2 Echte Psychopathen bitte vortreten!
Wer könnte wohl in einem Regenbogen genau die Linie
angeben, wo das Violett aufhört und das Orange beginnt?
Wir sehen zwar deutlich die verschiedenen Farben,
aber nicht den genauen Ort, wo die eine in die
andere übergeht. So ist es auch mit Vernunft und Wahnsinn.
Herman Melville, Billy Budd und andere Geschichten
Persönlichkeit
Im Internet kursiert folgende Story: Während des Begräbnisses ihrer Mutter begegnet eine Frau einem Mann, den sie nie zuvor gesehen hat, und fühlt sich auf geheimnisvolle Weise zu ihm hingezogen. Sie glaubt, in ihm einen Seelenverwandten gefunden zu haben, und verfällt ihm sofort. Doch sie fragt ihn nicht nach seiner Telefonnummer und kann ihn, als die Beerdigung vorbei ist, nicht ausfindig machen. Wenige Tage später tötet sie ihre Schwester. Warum?
Nehmen Sie sich ein wenig Zeit, bevor Sie antworten. Denn offensichtlich lässt sich mithilfe dieses einfachen Tests feststellen, ob Sie wie ein Psychopath denken oder nicht. Welches Motiv könnte die Frau wohl haben, ihre Schwester umzubringen? Eifersucht? Findet sie ihre Schwester später mit dem Mann im Bett? Rache? Beides plausibel. Aber falsch. Die Antwort – gesetzt den Fall, Sie denken wie ein Psychopath – lautet: Weil sie hofft, der Mann würde bei der Beerdigung ihrer Schwester erneut auftauchen.
Falls dies Ihre Lösung war ... keine Panik! Um ehrlich zu sein, ich habe gelogen. Natürlich bedeutet es nicht, dass Sie wie ein Psychopath denken. Wie vieles, auf das man im Internet stößt, enthält diese Geschichte etwa so viel Wahrheit wie Bernie Madoffs Gewinn- und Verlustrechnung. Dass die Strategie der Frau dem Anschein nach psychopathisch ist, lässt sich natürlich nicht bestreiten: kalt, skrupellos, emotionslos und kurzsichtig eigennützig. Doch raten Sie mal, was passierte, als ich diesen Test einigen echten Psychopathen vorlegte – Vergewaltigern, Mördern, Pädophilen und bewaffneten Räubern –, die man mithilfe standardisierter klinischer Verfahren als solche diagnostiziert hatte: Nicht einer von ihnen wartete mit dem Motiv der »Folge-Beerdigung« auf. Vielmehr nannten fast alle die »romantische Rivalität« als Begründung.
»Ich mag ja verrückt sein«, sagte einer von ihnen. »Aber ich bin weiß Gott nicht dumm.«
Scott Lilienfeld ist Professor für Psychologie an der Emory University in Atlanta und einer der weltweit führenden Experten, wenn es um Psychopathen geht. Oder, wie er es formuliert, um erfolgreiche Psychopathen: diejenigen, die eher einen Mordsgewinn am Aktienmarkt machen, als einen Mord in einem finsteren Seitengässchen begehen. Während wir uns in einem einfachen Restaurant ein oder zwei Meilen von seinem Büro entfernt Alligator-Tortillas schmecken lassen, frage ich ihn nach dem Beerdigungs-Rätsel. Was geht hier vor? Was finden wir eigentlich so aufregend an Geschichten wie diesen?
»Ich glaube, der Reiz von Dingen wie diesen liegt in ihrer Einfachheit«, sagt er. »Der Gedanke, dass wir die Psychopathen in unserer Mitte durch eine einzige Rätselfrage enttarnen und uns vor ihnen schützen können, hat etwas Beruhigendes. Leider ist es aber nicht so einfach. Natürlich können wir herausfinden, wer sie sind. Aber das erfordert mehr als nur die eine Frage. Es erfordert eine ganze Reihe von Fragen.«
Er hat recht. »Patent«-fragen, die auf raffinierte Weise unsere wahre Wesensart enthüllen können, existieren in Wirklichkeit nicht. Die Persönlichkeit ist einfach ein viel zu komplexes Gebilde, um ihre Geheimnisse allein auf der Basis einer einzigen Frage preiszugeben. Tatsächlich haben die Experten auf diesem Gebiet über die Jahre hinweg umfangreiche Fragenkataloge erstellt.
Die Persönlichkeitsjäger
Die Persönlichkeit – oder vielmehr das Messen der Persönlichkeit – hat eine lange Geschichte. Es begann im alten Griechenland mit Hippokrates (460–377 v. Chr.), dem Vater der westlichen Medizin. Hippokrates, der sich auf die Weisheit noch früherer Traditionen stützte (die Himmelsberechnungen der babylonischen Astrologie z. B.), die die Weisen des alten Ägypten und die Mystiker Mesopotamiens in der Levante verbreitet hatten, unterschied vier Temperamente im Kanon der menschlichen Emotionen: sanguinisch, cholerisch, melancholisch und phlegmatisch.

Abb. 2.1. Hippokrates’ vier Temperamente
Nach Hippokrates passierte zweieinhalb Jahrtausende lang nicht viel, bis 1952 der britische Psychologe Hans Eysenck der alten dyadischen Taxonomie des Vaters der westlichen Medizin schließlich ein neues Gewand gab.17 Nach umfassenden Fragebogenanalysen und ausführlichen klinischen Interviews identifizierte er zwei grundlegende Dimensionen der Persönlichkeit: Introversion/Extraversion und Neurotizismus/Stabilität (eine dritte Dimension, Psychotizismus, charakterisiert durch Aggression, Impulsivität und Ichbezogenheit, wurde später hinzugefügt). Die beiden Dimensionen schlossen bei orthogonaler Darstellung die vier klassischen, von Hippokrates identifizierten Temperamente mit ein.

Abb. 2.2. Eysencks Persönlichkeitsmodell, das Hippokrates’ vier Temperamente integriert (aus Eysenck & Eysenck, 1987)
Die cholerische Persönlichkeit (unruhig, reizbar) entsprach Eysencks neurotischer Extraversion, die melancholische (depressiv, introspektiv) der neurotischen Introversion, die sanguinische (herzlich, dynamisch) der emotional stabilen Extraversion und die phlegmatische (ruhig, verschlossen) der emotional stabilen Introversion. Hippokrates war, so scheint es, nicht nur der Vater der modernen Medizin, sondern auch der menschlichen Natur.
Eysencks Zweitaktmodell der Persönlichkeit war eindeutig magersüchtig im Vergleich zu dem riesigen Korpus an Merkmalen, das der amerikanische Psychologe Gordon Allport rund zwanzig Jahre zuvor ausgegraben hatte.18 Im Einklang mit der sogenannten »lexikalischen« Hypothese, derzufolge alle wichtigen Persönlichkeitsmerkmale durch persönlichkeitsbeschreibende Worte in der Sprache repräsentiert sind, stach Allport im Rahmen seiner Angeltour in die tiefe, wortreiche See von ›Webster’s New International Dictionary‹. Wie viele persönlichkeitsbeschreibende Adjektive waren dort wohl zu finden?, fragte er sich. Eine ganze Menge, wie sich herausstellte. Er kehrte mit einer Ausbeute von 18 000 wieder ans Ufer zurück. Nachdem Allport alle Beschreibungen, die sich auf vorübergehende (z. B. freudig erregt; beschämt) statt dauerhafte Merkmale bezogen, von seiner Liste gestrichen hatte, blieb die etwas überschaubarere Menge von 4500 Wörtern übrig.
Doch erst als Raymond Cattell, Psychologe an der University of Illinois, 1946 – eben zu der Zeit, als Eysenck an seinem Modell herumbastelte – Allports Liste in die Finger bekam, hatten die Persönlichkeitstheoretiker wirklich etwas, womit sie spielen konnten.19 Cattell, der Synonyme eliminierte und einige zusätzliche, im Rahmen von Laborforschungen gesammelte Begriffe einführte, kam auf eine Anzahl von 171 Wörtern. Dann machte er sich an die Arbeit. Er händigte die Beschreibungen, mit deren Hilfe Bewertungsskalen entwickelt werden sollten, einer Reihe von Probanden aus und stellte ihnen eine erfrischend einfache Aufgabe: ihre Bekannten auf der Basis dieser Beschreibungen zu beurteilen.
Die Analyse ergab eine galaktische Persönlichkeitsstruktur, die aus 35 größeren Merkmalsclustern bestand und von Cattell etwas esoterisch anmutend als »Persönlichkeitssphäre« bezeichnet wurde. Im Verlauf des nächsten Jahrzehnts reduzierte er mithilfe von Computern der ersten Generation und der Faktorenanalyse[6] sein Modell auf nur sechzehn Hauptfaktoren. Dabei ließ Cattell es dann bewenden.

Tabelle 2.1. – Cattells sechzehn primäre Persönlichkeitsfaktoren (nach Kurt A. Schneewind, G. Schröder und R. B. Cattell, Der 16-Persönlichkeitsfaktorentest (16 PF), Bern 1994)
Zur Freude von Arbeitspsychologen und heute im Bereich Humanressourcen Tätigen gaben sich nachfolgende Theoretiker jedoch nicht damit zufrieden. 1961 gelang es Ernest Tupes und Raymond Christal, Forschern der US Air Force, aus Cattells Merkmalen fünf wiederkehrende Faktoren herauszukristallisieren: Überschwänglichkeit, Verträglichkeit, Verlässlichkeit, emotionale Stabilität und Kultiviertheit.20 In den letzten zwanzig Jahren hat schließlich die Arbeit von Paul Costa und Robert McCrae am National Institute of Health in den USA zur Entwicklung eines NEO Personality Inventory genannten standardisierten Tests geführt.21
Psychologen halten normalerweise nichts von Konsens.22 Doch in diesem Fall lässt er sich nur schwer vermeiden. Offenheit für Erfahrung, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus bilden die Genome der menschlichen Persönlichkeit. Und wir alle sind die Summe unserer Teile. Wir sind keine Nummern, auch wenn Patrick McGoohan uns dies im Film ›Nummer 6‹ glauben machen wollte. Wir sind eher eine Konstellation von Nummern. Jeder von uns hat in dem unendlichen algorithmischen Firmament des Persönlichkeitsalls seine eigenen unverwechselbaren Koordinaten, je nachdem, wie wir bei jeder dieser fünf Dimensionen abschneiden.[7] Den »Big Five«, wie sie gewöhnlich genannt werden.23
Die »Big Five«
Für den oberflächlichen Betrachter stellt sich die Persönlichkeit natürlich als etwas Zusammenhängendes, Einheitliches dar. Erst, wenn sie einer genauen mathematischen Prüfung unterzogen wird, zerfällt sie in ihre fünf Bestandteile. Die Big Five entsprechen, so könnte man sagen, den psychologischen »Primärfarben« der Persönlichkeit, mit völlig gegensätzlichen Charaktereigenschaften an beiden Enden: ein Spektrum der Identität, in dem wir uns alle wiederfinden.
