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DAS LIED DER SEELEN

Ich fühlte mich, als bewegte ich mich in einem Traum.

Ich durchlebte meine eigenen Erinnerungen an die Zeit, als ich vier, fünf und sechs Jahre alt war, Erinnerungen, die von kindlichen Gefühlen durchdrungen waren – wachgerüttelt durch dieses Wiedererleben und viel zu verwoben mit meinem Verhalten und meinen Ansichten im späteren Leben, als dass sie isoliert als Erinnerungen hätten existieren können.

Mit anderen Worten: Jedes Mal, wenn Margot von Hilda verprügelt, von älteren Kindern geschlagen oder von den anderen Kindern in ihrem Schlafsaal ausgegrenzt wurde, bis sie sich mutterseelenallein fühlte, verband sich der Schmerz darüber, sie so zu sehen, mit der noch viel tiefer sitzenden Pein meiner Erinnerungen. Und das war manchmal schlicht unerträglich.

Wir hörten Geschichten von Engeln, deren Schützlinge Pädophile waren, Serienmörder, Terroristen, und die deren Vergehen quasi täglich schlucken mussten. Beobachten. Beschützen. Aufzeichnen. Lieben. Engel, die ihr sterbliches Leben im Dienste der Kirche verbracht hatten oder als grenzenlos optimistische Hausfrauen, die sich in ihrem unschuldigen, nach Apfelkuchen duftenden Blümchenzuhause um ihre Kinder und Kindeskinder kümmerten, wurden nun mit einem weiteren Leben konfrontiert, in dem sie Drogenhändlern und Zuhältern in düstere Heroinschuppen folgen und dabei zusehen mussten, wie sie ungewollte Babys abtrieben. Gleichzeitig mussten sie diese Wesen vor allem beschützen, was ihre menschlichen Entscheidungen geändert hätte. Mussten sie lieben.

Warum?

Darum, lautete Nans Antwort. Gott lässt keines seiner Kinder allein.

Mir kam meine eigene Situation in jedem Fall schlimmer vor als alle anderen Geschichten, die sich die Engel am St.Anthonys so erzählten. Die waren doch gar nichts im Vergleich zu einem Dasein, bei dem schrecklichste Erinnerungen an die Vergangenheit untrennbar mit der Gegenwart verwoben waren. Sie waren nichts dagegen, dass mir die Trauer jeden Tag die Luft abschnürte. Ich wusste ja schon, worauf das alles hinauslaufen würde. Und ich konnte nichts daran ändern.

In meinen Augen waren wir nichts weiter als Teil einer Lotterie. Ich bombardierte Nan mit Fragen. Wie wurden wir unseren jeweiligen Schützlingen zugeteilt? Wieso bin ich ausgerechnet Margots, mein eigener Schutzengel? Hatte es damit zu tun, wie ich gestorben war?

Ich nahm Sheren in die Zange und fragte sie, wie sie gestorben sei.

»Fünfzig Aspirin und eine Flasche Sherry.«

»Das heißt, Selbstmörder kehren als ihre eigenen Schutzengel zurück? Willst du damit sagen, dass ich mich umgebracht habe?«

»Nicht unbedingt.«

»Was denn dann?«

»Ich habe mal einen Engel kennengelernt, der das Gleiche durchmachte wie wir beiden. Und er sagte, es hätte damit zu tun, wie wir gelebt haben.«

»Und was soll das heißen?«

Sie zeigte auf Hilda, die gerade einem vierjährigen Mädchen, das ins Bett gemacht hatte, einen ihrer arthritischen Finger ins Gesicht bohrte.

»Du kennst doch das Lied der Seelen, oder?«

»Das was?«

Sheren schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Ich kam mir ziemlich blöd vor.

