4 Die Weisheit der Psychopathen

Dass es mir egal ist, heißt noch lange nicht,

dass ich es nicht verstehe.

Homer Simpson

Neujahrsvorsätze

Wissen Sie was? Mein ältester Freund ist ein Psychopath. Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern gewesen, wie eine der Kindergärtnerinnen mich mit zum Sandkasten nahm und mit diesem pummeligen blonden Kind bekanntmachte, das mit einem jener Puzzles spielte, bei dem man die richtige Form ins richtige Loch stecken muss. Ich nahm also einen Stern und versuchte, ihn durch das Loch zu schieben, das eindeutig für den Papageien gedacht war, wie ich heute weiß. Der Stern passte nicht hindurch. Schlimmer noch, er blieb stecken. Johnny verbrachte rund zwanzig Sekunden damit (eine Ewigkeit im Leben eines Fünfjährigen), ihn wieder herauszuziehen. Und stieß mir das verdammte Ding dann ins Auge. Dieser herzlose, nicht provozierte und, offen gesagt, äußerst kindische Angriff kennzeichnete mehr oder weniger den Höhepunkt unserer Freundschaft.

Spulen wir rund zehn Jahre vor und Johnny und ich befinden uns zusammen auf der Sekundarschule. Es ist Pause, und er kommt zu mir herüber und fragt, ob er sich meine Geschichtshausaufgabe ausleihen kann. Er hat seine »zu Hause liegen lassen« – und raten Sie mal, was wir in der nächsten Stunde haben.

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Johnny. »Es wird garantiert nicht auffallen. Ich werde das Ganze völlig umschreiben.«

Ich gebe ihm die Hausaufgabe und treffe ihn dann zu Beginn der nächsten Stunde wieder. »Hast du meine Aufgabe, Johnny?«, flüstere ich.

Johnny schüttelt den Kopf. »Tut mir leid«, sagt er. »Keine Chance.«

Ich gerate in Panik. Mit unserem Geschichtslehrer ist nicht zu spaßen. Keine Hausaufgabe heißt keine Note. Und Nachsitzen.

»Was soll das heißen, keine Chance?«, zische ich. »Wo hast du sie?«

Seelenruhig, so als würde er eine Gutenachtgeschichte erzählen, erklärt Johnny mir: »Na ja, Kev, die Sache ist die. Ich hab einfach keine Zeit gehabt, den Text umzuschreiben. Also hab ich alles wörtlich abgeschrieben.«

»Aber das erklärt nicht, wo meine Hausaufgabe ist, oder?«, kreische ich, als der Lehrer, der nicht gerade für seine soziale Kompetenz bekannt ist, ins Klassenzimmer stürmt.

Johnny sieht mich an, als sei ich völlig verrückt. »Wir können doch nicht beide dieselbe Arbeit abgeben, oder?«, sagt er.

»Nein!«, rufe ich aus, »das können wir nicht!« Ich hab die Sache noch immer nicht verstanden. »Wo zum Teufel hast du also meine Hausaufgabe?«

Johnny zuckt die Schultern. Und nimmt »seine« Arbeit heraus, damit der Lehrer sie einsammeln kann.

»Sie liegt im Mülleimer«, sagt er lässig. »Hinter dem Musikblock.«

Instinktiv springe ich von meinem Stuhl hoch. Vielleicht habe ich noch Zeit, sie zu holen, bevor der Unterricht beginnt.

»Du Arschloch«, knurre ich im Flüsterton. »Ich bringe dich um.«

Johnny packt mich am Arm und zerrt mich auf meinen Stuhl zurück. »Hör mal«, sagt er mit einem besorgten, fürsorglichen Lächeln und deutet auf das Fenster. »Es schüttet draußen und du wirst bis auf die Haut nass werden. Du willst dir doch nicht die Chance versauen, nächste Woche den Schulrekord über die Meile zu brechen, nur weil du dir irgendwas einfängst, oder?«

In Johnnys Stimme ist nicht die Spur von Ironie zu hören. Ich kenne ihn lange genug, um zu begreifen, dass er wirklich davon überzeugt ist, er mache sich meinetwegen Sorgen. Er glaubt tatsächlich, dass er nur das Beste für mich will. In diesem Moment kann ich ihm ärgerlicherweise nur zustimmen. Der Mistkerl hat nicht ganz unrecht. Der Rekord besteht seit den frühen Sechzigern und das Training ist gut gelaufen. Es wäre eine Schande, durch eine dumme Aktion in der letzten Minute all die harte Arbeit zu ruinieren.

Ich sacke auf meinem Stuhl in mich zusammen und ergebe mich meinem Schicksal.

»Guter Junge«, sagt Johnny. »Schließlich geht es nur um eine Hausaufgabe. Das Leben ist zu kurz.«

Ich höre nicht zu, denn ich bin schon dabei, mir eine plausible Erklärung zurechtzulegen, warum ich die Hausaufgabe nicht habe. Und überlege, dass ich sie trocknen kann, wenn sie vom Regen nicht zu stark beschädigt ist, oder sie abschreiben und später abgeben kann, wenn das nicht funktioniert.

Es bleibt mir nicht viel Zeit, mir eine glaubwürdige Erklärung auszudenken. Voldemort dreht bereits seine Runden und ist jetzt nur wenige Reihen vor uns, einen Haufen Mist über den Deutsch-Französischen Krieg in den Pranken.

Johnny schnappt sich sein Opus und wirft einen bewundernden Blick darauf. Dann tätschelt er mir den Rücken, sieht aus dem Fenster und verzieht beim Anblick des Regens das Gesicht.

»Außerdem«, fügt er hinzu, »wäre es sowieso zu spät gewesen, Kev. Ich denke, ich sollte relativieren, was ich gerade gesagt habe. Das, was von deiner Hausaufgabe übrig ist, befindet sich im Mülleimer. In Wirklichkeit hab ich sie verbrannt, Kumpel.«

Sie fragen sich vielleicht, wieso in aller Welt ich bis heute mit Johnny befreundet bin. Und in nachdenklicheren Augenblicken frage ich mich das manchmal selbst. Aber vergessen Sie nicht, dass Johnny ein Psychopath ist.[20] Und Psychopathen haben, wie wir wissen, oft auch ihre Vorzüge. Zu Johnnys gehört u. a. die geradezu unheimliche Fähigkeit, sich praktisch jede Situation zunutze zu machen – was unter hochintelligenten Mitgliedern seiner Spezies nicht unüblich ist. Er gehört zweifellos zu den größten Überzeugungskünstlern, die mir je begegnet sind (und zu dieser Bruderschaft zähle ich einige der Top-Trickbetrüger der Welt). Nicht nur das, er ist, wie man wohl sagen könnte, geradezu ein Überzeugungs-Ausnahmetalent.