In Tabelle 2.2 sind diese Charaktereigenschaften zusammen mit einer kurzen Beschreibung der jeweils mit ihnen verbundenen Attribute aufgeführt:

Tabelle 2.2. Das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (nach McCrae & Costa, 1999, 1990)
Es überrascht vielleicht nicht, dass Arbeitspsychologen großen Nutzen aus dem NEO (und ähnlichen Big-Five-Persönlichkeitstests) gezogen haben. Sie haben diesen Test Arbeitnehmern in praktisch jeder nur erdenklichen Berufssparte ausgehändigt, um die genaue Beziehung zwischen Psyche und Erfolg am Arbeitsplatz zu ergründen. Dabei sind sie auf eine auffällige Verbindung zwischen Temperament und ausgeübter Tätigkeit gestoßen.24 Zwischen unserer Art zu ticken und unserem Beruf.
Offenheit für Erfahrung hat sich in solchen Berufen als wichtig erwiesen, in denen originelle Gedanken oder emotionale Intelligenz das Gebot der Stunde sind – in Beratungsunternehmen, bei Schiedsverfahren oder in Werbeagenturen –, während Menschen, die in dieser Dimension schlechter abschneiden, in der Regel besser in mechanischen Jobs oder in der Fertigung zurechtkommen. Arbeitnehmer, die in puncto Gewissenhaftigkeit eine mittlere bis hohe Punktzahl erzielen (ist sie zu hoch, überschreitet man die Grenze zu Obsession, Zwanghaftigkeit und Perfektionismus), scheinen sich in jeder Beziehung hervorzutun; das Gegenteil gilt für Arbeitnehmer mit einer niedrigeren Punktzahl in dieser Dimension. Extrovertierte Menschen sind erfolgreich in Berufen, die soziale Interaktion erfordern, introvertierte Menschen eher in »einsamen« oder »besinnlichen« Berufen wie grafische Gestaltung oder Buchhaltung. So wie Gewissenhaftigkeit ist auch Verträglichkeit in fast jeder Hinsicht leistungsfördernd, spielt aber vor allem in solchen Berufen eine Rolle, in denen die Betonung auf der Teamarbeit oder dem Dienst am Kunden liegt, wie z. B. in der Krankenpflege oder bei den Streitkräften. Doch im Unterschied zur Gewissenhaftigkeit können beim Faktor Verträglichkeit auch niedrigere Punktwerte nützlich sein – nämlich in mörderischen Arenen wie den Medien, in denen die Egos aufeinanderprallen und oft ein erbitterter Kampf um die Ressourcen (Ideen, Geschichten, Lizenzen) stattfindet.
Schließlich wäre da noch der Neurotizismus, der wohl heikelste der fünf Faktoren des NEO. Doch auch, wenn kein Zweifel daran besteht, dass in Berufen, in denen Konzentration und Besonnenheit gefragt sind (wobei das Cockpit und der Operationssaal nur zwei Beispiele darstellen), emotionale Stabilität und Kaltblütigkeit unter Druck oft den Ausschlag geben, so sollte man nicht vergessen, dass die Ehe zwischen Neurotizismus und Kreativität eine dauerhafte ist. Einige der größten Werke der Kunst und Literatur wurden nicht in den leicht zugänglichen Außenbezirken des Gehirns, sondern in den tiefen, unerforschten Labyrinthen der Seele geboren.
Wenn Arbeitspsychologen also auf der Grundlage von Modellen der beruflichen Leistung Unterschiede im Temperament aufgedeckt haben, Persönlichkeitsachsen, die für den Erfolg am Arbeitsplatz verantwortlich sind, wie passen die Psychopathen dann dort hinein? Um dies herauszufinden, führten Donald Lynam und seine Kollegen von der University of Kentucky 2001 eine Studie durch und entdeckten, dass sich hinter deren einzigartiger Persönlichkeitsstruktur eine verräterische, gleichermaßen unbarmherzige und faszinierende Konfiguration von Merkmalen verbirgt.25
Lynam bat eine Gruppe von Psychopathieexperten aus aller Welt (Wissenschaftler, die eine Erfolgsgeschichte auf diesem Gebiet aufweisen konnten), auf einer Skala von 1 bis 5 (wobei 1 extrem gering, 5 extrem hoch war) zu bewerten, wie Psychopathen ihrer Meinung nach bei dreißig Untermerkmalen abschnitten – den Bestandteilen jeder der Hauptdimensionen der Big Five. Die Ergebnisse waren wie folgt:


Tabelle 2.3. Expertenbeurteilungen des psychopathischen Persönlichkeitsprofils anhand des Abschneidens bei den Big Five (Miller et al., 2001)
Wie zu sehen, haben die Experten die Psychopathen, wenn es um Verträglichkeit geht, durchweg im unteren Bereich angesiedelt – was nicht weiter überrascht, da Lügen, Manipulation, Gefühllosigkeit und Arroganz bei den meisten Klinikern als Goldstandard für psychopathische Merkmale gelten. Auch beim Faktor Gewissenhaftigkeit gibt es keine Überraschungen: Die Beurteilungen für Impulsivität, Mangel an langfristigen Zielen und das Versagen, Verantwortung zu übernehmen, fallen erwartungsgemäß aus. Aber achten Sie darauf, wie das Merkmal Kompetenz, ein Maßstab für das unerschütterliche Selbstvertrauen und die unbekümmerte Gleichgültigkeit gegenüber Widrigkeiten, sich dem Trend widersetzt und wie sich dieses Muster beim Neurotizismus wiederholt: Angst, Depression, Gehemmtheit und Verletzlichkeit sind kaum auf dem Radar zu sehen. Und wenn zusätzlich Extraversion (Durchsetzungsvermögen und Aufregung suchend) sowie Offenheit für Erfahrung (Aktionen) stark ausgeprägt sind, haben wir es mit diesem seelenlosen natürlichen Charisma zu tun.
Das Bild, das sich ergibt, ist das einer ungemein starken, aber geheimnisvoll quecksilbrigen Persönlichkeit. Umwerfend und erbarmungslos auf der einen, eiskalt und unberechenbar auf der anderen Seite.
Das Bild eines US-Präsidenten?26 Wohl eher nicht, könnte man zunächst meinen. Doch 2010 tat Scott Lilienfeld sich mit dem forensischen Psychologen Steven Rubenzer sowie mit Thomas Faschingbauer, Professor für Psychologie an der Foundation for the Study of Personality in History in Houston, Texas, zusammen und half ihnen bei der Analyse einiger sehr interessanter Daten. Im Jahr 2000 hatten Rubenzer und Faschingbauer das NEO Personality Inventory an die Biografen sämtlicher US-Präsidenten der Geschichte geschickt.[8]27 Es schließt Fragen wie: »Du solltest andere ausnutzen, bevor sie dich ausnutzen« und »Ich habe nie ein schlechtes Gewissen, Menschen verletzt zu haben« mit ein. Insgesamt gab es 240 dieser Items. Nun waren es aber nicht die Biografen, die getestet wurden, sondern deren Zielpersonen. Im Namen der Menschen, über die sie Biografien verfasst hatten, sollten die Autoren auf der Grundlage ihres Wissens antworten.
Die Ergebnisse waren interessant. Eine Reihe von US-Präsidenten hatte eindeutig psychopathische Merkmale, wobei John F. Kennedy und Bill Clinton in Führung lagen (zur vollständigen Rangliste siehe www.wisdomofpsychopaths.co.uk). Und man sehe sich an, wie die Roosevelts abschneiden. Einige der Golden Boys der Geschichte sind auf dieser Liste zu finden.
Sollten wir deshalb stark beunruhigt sein? Sollte es Grund zur Besorgnis sein, wenn das Oberhaupt der mächtigsten Nation der Welt einen signifikanten Anteil seiner Persönlichkeitsmerkmale mit Serienkillern gemein hat, wie Jim Kouri feststellte?
Vielleicht.
Um die Bedeutung der politischen Persönlichkeitsprofile von Lilienfeld, Rubenzer und Faschingbauer zu verstehen, müssen wir uns jedoch eingehender damit beschäftigen, was es heißt, ein Psychopath zu sein.
Verkorkste Persönlichkeiten
Sprechen wir über Persönlichkeitsstörungen, ist äußerste Vorsicht angesagt. Weil jeder eine hat, stimmt’s? Lassen Sie uns also von Anfang an klarstellen: Persönlichkeitsstörungen sind nicht die Domäne derjenigen, die Ihnen total auf die Nerven gehen (eine unter Narzissten weit verbreitete Fehlannahme). Vielmehr stellen sie, laut Definition des ›Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders‹ (Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen, DSM),[9] »ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten dar, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht«.
Das Schlüsselwort hier ist »überdauernd«. Eine Persönlichkeitsstörung hat man nicht nur mal eben an den Weihnachtstagen (obwohl Weihnachten zugegebenermaßen das Beste aus ihr herausholt). Nein, Persönlichkeitsstörungen sind gekennzeichnet durch tiefgreifende, unflexible Muster des Denkens, des Fühlens und des Umgangs mit anderen oder durch die Unfähigkeit, Impulse zu kontrollieren und zu regulieren, die Leid oder Beeinträchtigungen verursachen. Sie sind nicht den Menschen vorbehalten, die Ihnen auf die Nerven gehen. Doch wenn jemand eine Persönlichkeitsstörung hat, dann wird er das tun.