»Das ist der Unterschied zwischen uns und anderen Engeln. Wenn man sein eigenes sterbliches Selbst beschützt, verfügt man über erweiterte Fähigkeiten, diesen Menschen zu beeinflussen und zu beschützen. Guck mal zu.«

Sie ging auf Hilda zu. Über ihrem Kopf zirkulierten schon die ersten Gedanken an die Gruft – sie hatte vor, das Mädchen dorthin zu verbannen. Sheren stellte sich neben Hilda und fing an zu singen. Die Melodie klang wie ein traditionelles schottisches Wiegenlied, den Text konnte ich allerdings nicht verstehen, der erklang in einer mir fremden Sprache. Langsam, rätselhaft, wunderschön. Sherens Stimme war sehr klangvoll und laut, und sie hob sie immer mehr an, bis der Fußboden vibrierte. Während sie sang, breiteten sich Sherens Flügel aus und umfingen Hilda. Ihre Auren nahmen die gleiche lila Färbung an. Hilda hörte auf, an die Gruft zu denken. Stattdessen schickte sie das Mädchen ohne Abendessen zu Bett.

Ich ging auf Sheren zu.

»Wo hast du das gelernt?«

»Das Lied der Seelen ist jede Art von Musik, die dich und Margot in Einklang bringt. Musik, die euch auf spiritueller Ebene verbindet, ganz gleich, in welchem Lebensalter Margot sich befindet. An welches Lied aus deiner Kindheit erinnerst du dich ganz besonders? Welche Musik war von Bedeutung für dich?«

Ich dachte scharf nach. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, waren Kinderlieder – Gott weiß, wie endlos viele und oft ich ihr vorgesungen habe, um sie zu trösten, als sie bei Sally und Padraig war –, doch dann fiel mir etwas ein, das Toby immer sang, wenn ich mit dem Schreiben nicht recht vorankam. Es war ein irisches Lied. She Moved Through the Fair. Und dann fiel mir ein, dass auch Una es Margot vorgesungen hatte.

»Okay«, sagte ich. »Und wie funktioniert das?«

»Das Lied der Seelen verbindet deinen Willen mit Margots. Du bist immer noch Margot, du heißt nur anders und hast eine andere Form angenommen. Aber euer Wille wird eins sein, eure Entscheidungen werden eins sein.«

»Das heißt, ich kann sie dazu bringen, anders zu entscheiden?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht immer. Schließlich ist sie es, die in einem menschlichen Körper steckt. Sie hat die Oberhand. Du kannst sie nur beeinflussen.«

Ich hatte Kopfschmerzen. Ich machte mich auf den Weg zu Margot. Lied der Seelen, so so. Vielleicht konnte ich sie ja komplett hier heraussingen?

Im Alter von acht Jahren war Margot ihren Altersgenossen bereits haushoch überlegen. Sie wusste, wie alt sie war, weil irgendein Lehrer jedes Jahr am 10. Juli knapp verkündete, dass sie nun ein Jahr älter geworden sei. Das war’s. Doch Margot ging problemlos für elf oder zwölf Jahre durch, und darum wurde jeder Quatsch, der für eine Achtjährige normal war, entsprechend bestraft. Von den anderen Achtjährigen wollte sich niemand mit ihr anfreunden, und die Zwölfjährigen wollten auch nichts von ihr wissen. Ach, halt, Moment, das stimmt nicht ganz. Zwei der zwölfjährigen Mädchen, Maggie und Edie, interessierten sich für Margot. Sie waren nämlich neidisch auf ihre langen weißblonden Haare. Sie sorgten dafür, dass das Haar sich regelmäßig rot färbte, indem sie Margot die Nase blutig schlugen, oder verschafften Margot so dunkle Veilchen, dass sie aussah wie ein Panda.