Als wir fünf oder sechs Jahre alt waren, mussten Johnnys Eltern zu einer Beerdigung nach Kanada. Johnny blieb zu Hause und verbrachte den Silvesterabend bei uns. Gegen neun Uhr machten meine Eltern Andeutungen, dass es Zeit sei, ins Bett zu gehen. Andeutungen wie: »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen.« Wie jeder Sechsjährige, der etwas auf sich hält, nahm ich das nicht klaglos hin.

»Aber Mum«, maulte ich, »Johnny und ich wollen bis Mitternacht aufbleiben. Bitte ...«

Davon wollte sie nichts wissen. Was mich natürlich nicht davon abhielt, mit einem Katalog an mildernden Umständen aufzuwarten, angefangen von der Tatsache, dass all unsere Freunde an Silvester lange aufbleiben durften (originell, was?), bis zu der tiefgründigen Feststellung, dass es Silvester nur einmal im Jahr gab. Johnny hingegen fiel durch sein Schweigen auf. Er saß, wie ich mich erinnere, einfach nur da und hörte zu, wie das Drama sich entfaltete. Nahm alles in sich auf wie ein Strafverteidiger und wartete auf den Moment zuzuschlagen.

Schließlich hatte Mum genug. »Schluss jetzt. Es reicht!«, sagte sie. »Du weißt, was passiert, wenn du lange aufbleibst. Du wirst unleidlich und gereizt und am nächsten Tag kommst du vor Mittag nicht aus dem Bett.«

Schweren Herzens, mutlos und mit einem schleichenden Gefühl der Resignation sah ich zu Johnny hinüber. Das Spiel war aus. Es war Zeit, gute Nacht zu sagen. Doch niemand hatte mit dem gerechnet, was als Nächstes passierte. Gerade als ich das Handtuch werfen und nach oben gehen wollte, brach Johnny das Schweigen.

»Aber, Mrs Dutton«, sagte er, »Sie wollen doch wohl nicht, dass wir morgen schon in aller Herrgottsfrühe herumrennen, während Sie mit Kopfschmerzen im Bett liegen, oder?«

Wir blieben bis drei Uhr auf.

Die dunkle Triade und die James-Bond-Psychologie

Johnnys Fähigkeit, aus jeder Situation das Beste zu machen, leistete ihm schließlich gute Dienste. Er ging zum Geheimdienst.

»Nicht nur die Besten schaffen es ganz nach oben, Kev«, sagte er. »Auch der Abschaum. Und weißt du was? Ich bin beides. Je nachdem, wonach mir gerade ist.« An einer solch brillanten Einsicht lässt sich wohl kaum etwas aussetzen.

Dass Johnny einen Job beim MI5 bekam, überraschte niemanden. Und was immer er im Thames House tut, er macht seine Sache dem Vernehmen nach sehr gut. Seine Kaltblütigkeit, sein Charisma und seine dämonische Überzeugungskraft sind dergestalt, dass er einem selbst dann noch Honig um den Bart schmieren würde, wenn er einem eine Telefonschnur um den Hals gewickelt hätte, wie einer seiner Kollegen mir einmal auf einer Party erklärte.

»Er würde dich mit seinem eigenen Heiligenschein erdrosseln«, sagte der Typ. »Und ihn dann wieder aufsetzen, als wäre nichts geschehen.«

Er brauchte mich nicht davon zu überzeugen.

Wenn Johnny Sie ein wenig an James Bond erinnert, ist das kein Zufall. Man kann sich leicht vorstellen, dass dieser andere ehrenwerte Angestellte im Geheimdienst Ihrer Majestät ebenfalls ein Psychopath sein könnte; dass die geheimnisvolle Welt von Spionen, Spionage und Gegenspionage – mit der Lizenz zum Töten statt dem starken, unfassbaren Drang danach – Wand an Wand mit der Welt der unbemerkt agierenden Serienkiller existieren könnte. Und dass der Geheimagent, den wir alle kennen und lieben, möglicherweise eine ziemlich hohe Punktzahl erzielen würde, sollte er seine Walther PPK gegen das PPI eintauschen.

Aber haben diese Spekulationen irgendeine Grundlage? Das Klischee zu akzeptieren ist eine Sache; zu sehen, dass die Fantasie eine Entsprechung in der Wirklichkeit hat, eine andere. Ist es reiner Zufall, dass Johnny ein Psychopath ist – und dass er beim Geheimdienst tätig ist?

Einer von denen, die sich diese Fragen stellten und dann auf die Suche nach Antworten machten, ist der Psychologe Peter Jonason. 2010 veröffentlichten Jonason (damals Forscher an der New Mexico State University) und seine Kollegen einen Forschungsaufsatz mit dem Titel ›Who is James Bond? The Dark Triad as an Agentic Social Style‹,68 in dem sie aufzeigten, dass Männer mit Persönlichkeitsmerkmalen wie dem stratosphärischen Selbstwertgefühl des Narzissmus, dem Erlebnishunger und der Furcht- und Skrupellosigkeit der Psychopathie sowie der Arglist und dem Ausbeutertum des Machiavellismus in gewissen Gesellschaftsschichten bestens zurechtkommen. Und nicht nur das: Sie haben auch eine größere Anzahl an Sexualpartnerinnen und neigen eher zu lockeren Kurzzeit-Beziehungen als Männer, bei denen diese Merkmale nur gering ausgeprägt sind. Weit davon entfernt, beim Umgang mit dem anderen Geschlecht ein Handicap zu sein, könnte die dunkle Triade, so Jonason, bei Frauen für Pulsrasen sorgen – und aufgrund des größeren Potenzials, Gene weiterzugeben, tatsächlich eine erfolgreiche Reproduktionsstrategie sein.

Ein flüchtiger Blick in die Boulevardblätter und Klatschkolumnen macht deutlich, dass die Theorie Hand und Fuß haben könnte. Weitgehend jedenfalls. Doch eins der besten Beispiele überhaupt ist Jonason zufolge James Bond.