Das DSM unterteilt Persönlichkeitsstörungen in drei unterschiedliche Cluster[10]28– sonderbar/exzentrisch, dramatisch/launisch und ängstlich/furchtsam. Und glauben Sie mir, sie sind alle dabei. Die katzenverseuchte, hellseherische Tante mit dem Teewärmerhut und den großen, baumelnden Ohrringen, die glaubt, dass es in ihrem Schlafzimmer von »Anwesenheiten« wimmelt und dass es sich bei dem Paar auf der anderen Straßenseite um Außerirdische handelt (schizotypisch); der mit Klunkern behängte, dauergebräunte Bademeister, der sich so viel Botox hat spritzen lassen, dass selbst Mickey Rourke neben ihm normal aussieht (narzisstisch); und die Putzfrau, die ich mal engagiert hatte, die nach drei unerträglichen Stunden noch immer in dem verdammten Bad zugange war (zwanghaft). (Ich bezahlte sie pro Stunde. Wer also war hier verrückt?, frage ich mich.)
Doch Persönlichkeitsstörungen verursachen nicht nur Probleme im Alltag. Sie sorgen auch für eine Menge Zündstoff innerhalb der klinischen Psychologie. Ein ständiger Streitpunkt ist das Wort »Störung«. Da man bei 14 Prozent der Gesamtbevölkerung eine solche diagnostiziert hat, stellt sich die Frage, ob wir überhaupt von »Störungen« sprechen sollten. Wäre »Persönlichkeiten« nicht eine bessere Beschreibung? Naja, kann sein. Aber vielleicht sollten wir fragen, was Persönlichkeitsstörungen genau sind. Stellen sie z. B. einen gesonderten Archipel der Pathologie dar, der vor der Küste der Festlandpersönlichkeit epidemiologisch dahintreibt? Oder bilden sie vielmehr einen Teil der Big-Five-Halbinsel: entlegene Vorposten des Temperaments an seinen dunkelsten, am stärksten vom Sturm gebeutelten Rändern?
Letztere Sichtweise erfährt Unterstützung durch eine 2004 von Lisa Saulsman und Andrew Page durchgeführte Metaanalyse zur Beziehung zwischen den Persönlichkeitsdimensionen im Fünf-Faktoren-Modell und jeder der zehn im DSM aufgeführten Persönlichkeitsstörungen.29 Die Analyse zeigte, dass alle zehn Persönlichkeitsstörungen im Rahmen des Fünf-Faktoren-Modells verstanden werden können – im Wesentlichen jedoch die »Großen Zwei« das Verständnis ermöglichen: Neurotizismus und Verträglichkeit.30
So stellten Saulsman und Page fest, dass Störungen, die besonders stark durch emotionales Leid charakterisiert sind (z. B. die Paranoide, Schizotypische, Borderline, Vermeidend-Selbstunsichere und Dependente Persönlichkeitsstörung), in enger Verbindung zum Neurotizimus stehen, während Störungen, die eher durch interpersonelle Schwierigkeiten gekennzeichnet sind (z. B. die Paranoide, Schizotypische, Antisoziale, Borderline und Narzisstische Persönlichkeitsstörung), vielleicht nicht weiter überraschend in die Dimension Verträglichkeit fallen. Zum Verständnis der Störungen konnten ebenso die Dimensionen Extraversion und Gewissenhaftigkeit herangezogen werden, wenn auch in geringerem Maße. Bei Störungen beiderseits dessen, was wir als die Kluft zwischen Salonlöwe und Einsiedler bezeichnen könnten (die Histrionische und Narzisstische auf der einen; die Schizoide, Schizotypische und Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung auf der anderen Seite), wurden in der Dimension Extraversion eine hohe bzw. geringe Punktzahl erzielt, während dies bei Störungen zu beiden Seiten der Easy-Rider-Kontrollfreak-Grenze (Antisoziale und Borderline im einen, Zwanghafte im anderen Lager) in der Dimension Gewissenhaftigkeit der Fall war.
Die Sache scheint ziemlich klar zu sein. Wenn die omnipotenten Big Five unser Persönlichkeits-Sonnensystem bilden, dann bilden die Konstellationen, die für Störungen charakteristisch sind, zweifellos einen Teil des Firmaments.
Aber wo, lautet wiederum die Frage, sind die Psychopathen einzuordnen?
Die Maske der Normalität
Psychopathie taucht – wie die Persönlichkeit selbst – erstmals in ausnehmend schelmischer, wenn auch unmissverständlicher Form in den Überlegungen der alten Griechen auf. In seiner Schrift ›Charaktere‹ beschreibt der Philosoph Theophrast (ca. 371–287 v. Chr.), Nachfolger des Aristoteles als Haupt der Peripatetischen Schule in Athen, auf brillante Weise dreißig moralische Charaktere.31 Eine dieser Beschreibungen mutet sehr bekannt an.
So lamentiert Theophrast über den Skrupellosen: »Erst geht er zu einem, den er um das Seine gebracht hat, hin und borgt von ihm ... Auch erinnert er, wenn er zum Essen einkauft, den Fleischhändler daran, wenn er ihm irgendwie von Nutzen gewesen ist, und während er bei der Waage steht, wirft er dazu am liebsten ein Stück Fleisch, sonst einen Knochen für die Suppe; bekommt er’s, ist es gut, wo nicht, entrafft er vom Tische einen Darm und macht sich unter Lachen davon.«32
Und ja, er machte sich unter Lachen davon.
Doch lassen Sie uns ein paar Tausend Jahre weiterspulen, zum frühen 19. Jahrhundert, und der Skrupellose kehrt zurück, dieses Mal als einer der wichtigsten metaphysischen Spieler in der Debatte über den freien Willen. War es vielleicht möglich, so mutmaßten Philosophen und Ärzte, dass bestimmte moralische Missetäter, bestimmte gewissenlose Taugenichtse nicht einfach »schlecht« waren, sondern im Gegensatz zu anderen Schurken kein oder wenig Verständnis für die Folgen ihres Handelns hatten? Einer von ihnen war davon überzeugt.
1801 kritzelte ein französischer Arzt namens Philippe Pinel die Worte manie sans délire in sein Notizbuch, nachdem er entsetzt dabei zugesehen hatte, wie vor seinen Augen ein Mann ganz gelassen, ruhig und gefasst einen Hund tottrat.33 Danach verfasste Pinel einen sorgfältigen, umfassenden – und auch für heutige Leser äußerst akkuraten – Bericht über dieses Syndrom. Abgesehen davon, dass dieser Mann nicht das geringste Anzeichen von Reue gezeigt hatte, schien er in fast jeder anderen Hinsicht geistig gesund zu sein. Er wirkte – um einen Ausdruck zu prägen, dem viele, die seitdem mit Psychopathen in Kontakt gekommen sind, zustimmen – »verrückt, ohne verrückt zu sein«. Manie sans délire.
Wie sich herausstellte, stand der Franzose mit seinen Gedanken nicht allein da. Benjamin Rush, ein Arzt, der Anfang des 19. Jahrhunderts in den USA praktizierte, hatte ähnliche Berichte verfasst: über ebenso abscheuliche Verhaltensweisen und ebenso sorglose Gedankenprozesse. »In allen diesen Fällen angebohrner unnatürlicher moralischer Verderbtheit«, so Rush, »ist wahrscheinlich ein ursprünglicher Organisationsfehler derjenigen Körpertheile vorhanden, welche den moralischen Fähigkeiten (Vermögen) der Seele vorstehn.«34 »Der Wille«, heißt es an anderer Stelle, wird in vielen Fällen auch dann »krankhaft abweichend«, wenn der Verstand gesund ist. Er wird »... durch das mechanische Wirken der Leidenschaften das unwillkührliche Vehikel krankhafter Thätigkeiten«.35
Rush nahm schon damals die Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften vorweg, dass der neurale Tsunami der Verrücktheit nicht unbedingt auf apokalyptische Weise die Ufer der Logik überschwemmen muss. Dass man gleichzeitig zurechnungsfähig und »unzurechnungsfähig« sein kann.
Anderthalb Jahrhunderte später bietet uns der amerikanische Mediziner Hervey Cleckley am Medical College of Georgia ein detaillierteres Inventar von la folie raisonnante. In seinem 1941 veröffentlichten Buch ›The Mask of Sanity‹ zeichnet Cleckley das folgende, etwas eklektische Phantombild des Psychopathen.36 Der Psychopath, so Cleckley, ist eine intelligente Person, charakterisiert durch Gefühlsarmut, fehlendes Schamgefühl, Egozentrik, oberflächlichen Charme, fehlende Schuldgefühle, Angstlosigkeit, Immunität gegen Bestrafungen, Unberechenbarkeit, Unverantwortlichkeit, manipulatives Verhalten und viele kurzzeitige Beziehungen – weitgehend dasselbe Bild, das die Kliniker des 21. Jahrhunderts von dieser Störung haben (obwohl wir mithilfe von laborgestützten Forschungsprogrammen und der Entwicklung von Techniken wie EEG und fMRT nun anfangen, zu einem besseren Verständnis der Ursachen zu gelangen).
Eingestreut in Cleckleys Porträt sind geradezu genial anmutende Pinselstriche. Der Psychopath, so heißt es, besitzt »Gerissenheit und geistige Agilität«, ist »unterhaltsam« und zeichnet sich durch einen »außergewöhnlichen Charme« aus. In einer denkwürdigen Passage beschreibt er die Funktionsweise des Verstands dieser sozialen Chamäleons, das Alltagsleben hinter dem eisigen Vorhang der Gefühllosigkeit:
»Der [Psychopath] ist nicht vertraut mit den primären Fakten oder Daten dessen, was wir als persönliche Werte bezeichnen könnten, und ist völlig unfähig, derlei Dinge zu verstehen. Er ist nicht in der Lage, auch nur das geringste Interesse an der Tragödie, der Freude oder dem Streben der Menschheit aufzubringen, wie es in der ernsthaften Literatur oder Kunst dargestellt wird. Auch im wirklichen Leben zeigt er Gleichgültigkeit gegenüber all diesen Dingen. Schönheit und Hässlichkeit, Gut und Böse, Liebe, Schrecken und Humor haben – außer in einem sehr oberflächlichen Sinn – keine Bedeutung für ihn und keine Macht, ihn zu rühren.
Des Weiteren fehlt ihm die Fähigkeit zu erkennen, dass andere gerührt sind. Es ist, als wäre er trotz seines scharfen Verstandes blind gegenüber diesem Aspekt der menschlichen Existenz. Man kann es ihm nicht erklären, weil es in seiner Bewusstseinssphäre nichts gibt, was, um diese Lücke zu schließen, zum Vergleich herangezogen werden könnte. Er kann die Worte wiederholen und leichthin sagen, dass er versteht, und es ist ihm unmöglich zu erkennen, dass er nicht versteht.«
Der Psychopath, so heißt es, versteht die Worte, aber nicht die Musik der Emotion.