Ich hätte die beiden am liebsten ersäuft. Ich hätte am liebsten das riesige Bücherregal aus massiver Eiche, das so imposant ganz oben am Treppengeländer stand, umgekippt und ihnen auf den Kopf fallen lassen. Nicht nur, weil ich es war, die nachts die Arme um Margot schlang, wenn sie lautlos in ihrem Bett schluchzte, und auch nicht nur, weil ich dabei zusehen musste, wie Maggie sich auf Margot setzte und sie festhielt, während Edie ihr ins Gesicht trat, sondern ganz einfach, weil ich mich daran erinnerte. Ich war nicht vollkommen hilflos – einmal sorgte ich immerhin dafür, dass ein ganz besonders perfider Tritt gegen Margots Kopf ihr nicht das Rückgrat brach – aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich besonders viel tun konnte, geschweige denn, dass ich Rache nehmen konnte.

Wie eine aufgebrachte Mutter zankte ich mit Maggies und Edies Engeln. Beide erklärten mir die Hintergründe für die Gewalttätigkeit der Mädchen. Missbrauch hier, Folter da. Ich winkte ab, wollte ihre Ausreden nicht hören. Ist mir doch egal. Haltet sie auf, bevor ich es tue. Clio und Priya – so hießen die Engel – tauschten vielsagende Blicke. Als Maggie eine Nacht in der Gruft verbrachte, weil sie Widerworte gegeben hatte, dachte sie plötzlich an die vielen Verunglimpfungen, die sie Margot zugefügt hatte, und empfand nie da gewesene Reue. Edie träumte, dass ihre Großmutter – die Priya einst gewesen war – sie ermahnte, ein liebes Mädchen zu sein. Eine Zeitlang blieb Margot verschont von Wunden und blauen Flecken.

Bis ich das Lied der Seelen sang.

Ich hatte erspürt, dass eine gute, fleißige Familie in das nächstgelegene Dorf gezogen war. Ich hatte eine Vision von ihnen gehabt: Der Mann, Will, war Anfang vierzig und Handelsreisender. Seine Frau Gina hatte viele Jahre als Klavierlehrerin gearbeitet, bis ihr Sohn Todd geboren wurde. Sie waren von Exeter hierher in den Norden gezogen, damit sie sich um Ginas älter werdende Eltern kümmern konnten. Ich glaubte, dass sie eine gute Familie für Margot wären. Und was noch viel wichtiger war: Ich glaubte, dass sie sie aufnehmen würden.

Das Lied der Seelen galt mir als Beweis für das, was ich bereits vermutet hatte: Margots Leben, mein Leben, war nicht in Stein gemeißelt. Wenn ich Margot dazu bewegen könnte, eine andere Entscheidung zu treffen, könnten wir St.Anthonys vielleicht schon bald hinter uns lassen.

An jenem Abend wartete ich, bis alle Lichter aus waren, und nahm dann meine etwas rostig gewordene Stimme in Betrieb. Ich stand auf und vergewisserte mich unsicher, dass die andern Engel nicht zusahen, wie ich tief einatmete und anfing zu singen. My young love said to me, my mother wont mind … Margot war kurz davor, einzuschlafen, zappelte auf der klumpigen Matratze herum und legte sich auf ihren linken Arm. And my father wont slight you for your lack of kind … Ich hielt den Ton ganz gut und sang ein wenig lauter. And she stepped away from me, And this she did say: It will not be long, love, until our wedding day. Margot schlug die Augen auf.

Ich spürte, wie die Wasserfälle auf meinem Rücken sich genau so erhoben, wie Sherens Flügel sich Regenwänden gleich ausgebreitet hatten. Ich sah, wie Margots Aura sich weitete und eine intensivere Färbung annahm. Sie blickte direkt in meine Richtung, konnte mich aber weder sehen noch hören. Sie konnte lediglich spüren, dass irgendetwas tief in ihr drin anders war. Ich sang lauter, bis alle Engel im Schlafsaal zu mir hersahen. »As she stepped away from me, and she moved through the fair …« Jetzt konnte ich Margots Herz sehen, gestärkt und geheilt. Und dann sah ich ihre Seele, jenen Kreis weißen Lichts, fast wie ein Ei, in dem sich nur ein einziger Wunsch befand: die Sehnsucht nach einer Mutter.