»Er ist eindeutig unsympathisch und sehr extrovertiert und er probiert gern neue Dinge aus«, sagt Jonason. »Zum Beispiel das Töten von Menschen. Und neue Frauen.«

Für seine Studie hatte Jonason 200 Studenten Persönlichkeitsfragebögen ausfüllen lassen, die speziell dazu entworfen worden waren, das Vorhandensein von Merkmalen der dunklen Triade zu beurteilen.69 Die Studenten wurden auch nach ihren sexuellen Beziehungen, einschließlich ihrer Einstellung zu flüchtigen Affären und One-Night-Stands befragt. Und siehe da, die wichtigste Erkenntnis war die, dass Probanden, die bei der Triade höhere Punktzahlen erzielten, in der Regel mehr Kerben an ihren wackeligen, schwer strapazierten Bettpfosten hatten als Probanden mit einer niedrigeren Punktzahl. Das legt nahe, dass Elemente der drei Persönlichkeitsstile – Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie – eine zweigleisige Paarungsstrategie männlicher Alphatiere fördern, die auf die Maximierung des Reproduktionspotenzials abzielt:

  1. Schwängere so viele Frauen wie möglich;
  2. mach dich aus dem Staub, bevor irgendjemand dich Papa nennt.

Und diese Strategie scheint sich als ziemlich erfolgreich erwiesen zu haben. Warum sonst gibt es diese Merkmale heute noch?[21]

Das funktionale Ende des psychopathischen Spektrums

Seltsamerweise scheinen Psychopathen nicht nur in puncto Reproduktion ganz oben zu landen. Die Ergebnisse von Evolutionspsychologen[22] wie Peter Jonason untermauern die Behauptungen von Spieltheoretikern wie Andrew Colman, dem wir im vorangegangenen Kapitel begegnet sind, dass es noch andere Lebensbereiche, andere Betätigungsfelder gibt, in denen es sich auszahlt, ein Psychopath zu sein. Eine psychopathische Strategie verhilft nicht nur zu Erfolg im Bett. Sie kann sich z. B. auch im Sitzungssaal als äußerst nützlich erweisen.

Eine Studie aus dem Jahr 2005, die von einem Team aus Psychologen und Neuroökonomen der Stanford University, der Carnegie Mellon University und der University of Iowa durchgeführt wurde, macht dies auf hervorragende Weise deutlich.70 Bei dieser Studie, die als Glücksspiel mit zwanzig Runden konzipiert war, wurden die Teilnehmer in drei Gruppen aufgeteilt: normale Menschen, Patienten mit Läsionen in den für die Gefühle zuständigen Bereichen des Gehirns (der Amygdala, dem orbitofrontalen Kortex, der rechten Inselrinde und dem somatosensorischen Kortex) und Patienten mit Gehirnläsionen in Bereichen, die nichts mit den Gefühlen zu tun haben. Jeder Proband erhielt bei Spielstart 20 Dollar und wurde zu Beginn jeder neuen Runde gefragt, ob er bereit sei, einen Dollar auf einen Münzwurf zu riskieren. Ein Verlust zog die Strafe von einem Dollar nach sich, bei einem Gewinn kamen 2,50 Dollar in die Kasse.

Man muss kein Genie sein, um die Gewinnformel herauszufinden. »Logisch gesehen«, so Baba Shiv, Professor für Marketing an der Stanford Graduate School of Business, »wäre die richtige Vorgehensweise die, in jeder Runde zu setzen.«

Doch was Logik ist, liegt oft in der Betrachtung desjenigen, der sie vertritt, wie die politische Aktivistin Gloria Steinem einst bemerkte. Vor allem, wenn es um Geld geht.

Die Prognose hätte nicht einfacher sein können. Wenn es, wie die Spieltheorie erkennen lässt, Zeiten gibt, in denen es sich auszahlt, den Fuß auf dem Gas zu lassen – und Psychopathen haben schwerere Stiefel –, dann sollten entsprechend der Dynamik des Spiels jene Teilnehmer abräumen, in deren Gehirn die emotionalen Adressen gestört waren. Sie sollten diejenigen schlagen, bei denen dies nicht der Fall war (d. h. die beiden anderen Gruppen).

Und genau so kam es. Im Verlauf des Spiels verzichteten die Probanden, bei denen die emotionale Sortierstelle im Gehirn nicht verletzt war, auf das Zocken und entschieden sich stattdessen für die konservative Alternative, ihre Gewinne zu horten. Im Gegensatz dazu machten diejenigen, deren Gehirn nicht mit dem emotionalen Sicherheitsgurt ausgestattet war, den die meisten von uns fest angelegt lassen, einfach weiter und hatten am Ende des Spiels eine signifikant höhere Gewinnmarge als ihre Gegenspieler.

»Dies ist möglicherweise die erste Studie«, sagt George Loewenstein, Professor für Wirtschaftswissenschaften und Psychologie an der Carnegie Mellon University, »die dokumentiert, dass Menschen mit einem Gehirnschaden bessere finanzielle Entscheidungen treffen als normale Menschen.«

Antoine Bechara, Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der University of Southern California, setzt noch eins drauf. »Die Forschung muss ermitteln, unter welchen Umständen Gefühle nützlich beziehungsweise störend sein können und wann sie als Orientierungshilfe für das menschliche Verhalten geeignet sind«, sagt er. »Die erfolgreichsten Börsenmakler könnte man durchaus als ›funktionelle Psychopathen‹ bezeichnen – Individuen, die entweder besser in der Lage sind, ihre Gefühle zu kontrollieren, oder aber Gefühle nicht so intensiv erleben wie andere.«

Baba Shiv stimmt dem zu. »Dies könnte auch auf viele CEOs und Spitzenanwälte zutreffen«, fügt er hinzu.

Eine vom Wirtschaftswissenschaftler Cary Frydman und seinen Kollegen am California Institute of Technology durchgeführte Studie bestätigt Shivs Feststellungen.71 Frydman gab Probanden eine Summe von 25 Dollar und konfrontierte sie dann mit einer Reihe schwieriger Finanzprobleme. Innerhalb kurzer Zeit mussten die Probanden dann entscheiden, ob sie auf Nummer sicher gehen – z. B. zwei Dollar erhalten wollten – oder aber zocken und sich für eine riskantere, aber potenziell lukrativere Option entscheiden wollten: z. B. eine 50:50-Chance, 10 Dollar zu gewinnen bzw. 5 Dollar zu verlieren. Wer würde abräumen und wer Pleite gehen?

Es war kein Zufall, dass eine Untergruppe der Probanden die übrigen Studienteilnehmer vollkommen austrickste, und, wobei sie Risiken eingingen, durchweg optimale Entscheidungen traf. Diese Menschen waren keine Finanzgenies. Sie waren auch keine Ökonomen, Mathematiker oder gar Poker-Weltmeister. Vielmehr waren sie Träger des »Krieger-Gens« – einer MAOA-L genannten Variante des Monoaminooxidase-A-Gens, eines genetischen Polymorphismus, der früher (nicht unumstritten) mit gefährlichem »psychopathischem« Verhalten assoziiert wurde.