Bei einer meiner allerersten Begegnungen mit einem Psychopathen erhielt ich eine deutliche Kostprobe davon, worauf Cleckley hinauswollte. Joe war 28, sah besser aus als Brad Pitt und hatte einen IQ von 160. Warum er das Bedürfnis verspürt hatte, dieses Mädchen auf dem Parkplatz bewusstlos zu schlagen, mit ihr zum Rand dieser nördlichen Stadt zu fahren, sie mit vorgehaltenem Messer wiederholt zu vergewaltigen, ihr dann die Kehle aufzuschlitzen und sie in einem verlassenen Industriepark mit dem Gesicht nach unten in diesen Container zu werfen, ist unbegreiflich. Teile ihrer Leiche wurden später in seinem Handschuhfach gefunden.
Ich saß Joe in einem stickigen Besucherraum gegenüber, in dem es nach Desinfektionsmitteln roch – fünf Jahre später und eine Million Meilen entfernt von seinem städtischen Schlachtfeld. Mein Interesse galt seiner Art der Entscheidungsfindung, den zufälligen Einstellungen auf dem moralischen Kompass seines Gehirns. Um darüber mehr zu erfahren, hatte ich eine Geheimwaffe, einen teuflischen psychologischen Trick auf Lager. Ich konfrontierte Joe mit folgendem Dilemma:
Ein brillanter Transplantationschirurg hat fünf Patienten. Jeder der Patienten braucht ein anderes Organ und jeder von ihnen wird ohne dieses Organ sterben. Leider ist derzeit keines dieser Organe erhältlich, um die Transplantation durchzuführen. Ein gesunder junger Mann kommt auf der Durchreise in die Praxis des Chirurgen zu einem Routine-Check-up. Während der Arzt den jungen Mann untersucht, stellt er fest, dass dessen Organe mit allen fünfen seiner sterbenden Patienten kompatibel sind. Außerdem würde niemand den Arzt verdächtigen, sollte der junge Mann verschwinden. Wäre es richtig, wenn der Arzt den jungen Mann töten würde, um seine fünf Patienten zu retten?
Auch dieses moralische Problem wurde erstmals von Judith Jarvis Thomson beschrieben, der Autorin des Experiments mit der Straßenbahn und dem fetten Mann, mit dem wir uns in Kapitel 1 befasst haben.37 Obwohl man sicher darüber diskutieren könnte, lösen die meisten Menschen das Dilemma sehr schnell. Es ist moralisch verwerflich, wenn der Arzt dem jungen Mann das Leben nimmt. Kein Arzt hat das Recht, einen Patienten zu töten, egal wie human oder mitfühlend die Rechtfertigung im Moment auch scheinen mag. Es wäre ganz einfach Mord. Doch welche Ansicht würde jemand wie Joe vertreten?
»Ich sehe, wo das Problem liegt«, sagte er nüchtern. »Wenn man einfach nur das Zahlenspiel spielt, ist es verdammt einfach, das Problem zu lösen, stimmt’s? Du bringst den Typen um und rettest fünf andere. Es ist Utilitarismus auf Crack ... Der Trick ist, nicht zu viel darüber nachzudenken ... Wenn ich der Arzt wäre, würde ich mir keine großen Gedanken machen. Es sind fünf für den Preis von einem, oder? Fünf gute Nachrichten – ich meine, was ist mit den Familien von diesen Typen? – gegen eine schlechte. Das ist doch kein schlechtes Geschäft, oder?«
»Sie gehen mit Gefühlen wie Buchhalter um«, sagte mir ein forensischer Psychiater, als wir in seinem Büro saßen und uns über Psychopathen unterhielten.
Was Joes Fall nur zu bestätigen scheint.
Identitätskrise
Die Überzeugungskraft des Psychopathen ist einzigartig; seine psychologischen Fähigkeiten, Safes zu knacken, sind legendär. Und Joe, der Killer, der Vergewaltiger, mit den eisig blauen Augen und dem IQ eines Genies war sicher keine Ausnahme von der Regel. Tatsächlich kann es beim Gespräch mit einem Psychopathen schwierig sein zu glauben, dass überhaupt etwas nicht stimmt – wenn man es nicht besser weiß. Was einer der Gründe dafür ist, warum sich eine präzise Klassifikation der Störung, der alle zustimmen können, als so schwierig erwiesen hat.
Vor drei Jahrzehnten erhielt die Psychopathie schließlich ihre klinische Greencard, als Robert Hare (dem wir in Kapitel 1 begegnet sind) 1980 seine Psychopathie-Checkliste vorstellte, einen Test zur Aufdeckung der Störung (den viele noch immer für den besten halten).38 Die Checkliste – die 1991 ein Facelift erhielt und seitdem als revidierte Psychopathie-Checkliste (PCL-R) bekannt ist – umfasst 20 Items, bei denen maximal eine Punktzahl von 40 erreicht werden kann (jedes Item wird anhand einer 3-Punkt-Skala bewertet: 0 = Merkmal nicht vorhanden; 1 = Merkmal ist teilweise erfüllt; 2 = Merkmal ist vorhanden).39 Hare entwickelte sie auf der Basis seiner eigenen klinischen Beobachtungen und der Beobachtungen von Hervey Cleckley in Georgia.
Die meisten von uns erzielen rund zwei Punkte. Als pathologisch gilt ein Wert von 27.[11]
Angesichts der Arbeitsweise von Persönlichkeitstheoretikern überrascht es vielleicht nicht, dass man die 20 Items der PCL-R bei zahlreichen Gelegenheiten so wie die 240 Items des NEO einem Faktorenanalyse genannten statistischen Kartenmischspiel unterzogen hat. Die Spielergebnisse haben im Lauf der Jahre variiert, doch neuere Untersuchungen einer Reihe klinischer Psychologen legen nahe, dass – entsprechend den fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit im Allgemeinen – im gespenstischen Psychopathennebel vier Hauptdimensionen lauern (siehe Tabelle 2.4).40


Tabelle 2.4. Vier-Faktoren-Modell der Psychopathie (nach Hare 2003)
Psychopathie ist mit anderen Worten eine Störung, die sich aus einer Vielzahl miteinander zusammenhängender Komponenten zusammensetzt, die in unterschiedlichen Dimensionen und diskret und unabhängig voneinander auf verschiedenen Spektren angeordnet sind: interpersonell, affektiv, auf den Lebensstil bezogen und antisozial – ein Hexengebräu aus Persönlichkeitsdefiziten.
Aber welche dieser Spektren sind am wichtigsten? Ist jemand, der z. B. beim Faktor antisozial eine hohe Punktzahl erreicht und beim Faktor interpersonell eine niedrige, eher ein Psychopath als jemand mit genau dem entgegengesetzten Profil?
Fragen wie diese tauchen in der Schlacht um die Psyche der Psychopathen, in den empirischen und diagnostischen Kampfzonen der klinischen Definition mit großer Regelmäßigkeit auf. Man betrachte nur die diagnostischen Kriterien des DSM zur Antisozialen Persönlichkeitsstörung (APS), ein Bereich von besonders großer strategischer Bedeutung in der epidemiologischen Diskussion. Laut dem DSM ist die Antisoziale Persönlichkeitsstörung ein Synonym für Psychopathie. Sie wird definiert als »ein tiefgreifendes Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das in der frühen Kindheit oder frühen Adoleszenz beginnt und bis ins Erwachsenenalter fortdauert«. Der Betroffene muss achtzehn Jahre oder älter sein und schon vor Vollendung des 15. Lebensjahres Anzeichen für eine Störung des Sozialverhaltens[12] zeigen, und mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen müssen aufgetreten sein:
- Unfähigkeit, sich in Bezug auf gesetzmäßiges Verhalten an soziale Normen anzupassen; wiederholte Handlungen, die einen Grund für eine Festnahme darstellen.
- Falschheit, die sich in wiederholtem Lügen, dem Gebrauch von Decknamen oder dem Betrügen anderer zum persönlichen Vorteil oder Vergnügen äußert.
- Impulsivität oder das Versagen, vorausschauend zu planen.
- Reizbares und aggressives Verhalten, das sich in häufigen Schlägereien oder Überfällen äußert.
- Rücksichtsloses Verhalten sich selbst oder anderen gegenüber.
- Ausgeprägte und andauernde Tendenz zu verantwortungslosem Handeln, das in wiederholtem verantwortungslosem Arbeitsverhalten oder dem Ignorieren finanzieller Verpflichtungen zum Ausdruck kommt.
- Wenig Gewissensbisse, was sich in Gleichgültigkeit oder einer Rationalisierung äußert, wenn der Betreffende jemanden verletzt, misshandelt oder bestohlen hat.
Aber ist dies wirklich dasselbe wie Psychopathie? Viele Theoretiker verneinen dies und sagen, dass der fundamentale Unterschied – auch wenn es zweifellos einige Überschneidungen gibt – in Folgendem liegt: dem deutlichen Ungleichgewicht zwischen der Fülle an Verhaltensitems, von Kriterien des »sozialen Abweichens«, durch die die ASP charakterisiert wird, und der affektiven Beeinträchtigung, dem schattenhaften, emotionalen Halbdunkel, das stark an den Psychopathen erinnert.
Die Verästelungen, ob statistischer oder anderer Art, sind nicht folgenlos. Im Fall von Strafgefangenen ist die Antisoziale Persönlichkeitsstörung das psychiatrische Äquivalent für einen Schnupfen, wobei laut Robert Hare 80 bis 85 Prozent der inhaftierten Kriminellen die Kriterien für die Störung erfüllen.41 Demgegenüber steht eine Trefferrate von nur 20 Prozent für Psychopathen. Außerdem kämpft diese Minderheit von 20 Prozent in einer schwereren Gewichtsklasse.42 Rund fünfzig Prozent der aktenkundigen schwersten Verbrechen – wie z. B. Mord und Serienvergewaltigungen – wurden von Psychopathen begangen.
Und werden weiterhin von Psychopathen begangen.