Während ich sang, konzentrierte ich mich auf die Familie, die ich im Dorf gesehen hatte. Ich schmiedete im Geist einen Fluchtplan mit Anweisungen für Margot:

Du musst das Gerücht verbreiten, dass du eine Nacht in der Gruft verbringst. Dann versteckst du dich bis zum Morgengrauen im Heizungskeller. Kurz bevor der Lieferwagen abfährt, schleichst du dich hinaus in den Hof, steigst hinten ein und versteckst dich unter den Kohlesäcken. Wenn der Lieferwagen abbremst, um über das Schafgitter am Ortseingang zu fahren, springst du wieder ab und läufst zu dem Haus mit der himmelblauen Tür. Die Menschen dort werden dich aufnehmen.

Als ich aufhörte zu singen, saß Margot aufrecht im Bett. Sie hatte die knochigen Knie an die Brust gezogen und dachte nach. Ich konnte ihre Gedanken sehen: Sie hatte meinen Fluchtplan im Kopf und wog ihn ab. Ja, dachte sie. Der Lieferwagen kommt jeden Donnerstagmorgen um fünf – übermorgen. Sie hatte ihn schon ein paar Mal gesehen. Der alte Hugh, der Fahrer, war auf einem Ohr taub. Das würde sie ausnutzen.

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Gleich am nächsten Morgen vertraute sie Tilly, der Elfjährigen, die im Bett über ihr schlief, an, dass sie abends in die Gruft müsse.

»Was? Wieso das denn?«

Darüber hatte Margot sich noch keine Gedanken gemacht. »Äh, weil ich Miss Marx gegenüber eine Grimasse gezogen habe.«

»Wow! Du traust dich was! Das muss ich unbedingt den anderen erzählen!«

Bereits beim Mittagessen tuschelte es an jedem Tisch. Die Geschichte wurde ziemlich aufgeblasen. Margot hatte jetzt nicht mehr einfach nur eine Grimasse gezogen, sondern Miss Marx ins Gesicht gesagt, sie sei ein »oller Misthaufen«, und als Miss Marx sie in ihr Büro schleifen wollte, hatte Margot ihr zwei Ohrfeigen verpasst und dann den Rock gehoben und ihr ihren nackten Hintern gezeigt. Margot würde auf unbestimmte Zeit in die Gruft kommen.

Nun hatte Margot ein Problem: Sie konnte schlecht inszenieren, wie sie in die Gruft abgeführt wurde. Es war üblich, dass Hilda und Mr. O’Hare die nackten Übeltäter just zur Schlafenszeit aus ihrem Schlafsaal zerrten. Das öffentliche Schauspiel war ein wichtiger Bestandteil der Befriedigung von Hildas Gier nach Bestrafung. Also brachte Margot ein weiteres Gerücht in Umlauf, nämlich dass sie sich vor ihnen verstecken würde, um es ihnen etwas schwerer zu machen. Schließlich war ihre Strafe ohnehin schon schlimm genug. Konnte ja wohl kaum schlimmer werden!

Dieses Gerücht entsprach teilweise der Wahrheit: Margot versteckte sich wirklich. Nach dem Abendessen packte sie – angestachelt von den meisten anderen Kindern – einen Tornister mit ein paar Essensresten und schlich sich den Flur hinunter zum Heizungsraum, wo sie sich eine Wolldecke über die Beine zog und wartete.

Ich informierte die anderen Engel über die bevorstehenden Ereignisse. Sheren sah mich besorgt an. »Du weißt doch noch, was passiert, oder etwa nicht?« Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte mich an diesen Fluchtversuch nicht erinnern, hoffte lediglich inständig, dass er glücken würde. Sheren seufzte, versprach, dass sie tun würde, was sie könne, und kehrte zu Hildas Büro zurück.

Glücklicherweise war es Mr. Kinnaird, der überall die Lichter löschte. Bei seiner Durchzählrunde von Schlafsaal zu Schlafsaal fiel ihm auf, dass Margots Bett leer war.

»Sie ist in der Gruft, Sir«, erklärte Tilly.