»Im Gegensatz zu früheren Diskussionen in der Literatur zeigen unsere Ergebnisse, dass diese Verhaltensmuster nicht unbedingt kontraproduktiv sind, da die Probanden bei finanziellen Entscheidungen sich nur dann für ein riskanteres Verhalten entscheiden, wenn dies von Vorteil ist«,72 schrieb Frydmans Team.

Frydman selbst verdeutlichte dies noch: »Wenn zwei Spieler beim Pokern Karten zählen und einer von ihnen viele Wetten eingeht, mag es so aussehen, als sei er aggressiver oder impulsiver. Aber man weiß nicht, welche Karten er hat – er wettet vielleicht nur, weil er sich gute Chancen ausrechnet.«

Bestätigt wird dies auch durch eine 2010 von Bob Hare und seinen Kollegen durchgeführte Studie.73 Hare händigte über 200 US-amerikanischen Chefs von Spitzenunternehmen die PCL-R aus und verglich die Verbreitungsrate psychopathischer Merkmale in der Geschäftswelt mit der in der Bevölkerung allgemein. Die Unternehmensleiter gingen aus diesem Vergleich nicht nur als Sieger hervor, psychopathische Merkmale wurden auch positiv mit betriebsinternen Bewertungen von Charisma und Präsentationsstil in Verbindung gebracht: mit Kreativität, gutem strategischem Denken und ausgezeichneten Kommunikationsfähigkeiten.

Und schließlich wäre da noch die Studie von Belinda Board und Katarina Fritzon, die in Kapitel 1 vorgestellt wurde. Board und Fritzon verglichen das Abschneiden von CEOs und von Insassen des Broadmoor Hospital, einer Hochsicherheitsklinik in Großbritannien (die wir später noch genauer kennenlernen werden), bei einem psychologischen Persönlichkeitstest. Auch hier gingen die CEOs, was die psychopathischen Merkmale anging, als Sieger hervor – was angesichts der Tatsache, dass im Broadmoor Hospital einige der gefährlichsten Kriminellen Großbritanniens untergebracht sind, wirklich beeindruckend ist.

Ich sagte zu Hare, dass die Unternehmenswelt mit ihrem Gesundschrumpfen, den Umstrukturierungen, Fusionen und Übernahmen in den letzten Jahren stärker als je zuvor einem Gewächshaus für Psychopathen gleicht. Und dass die offene See des Handels und der Industrie genauso wie politische Unruhen und Unsicherheit eine ziemlich gute Petrischale zur Kultivierung der Psychopathie darstellt.

Er nickte.

»Ich sage immer, wenn ich die Psychopathie nicht in Gefängnissen erforschen würde, dann an der Börse«, legte er noch eins drauf. »Zweifellos gibt es in den Führungsetagen der Geschäftswelt einen größeren Anteil an Psychopathen als in der Bevölkerung allgemein. Man findet sie in allen Organisationen, in denen ihnen Stellung und Status Macht über andere verleihen und die Chance auf materiellen Gewinn bieten.«

Hares Co-Autor bei der Studie über Psychopathie in der Geschäftswelt, der New Yorker Wirtschaftspsychologe Paul Babiak, teilt diese Ansicht.

»Der Psychopath hat keine Schwierigkeiten, mit den Folgen schnellen Wandels fertig zu werden. Im Gegenteil, er blüht geradezu auf«, erklärt er.74 »Organisationschaos bietet nicht nur den notwendigen Stimulus für den psychopathischen Erlebnishunger, sondern auch eine ausreichende Tarnung für Manipulation und missbräuchliches Verhalten.«

Ironischerweise werden die risikobereiten, erlebnishungrigen, das Recht beugenden Individuen, die der Weltwirtschaft den Rest gegeben haben, sich auch als Erste wieder aus den Trümmern erheben. Wie Frank Abagnale gehören sie zu den Mäusen, die, wenn sie in den Topf mit Sahne fallen, so lange strampeln, bis sie die Sahne in Butter verwandelt haben.

Kalt gestellter Champagner

Die Erklärungen von Babiak und Hare sind wie diejenigen von Board und Fritzon demografischer und soziologischer Natur und bieten viel Stoff zum Nachdenken. Wenn man sie neben eher empirisch abgeleitete Beobachtungen wie z. B. die finanziellen Tänzchen von Neuroökonomen wie Baba Shiv und seinen Co-Autoren, die koitalen Korrelationen des Jägers der dunklen Triade Peter Jonason und die mathematischen Machenschaften von Spieltheoretikern wie Andrew Colman stellt, zeigen sie zweifelsohne, dass es in der Gesellschaft eindeutig einen Platz für Psychopathen gibt.

Das erklärt zum Teil, warum es immer noch Psychopathen gibt und ihre dunklen unveränderlichen Genströme unerbittlich weiter fließen. Und warum der evolutionäre Aktienpreis in diesem Nischen-Persönlichkeitskonsortium stabil geblieben ist. Es gibt in der Gesellschaft Positionen, Jobs und Rollen, die aufgrund ihrer kompetitiven, mörderischen Natur Zugang zu Büroraum in genau der Art von psychologischen Immobilien erfordern, zu denen Psychopathen die Schlüssel haben. In Anbetracht der Tatsache, dass solche Rollen – vor allem weil sie mit Stress und Gefahren verbunden sind – den Betreffenden oft zu großem Reichtum und Ansehen verhelfen und dass die »bösen Buben«, wie Peter Jonason uns zeigte, scheinbar gut mit gewissen Mädchen umgehen können, überrascht es wirklich nicht, dass die Gene noch immer hier herumlungern. Biologisch betrachtet kämpfen sie, so könnte man sagen, in einer schwereren Gewichtsklasse.

Natürlich findet man ein ähnliches Charisma und eine ähnliche Kaltblütigkeit unter Druck auch bei jenen, die sich – wie die großen Trickbetrüger dieser Welt – an der Gesellschaft schadlos halten, was in Kombination mit dem Talent, andere zu betrügen, verheerend sein kann.