Studien zur Rückfallquote von psychopathischen und nichtpsychopathischen Häftlingen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von einem Jahr rückfällig zu werden, bei Ersteren mehr als dreimal so hoch ist wie bei Letzteren.43 Wenn wir Gewalt mit einbeziehen, ist die Kurve sogar noch steiler. Mit einer fünfmal höheren Wahrscheinlichkeit landet der Psychopath aufgrund von Schlägereien, Vergewaltigungen und Verstümmelungen immer wieder hinter Gittern. Akkurater wäre es zu sagen, dass die Beziehung zwischen der Antisozialen Persönlichkeitsstörung und der Psychopathie asymmetrisch ist. Etwa jedem Vierten, bei dem APS diagnostiziert wurde, steht möglicherweise ein Psychopath gegenüber. Doch jeder Psychopath wird auch automatisch unter APS leiden.
Der entscheidende Unterschied
Die folgenden Fallgeschichten machen den Unterschied zwischen den beiden Syndromen vielleicht ein bisschen deutlicher:
Fall 1
Jimmy ist 34 Jahre alt und wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.44 Er war schon immer jähzornig und wurde in einem Pub in eine Schlägerei verwickelt, die mit einer tödlichen Kopfverletzung endete. Im Großen und Ganzen ist Jimmy im Gefängnis beliebt, hält sich aus Problemen raus und zieht den Kopf ein. Der erste Eindruck ist der von einem unreifen, unbekümmerten Typen, der sowohl mit dem Personal als auch mit seinen Mithäftlingen gut auskommt.
Mit siebzehn wurde Jimmy zum ersten Mal straffällig (sein Strafregister besteht inzwischen aus einem halben Dutzend Straftaten), als er einen Ladendiebstahl beging. Seinen Eltern zufolge ging es jedoch schon früher mit ihm bergab. Bereits mit fünfzehn geriet er zu Hause wie in der Schule in Schwierigkeiten. Er blieb abends lange weg, schloss sich einer berühmtberüchtigten örtlichen Gang an, log gewohnheitsmäßig, war in Schlägereien verwickelt, stahl Autos und zerstörte Eigentum.
Als Jimmy sechzehn wurde, brach er die Schule ab und suchte sich einen Job bei einem bekannten Kaufhaus, wo seine Arbeit im Beladen von Lastwagen bestand. Da er angefangen hatte, stark zu trinken, »versorgte« er sich gelegentlich mit Stoff aus dem Warenlager. Und seine Schwierigkeiten, sich sein Geld einzuteilen und über die Runden zu kommen, führten dazu, dass er mit Marihuana dealte. Drei Monate nach seinem 18. Geburtstag wurde er auf Bewährung gesetzt und zog mit seiner Freundin zusammen.
Nachdem er seinen Job im Kaufhaus und in der Folgezeit noch mehrere andere Jobs verloren hatte, fand Jimmy schließlich Arbeit in einer Autowerkstatt. Obwohl es ständig Streit gab, weil er so viel trank, mit Drogen dealte und nicht mit Geld umgehen konnte, lief die Beziehung mit seiner Freundin eine Weile lang relativ gut. Es gab Affären. Doch Jimmy beendete sie. Er fühlte sich schuldig, sagte er. Und er hatte auch Angst, dass seine Freundin es herausfinden und ihn verlassen könnte.
Irgendwann lief sein Alkoholkonsum aus dem Ruder. Als er eines Abends in seinem Pub in eine Schlägerei verwickelt wurde, griff das Personal schnell ein und warf Jimmy hinaus. Normalerweise wäre er auch ruhig gegangen. Doch dieses Mal konnte er es aus irgendeinem Grund einfach nicht »dabei bewenden lassen«. Deswegen griff er nach einem Billardstock und schlug damit von hinten – mit so viel Kraft, dass der Stock zerbrach – auf den Kopf des anderen Typen: ein Schlag, der leider eine massive Gehirnblutung verursachte.
Die Polizei kam. Und Jimmy legte auf der Stelle ein Geständnis ab. Bei seinem Prozess bekannte er sich schuldig.
Fall 2
Ian ist 38 und verbüßt eine lebenslange Haftstrafe wegen Mordes. Eines Abends ging er in ein Motel, weil er etwas essen wollte, was damit endete, dass er die Rezeptionistin aus nächster Nähe erschoss, um das Geld aus ihrer Kasse zu stehlen. Im Gefängnis ist er nicht nur dafür bekannt, Drogen zu nehmen und mit ihnen zu handeln, sondern auch noch für einige andere Formen der organisierten Kriminalität. Er ist charmant und man kann sich gut mit ihm unterhalten – zumindest anfänglich. Denn normalerweise schlagen die Unterhaltungen irgendwann ins Gewalttätige oder Sexuelle um, eine Tatsache, die den weiblichen Mitgliedern des Personals nicht entgeht. Seit seiner Einweisung hat er auf seiner Station eine Reihe von Jobs gehabt, doch seine Unzuverlässigkeit, gepaart mit seiner explosiven Aggressivität (oft, wenn man ihm seinen Willen nicht lässt), haben zu einem häufigen Jobwechsel geführt. Wenn man seine Mithäftlinge fragt, was sie von ihm halten, geben die meisten zu, dass sie eine Mischung aus Angst und Respekt empfinden – einen Ruf, den Ian genießt.
Ian wurde erstmals mit neun Jahren straffällig, als er aus seinem örtlichen Jugendclub Computerausrüstung stahl. Seine Straftaten wurden bald brutaler und schon mit elf Jahren kam es zum versuchten Mord an einem Klassenkameraden. Als der Junge, den er im Waschraum aufforderte, ihm sein Essensgeld auszuhändigen, sich weigerte, dies zu tun, zog Ian ihm eine Plastiktüte über den Kopf und versuchte, ihn in einer der Kabinen zu ersticken. Hätte einer der Lehrer nicht eingegriffen, hätte Ian, wie er sagt, »dafür gesorgt, dass das fette Arschloch sein Essengeld nie wieder brauchte«. Bei der Erinnerung an diesen Vorfall schüttelt er den Kopf und lächelt.
Nach dem Verlassen der Schule verbrachte Ian die meiste Zeit in diversen geschlossenen Abteilungen. Zu seinen kriminellen Vorlieben gehörten Betrug, Ladendiebstahl, Einbrüche, Straßenraub, schwere Körperverletzung, Brandstiftung, Drogenhandel und Zuhälterei. Unfähig, einen Job länger als ein paar Wochen zu behalten, lag er entweder Freunden auf der Tasche oder lebte von den Erlösen seiner Straftaten. Er zog es vor, von Sofa zu Sofa und von einer Unterkunft zur nächsten weiterzuziehen, statt irgendwo Wurzeln zu schlagen. Aufgrund seiner selbstbewussten und charmanten Ausstrahlung gab es immer jemanden, der bereit war, ihn bei sich aufzunehmen: normalerweise »irgendeine Frau«, die er in einer Bar angemacht hatte. Doch unweigerlich endete die Sache mit Tränen.
Ian war nie verheiratet, hatte jedoch eine Reihe von Freundinnen, mit denen er zusammenwohnte. Seine längste Beziehung dauerte sechs Monate und wie üblich gab es heftige Streite. Immer war es Ian, der bei seiner Partnerin einzog, und nicht umgekehrt. Und jedes Mal »eroberte er ihr Herz im Sturm«. Affären waren an der Tagesordnung. Tatsächlich kann Ian sich kaum an eine Zeit erinnern, in der er nicht »mehr als eine Mieze« hatte, wie er sagt – obwohl er behauptet, nie untreu gewesen zu sein. »Meistens kam ich abends zu ihr zurück«, sagt er. »Was wollen sie mehr, die Weiber?«
Bei seinem Prozess waren die Beweise gegen Ian eindeutig. Dennoch plädierte er auf nicht schuldig und behauptet bis heute, dass er unschuldig ist. Während der Verlesung des Urteils lächelte er in Richtung der Familie des Opfers, und er zeigte dem Richter den Stinkefinger, als er von der Anklagebank weggeführt wurde.
Seit Ian im Gefängnis ist, hat er zweimal Berufung gegen sein Strafmaß eingelegt. Trotz wiederholter gegenteiliger Beteuerungen seines Anwalts ist er fest davon überzeugt, dass sein Fall wieder aufgerollt und das Urteil aufgehoben werden wird.
Der Sekt ist schon kalt gestellt, sagt er.
Stellen Sie sich also vor, Sie seien der Kliniker, und Ian und Jimmy wären Zellengenossen. Die beiden sitzen im Gang und warten auf die Sprechstunde. Glauben Sie, dass Sie erkennen könnten, wer von den beiden der Psychopath ist? Oberflächlich betrachtet könnte das schwierig sein. Aber lassen Sie uns noch einmal die Kriterien für eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung betrachten. Beide haben Probleme, sich an soziale Normen anzupassen. Und beiden fällt es schwer, ihr Verhalten zu kontrollieren – sie neigen zu Impulsivität, Aggressivität und Unverantwortlichkeit. Eine eindeutige Diagnose, würde ich sagen.
Lassen Sie uns nun jedoch die psychopathische Geschichte untersuchen. Das Bedürfnis nach Stimulierung und ein parasitärer Lebensstil? Wohl eher typisch für Ian als für Jimmy. Doch tatsächlich sind die Gefühle oder genauer gesagt die fehlenden Gefühle der Punkt, an dem Ians »Maske der Normalität« zu fallen beginnt. Charmant, grandios, manipulativ, mit einem Mangel an Empathie und Schuldgefühlen: Ian ist so gut in Psychopathie, dass man fast denken könnte, er habe geübt. Oder gerade vor Kurzem seinen Abschuss an einer geheimen Psychopathen-Schule gemacht.
Mit Auszeichnung.
Die Antisoziale Persönlichkeitsstörung ist Psychopathie mit Emotionen. Psychopathie hingegen ist charakterisiert durch völlige Emotionslosigkeit.
Ein kriminelles Versäumnis
Wie kommt es, dass die Psychopathie den Anforderungen der Hüter des DSM nicht genügt und keinen Eingang in dieses Manual gefunden hat? Für diesen seltsamen und bemerkenswerten Ausschluss wird als häufigster Grund eine empirische Widerspenstigkeit angeführt – das und die angebliche Synonymie mit der Antisozialen Persönlichkeitsstörung. Schuldgefühle, Reue und Empathie lassen sich vielleicht nicht sonderlich gut quantifizieren. Also hält man sich am besten an beobachtbares Verhalten, damit nicht das Gespenst der Subjektivität seine Fratze zeigt.
