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EIN SAMENKORN
Kurze Zeit später war ich in Vegas. Gaia versuchte, mir die Hochzeit in allen Einzelheiten zu schildern, aber ich sagte ihr – zugegebenermaßen ziemlich grantig –, dass sie sich das sparen könne. Ich konnte mich nur zu gut daran erinnern. Das vor der Kapelle hängende Neonschild mit einem zu Bruch gegangenen Herzen – ein schlechtes Omen. Die kitschigen Plastikblumen und die Aufzugmusik, die aus einer elektrischen Orgel im Eingangsbereich trällerte. Das Toupet des Standesbeamten, das im Wind der Klimaanlage flatterte wie der Flügel eines toten Vogels. Toby, wie er sich durch das Eheversprechen kicherte. Und mein eigenes Zögern, als ich »Ja« sagte und eigentlich viel lieber gefragt hätte, was Ehe eigentlich bedeutet, wie man sicher sein konnte, dass man nun auch den Richtigen heiratete. Wie es sich anfühlte, wenn man wirklich richtig verliebt war, statt – wie es mir so oft passiert war – nur das dringende Bedürfnis zu haben, dass jemand mir ins Gesicht sagte, ich sei nichts wert. Und ich erinnerte mich daran, dass ich dachte, es sei jetzt vielleicht nicht gerade der passendste Augenblick für derartige Gespräche, vielleicht sei es besser, wenn ich mich jetzt an ein schlichtes »Ja« hielte und wir bis an unser Lebensende glücklich waren. Natürlich.
Ein Woche später ging es auf Hochzeitsreise. Margot und Toby kauften zwei Flugtickets nach Newcastle upon Tyne in Nordostengland. Nach der Ankunft raste Margot förmlich durch die kleine Halle und zog Toby hinter sich her, so sehr freute sie sich darauf, Graham zum ersten Mal seit drei Jahren wiederzusehen.
Doch als sie am Ausgang ankamen, war noch immer keine Spur von ihm.
»Meinst du, er hat es vielleicht vergessen?«, fragte Toby. »Komm, wir nehmen einfach eins von den Taxis da drüben.«
Margot schüttelte den Kopf und sah sich besorgt um. »Er hat es nicht vergessen. Auf gar keinen Fall. Ist ja nun nicht so, als hätte er fünfzig Töchter.«
Toby nickte und setzte sich auf seinen Koffer.
Als ich den Schatten durch die Tür am anderen Ende des Terminals eintreten sah, flüsterte ich Margot zu: Da ist er. Sein Anblick schmerzte mich.
Margot drehte sich um und entdeckte die Gestalt an der Tür.
»Ist er das?«, fragte Toby, der ihrem Blick gefolgt war.
»Nein. Papa ist nicht so dünn. Und er hat auch keinen Gehstock. Papa würde auf uns zugerannt kommen.«
Die Gestalt blieb eine Weile stehen und beobachtete Margot. Dann löste sie sich langsam aus dem Schatten und entpuppte sich als humpelnder Mann, als ein abgemagerter, gealterter Graham.
Margot hatte Schwierigkeiten, das Bild von dem langsam schlurfenden Mann mit ihrem Bild von Graham, ihrem Papa, zu vereinen. Ich konnte mich so schmerzhaft deutlich an diese Szene erinnern, dass ich es kaum ertragen konnte, jetzt zuzusehen. Denn Margot wurde mit einer ganzen Reihe von unerwarteten Veränderungen konfrontiert: Graham sah aus, als habe er soeben die Sahara durchquert. Der dicke Bauch, die breiten Schultern und die fleischigen Metzgerhände waren Geschichte. Aus seinem dichten Wuschelhaar war eine Handvoll Salzgras geworden, seine runden, roten Wangen waren eingefallen, und seine Augen – das war das Erschreckendste überhaupt – hatten jeden Glanz und Lebenswillen verloren.
»Papa?«, flüsterte Margot, die immer noch wie angewurzelt dastand.
Toby hörte die Panik in ihrer Stimme. Er sah von Margot zu dem Mann, der mit schwach nach vorn ausgestreckten Armen auf sie zukam, und ging ihm raschen Schrittes entgegen.