»Ach, ja?« Mr. Kinnaird sah in seinen Notizen nach. »Ich weiß nichts davon, dass jemand in die Gruft soll. Jedenfalls nicht heute Abend.«

Tilly setzte ein Unschuldsgesicht auf. »Sie haben wohl mal wieder Ihre Brille vergessen, was, Sir?«

Das stimmte. »Oh. Ja, richtig. Na ja. Dann. Hake ich sie wohl besser ab, oder?«

Tilly nickte. Die anderen Kinder im Schlafsaal fingen an zu wispern. Mr. Kinnaird bemerkte es nicht.

Trotz der angenehmen Wärme im Heizungsraum konnte Margot nicht schlafen. Die seltsamen Geräusche, die die Heizungsrohre hin und wieder machten, sorgten dafür, dass sich Margots Magen zusammenzog vor Angst. Was, wenn jemand ihren Plan durchschaut hatte und sie hier herausholte? Ich blieb die ganze Nacht bei ihr, hüllte sie in mein Kleid, wenn sie vor Angst anfing zu zittern, und versprach ihr, dass wir das schon schaffen würden. Die Vision von der Familie im Dorf wurde so klar, dass Margot bereits ihre Gesichter erkennen konnte. Sie wollte so gerne zu ihnen. Sie würde an ihre Tür hämmern und sie anflehen, sie hereinzulassen. Ich bringe Ihnen Frühstück ans Bett. Ich erledige alle Hausarbeiten. Wenn Sie mich nur retten. Wenn Sie mir nur ein Zuhause, eine Familie geben.

Um fünf Uhr wurde die frühmorgendliche Stille vom Knirschen auf dem Kies gestört. Es war noch dunkel, aber einzelne Sonnenstrahlen wagten sich schon über den Horizont. Der Motor des Lieferwagens brummte. Hugh summte schief. Jetzt, sagte ich Margot. Sie schnappte sich ihren Tornister, öffnete leise die Tür und schlich auf Zehenspitzen hinaus in die kalte Morgenluft.

Von der Seitentür aus konnte sie Hugh vor dem Haus sehen. In seinen schweren Stiefeln stapfte er langsam zwischen Lieferwagen und Portal hin und her und entlud Kohlesäcke, Nahrungsmittel und Kleiderspenden aus dem Dorf. Margot wagte kaum zu atmen, und ihr Herz hämmerte wie wild. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden. Ich bewegte mich auf den Lieferwagen zu, um zu überprüfen, ob man sie sehen konnte, da gaben die Knie unter ihr nach. Ich konnte sie gerade noch auffangen. Ich legte ihr die Arme um die Schultern, das half ihr, sich aufzurappeln. Vielleicht verlange ich zu viel von ihr, dachte ich. Vielleicht ist sie noch nicht so weit.

Hugh stieg wieder ein und ließ den Motor an. Schnell! Sie raste über den Kies, riss die hintere Tür des Lieferwagens auf und sprang hinein. Sie landete auf verdorbenem Gemüse, Kohlesäcken und Brennholz. Der Wagen bewegte sich langsam die Einfahrt entlang auf die Hauptstraße zu.

Margot hielt sich an den Plan und versteckte sich unter den Kohlesäcken. Ich machte einen Luftsprung. Wir haben es geschafft! Sie ist entkommen! Ich dachte an die Familie im Dorf. Ich stellte mir vor, wie ich der Mutter zuflüsterte, dass Margot die Tochter war, die sie nie bekommen hatte, und dass sie ihr geschickt worden war, auf dass sie ihre Liebe und Fürsorge empfange.

Der Lieferwagen ließ St.Anthonys rumpelnd hinter sich, und ich weinte. Margot weinte auch. Sie war so voller Hoffnung und Angst, dass sie glaubte, es würde sie zerreißen.