Das ist, gelinde gesagt, in mehrerlei Hinsicht problematisch. Zunächst einmal zeigen Studien, dass die Konkordanzraten unter Klinikern ziemlich hoch sind, wenn es um die PCL-R geht.45 Mit dieser Checkliste werden gute »Urteilerübereinstimmungen« erzielt. Und außerdem kann man, wie ein erfahrener Psychiater mir sagte, »einen verdammten Psychopathen schon wenige Sekunden, nachdem er zur Tür hereingekommen ist, riechen«.
Aber das ist nicht der einzige Punkt. Das Rätsel der Identität des Psychopathen, die Frage, was genau sich hinter der Maske der Normalität verbirgt, wird noch verworrener durch die Feststellung: Nicht alle Psychopathen befinden sich hinter Gittern. Die Mehrheit trifft man, wie sich herausstellt, am Arbeitsplatz an. Und einige von ihnen machen ihre Sache sehr ordentlich. Diese sogenannten »erfolgreichen« Psychopathen – wie die, mit denen sich Scott Lilienfeld befasst – stellen ein Problem für die Antisoziale Persönlichkeitsstörung und übrigens auch für die Verfechter der PCL-R dar. Im Rahmen einer kürzlich von Stephanie Mullins-Sweatt an der Oklahoma State University geleiteten Studie gab man Anwälten und klinischen Psychologen eine prototypische Beschreibung eines Psychopathen.46 Nachdem sie das Profil gelesen hatten, wurden die beiden Gruppen auf den Prüfstand gestellt. Waren sie in der Lage, sich jemanden, den sie gekannt hatten oder kannten, ins Gedächtnis zu rufen, auf den eine solche Beschreibung ihrer Meinung nach passte (und der in seinem Beruf erfolgreich war)? Wenn ja, konnten sie die Persönlichkeit dieser Person mithilfe des Fünf-Faktoren-Tests beurteilen?
Die Ergebnisse waren interessant. Wie nicht anders zu erwarten, wurden die erfolgreichen Psychopathen – die man unter anderem aus der akademischen Welt sowie der Welt des Business und des Gesetzesvollzugs heraufbeschwor[13] – als ebenso ruchlos und niederträchtig eingestuft wie ihre erfolglosen Kollegen und wie diese als »unehrlich, ausbeuterisch, mit einem geringen Reue- und Schuldempfinden ausgestattet, arrogant und oberflächlich« beschrieben.
Bis hierhin also keine Überraschungen.
Als es um die Big Five ging, setzten sich die Ähnlichkeiten jedoch fort. Wie in der Studie von Donald Lynam, in der die Experten ihre Bewertungshüte aufsetzten, wird der erfolgreiche Psychopath so wie sein prototypisches Alter Ego als jemand dargestellt, der (hypothetisch) bei Merkmalen der Dimension Extraversion wie Durchsetzungsfähigkeit, Erlebnishunger und Aktivität hohe Werte und bei Merkmalen der Dimension Verträglichkeit wie Altruismus, Entgegenkommen und Bescheidenheit niedrige Werte erzielt. Mit Ausnahme der Selbstdisziplin (bei der die erfolglosen Psychopathen floppten und die erfolgreichen sich hervortaten) nähern sich auch die Gewissenhaftigkeitsprofile an, wobei beide Gruppen die höchsten Punktzahlen bei Kompetenz, Ordnungsliebe und Leistungsstreben erreichen.
All dies wirft die Frage auf: Wo liegt der entscheidende Unterschied? Macht allein die Selbstdisziplin den Unterschied zwischen erfolgreichen und erfolglosen Psychopathen, zwischen Präsidenten und Pädophilen aus? Angesichts des Gleichstands in allen anderen Bereichen könnte da tatsächlich etwas dran sein. Die Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben und dem Drang, die Flinte ins Korn zu werfen, widerstehen zu können, mag durchaus der ausschlaggebende Punkt dafür sein, dass das Pendel statt zugunsten krimineller Aktivitäten zugunsten eines strukturierteren, weniger impulsiven und weniger antisozialen Lebensstils ausschlägt.
Wobei jedoch die Frage der kriminellen Aktivität eigene Probleme aufwirft. Sowohl in der PCL-R als auch im Kriterienkatalog des DSM für die Antisoziale Persönlichkeitsstörung gelten »polytrope Kriminalität« bzw. »wiederholtes Begehen von Handlungen, die einen Grund für eine Festnahme darstellen« als wesentliche Determinanten der Psychopathie. Mit anderen Worten, als Symptome. Wie die Studie von Mullins-Sweatt zeigt, trifft jedoch keines dieser Items notwendigerweise auf den erfolgreichen Zweig der Spezies zu. Es ist durchaus möglich, ein Psychopath, aber kein Krimineller zu sein.
Sind also die erfolgreichen Psychopathen keine »echten« Psychopathen? Fehlen ihnen im Vergleich mit ihren verrufenen, ruchloseren Namensvettern bestimmte Synapsen? Die Frage ist schwierig zu beantworten. Doch in dem Versuch, genau das zu tun, stellte sich vor fünfzehn Jahren ein Psychologe dieser Herausforderung. Und landete mit mir und einem Berg Alligator-Tortillas in einem Restaurant in der City von Atlanta.
Die leichten Jungs unter den Psychopathen
1996 schlugen sich Scott Lilienfeld und sein Mitarbeiter Brian Andrews genau mit diesem Rätsel herum. Als erfahrener Forscher auf diesem Gebiet, der schon so manchem Psychopathen gegenüber gesessen hatte, war Lilienfeld zu einem verblüffenden Schluss gekommen. Was die ursprüngliche Definition der Störung betraf – das traditionelle Konzept dessen, was es wirklich bedeutete, ein Psychopath zu sein, wie Hervey Cleckley es dargelegt hatte –, verhielten sich die PCL-R und andere klinische Messinstrumente selbst ziemlich merkwürdig. Im Lauf der Jahre, so erkannte Lilienfeld, hatte sich der diagnostische Fokus erweitert. Hatte man sich anfänglich auf die Persönlichkeitsmerkmale konzentriert, die die Störung kennzeichneten, so fokussierte man sich nun ebenso stark, wenn nicht noch stärker, auf antisoziale Handlungen. Der Psychopathenzirkus war im Schlamm der Forensik stecken geblieben.
Als Paradebeispiel führten Lilienfeld und Andrews die Furchtlosigkeit an. In seinem ursprünglichen Manifest von 1941 hatte Cleckley behauptet, ein geringes Angstlevel stelle eines der Hauptmerkmale des Psychopathen dar. Doch wo genau tauchte das in der Psychopathie-Checkliste auf? Derlei Auslassungen waren, wie Lilienfeld herausfand, Ausdruck einer größeren theoretischen Verwerfungslinie zwischen den verschiedenen Sektoren der klinischen und forschenden Bruderschaften und ihrer Art, Psychopathen zu sehen: eine althergebrachte Kluft zwischen zwei analytischen Traditionen. Zwischen einer qualitativen psychologischen Ausrichtung und einer quantitativen behavioristischen Ausrichtung.
In dem einen der beiden Lager befanden sich die Anhänger Cleckelys, deren Hauptinteresse der Psychopathie als Persönlichkeitseigenschaft galt, im anderen die Behavioristen, die sich dem DSM und dem Evangelium der Antisozialen Persönlichkeitsstörung verpflichtet fühlten und dazu neigten, sich auf das kriminelle Formblatt zu konzentrieren. Eine solche Spaltung war natürlich weder einer kohärenten empirischen Forschung noch einem diagnostischen Konsens förderlich. Ein Individuum, das einerseits alle notwendigen Voraussetzungen für eine psychopathische Persönlichkeit besaß, andererseits aber kein wiederkehrendes antisoziales Verhalten an den Tag legte – eine von Mullins-Sweatts »subklinischen« Spielarten z. B. –, würde bei den Verfechtern des persönlichkeitsorientierten Ansatzes als Psychopath gelten, von den Behavioristen, wie Lilienfeld und Andrews feststellten, bei denen Taten mehr zählen als Worte, jedoch schnell der Tür verwiesen werden.
Und die Dynamik wirkt in beide Richtungen. Wie wir bei Ian und Jimmy gesehen haben, ist nicht jeder, der gewohnheitsmäßig kriminellen Aktivitäten nachgeht, ein Psychopath. Tatsächlich trifft dies nur auf eine kleine Minderheit zu. Etwas musste geschehen, um die rivalisierenden Konzepte einander anzugleichen, um wieder eine Übereinstimmung zwischen diesen sehr unterschiedlichen Perspektiven herzustellen.
Und Lilienfeld und Andrews hatten die Antwort.
Das Psychopathic Personality Inventory (kurz PPI genannt) besteht aus 167 Items.47 Es ist nicht gerade der prickelndste Fragebogen der Welt. Aber das Thema, um das es darin geht, ist ja auch nicht unbedingt prickelnd. Dieser psychometrische Koloss setzt sich aus acht verschiedenen Persönlichkeitsdimensionen zusammen und ist damit einer der bislang umfassendsten Psychopathietests. Interessanterweise deckt unser alter Freund Faktorenanalyse ein bekanntes Muster auf. Die acht unabhängigen Satellitenstaaten der psychopathischen Persönlichkeit – Machiavellistischer Egoismus (ME), Rebellische Risikofreude (RR), Schuldexternalisierung (SE), Sorglose Planlosigkeit (SP), Furchtlosigkeit (F), Sozialer Einfluss (SOE), Stressimmunität (STI) und Kaltherzigkeit (K) – spalten sich auf und formieren sich neu entlang übergeordneter Achsen ...
- Egozentrische Impulsivität (ME + RR + SE + SP)
- Furchtlose Dominanz (SOE + F + STI)
- Kaltherzigkeit (K)
... und enthüllen, sobald sich die mathematischen Staubwolken gesetzt haben, die strukturelle DNA reiner, unverfälschter Psychopathie. Dies war das Genom, das Cleckley ursprünglich sequenziert hatte und dem weder die Zeit noch die kontroversen Diskussionen etwas hatten anhaben können. Und bei so gut wie jedem ließe sich wohl eine positive Übereinstimmung feststellen.
Der Tequila fließt. Und während wir die Tortillas verputzen, erklärt Lilienfeld enthusiastisch, was die Persönlichkeit des Psychopathen tatsächlich ausmacht.