»Graham, richtig?«, begrüßte er ihn fröhlich und ergriff seine schlaffe Hand genau in dem Moment, in dem er stolperte und direkt in Tobys Arme fiel.
Margot hielt sich die Hände vors Gesicht. Ganz ruhig, sagte ich. Reiß dich zusammen, Liebes. Dass du losheulst, ist wirklich das Letzte, was Papa jetzt gebrauchen kann. Ja, das waren starke Worte, denn ich war selbst vollkommen entsetzt von seinem Anblick. Und damit meine ich nicht seine körperliche Verfassung, sondern seine Aura: Das sein Herz umgebende Licht war zerrissen in Dutzende von Lichtbändern, die schlapp herunterhingen und nur ganz schwach pulsierten, wie kleine Blutungen aus einer nicht verheilenden Wunde. Über seinem Kopf tobte nicht mehr das energiegeladene Feuerwerk seiner Intelligenz und Kreativität – die Lunten waren feucht, und alles verschwand in einer Art Nebel.
Andererseits war Graham ganz der Alte, indem er Toby anerkennend auf den Rücken klopfte, bevor er ihn zur Seite schob, um Margot zu begrüßen. Sie drückte das tränennasse Gesicht gegen seine Schulter und umarmte ihn fest.
»Papa«, flüsterte sie und sog seinen Geruch ein.
Graham antwortete nicht. Er schluchzte.
Als sie bei Graham zu Hause angekommen waren, ging Margot sofort ins Bett, um den Jetlag zu überwinden. Toby inspizierte unterdessen die Romane, die Grahams Bücherregale füllten und mit dem Namen Lewis Sharpe und einem Foto von Graham versehen waren. Gaia, ich, Bonnie und die beiden Männer saßen am tanzenden Kaminfeuer. Erst schwiegen die beiden eine Weile, dann ergriff Graham das Wort:
»Wie hast du sie dazu gebracht, Ja zu sagen?«
Toby hustete kurz in seine Faust. »Ach, Sie meinen, wie ich um ihre Hand angehalten habe? Also, ich holte den Ring raus, sozusagen als Bestechung, und dann stellte ich die Frage der Fragen …«
Graham lächelte schwach. Er beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Knien auf. Mir fiel auf, dass sein rechter Mundwinkel etwas schräg hing. »Nein. Was ich meine, ist Margot. Es ist doch leichter, einen Kolibri mit dem Lasso einzufangen, als aus Margot eine Ehefrau zu machen. So hat meine Frau das immer gesagt. Margot ist immer der reinste Wildfang gewesen. Was hat sich verändert?«
Toby dachte eine Weile nach. Ich sah die Fotos von Irina und Margot auf dem Kaminsims und wurde traurig. Ich hatte nicht gewusst, dass Papa mich so sah.
»Na ja, wissen Sie, Sir«, sagte Toby und kratzte sich den Bart. »Ich weiß schon, dass Margot so wirken kann. Und da treffen Sie den Nagel wirklich auf den Kopf. Aber ich glaube, dass sie sich ganz tief in ihrem Herzen genau das mehr als alles andere auf der Welt wünscht. Sie gibt sich so flatterhaft und unverbindlich, weil das Leben sie gelehrt hat, dass feste Bindungen Schmerzen bedeuten.«
Graham nickte. Bedächtig griff er nach der Whiskyflasche auf dem Couchtisch vor sich und schenkte ihnen beiden ein Glas ein.
»Ich möchte dir etwas Wichtiges sagen«, kündigte Graham leise an.
Alarmiert von Grahams ernstem Ton, setzte Toby sich ihm gegenüber und nickte.
Graham trank sein Glas in einem Zug aus und stellte es unsanft wieder ab. Dann blickte er Toby direkt in die Augen. »Ich sterbe«, sagte er.