Nehmen wir z. B. Greg Morant. Er ist nicht nur einer der erfolgreichsten Trickbetrüger der USA, sondern gehört auch zu den fünf charmantesten und skrupellosesten Psychopathen, die kennenzulernen ich je das Vergnügen hatte. Ich traf ihn in der Bar eines Fünf-Sterne-Hotels in New Orleans.75 Erst nachdem er die Drinks gekauft hatte, ein Flasche Cristal-Champagner für 400 Dollar, gab er mir meine Brieftasche zurück. »Eines der wichtigsten Dinge, über die ein Trickbetrüger verfügen muss, ist ein guter ... Radar für ›Schwachstellen‹«, erklärte Morant, ein Kommentar, der an die Arbeit der Psychologin Angela Book erinnert. (Wie in Kapitel 1 dargelegt, fand Book heraus, dass Psychopathen die Opfer eines vorhergehenden gewalttätigen Angriffs besser erkannten als die Nicht-Psychopathen, und zwar einfach an der Art ihres Gangs.) »Die meisten Leute, auf die du stößt, passen nicht auf, was sie sagen, wenn sie mit dir reden. Aber ein Trickbetrüger achtet auf alles ... Wie bei einer Therapie, wo man versucht, in die Person hineinzuschauen, anhand der kleinen Dinge herauszufinden, wer sie ist. Und es sind immer die kleinen Dinge. Der Teufel steckt im Detail ... Du musst die Leute dazu bringen, sich zu öffnen. Normalerweise, indem du ihnen zuerst etwas über dich selbst erzählst – ein guter Trickbetrüger hat immer eine Geschichte. Und indem du, wenn sie dann von sich erzählen, plötzlich das Thema wechselst. Willkürlich. Abrupt. Es kann alles sein – irgendein Gedanke, der dir gerade durch den Kopf geschossen ist oder was auch immer ... irgendetwas, um den Redefluss zu unterbrechen. In neun von zehn Fällen vergisst der Betroffene völlig, was er gerade gesagt hat.

Dann kannst du dich an die Arbeit machen – nicht sofort, du musst Geduld haben. Aber ein oder zwei Monate später. Du änderst das, was die Leute dir gesagt haben, einfach ein bisschen ab – du weißt in der Regel sofort, wo die Druckpunkte sind –, und erzählst ihnen die Geschichte dann, als wäre es deine eigene. Bumm! Von diesem Moment an kannst du dir so ziemlich alles nehmen, was du willst.

Ich geb dir ein Beispiel ... [ein Typ ist] reich, erfolgreich, schuftet wie ein Tier ... Als Kind kommt er von der Schule nach Hause und stellt fest, dass seine Plattensammlung weg ist. Sein Dad ist ein Arsch und hat sie verkauft, um seine Hausbar aufzufüllen. Der Typ hat die Platten jahrelang gesammelt.

Moment mal, denke ich. Du erzählst mir das nach nur drei oder vier Stunden in einer Bar? Was geht denn hier ab? Dann begreife ich’s. Deswegen schuftest du also wie ein Irrer, denke ich. Wegen deinem Dad. Du hast Angst. Dein Leben liegt schon all die Jahre auf Eis. Du bist kein CEO. Du bist ein verängstigtes kleines Kind. Das Kind, das eines Tages von der Schule nach Hause kommt und feststellt, dass die Plattensammlung Geschichte ist.

Meine Güte!, denke ich. Das ist komisch. Und weißt du, was? Ein paar Wochen später erzähle ich ihm, was mir passiert ist. Wie ich eines Abends nach Hause komme und meine Frau mit dem Chef im Bett finde. Wie sie die Scheidung einreicht. Und wie sie mir die Taschen leert.«

Morant hält inne und schenkt uns noch ein wenig Champagner ein.

»Totaler Schwachsinn!« Er lacht. »Aber weißt du, was? Ich habe diesem Typen einen Gefallen getan. Hab ihn aus seinem Elend befreit. Wie heißt es so schön – die beste Art, deine Ängste zu überwinden, ist die, sich ihnen zu stellen? Na ja, jemand musste den Daddy spielen.«

Bei Morants Worten läuft es einem kalt den Rücken herunter. Umso mehr, wenn man sie direkt aus seinem Mund hört. Ich erinnere mich noch genau an unser Treffen in New Orleans. Und wie ich mich damals gefühlt habe. Ich fühlte mich verwundbar, war gleichzeitig aber gefesselt. War begeistert und hatte doch Angst – ganz wie die Kliniker und in der Strafjustiz Tätigen, die Reid Meloy interviewt hatte (siehe Kapitel 1). Morants Stil und seine Millionen konnten mich nicht darüber hinwegtäuschen, mit welcher Art von Mensch ich es zu tun hatte. Hier saß, in seiner ganzen Herrlichkeit, ein Psychopath vor mir. Ein raubtierhaftes soziales Chamäleon. Während der Champagner floss und seine Rolex die letzten Sonnenstrahlen einfing, kolonisierte er mein Gehirn, Synapse für Synapse, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Und ohne dass ich es überhaupt merkte.

Und dennoch: Als Psychologe sah ich die einfache, skrupellose Genialität dessen, was Morant sagte. Sein Modus Operandi richtet sich nach strikten wissenschaftlichen Prinzipien. Forschungsergebnisse zeigen, dass eine der besten Möglichkeiten, jemanden dazu zu bringen, von sich zu erzählen, die ist, etwas von sich selbst preiszugeben. Selbstoffenbarung wird erwidert.76 Die Forschungsergebnisse zeigen auch, dass Ablenkung ein hervorragendes Mittel ist, um zu verhindern, dass jemand sich an etwas erinnert.77 Und dass es vor allem wichtig ist, sehr schnell zu dieser Strategie zu greifen.[23] In der klinischen Psychologie kommt bei fast jeder therapeutischen Intervention der Punkt, an dem der Therapeut auf eine Goldgrube stößt: eine Zeit aufdeckt, einen bestimmten Moment oder Vorfall, der das Problem zum Vorschein oder auf den Punkt bringt.78 Und das gilt nicht nur für die Dysfunktion. Persönlichkeitsstrukturen, interpersonale Stile und persönliche Werte – all dies kommt oft am besten im Kleingedruckten eines Menschenlebens zutage.

»Wann immer man jemanden interviewt, hält man Ausschau nach dem scheinbar Irrelevanten«, sagt Stephen Joseph, Professor für Psychologie, Gesundheit und Sozialfürsorge am Centre for Trauma, Resilience and Growth der University of Nottingham. »Die heftige Auseinandersetzung im Büro vor zehn Jahren mit Brian aus der Buchhaltung. Das eine Mal, als der Lehrer sagte, du seist zu spät und müsstest draußen bleiben. Oder als du die ganze Arbeit geleistet hast und Dings die Lorbeeren eingeheimst hat. Man sucht nach Nadeln, nicht nach Heuhaufen. Nach den tief im Gehirn eingeschlossenen Granatsplittern des Lebens.«

Was war da noch mit der Arbeit und den Lorbeeren, die jemand anders dafür erntet? Aber nicht doch.

Die Wahrheit über das Lügen

Betrüger und Geheimagent sind laut einer Vertreterin des britischen Ministeriums für Innere Sicherheit zwei Seiten derselben Medaille. Beide, so erklärte sie, sind auf die Fähigkeit angewiesen, sich als jemand auszugeben, der sie nicht sind, schnell zu reagieren und sich in Netzen der Täuschung zurechtzufinden.