Er erläutert die empirischen Gründe für die Entwicklung des PPI: »Das Problem mit den existierenden Messinstrumenten für das Syndrom war damals, dass die meisten von ihnen auf kriminelle oder delinquente Populationen zugeschnitten waren. Wir wissen jedoch, dass Menschen mit psychopathischen Merkmalen ›nach außen hin‹ sehr gut funktionieren – und dass einige von ihnen äußerst erfolgreich sind. Skrupellosigkeit, mentale Härte, Charisma, Fokus, Überzeugungskraft und Kaltblütigkeit unter Druck sind Qualitäten, die sozusagen auf breiter Front die Spreu vom Weizen trennen. Wir mussten also irgendwie eine Brücke schlagen zwischen den inhaftierten, ›forensischen‹ Psychopathen und ihren elitären, äußerst funktionsfähigen Kollegen. Mit Ersteren kannten wir uns aus. Was aber war mit den leichten Jungs?
Wir überlegten, dass Psychopathie auf einem Spektrum angelegt ist. Und natürlich werden einige von uns bei einigen Merkmalen hohe Werte erzielen, bei anderen hingegen nicht. Sie und ich könnten beim PPI dieselbe Gesamtpunktzahl erzielen, und dennoch könnten sich unsere Profile in Bezug auf die acht Skalen vollkommen unterscheiden. Sie könnten eine hohe Punktzahl bei Sorgloser Planlosigkeit erzielen, aber eine entsprechend niedrige bei Kaltherzigkeit. Und bei mir könnte es genau umgekehrt sein.«
Lilienfelds Vorstellung, dass die Psychopathie auf einem Spektrum angelegt ist, macht jede Menge Sinn. Wenn die Psychopathie als eine Erweiterung der normalen Persönlichkeit verstanden wird, dann folgt daraus, dass sie selbst in Zahlenwerten darstellbar sein muss. Und dass mehr oder weniger davon in jedem beliebigen Kontext von beträchtlichem Vorteil sein könnte. Eine solche Prämisse ist nicht neu in den Annalen der mentalen Dysfunktion (falls die Psychopathie in Anbetracht der Vorteile, die sie unter bestimmten Umständen mit sich bringt, tatsächlich dysfunktional ist). Beim autistischen Spektrum haben wir es z. B. mit einem Kontinuum der Anormalität in Bezug auf soziale Interaktionen und Kommunikation zu tun, das von schweren Beeinträchtigungen am »tiefen Ende« – denen, die schweigen, geistig behindert und in stereotypen Verhaltensweisen wie Kopfrollen oder Körperschaukeln gefangen sind – bis zu milden Beeinträchtigungen am »flachen Ende« reicht: gut funktionierenden Individuen mit aktiven, aber eindeutig seltsamen interpersonellen Strategien, sehr eingeschränkten Interessen, einem starken Bedürfnis nach »Gleichförmigkeit« und dem starren Festhalten an Regeln und Ritualen.48
Weniger vertraut, aber gleichermaßen relevant ist das schizophrene Spektrum.49 Forschungen zum Konstrukt der Schizotypie weisen darauf hin, dass psychotische Erfahrungen der einen oder anderen Art (normalerweise der harmlosen und nicht leidvollen Variante) unter der Allgemeinbevölkerung insgesamt relativ weit verbreitet sind und dass die Schizophrenie nicht kategorial – man hat sie oder hat sie nicht –, sondern dimensional betrachtet werden sollte, und zwar mit willkürlichen Cut-off-Werten zwischen normal, seltsam und krank. Innerhalb dieses Rahmens wirken die Symptome der Schizotypischen Persönlichkeitsstörung (seltsame Überzeugungen; seltsame Sprechweise; exzentrischer interpersoneller Stil) wie die Anfängerhügel des zentralen Schizophreniemassivs. So wie bei der Psychopathie lässt sich die »Störung« in niedrigen oder mittleren Höhen kontrollieren. In manchen Zusammenhängen ist sie sogar vorteilhaft (die Verbindung zwischen Schizotypie und Kreativität ist bestens bekannt). Doch oberhalb der Schneegrenze werden die Bedingungen immer gefährlicher.
Eine solche Herangehensweise an das Rätsel psychischer Störungen hat etwas Intuitives und Gesundes. Denn die quälende Vermutung, dass wir alle ein bisschen verrückt sind, lässt sich nur schwer ignorieren. Wenn es jedoch um die Psychopathie geht und darum, dass sie auf einem Spektrum angelegt ist und dimensional betrachtet werden sollte, ist sicher nicht alles nach Scott Lilienfelds Willen gegangen. Da gibt es diejenigen, die Einwände gegen seine Gleitskala-Lösung erheben, und mit ihren eigenen Beweisen aufwarten. Tonangebend unter ihnen ist ein Mann namens Joseph Newman.
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß
Joe Newman ist Professor für Psychologie an der University of Wisconsin, Madison, und eine Stunde in seinem Büro zu verbringen ist so, als säße man in einem psychologischen Windkanal – wie Wildwasserrafting durch die Stromschnellen der Kognitionswissenschaft. In den letzten dreißig Jahren hat Newman die meiste Zeit in einigen der härtesten Gefängnissen im Mittelwesten verbracht. Natürlich nicht als Insasse, sondern als einer der weltweit unerschrockensten Forscher, der mit Psychopathen hoch über der Schneegrenze der Dysfunktion arbeitet. Obwohl er sich schon lange an die rauen, gnadenlosen Bedingungen gewöhnt hat, gibt es selbst jetzt noch Zeiten, in denen es, so Newman, ein bisschen haarig wird.
Er erinnert sich z. B. an einen ein paar Jahre zurückliegenden Vorfall mit einem Typen, der bei der PCL-R 40 Punkte erzielte. Die maximale Punktzahl also. Er war ein »echter« Psychopath.
»Während des Interviews gibt es normalerweise einen Punkt, an dem wir die Leute gern ein bisschen aus der Reserve locken«, erzählt Newman mir. »Sie herausfordern. Ihre Reaktion beurteilen. Doch als wir das mit diesem Typen taten – und bis dahin war er ein wirklich netter Kerl: charmant, lustig, großes Selbstbewusstsein –, hatte er mit einem Mal diesen kalten, schwer zu beschreibenden Blick, den man aber kennt, wenn man ihn sieht, und der einfach zu sagen scheint: ›Verschwinde!‹ Und wissen Sie was? Wir sind verschwunden! Er hat uns einfach zu Tode erschreckt.«
Seinen eigenen Aussagen zufolge hat Newman manchmal selbst diesen Blick. Er geht nicht so weit zu sagen, dass man, um einen anderen genau zu kennen, so sein muss wie er. Doch als jemand, der in den schäbigeren Straßen von New York aufwuchs, weiß er, wie es sich anfühlt, wenn ein Messer, eine Waffe oder alles Mögliche andere auf einen gerichtet wird. Dafür sei er dankbar, erklärt er ohne die geringste Spur von Ironie. Es war ein Vorgeschmack auf das, was da kommen würde. In der akademischen Welt.
Newman ist genügsamer als die meisten anderen, wenn es um die Auswahlkriterien für einen Psychopathen geht. »Meine Hauptsorge ist die, dass man mit dem Etikett [Psychopath] zu großzügig und ohne ausreichendes Verständnis der Schlüsselelemente umgeht«, sagt er leise und in einem fast entschuldigenden Ton. »Das führt dazu, dass fast jedem Tür und Tor geöffnet sind und der Begriff oft auf normale Kriminelle und Sexualstraftäter angewendet wird, deren Verhalten vielleicht in erster Linie soziale Faktoren oder andere emotionale Probleme widerspiegelt, die eher auf eine Behandlung ansprechen als die Psychopathie.«
Er ist zudem völlig offen für die Vorstellung, dass es auch außerhalb des kriminellen Firmaments Psychopathen gibt, die oft bestens in Berufen wie den folgenden zurechtkommen: Chirurg, Anwalt oder Firmenchef – etwas, das Menschen, die mit den Bausteinen der psychopathischen Persönlichkeit nicht so vertraut sind, vielleicht überraschen würde. »Die Kombination von geringer Risikoaversion und fehlenden Schuldgefühlen oder fehlender Reue, den beiden zentralen Säulen der Psychopathie«, so Newman, »kann je nach Umstand zu einer erfolgreichen Karriere im kriminellen Milieu oder im Business führen. Manchmal zu beidem.«
So weit, so gut. Doch wenn es um die Ätiologie der Störung, die ihr zugrunde liegende Ursache geht, schwimmt Newman gegen den Strom. Der gängigen Theorie zufolge sind Psychopathen unfähig, Angst, Empathie und eine Reihe anderer Gefühle zu empfinden – wodurch ihre soziale Wahrnehmung »betäubt« ist. Das macht es ihnen wiederum unmöglich, derlei Gefühle bei anderen zu dulden. Diese Ansicht vertritt unter anderem James Blair vom National Institute of Mental Health in Bethesda, ein weiterer Experte auf dem Gebiet der Psychopathie. Sie impliziert eine neuronale Dysfunktion – vor allem in Bezug auf die Amygdala, den Emotions-CEO des Gehirns, und einige eng mit ihr verbundene Strukturen wie den Hippocampus, die obere Schläfenfurche, den anterioren cingulären Kortex und den orbitofrontalen Kortex – als die Hauptursache des Syndroms, als die wichtigste biologische Basis hinter der dem Industriestandard entsprechenden psychopathischen Dyade: die verhaltensmäßigen Begleiterscheinungen einer profunden emotionalen Beeinträchtigung und ein wiederholtes antisoziales Handeln.
Doch Newman sieht die Sache anders. Er glaubt nicht, dass Psychopathen unfähig sind, Angst zu empfinden – dass sie so emotionslos sind, wie sie traditionell in der Literatur beschrieben werden –, sondern ist vielmehr der Meinung, dass sie den Angstauslöser einfach nur nicht bemerken. Stellen Sie sich z. B. vor, Sie hätten eine Spinnenphobie und Ihnen würde allein bei dem Gedanken an irgendetwas mit acht Beinen der kalte Schweiß ausbrechen. Und genau jetzt, in diesem Augenblick, würde vielleicht eine Vogelspinne nur wenige Zentimeter über Ihrem Kopf baumeln. Wenn Sie jedoch nicht wissen, dass die Vogelspinne da ist, werden Sie keine Angst vor ihr haben, oder? In Ihrem Gehirn existiert sie einfach nicht.