Es entstand eine lange Pause, in der Toby nur langsam die Bedeutung dieser Worte begriff. »Ich bin … das ist … Das tut mir wirklich sehr leid, Sir.«
Graham winkte ab. »Das war es noch nicht, was ich dir sagen wollte. Das war nur das Vorwort.« Er räusperte sich. »Ich sterbe, und ich habe auch überhaupt nichts dagegen. Meine Frau ist auch schon irgendwo da draußen. Ich freue mich darauf, sie wiederzusehen. Mir geht es um Margot.« Er rutschte in seinem Sessel ganz bis nach vorne, so dicht an Toby heran, dass Toby das Kaminfeuer in den Augen des alten Mannes tanzen sehen konnte. »Ich kann erst sterben, wenn ich weiß, dass du für mich auf Margot aufpassen wirst.«
Toby lehnte sich zurück und begriff die Sorge in Grahams Blick. Jetzt war alles ganz klar. Er kratzte sich am Bart und lächelte. Die Bürde, die Grahams traurige Nachricht bedeutete, wurde ihm durch ein überwältigendes Gefühl der Freude erleichtert. Er freute sich, konnte ich sehen, dass Graham Margot so sehr liebte. Er freute sich, dass Graham ihm vertraute. Dass er ihm das Wertvollste, das er besaß, anvertraute: seine einzige Tochter.
Dann, endlich, gab er ihm die einzige Antwort, für die er voll und ganz einstehen konnte:
»Ich werde sie nie mehr loslassen. Versprochen.«
Das Feuer im Kamin erstarb. Graham lächelte angesichts von Tobys Wortwahl, lehnte sich im Sessel zurück und schlief sofort ein.
Als Toby später neben Margot im Bett lag und aufgrund der Zeitverschiebung nicht schlafen konnte, beobachtete er sie und dachte über Grahams Ansinnen nach. Er überlegte sich bereits, wie er es ihr beibringen würde. Dann dachte er an das, was Graham über Margot gesagt hatte. Es ist leichter, einen Kolibri mit dem Lasso einzufangen, als aus Margot eine Ehefrau zu machen. Er kicherte. Und dann, wie aus dem Nichts, baute sich eine Eiswand um ihn herum auf. Gaia und ich sahen einander an. Die Wand war dicker als je zuvor, hart und gläsern. Wir beobachteten Toby dabei, wie er Margot betrachtete, und mir wurde klar, dass er ein verdammt großes Risiko einging, als er mich heiratete. Tobys größte, lähmende Angst war, mich zu verlieren, und zwar nicht nur aufgrund des Versprechens, das er Graham gegeben hatte. Ich habe schon immer gewusst, dass er sehr früh seine Mutter verloren hatte, aber erst jetzt sah ich, dass dieser Verlust sein ganzes Leben bis in die letzte Faser durchdrungen hatte. Alles, woran er glaubte, war davon bestimmt. Alle seine Ansichten beruhten darauf. Was, wenn Margot ihn tatsächlich verließ? Was, wenn alles irgendwann vorbei war? Was dann?
Von da an konzentrierte ich mich ausschließlich darauf, dafür zu sorgen, dass diese Beziehung funktionierte. Ich würde jeden Tag, und wenn es sein müsste den ganzen Tag, das Lied der Seelen singen. Ich würde ihr Tobys Vorzüge ins Ohr flüstern und ihr sagen, was sie tun musste, damit diese Ehe nicht zur Hölle wurde, sondern der Himmel auf Erden.
Aber was erzähle ich? Woher wollte ich wissen, was zu tun war?
Eine Woche später reisten sie wieder ab. Margot verabschiedete sich nur widerwillig und tränenreich von ihrem Papa – allerdings nicht am Flughafen, sondern bei ihm zu Hause. Am Flughafen wirkte er inmitten der vielen Menschen und des Trubels so klein und verloren – zu Hause in der gewohnten Umgebung kam er ihr weniger gebrochen vor und viel lebendiger.
Als Margot und Toby nach New York zurückkehrten, warteten ein paar Überraschungen auf sie: Toby hatte die Stelle an der Universität nicht bekommen, und seine Seminare waren abgesagt worden. Er wurde nicht mehr gebraucht. Zudem war seine Wohnung über dem Café Teil des Lokals geworden. Was einst sein Wohnzimmer war, stand nun voller Esstische und Speisekarten. Tobys Sachen hatte man in Pappkartons geworfen und in der Küche neben der Fleisch-Gefriertruhe gestapelt, sodass seine Bücher und anderen Unterlagen jetzt für immer nach toter Kuh riechen würden.