Es würde mich überraschen, wenn Eyal Aharoni dem widerspräche. 2001 stellte Aharoni, ein Postdoktorand der Psychologie an der University of New Mexico, eine Frage, die – kaum zu glauben – bis dahin noch niemand gestellt hatte. Wenn Psychopathie unter bestimmten Umständen tatsächlich von Vorteil war, machte sie einen dann zu einem besseren Kriminellen?79

Um dies herauszufinden, schickte er an über 300 Insassen von Gefängnissen der mittleren Sicherheitsstufe im Bundesstaat New Mexico einen Fragebogen. Dann errechnete er für jeden Insassen einen Punktwert für »kriminelle Kompetenz«, indem er die Anzahl der Verbrechen mit der Gesamtzahl an Nicht-Verurteilungen verglich (z. B. sieben Nicht-Verurteilungen aus einer Gesamtzahl von zehn Verbrechen = eine Erfolgsrate von 70 Prozent). Aharoni deckte etwas Interessantes auf: Psychopathie ist in der Tat ein Indikator für kriminellen Erfolg.

Doch es gibt da eine Einschränkung: Eine sehr hohe Dosis an Psychopathie (alle Regler auf maximal gestellt) ist genauso schlecht wie eine sehr niedrige. Es sind die mittleren Level, die größere »Leistungen« ermöglichen.

Wie Psychopathie den Menschen tatsächlich zu einem besseren Kriminellen macht, bleibt jedoch offen. Einerseits sind Psychopathen Meister darin, unter Druck einen kühlen Kopf zu bewahren, eine Fähigkeit, die ihnen durchaus einen Vorteil in einem Fluchtfahrzeug oder einem Verhörzimmer verschaffen könnte. Andererseits sind sie auch skrupellos und schüchtern Zeugen möglicherweise so ein, dass sie keine Aussage machen. Ebenso plausibel, und auf Spione und Betrüger gleichermaßen zutreffend, wäre aber auch, dass Psychopathen nicht nur skrupellos und unerschrocken sind, sondern noch ein anderes, vornehmeres Talent besitzen.

So wie auch die Top-Pokerspieler dieser Welt können sie vielleicht besser als andere ihre Gefühle kontrollieren, wenn viel auf dem Spiel steht und sie mit dem Rücken zur Wand stehen – was ihnen nicht nur außerhalb des Gerichtssaals bei der Planung und Durchführung ihrer ruchlosen Taten einen Vorteil verschaffen würde, sondern auch innerhalb des Gerichtssaals.

Bis 2011 gründeten sich die Beweise hierfür weitgehend auf Indizien. Zusammen mit Bob Hare hatte Helinä Häkkänen-Nyholm, eine Psychologin der Universität Helsinki, beobachtet, dass psychopathische Straftäter überzeugender wirkten als nicht-psychopathische Straftäter, wenn es darum ging, Reue zu zeigen.80 Was gelinde gesagt seltsam ist, weil Reue etwas ist, das Psychopathen nicht empfinden können. Doch ein schneller Blick auf den Kontext dieser Beobachtungen – im Gericht kurz vor der Urteilsverkündung, bei Gericht, um Berufung einzulegen, und gegenüber Psychologen und der Gefängnisleitung bei Anhörungen des Bewährungsausschusses – weckte den Argwohn des Psychologen Stephen Porter. Das Problem war eines der »affektiven Authentizität«. Waren die Psychopathen einfach besser darin, Reue vorzutäuschen?, fragte er sich.81

Porter und seine Kollegen entwarfen ein geniales Experiment. Die Probanden mussten auf eine Reihe von Bildern, die unterschiedliche Gefühle auslösen, je nach Anweisung entweder mit einer echten oder mit einer gespielten Gefühlsregung reagieren. Die Sache hatte noch einen Dreh. Während die Teilnehmer sich die emotionsgeladenen Bilder ansahen, nahm Porter sie mit einer Geschwindigkeit von 30 Frames pro Sekunde auf Video auf und untersuchte dann Frame für Frame. Das ermöglichte es ihm, die gespielten Gefühlsregungen auf das Aufflackern von sogenannten »Mikro-Ausdrücken« zu untersuchen: flüchtigen Manifestationen wahrer, unverfälschter Gefühle (siehe Abbildung 4.1), die in Echtzeit für die meisten Menschen mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind.

Porter wollte herausfinden, ob Probanden mit einem höheren Grad an Psychopathie die wahre Natur ihrer Gefühle besser verbergen könnten als Probanden, bei denen die psychopathischen Merkmale weniger stark ausgeprägt waren.

Die Antwort war ein eindeutiges Ja. Die Anwesenheit (oder Abwesenheit) psychopathischer Merkmale war ausschlaggebend für den Grad an Unstimmigkeit bei den gespielten Gefühlsäußerungen. Die Psychopathen täuschten viel überzeugender als die Nicht-Psychopathen Traurigkeit vor, wenn ihnen ein fröhliches Bild gezeigt wurde, oder Fröhlichkeit, wenn sie ein trauriges Bild betrachteten.[24] Und nicht nur das, sie waren darin so gut wie Probanden, die eine hohe Punktzahl bei emotionaler Intelligenz erzielt hatten.

Wenn man Ehrlichkeit vortäuschen kann, wie jemand einst sagte ... nun, dann ist man, so scheint es, tatsächlich ein gemachter Mann.

Der Neuropsychologe Ahmed Karim ist noch einen Schritt weitergegangen – und kann mithilfe von elektromagnetischer Magie die Karrierechancen von Betrügern und Geheimagenten beträchtlich verbessern. Karim und sein Team von der Universität Tübingen können Sie zu einem besseren Lügner machen.82 Im Rahmen eines Experiments, bei dem Probanden im Rollenspiel Geld aus einem Büro stehlen mussten und dann von einem Forscher, der einen Kriminalbeamten spielte, einem Verhör unterzogen wurden (als Anreiz, den Beamten zu täuschen, durften die vermeintlichen »Diebe« das Geld behalten, wenn sie erfolgreich waren), entdeckte Karim, dass die Anwendung einer als transkranielle Magnetstimulation (TMS)[25] bekannten Technik auf den anterioren präfrontalen Kortex, das heißt auf den Bereich des Gehirns, der an der moralischen Entscheidungsfindung beteiligt ist, den Lügenquotienten der Probanden erhöhte.