Und dann fiel der Motor aus. Noch bevor der Lieferwagen die Hauptstraße erreicht hatte, blieb er stehen. Hugh fluchte, drehte mehrmals den Zündschlüssel und schaltete hin und her. Doch von unter der Motorhaube kam nur ein schwaches, mechanisches Husten. Ich sah mir den Motor an: Abgesoffen. Leicht zu beheben. Aber schnell! Hugh pfiff vergnügt, als er die Motorhaube öffnete und sich daran machte, das Problem zu lösen.

Da tauchte Sheren neben mir auf.

»Tut mir leid, Ruth«, sagte sie. Ich erstarrte.

Schritte, Schreie. Die Hintertür wurde aufgerissen, jemand packte Margot. Hilda schleifte sie an den Haaren zurück zum Heim, und der alte Hugh blickte ihnen verdutzt hinterher.

Und genau da, genau in diesem Moment, verblasste das Bild von der Familie im Dorf. Als sei sie im Begriff zu sterben. So wie Margot.

Dieses Mal prügelte Hilda Margot nicht mit Händen oder Füßen und auch nicht mit der Peitsche. Nein, dieses Mal bediente sie sich eines kleinen, aber schweren Sacks Kohle, an den Margot sich wie an einen Anker geklammert hatte, als Hilda sie zum Haus zurückzerrte. Sheren weinte, als sie für Hilda sang, um sie daran zu hindern, den schweren Sack bis hoch über den Kopf zu heben und auf Margots kleinen, reglos am Boden liegenden Körper fallen zu lassen. Vergeblich. Also versuchte ich mit aller Kraft zu verhindern, dass beim Aufprall Margots Schädel brach oder ihre Nieren rissen. Später, als die Engel Margot Nacht für Nacht in der Gruft beistanden, stellten wir uns kreisförmig um sie herum auf, heilten die ihr zugefügten Wunden und taten alles, damit das Gift, das Hilda mit ihren Bestrafungen verspritzte, Margots Leben nicht allzu tief durchdrang.

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Der Fluchtplan, den ich in Margots Kopf gepflanzt hatte, war nicht gestorben. Im Gegenteil: Er schlug Wurzeln und wuchs und gedieh.

Er glückte schließlich auf eine Art und Weise, die ich nicht erwartet hätte.

Als Margot elf Jahre alt war, beschloss Hilda, sie zu töten. Sheren gab diese Information nur widerwillig weiter, sah sich aber dazu gezwungen. Denn Hilda hatte nicht einfach nur beschlossen, Margot umzubringen. Nein, was sie vorhatte, würde zu Margots Tod führen, wenn wir nicht eingriffen. Für Hilda war Margots Fluchtversuch der endgültige Beweis dafür, dass Margots Flügel für immer gestutzt werden mussten. Einen ganzen Monat sollte sie in der Gruft verbringen – so lange war noch nie ein Kind auf St.Anthonys dort eingesperrt gewesen.

Margot Nacht für Nacht in der Gruft Trost zu spenden und Beistand zu leisten würde dieses Mal nicht ausreichen. Wir mussten verhindern, dass sie überhaupt dorthin kam. Sheren trug mir auf, ihrem Beispiel zu folgen. Einen Moment lang sah ich sie an. Es war nun schon länger her, seit ich das letzte Mal daran gedacht hatte, wer sie einmal gewesen war und was sie mir mal angetan hatte. Ich hatte meinen Hass auf sie vergessen. Ich hatte ihr verziehen.

Sheren wies uns an, es zuzulassen, dass Margot an jenem Abend aus ihrem Bett geholt wurde. Hilda und Mr. O’Hare schafften Margot zu den Toiletten im Erdgeschoss, wo sie sie auszogen und dann auf dem rostigen alten Heizkörper bewusstlos schlugen. Mir reichte es, ich wollte mich nicht mehr zurückhalten. Ich wandte mich an Sheren.

»Sag Margot, was ich dir jetzt sage«, flüsterte sie mir schnell zu. Ich kniete mich neben Margot und hielt ihren Kopf. Sie hatte eine Platzwunde über dem Auge, die stark blutete. Ihre Atmung war flach. Sie war noch immer ohne Bewusstsein. Hilda befahl Mr. O’Hare, seinen Gürtel auszuziehen.