Sie hatten zwei Möglichkeiten: Entweder zog Toby bei Margot über dem Buchladen ein, oder sie zogen beide zu Sonya. Diese hatte ihnen die oberste Etage ihres Hauses angeboten, bis Toby Arbeit fände. Sie schafften Tobys Sachen zu Sonya und fühlten sich eine Zeit lang auch richtig wohl. Sonya ließ die beiden in Ruhe. Margot kellnerte weiter im Irish Pub und sparte heimlich alle 25-Cent-Stücke für ein weiteres Flugticket nach England. Toby war immer bis zum Morgengrauen wach, rauchte auf dem Balkon, beobachtete die Leute in den gegenüberliegenden Häusern und quälte sich mit dem schlimmsten der jüngsten Ereignisse – seiner Schreibblockade.
Der junge Kerl fing Margot auf dem Weg zur Arbeit ab. Sie hatte vor Kurzem die Uni geschmissen – erzählte aber jedem, sie pausiere nur ein Jahr, und redete sich das wohl auch selbst ein – und arbeitete sieben Tage die Woche, um eine Anzahlung für eine Wohnung zusammenzusparen. Aber sie fühlte sich einsam, war deprimiert und hatte Heimweh. Toby versuchte, seinen Roman fertig zu schreiben – ein literarisches Werk in Briefform über einen tragischen Helden, der es nicht schafft, seine Versagensangst zu überwinden –, gleichzeitig suchte er Arbeit. Selbst am Hafen versuchte er es. Die Typen in den schmutzigen Overalls sahen ihn nur einmal kurz an und sagten ihm dann, er solle sich verpfeifen. Sie brauchten keinen, der Essays schrieb. Sie brauchten jemanden, der vierzig Kilo schwere Kohlesäcke von A nach B schleppen konnte, und das hundertmal am Tag.
Und darum hatten Luciana und Pui das Auftauchen dieses jungen Mannes perfekt gewählt. O ja, die beiden gab es noch, trotz Sonyas neuerlicher Bekehrung zu Religion und einer gesunden Lebensweise. Sie war jetzt Buddhistin und ernährte sich vegan. Zwar nervte sie mit ihrem ständigen missionarischen Eifer (»Wusstest du nicht, dass Milch Krebs verursacht?«), aber sie war jetzt glücklicher und damit ein viel besserer Einfluss für Margot. Ich hatte den Groll fast vergessen, den ich so viele Jahre gegen sie gehegt hatte. Den Groll, der jetzt in Margot aufkeimen sollte.
Das Samenkorn dieses Grolls lag in der Hand jenes jungen Mannes. Nur eine Probe von dem Zeug, das er sonst immer Sonya verkauft hatte, sagte er. Wenn Margot es mochte, wenn es ihr was brachte, würde er in der folgenden Woche wiederkommen und ihr mehr davon zu einem Sonderpreis verkaufen. Margot sah ihn von oben bis unten an. Er konnte nicht älter als siebzehn sein. Er hatte nichts wirklich Verschlagenes an sich – wobei die Sache aus meiner Perspektive schon wieder ganz anders aussah – und wirkte eigentlich ausgesprochen sympathisch. »Und wie nennt sich das?«, fragte sie. »Das Zeug?« Er lächelte. »Lysergsäurediethylamid«, sagte er. »Du kannst es auch LSD oder Acid nennen.« Und damit verabschiedete er sich.
Ich knetete meine Hände und hatte Schwierigkeiten, mich an diese Szene zu erinnern. Das Problem mit Drogen ist, dass sie einem das Hirn vernebeln. Ich beschloss zu beten und redete dann ein ernstes Wörtchen mit ihr. Margot, sagte ich. Das Zeug da ist giftig. Das willst du gar nicht in deinem Körper haben. Es wird dein Leben ruinieren. Wirklich eine Schande, dass die elementarsten Lebensweisheiten wie lahme Allgemeinplätze daherkommen.