Abbildung

Bild A, Bild B, Bild C

Abb. 4.1. Bild A zeigt ein echtes Lächeln, Bild C hingegen ein falsches, in dem Traurigkeit mitschwingt (Senken von Augenbrauen und Augenlidern sowie Herunterziehen der Mundwinkel). Bild B zeigt einen neutralen Gesichtsausdruck. Schon winzige – und flüchtige – Veränderungen wie diese können das gesamte Gesicht verwandeln.

Warum dies der Fall ist, lässt sich nicht genau sagen. Eine Möglichkeit wäre, dass die durch TMS induzierte Inhibition des anterioren präfrontalen Kortex zur Errichtung einer neuronalen Flugverbotszone über dem Gewissen führt, die dem Lügner die Ablenkungen eines moralischen Konflikts erspart.

Eine solche Hypothese stünde, insofern sie korrekt ist, im Einklang mit der Forschung zu Psychopathen. Aus früheren Studien wissen wir z. B., dass Psychopathen weniger graue Substanz im anterioren präfrontalen Kortex haben – und eine in jüngerer Zeit von Michael Craig und seinen Mitarbeitern am Institute of Psychiatry in London durchgeführte Analyse mithilfe der Diffusions-Tensor-Bildgebung (DTI)[26] zeigte auch eine verminderte Integrität des Fasciculus uncinatus, einer Art neuronalen Aquädukts, der den präfrontalen Kortex mit der Amygdala verbindet.83

Psychopathen haben mit anderen Worten also nicht nur ein Talent für Doppelzüngigkeit. Sie empfinden auch das »moralische Zwicken« viel weniger als der Rest von uns. Was nicht immer das Schlechteste ist, wenn es hart auf hart kommt und schnell Entscheidungen getroffen werden müssen.

Einen kühlen Kopf bewahren

Natürlich profitieren nicht nur Lügner von einem mangelnden Moralempfinden. »Moralisch Behinderte« sind überall anzutreffen – nicht nur in Casinos und Gerichtssälen. Dies zeigt uns der folgende Dialog aus ›Wir sind alle verdammt‹, einem Film von 1962:

Lieutenant Lynch: Und was ist mit Rickson? Wir wissen nie, welche riskante Nummer er als Nächstes abzieht. Können wir uns einen solchen Piloten leisten? Können wir es uns leisten, ihn nicht zu haben? Wie denken Sie darüber, Doc?

Captain Woodman: Rickson ist ein Beispiel für die feine Grenzlinie zwischen einem Helden und einem Psychopathen.

Lieutenant Lynch: Und auf welcher Seite der Grenzlinie ordnen Sie Rickson ein?

Captain Woodman: Die Zukunft wird es zeigen. Ich denke, wir gehen ein Risiko ein – aber so ist der Krieg nun mal.

In diesem Film, der während des Zweiten Weltkriegs spielt, begegnen wir Buzz Rickson, einem arroganten, unerschrockenen B-17-Piloten, dessen Talent für Luftkämpfe das perfekte Ventil für seine skrupellose, amoralische dunkle Seite darstellt. Als eine Bombardierung wegen ungünstiger Wetterbedingungen abgebrochen wird, missachtet Rickson – von seiner Mannschaft oft für seine waghalsigen Flugmanöver gefeiert – den Befehl, umzukehren, und macht einen Sturzflug durch die Wolkendecke hindurch, um seine tödliche Last abzuwerfen. Ein anderer der Bomberpiloten schafft es nicht, zum Stützpunkt zurückzukehren.

Rickson kann seine elementaren raubtierhaften Instinkte im Krieg so richtig ausleben. Als sein Kommandeur ihn zum Abwurf von Propagandaflugblättern, einem Routineeinsatz, einteilt, verlässt er aus Protest das Flugfeld und gibt damit Anlass zu obigem Dialog zwischen seinem Navigator und dem Fliegerarzt.

Es ist eine feine Grenzlinie zwischen Held und Psychopath, wie Captain Woodman sagt. Und oft hängt es davon ab, wer die Linie zieht.

Menschen wie Rickson existieren nicht nur in Filmen. Alle Soldaten der Spezialeinheit, die ich bisher getestet habe, erreichten beim PPI eine hohe Punktzahl. Was angesichts einiger ihrer Aufträge nicht weiter verwundert. Einer von ihnen sagte mit dem typischen Understatement: »Die Jungs, die Bin Laden getötet haben, waren nicht zum Paintball-Spielen unterwegs ...«

Diese Art von Kaltblütigkeit und Konzentration unter Druck illustriert eine Studie, die der Psychologe und Neurowissenschaftler Adrian Raine zusammen mit seinen Kollegen an der University of Southern California in Los Angeles durchführte. Raine verglich die Leistung von Psychopathen und Nicht-Psychopathen bei einer einfachen Lernaufgabe84 und stellte Folgendes fest: Wurden Fehler durch einen Stromschlag bestraft, gelang es den Nicht-Psychopathen schneller als den Psychopathen, die Regel zur Lösung der Aufgabe zu entdecken. Wurde Erfolg jedoch mit finanziellem Gewinn sowie dem Fehlen von Stromschlägen belohnt, kehrten sich die Rollen um. Diesmal erfassten die Psychopathen die Regel schneller.

Die Sache ist ziemlich eindeutig. Wenn Psychopathen von einer Situation profitieren können, wenn es irgendeine Art von Belohnung gibt, dann legen sie sich ins Zeug: ohne Rücksicht auf Risiken oder mögliche negative Folgen. Sie bewahren angesichts von Gefahren oder Widrigkeiten nicht nur die Fassung, sie entwickeln auch auf den Punkt genau die Fähigkeit, zu »tun, was immer nötig ist«.

Forscher der Vanderbilt University haben noch ein bisschen tiefer gegraben und untersucht, wie der raubtierhafte Fokus der Psychopathen sich in ihren Gehirnen widerspiegeln könnte.85 Ihre Entdeckung wirft ein ganz anderes Licht darauf, wie es sich anfühlen könnte, ein Psychopath zu sein, und eröffnet damit eine völlig neue Sichtweise dessen, was in ihnen vorgeht. Im ersten Teil der Studie wurden die Probanden abhängig davon, ob sie ein hohes oder ein niedriges Maß an psychopathischen Merkmalen aufwiesen, in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Forscher verabreichten dann beiden Gruppen eine Dosis Speed (auch bekannt als Amphetamin) und überprüften mithilfe der Positronen-Emissions-Tomographie (PET)[27] das Gehirn der Probanden, um zu sehen, was sich dort abspielte.