Ich wiederholte, was Sheren sagte:

Als Hilda klein war, hatte sie eine Freundin, die hieß Marnie. Hilda liebte Marnie über alles in der Welt. Und Marnie liebte Hilda. Aber dann ist Marnie gestorben, und Hilda war so unendlich traurig. Jetzt wacht Marnie über Hilda, und jetzt ist sie unendlich traurig. Sprich mir nach, Margot. Sag: Wenn Marnie Sie jetzt so sehen könnte, würde sie sich glatt noch mal umbringen.

Margot hustete und kam zu sich. »Wann immer Sie wünschen, Mr. O’Hare«, sagte Hilda, als er mit dem Gürtel ausholte. Doch sein Engel hielt ihn auf. Nur ein winziger Augenblick des Mitgefühls hatte es Mr. O’Hares Engel ermöglicht, einzuschreiten und seinen erhobenen Arm festzuhalten. Er ließ ihn sinken und sah Hilda an. Er konnte Margot nicht schlagen, während sie am Boden lag.

Sheren und ich flankierten Margot und halfen ihr, aufzustehen. Nackt und blutverschmiert wandte sie sich an Hilda. Sie holte tief Luft, und wütend sagte sie, noch bevor Mr. O’Hare sein Zögern erklären konnte: »Wenn Marnie Sie jetzt so sehen könnte, würde sie sich glatt noch mal umbringen.«

Hildas Kinnlade klappte herunter. Sie kniff die Augen zusammen.

»Was hast du gesagt?«

Sheren flüsterte mir etwas zu, was ich schnellstens an Margot weitergab.

Margot biss die Zähne aufeinander. Dann sagte sie laut und deutlich:

»Was hatte Marnie doch gleich zu Ihnen gesagt, kurz bevor sie starb? Sei ein braves Mädchen, damit wir uns im Himmel wiedersehen. Und jetzt sehen Sie sich an, Miss Marx. Hilda. Marnie ist traurig. Sie sind keinen Deut besser als Ray, Dan, Patrick und Callum.«

So hießen die Männer, die Hilda missbraucht und misshandelt hatten. Hilda riss die Augen auf. Ihre Aura verfärbte sich rot, und ihr stand der Hass ins Gesicht geschrieben. Sie holte aus und verpasste Margot eine schallende Ohrfeige. Ich konnte das Brennen selbst spüren. Margot starrte Hilda und Mr. O’Hare an. Die beiden rührten sich nicht. Da sammelte Margot ihre Kleider auf und ging.

Lauf!

Sobald Margot begriff, dass ihr niemand hinterherkam, türmte sie. Blitzschnell zog sie ihren Rock und ihren Pullover über, sonst nichts, riss die schwarzen Türen auf und rannte bis ans Ende der Zufahrt. Erst als wir dort angelangt waren, blieben wir zwischen den beiden Steinsäulen stehen und sahen uns um. Margot keuchte. Das Adrenalin ließ ihr so viel Wasser in den Mund laufen, dass er überlief. Ich winkte. Ich winkte all den anderen Engeln zu, die sich vor dem Gebäude versammelt hatten, um sich von mir zu verabschieden. Es war das letzte Mal, dass ich sie sehen würde. Ich hielt nach Sheren Ausschau. Sie hob beide Arme, so wie damals, als sie mir von dem Lied der Seelen erzählte, und ich nickte. Ich wusste, was sie sagen wollte.

Als Margot wieder atmen konnte, machten wir uns auf den Weg zum Dorf. Vor Kälte bibbernd und halb tot tastete Margot sich durch die Dunkelheit, fand die himmelblaue Tür und hämmerte dagegen, bis ein zerzauster, besorgt aussehender Mann aufmachte. Sie ließ sich vor seinen Füßen auf die Knie fallen und weinte.