Sie hörte mich nicht. Als der Junge also in der folgenden Woche wieder auftauchte und in der Woche darauf auch und in der nächsten auch, kaufte Margot immer mehr von seinen Samenkörnern. Und sie keimten, schlugen Wurzeln und trieben verhängnisvolle Blüten.
Tobys Buch war fast fertig. Er hatte seine Schreibblockade überwunden, indem er sich tage- und nächtelang in dem kleinen Raum neben ihrem gemeinsamen Schlafzimmer buchstäblich verbarrikadiert und auf Grahams alte Schreibmaschine eingehackt hatte. Bis jetzt war ihm Margots Veränderung noch nicht aufgefallen. Er tippte das Wort ENDE – das tat er immer, auch wenn der Verlag es wieder strich –, stellte sich auf seinen Stuhl und boxte in die Luft. Er schloss alles um sich herum wieder auf und verkündete:
»Margot? Margot, Liebling! Ich bin fertig! Lass uns was essen!«
Er fand sie im Wohnzimmer, wo sie auf und ab tigerte, Bücher aus den Regalen zog und auf den Boden fallen ließ, Kissen vom Sofa zerrte, Schuhe aufhob und sie umgekehrt auf den Boden klopfte, als suche sie nach etwas in ihnen. Sie war umgeben von einer Schneelandschaft aus weißen Federn, die aus der aufgeschnittenen Matratze quollen.
»Margot?«
Sie ignorierte ihn und suchte weiter.
»Margot, was ist los? Margot!« Er packte sie bei den Schultern und sah sie an. »Schatz, was suchst du denn?«
Den Verstand, wollte ich sagen, denn den hat sie komplett verloren – aber Witze waren jetzt gerade nicht angebracht.
Toby konnte es nicht erkennen – er hatte in seinem Leben noch nicht einmal einen Joint geraucht –, aber Margot war bereits voll abhängig, und es würde, das wusste ich nur zu gut, Jahre dauern, sie da wieder herauszuholen. Und genau so sah es aus. Ganz ähnlich der Lichtschlange, die ich bei Una und Ben beobachtet hatte, wand sich Margots Sucht ganz eng um ihr Herz und schlängelte sich dann weiter zu den anderen Organen, bis alle Adern und sämtliche Blutkörperchen den Stoff brauchten.
Margot starrte Toby leeren Blickes an.
»Hau bloß ab.«
Er ließ sie los. Verstört und verletzt sah er sie an.
»Sag mir doch einfach, was du suchst, dann helfe ich dir dabei.«
»Nein, geht nicht. Er kommt gleich.«
Pause.
»Wer kommt gleich?«
»Weiß nicht, wie er heißt.«
»Und warum kommt er? Kommt er hierher? Margot?«
Er wollte sie wieder packen, aber sie stieß ihn von sich und rannte nach unten. Toby, Gaia und ich folgten ihr.
Sonya war in der Küche, wo sie Misosuppe trank und las. Margot marschierte auf sie zu und streckte die Hand aus, Handfläche nach oben.
»Ich brauche hundert Dollar.« Das war in den Achtzigern eine Stange Geld.
Sonya starrte sie an. Erst dachte sie, Margot würde Scherze machen. Aber dann sah sie Margot in die Augen, bemerkte den Schweiß, der ihr übers Gesicht lief, und dass ihre Hand zitterte. Sie stellte die Suppe ab und erhob sich.
»Margie, was hast du genommen, Liebes? Du bist doch gar nicht du selbst …«
Toby mischte sich ein. »Ich glaube, sie ist krank. Vielleicht hat sie Gelbfieber, das geht doch gerade rum.«
Sonya bedeutete ihm, den Mund zu halten. »Das ist kein Gelbfieber, Süßer.«
»Süßer?« Margot bekam eine Hardcore-Paranoia. Sie sah von Toby zu Sonya. Sie hielten sie davon ab, das zu bekommen, was sie wollte. Sie hielten zusammen. Sie wollten sie hier raus haben. Logisch. Die hatten was zusammen.
