor. »Immer schon.«

»Was meinst du damit?«, schreit er.

»Was ich meine? Ich meine, mein Leben wäre deutlich angenehmer, wenn es dich nicht gäbe. Mein Leben wäre deutlich angenehmer, wenn du nie geboren worden wärest.«

»Gut. Dann gehe ich eben zu Dad.«

Er zieht sich an und knallt die Tür zu, und nach der Schule kommt er wieder nach Hause, und keiner redet.

Theos entscheidender Moment war nicht der, als Margot verkündete, sie wünschte, er sei nie geboren worden. So was hatte er sich schon lange anhören müssen. Nein. Theos entscheidender Moment ließ noch ein bisschen auf sich warten, aber die Wartezeit begann mit dem Anblick einer verzweifelt nach Wodka suchenden Margot. Obwohl er längst durchschaut hatte, dass seine Mutter eine Säuferin und komplett durchgeknallt war, und obwohl er sich fragte, wieso sein Vater diese Frau überhaupt jemals geheiratet hatte, stellte er sich lange Zeit diese eine Frage: Was ist bloß so toll an diesem Zeug, dass sie so verzweifelt danach sucht?

Die Antwort ließ etwas auf sich warten, aber er fand sie, als er zehn Jahre alt war und eine offene Flasche Jack Daniels vor sich hatte:

Klar.

Und diese Antwort hatte Konsequenzen: Volltrunkenheit. Im Zustand der Volltrunkenheit dann eine Prügelei mit einem Jungen, der jünger war als er. Einem Jungen, der jünger war als er und ein Messer bei sich hatte. Ein Messer, das plötzlich Theo in der Hand hatte. Ein Messer, das im Bauch des anderen Jungen endete.

Das New Yorker Jugendgericht entschied, Theo müsse einen Monat in den Jugendknast. Wo er mit anderen jugendlichen Straftätern zusammen war. Jugendliche Straftäter, die wegen Vergewaltigung und schwerer Körperverletzung einsaßen. Delikte, die sie nun an ihren Mitinsassen ausübten. Unter anderem an Theo.

Das erfuhr ich von James. Als er nach einem Monat mit Theo wiederkam, war seine Miene versteinert, und aus seinen Flügeln floss Blut. Als ich Theo sah, weinte ich mit James. Rund um Theos bronzefarbene, schimmernde Aura hatte sich ein Panzer des Schmerzes gelegt, der so massiv war, dass Theo unter seinem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Als ich genauer hinsah, erkannte ich seltsame Tentakel, die von dem Panzer nach innen reichten, Theos Aura durchschnitten und bis zu seinem Herzen reichten. Wie ein steifer, unnachgiebiger Fallschirm, der um ihn gewickelt und an seiner Seele festgeschnallt war. Es war die schlimmste emotionale Festung, die wir alle je gesehen hatten – Theo machte sich selbst zu einem Gefangenen seines Schmerzes.

Tagelang sprach er weder mit Margot noch mit Toby. Er stellte seine Taschen in seinem Zimmer ab, kramte dann die Steakmesser ganz hinten aus der Küchenschublade hervor und versteckte sie unter seinem Bett. Als der Psychologe anrief, drohte Theo damit, aus dem Fenster zu springen, falls dieser versuchen sollte, mit ihm zu reden.

In jener Nacht sah ich, wie Theos Albträume das ganze Zimmer ausfüllten. Frische Erinnerungen an seine Peiniger im Jugendknast. Zwei Jungs, die ihm mit einem von einem Besucher hereingeschmuggelten Schlagring in den Bauch boxen. Ein weiterer, älterer Junge, der seinen Kopf unter Wasser drückt, bis er bewusstlos wird. Derselbe Junge, der ihm nachts ein Kissen aufs Gesicht drückt. Derselbe Junge, der ihn vergewaltigt.

Und als wäre das nicht schon genug, tanzten zwischen den vielen Albtraumfilmen auch Bilder paralleler Welten herum und gewährten mir Einblicke in Theos Leben als älterer Mann, mit einem über und über tätowierten Körper und Handgelenken, denen man diverse Selbstmordversuche ansehen konnte. Erst war ich erleichtert, als ich bemerkte, dass er als Erwachsener nicht mehr im Gefängnis war. Doch dann sah ich, wie er sich eine Pistole in die Hose steckte, den Kofferraum seines Autos öffnete und einem anderen Mann dabei half, einen schweren Leichensack herauszuhieven. Als der Leichensack zuckte, zog Theo die Waffe, zielte darauf und feuerte los.

Der Panzer, den er entwickelt hatte, war nicht mehr einfach nur eine zweite Haut: Er hatte ihn in eine lebendige Waffe verwandelt.

Was hätten Sie getan? Hätten Sie sich darum geschert, wie hoch der Preis dafür ist, das zu verhindern?

Ich ging hinaus in die frische Nachtluft, ging bis ganz nach oben aufs Dach des Gebäudes und rief Grogor.

Sofort traten seine Füße aus dem Schatten. Mit feierlicher Miene trat Grogor hervor und sah mich aus messerscharfen Augen an.

»Und, warum?«

»Was warum?«

»Warum hast du es dir anders überlegt?«

Ich starrte ihn an. »Ich muss noch mal Margot sein. Nur so lange, bis ich einiges in Ordnung gebracht habe. Du bestimmst den Preis.«

»Ich bestimme den Preis? Bin ich Geschäftsmann, oder was?«

»Du weißt, was ich meine.«

Er kam näher. So nah, dass ich die Adern an seinem Hals sehen konnte. So nah, dass ich die von seinen Wangenknochen ausgehenden Lachfältchen erkennen konnte. Wie bei einem richtigen Menschen.

»Ich glaube, das Wort, das du suchst, lautet ›Bedingungen‹. Um gerade so lange wieder sterblich zu werden, wie es dauert, bis du alles Nötige erledigt hast, musst du einen Stöpsel in die beiden Dinger da stecken.« Er zeigte auf meine Flügel.

»Und wie macht man das?«

Er hielt sich eine Hand vor die Brust und verneigte sich tief. »Es wäre mir eine solche Ehre. Sie müssen versiegelt werden, oder anders gesagt, sie müssen vom Fluss abgeschnitten werden, der ewig vor Gottes Thron fließt, damit Gott nicht sehen kann, was du treibst. Und so bekommst du die Gelegenheit, das zu ändern, was geändert werden muss. Verstanden?«

»Komm schon, Grogor. Was noch?«

Er tat erstaunt und nichtsahnend. Ich fixierte ihn. Er wich meinem Blick aus und zuckte mit den Schultern.

»Je nachdem, wie du es siehst, besteht ein gewisses Risiko.«

»Und das wäre?«

Er wartete kurz. »Was, glaubst du wohl, würde Gott davon halten, wenn einer seiner Engel gegen die Regeln verstieße?«

»Wahrscheinlich gar nichts. Wahrscheinlich würde er mich nicht bei sich haben wollen. Ich käme also vielleicht nicht in den Himmel.«

Er klatschte langsam Beifall. »Du kommst also vielleicht nicht in den Himmel.«

Aber Theo schließlich auch nicht.

Warum sollte ich also noch zögern?