Mithilfe eines genialen Experiments demonstrierte Newman, dass dies die Erklärung für die angebliche Emotionslosigkeit der Psychopathen sein könnte. Nicht nur in Bezug auf Spinnen, sondern auf die meisten Dinge.50 Sie empfinden kein Leid und erkennen auch nicht, wenn andere leiden, weil sie in dem Moment, in dem sie sich auf eine Aufgabe fokussieren, die eine unmittelbare Belohnung verspricht, alles »Irrelevante« ausblenden. Sie bekommen einen emotionalen »Tunnelblick«.
Newman und seine Mitarbeiter präsentierten einer Gruppe von Psychopathen und Nicht-Psychopathen eine Reihe falsch beschrifteter Bilder wie die folgenden.

Abb: 2.3. Die Bild-Wort-Stroop-Aufgabe (in Anlehnung an Rosinski, Golinkoff & Kukish, Do Words Really Interfere in Naming Pictures?, 1975)
Die Aufgabe, die unter Kognitionspsychologen, vor allem denjenigen, deren Interesse den der Aufmerksamkeit zugrunde liegenden Mechanismen gilt, sehr beliebt ist, scheint einfach zu sein. Sag, was du auf dem Bild siehst, und ignoriere das inkongruente Wort. Gegen die Uhr. Und bei einer Serie aufeinanderfolgender Versuche.
Tatsächlich empfinden die meisten Menschen dies als ein bisschen schwierig. Die explizite Anweisung, den abgebildeten Gegenstand zu benennen, liegt im Widerstreit mit dem Drang, das unstimmige 68 Wort zu lesen – ein Stottern des Motors, das dazu führt, dass man zögert. Anhand dieses als Stroop-Interferenz bekannten Zögerns (nach J. R. Stroop, der 1935 das ursprüngliche Paradigma vorstellte) wird der Aufmerksamkeitsfokus gemessen. Je schneller man ist, desto schmaler ist die Fokusbreite des Aufmerksamkeitsscheinwerfers. Je langsamer man ist, desto breiter ist sie.
Falls an Newmans Theorie irgendetwas dran war und die Psychopathen tatsächlich an dieser Art von Informationsverarbeitungs-Defizit (oder -Talent) litten, von dem er sprach, dann brauchte man kein Genie zu sein, um herauszufinden, was passieren würde. Sie würden die Bilder schneller benennen können als Nicht-Psychopathen und sich uneingeschränkt auf diese bestimmte Aufgabe konzentrieren.
Die Ergebnisse der Studie hätten nicht eindeutiger ausfallen können. Immer wieder stellte Newman fest, dass die nicht-psychopathischen Probanden durch die unstimmigen Bild-Wort-Paarungen zu Fall gebracht wurden – d. h. länger brauchten, um die Bilder zu benennen –, die Psychopathen hingegen die Unstimmigkeiten kaum wahrnahmen und die Aufgabe mit Leichtigkeit meisterten.
Aber das ist noch nicht alles. Newman entdeckte noch etwas anderes, etwas, das Scott Lilienfeld und das psychopathische Spektrum in die Bredouille bringen könnte: eine Anomalie in den Daten, d. h. eine deutliche Veränderung der Reaktionsmuster, sobald eine kritische Schwelle erreicht ist. Solange sie sich an den unteren Hängen der PCL-R bewegen, bewältigen alle Probanden Aufgaben wie diese etwa gleich gut und sehen sich den gleichen Schwierigkeiten gegenüber. Doch sobald das klinische Basislager der Psychopathie, d. h. eine Punktzahl von 28–30 erreicht wird, ändert sich die Dynamik dramatisch. Probanden, die in diesen größeren Höhen zu Hause sind, finden die Sache leicht. Sie scheinen die offensichtlichen peripheren Hinweise, die für jeden anderen unübersehbar sind, einfach nicht zu verarbeiten.
Nicht, dass sie gegen diese Hinweise immun wären. Weit gefehlt! In einer anderen Studie konfrontierten Newman und seine Kollegen Psychopathen und Nicht-Psychopathen mit einer Serie von Buchstabenfolgen auf einem Computerbildschirm.51 Einige der Buchstaben waren rot, andere grün. Wieder andere äußerst schmerzhaft: Den Probanden wurde gesagt, dass man ihnen im Anschluss an eine zufällige Folge roter Buchstaben einen Elektroschock verabreichen würde. Wie erwartet zeigten die Psychopathen wesentlich weniger Angst als die Nicht-Psychopathen, wenn ihre Aufmerksamkeit von der Aussicht auf den Elektroschock weggelenkt wurde (sie gebeten wurden zu sagen, ob es sich bei den gezeigten Buchstaben um Groß- oder Kleinbuchstaben handelte). Wurde die Aussicht auf den Elektroschock jedoch deutlich gemacht (d. h. die Probanden ausdrücklich gebeten, zu sagen, welche Farbe die gezeigten Buchstaben hatten: rot oder grün), kehrte der Trend sich um, so wie Newman und seine Kollegen es vorhergesagt hatten. Dieses Mal waren tatsächlich die Psychopathen nervöser.
»Die Leute glauben, [Psychopathen] seien einfach gefühllos und hätten keine Angst«, sagt Newman. »Aber so einfach ist die Sache nicht. Wenn das Hauptaugenmerk auf den Emotionen liegt, zeigen die psychopathischen Individuen eine normale [emotionale] Reaktion. Sind sie hingegen auf etwas anderes konzentriert, werden sie Gefühlen gegenüber völlig unempfänglich.«
Dass die Reaktionsmuster genau an dem Punkt der PCL-R, an dem die Dinge klinisch werden, auseinanderlaufen, macht das Geheimnis dessen, was Psychopathie genau ist – ob sie auf einem Kontinuum liegt oder eine separate psychische Störung ist –, plötzlich noch undurchdringlicher.
Geht es bei der Psychopathie nur um einen graduellen Unterschied? Oder bilden die schweren Jungs eine Klasse für sich?
Ein kleiner Schritt, ein gewaltiger Sprung
Die Antwort auf eine solche Frage sollte zwangsläufig schwarz oder weiß sein, wie man meinen könnte. Denn wenn die Psychopathie auf einem Kontinuum liegt, dann muss die Flugbahn von niedrig nach hoch, von Mutter Teresa zu John Wayne Gacy, linear sein und die Straße zu moralischer Gewichtslosigkeit glatt. Und wenn nicht, dann nicht: Dann hat man die jähen Veränderungen in den Datenmustern, die Joe Newman beobachtet hat.
Tatsächlich ist die Sache jedoch nicht so einfach, wie jeder, der schon einmal Lotto gespielt hat, bestätigen wird. Natürlich liegen die sechs Gewinnzahlen auf einem Kontinuum: einem Kontinuum von eins bis sechs. Doch die Größe des Gewinns – ob ein Zehner oder der Jackpot – ist eine völlig andere Geschichte. Die Funktion ist exponentiell, und die Fragen, welche Beziehung zum einen zwischen den Zahlen auf einem Kontinuum besteht und wie sie sich zum anderen (in diesem Fall buchstäblich) in eine »Real Life«-Währung umrechnen lassen, haben allein mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Die Chance, sechs Richtige zu haben (1 zu 13 983 816), unterscheidet sich nicht im selben Maße von der Chance, fünf Richtige zu haben (1 zu 55 492), in dem Letztere sich von der Chance auf vier Richtige unterscheidet (1 zu 1033). Bei Weitem nicht. Während die Dinge sich also auf einer Ebene vorhersagbar entwickeln, lässt sich das, worauf sie in einem parallelen mathematischen Universum »hinauslaufen«, nicht vorhersagen. Die Sache nimmt ein Eigenleben an.
Zurück zum Restaurant, wo ich Scott Lilienfeld meine Theorie vorstelle: dass er und Joe Newman recht haben könnten. Vielleicht lässt sich die Psychopathie tatsächlich einem Spektrum zuordnen. Doch an dessen gefährlichem psychopathischem Ende scheint etwas unglaublich Krasses zu passieren. Ein Schalter scheint sich einfach umzulegen.
»Das ist sicher eine Möglichkeit, die beiden Konzepte miteinander zu versöhnen«, überlegt er. »Und es ist zweifellos richtig, dass diejenigen, die sich am extremen Ende befinden, oft einen anderen Sprit zu brauchen scheinen als alle anderen. Aber es hängt auch von dem Ausgangspunkt ab: ob man Psychopathie in erster Linie als eine Prädisposition der Persönlichkeit oder als Informationsverarbeitungs-Störung betrachtet. Ob man von kognitiven Defiziten oder von Unterschieden im Temperament spricht. Man braucht sich nur die Sprache anzusehen, die verwendete Terminologie: Störung, Defizit, Prädisposition, Abweichung ... es wäre interessant zu wissen, was Joe dazu sagt. Haben Sie ihm Ihre Theorie vorgestellt?«
Das hatte ich nicht. Doch nicht lange danach tat ich es.
»Ist es möglich«, fragte ich Newman, »dass man, neurologisch betrachtet, graduelle Unterschiede entdeckt, je weiter man sich auf dem psychopathischen Spektrum – angenommen, es gibt eins – voran bewegt? Zum Beispiel Unterschiede in den Aufmerksamkeitsmechanismen des Gehirns oder den Belohnungssystemen, die in ihrem Fokus immer laserartiger werden bzw. zunehmend auf sofortige Belohnung aus sind, je psychopathischer ein Mensch ist? Und dass die Leistung beim PPI oder der PCL-R zwar linear sein mag, dies auf ihre Art, sich – vor allem bei sehr hohen Punktwerten – in geringer Gehirnaktivität zu manifestieren, vielleicht aber nicht zutrifft? Dass diese tatsächlich spektakulär exponentiell sein könnte?
Er bekam schmale Augen. Der gerissene, alte Revolverheld war nicht in Spiellaune.
»Klar«, sagte er. »Schon möglich. Aber der klinische Cut-off-Wert [bei der PCL-R] liegt bei 30. Und zufällig oder auch nicht ist das im Labor genau der Punkt, an dem man auf die größten Probleme stößt.«
Er lächelte und goss sich Kaffee ein.
»Aber es spielt auch eigentlich keine Rolle, wie man die Sache betrachtet«, sagte er. »Klinische Psychopathen sind eine sehr eigene Spezies. So oder so, sie sind anders. Stimmt’s?«