»Hast du mit ihr geschlafen?« Margot an Toby.
»Wir müssen sie zum Arzt bringen, und zwar schnell.« Sonya an Toby.
»Würde mir bitte mal jemand erklären, was hier eigentlich los ist?« Toby an alle.
Da klopfte es an die Tür. Ah, der gute siebzehnjährige Drogenhändler. Hereinspaziert.
Sonya marschierte quer durchs Wohnzimmer und machte die Tür auf. Sie erkannte ihn sofort.
»Patrick?«
»Hallo.« Er sah an ihr vorbei zu Margot.
»Ich hab euch doch schon gesagt, dass ich keine … Willst du etwa zu Margot?«
Patrick dachte kurz nach. »Äh. Nein?«
Toby ließ Margot los und folgte Sonya.
»Wer ist der Typ? Was will er von Margot?«
Patrick hatte etwas in der Hand.
»Zeig mir, was du da hast!«, rief Sonya, und ehe er es zurück in die Tasche stecken konnte, hatte Toby schon seine Hand geschnappt.
Darin lag ein goldenes Medaillon.
»Ist das für Margot?«, fragte Toby leise. Er sah sich nach Margot um. Sein Atem ging stoßweise, und die Eiswand baute sich wieder um ihn herum auf.
»Nein, das ist meins«, sagte Sonya und nahm Patrick das Medaillon ab. »Guck.« Sie klappte es auf und zeigte Toby die beiden kleinen Fotos von ihren Eltern. »Wie kommst du dazu, Patrick? Hast du es mir etwa geklaut?«
Patrick stotterte. »Es ist viel weniger wert, als sie behauptet hat«, sagte er und zeigte auf Margot. Und dann nahm er die Beine in die Hand.
Wunderbar. Meine absolute Sternstunde. Natürlich konnte ich mich an all das überhaupt nicht erinnern. Ich war ja jenseits von Gut und Böse. Margot lief in einem akkuraten Kreis um den Bärenfellteppich vor dem Kamin herum, wedelte mit den Händen und heulte. Toby ging auf sie zu.
»Schatz? Margot?« Sie blieb stehen und sah ihn an. »Es tut mir leid, Liebling. Ich bin schuld. Ich habe mich zu lange mit meinem blöden Buch beschäftigt …« Langsam hob er die Hände und legte sie vorsichtig um ihr Gesicht. Ihm kamen die Tränen. »Ich werd’s wiedergutmachen, versprochen.«
Er wollte sie küssen, doch sie schubste ihn unsanft von sich und ging zu Sonya.
»Was fällt dir eigentlich ein, einfach mit den Männern anderer Leute ins Bett zu gehen!«, schrie sie sie an, holte mit der rechten Hand aus und donnerte sie ihr mit aller Wucht ins Gesicht.
Sonya taumelte rückwärts und hielt sich die schmerzende Wange. Sie betastete ihre Lippe. Frisches Blut. Margot hatte sie mit ihrem Ehering erwischt.
»Ich will, dass ihr hier auszieht.« Sie sah zu Toby.
Er nickte. »Aber zuerst müssen wir zu einem Arzt, bitte.«
Jetzt lösten Luciana und Pui sich aus ihren dunklen Ecken und schlichen um Margot herum wie Wölfe. Doch wie Kätzchen schnurrten sie ihr zu:
Er hat Sonya schon immer lieber gemocht als dich. Das war doch der einzige Grund, weshalb er dich geheiratet hat! Um in Sonyas Nähe sein zu können. Die schöne, lustige Sonya. So anders als du.
Ich überlegte einen Moment, gegen die beiden zu kämpfen, aber dann verspürte ich ein bereits bekanntes Gefühl in den Flügeln, eine Stimme floss über den in mich gerichteten Strom in meinen Kopf: Leg ihr die Hand auf den Kopf und denk an Toby. Also stellte ich mich direkt vor Margot, legte ihr die Hand auf die Stirn und ließ alle schönen Erinnerungen an sie und Toby fließen. Zum Beispiel an die Rudertour auf dem Hudson, an die Autofahrt nach Vegas, an sein Versprechen, ihr immer treu zu sein, an das Gefühl tief in ihrem Herzen, dass er sich daran halten würde.
Margot sank in die Knie und wurde von heftigen, tränenlosen Schluchzern geschüttelt.
Sonya kramte in der Küche herum und kam wenig später mit einem Glas Wasser und einer Xanax wieder. »Gib ihr das«, trug sie Toby auf.
»Nein!«, rief er. »Nicht noch mehr Drogen!«
Sie drückte sie ihm in die Hand. »Damit kann sie schlafen, während du überlegst, was zu tun ist. Sie sieht aus, als hätte sie seit Tagen kein Auge zugemacht.«
Da hatte sie recht. Margot hatte seit Tagen nicht geschlafen. Und Toby hatte es gar nicht mitbekommen.
Widerwillig gab er Margot die Tablette.
Kurze Zeit später lag sie zusammengerollt auf dem Sofa und schlief tief und fest.
Sonya kam aus der Küche und reichte Toby einen Becher Kaffee. »Tut mir leid, Toby, aber ich werde nicht zulassen, dass Margot sich an meinen Sachen vergreift. Das hier hat meiner Mutter gehört.« Sie hielt das Medaillon hoch.
Toby ließ sich neben Margot aufs Sofa sinken und weinte leise, während Sonya ihm die Wirkung der Droge erklärte und ihm sagte, was er jetzt tun müsse und wie sie Margot helfen könnten, davon loszukommen. Und zum ersten Mal dachte ich: Sie war eine echte Freundin. Die treueste von allen.
Ich konnte gut verstehen, dass sie an ihrer Forderung festhielt und darauf bestand, dass Toby und Margot auszogen, nachdem Margot zwei Wochen im Bett verbracht hatte. Zwei Wochen ohne Drogen. Sie versprach, dass sie befreundet bleiben würden. Sie half ihnen sogar beim Umzug in die neue Wohnung auf der 10th Avenue.
Nach diesem Absturz glich der Weg zurück nach oben einer Kletterpartie eine steile Felswand hinauf – und zwar ohne Seil und Haken. Margot weigerte sich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie setzte auf einen Entzug der alten Schule: im Bett, bei abgeschlossenen Türen, umgeben von Büchern, Wasser und Kissen, in die sie hineinbrüllen konnte, wenn die Entzugsschmerzen unerträglich wurden. Toby sorgte ganz ruhig für eine Routine aus regelmäßiger Versorgung mit Kaffee und Kurzberichten aus der Welt da draußen. Pat Tabler wechselt von den Yankees zu den Cubs. Reagan hat heute die erste weibliche Richterin in den Supreme Court berufen. Simon and Garfunkel haben im Central Park ein Benefizkonzert gegeben. Nein, ich war nicht da. Ich wollte doch sicher sein, dass du immer genug Kaffee hast.
Als Margot sich langsam wieder aus dem Schlafzimmer und ihrer Abhängigkeit herauswagte, fand Toby Arbeit an einem Gymnasium in der Nähe. Auf Gaias Geheiß fand er auch eine Aufgabe für Margot: Sie sollte sein neues Buch redigieren, bevor er es an diverse Verlage schickte. Margot blühte auf. Und ich auch. Es war ein Genuss, den Entwurf seines ersten Buches zu lesen – und es wunderte mich nicht, dass sich die erste Auflage binnen zwei Monaten verkaufte. Ich schaute Margot über die Schulter, machte Vorschläge, schärfte ihren Blick für einen noch geschliffeneren Text, ließ sie jede Szene, jede Figur hinterfragen. Und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit hörte sie auf mich.
Und dann kam ein Morgen, an den ich mich erinnerte. Schulkinder, die mit Kürbis- und Geistermasken durch die Straßen rannten. Herbstlaub, das sich auf der Außentreppe sammelte. Du bist schwanger, verriet ich Margot. Nein, bin ich nicht, dachte sie. Na, dann mach doch mal einen Test, sagte ich. Wirst schon sehen.