»Unsere Hypothese war die, dass [einige] psychopathische Merkmale [Impulsivität, erhöhte Reaktion auf Belohnungen und Risikobereitschaft] ... mit einer Fehlfunktion im Dopamin-Belohnungskreislauf verbunden sind«, erklärt Joshua Buckholtz, der Hauptautor der Studie, »...[und] dass Psychopathen aufgrund dieser übertriebenen Dopaminreaktionen unfähig sind, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, solange sie nicht haben, was sie wollen.«

Er kam der Sache ziemlich nahe. In Übereinstimmung mit dieser Hypothese schütteten die Probanden, die einen hohen Grad an psychopathischen Merkmalen aufwiesen, als Reaktion auf das Amphetamin viermal so viel Dopamin aus wie die Nicht-Psychopathen.

Das war jedoch noch nicht alles. Ein ähnliches Gehirnaktivitätsmuster wurde auch im zweiten Teil des Experiments beobachtet, in dem man den Teilnehmern kein Speed verabreichte, sondern vielmehr erklärte, dass sie für die Lösung einer einfachen Aufgabe Geld bekommen würden. (Ein Hinweis für die Forscher: Wenn Sie noch weitere Probanden brauchen, rufen Sie mich an!) Die fMRT-Scans zeigten bei den Psychopathen im Nucleus accumbens, dem Belohnungszentrum des Gehirns, in dem Dopamin ausgeschüttet wird, eine viel höhere Aktivität als bei den Nicht-Psychopathen.

»Traditionell haben sich die Forschungen zur Psychopathie auf die fehlende Angst und die verminderte Reaktion auf Bestrafungen konzentriert«, sagt David Zald, Associate Professor für Psychologie und Psychiatrie und Co-Autor der Studie.86 »Doch anhand dieser Merkmale lassen sich Gewalt oder kriminelles Verhalten nicht sonderlich gut vorhersagen ... Die Betreffenden scheinen sich so stark von der Belohnung – der Karotte – angezogen zu fühlen, dass Risikogefühle oder die Angst vor dem Stock verdrängt werden ... Der Punkt ist nicht einfach nur der, dass sie eine potenzielle Gefahr nicht wahrnehmen. Vielmehr zerstreuen die Erwartung der Belohnung und die Motivation, sie sich zu holen, jegliche Bedenken.«

Unterstützendes Beweismaterial liefert die forensische Linguistik. Die Art und Weise, wie ein Mörder über sein Verbrechen spricht, hängt davon ab, welcher Typ von Mörder er ist. Jeff Hancock, Professor für Computer- und Informationswissenschaften an der Cornell University, und seine Kollegen von der University of British Columbia verglichen die Berichte von 14 psychopathischen und 38 nicht-psychopathischen Mördern und entdeckten bemerkenswerte Unterschiede: nicht nur in Bezug auf die emotionale Pixelierung (die Psychopathen verwendeten zweimal so viele Wörter, die sich auf physische Bedürfnisse wie Essen, Sex oder Geld bezogen, wie die Nicht-Psychopathen, die mehr Betonung auf die sozialen Bedürfnisse wie Familie, Religion und Spiritualität legten), sondern auch in Bezug auf die persönliche Rechtfertigung.87

Computeranalysen der Abschriften von auf Band aufgenommenen Aussagen zeigten, dass die psychopathischen Mörder mehr Konjunktionen wie »weil«, »da«, »damit« verwendeten, die darauf hinwiesen, dass das Verbrechen irgendwie »getan werden musste«, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Interessanterweise neigten sie auch dazu, davon zu berichten, was sie am Tag des Mordes gegessen hatten – unheimliche Wiedergänger urzeitlichen räuberischen Verhaltens?

Wie dem auch sei, die Schlussfolgerung ist eindeutig. Der Psychopath sucht nach Belohnung um jeden Preis, wobei er Risiken und Folgen missachtet. Was zu einer Erklärung beitragen könnte, warum Belinda Board und Katarina Fritzon bei ihrer Studie feststellten, dass psychopathische Merkmale unter CEOs verbreiteter waren als unter hospitalisierten Kriminellen. Geld, Macht, Status und Kontrolle – lauter Domänen des typischen Firmenchefs und begehrte Waren an und für sich – haben zusammen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den businessorientierten Psychopathen, während er auf der Unternehmensleiter immer weiter nach oben steigt. Denken Sie an die schon an früherer Stelle zitierte prophetische Warnung von Bob Hare: »Man findet sie [Psychopathen] in allen Organisationen, in denen ihnen Stellung und Status Macht über andere verleihen und die Chance auf materiellen Gewinn bieten.«

Manchmal machen sie ihre Sache gut, manchmal zwangsläufig auch nicht. Und wenn die Belohnungsethik aus dem Ruder läuft, kann aus dem Aufschwung schnell ein Abschwung werden. Auf arrogante, unerschrockene Buzz Ricksons treffen wir in so gut wie jedem nur erdenklichen Bereich. Wobei das Bankwesen seltsamerweise nicht ausgenommen ist.

Und falls Sie sich fragen, was mit Rickson passierte: Er stürzte als unrühmlicher Flammenball in die weißen Klippen von Dover.

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Die Furchtlosigkeit und der laserartige Fokus des Psychopathen wurden traditionell Defiziten in der emotionalen Verarbeitung zugeschrieben, genauer einer Fehlfunktion der Amygdala. Bis vor Kurzem hat dies die Forscher zu dem Glauben verleitet, Psychopathen würden nicht nur keine Angst, sondern auch keine Empathie empfinden. Die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2008, die Shirley Fecteau und ihre Kollegen vom Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston durchführten, zeugen jedoch von etwas ganz anderem: Psychopathen haben nicht nur die Fähigkeit, Gefühle zu erkennen – sie sind auch besser darin als wir.

Fecteau und ihre Mitarbeiter stimulierten mithilfe von TMS den somatosensorischen Kortex (den Teil des Gehirns, der körperliche Empfindungen verarbeitet und reguliert) im Gehirn von Probanden, die eine hohe Punktzahl beim PPI erzielt hatten.88 Frühere Studien hatten Folgendes gezeigt: Beobachtet man, dass jemand anderem etwas Schmerzliches passiert, führt dies zu einer vorübergehenden Hemmung der neuronalen Erregung als Reaktion auf TMS, und zwar in eben der Region des somatosensorischen Kortex, die dem durch den Schmerz betroffenen Bereich entspricht: der Arbeit hoch spezialisierter und treffend als Spiegelneuronen benannter Hirnstrukturen.89 Wenn Psychopathen die Fähigkeit fehlte, mit anderen mitzufühlen, dann sollte, wie Fecteau vermutete, bei Individuen, die beim PPI eine hohe Punktzahl erreicht hatten, die Hemmung der neuronalen Reaktion geringer ausfallen als bei Individuen mit einer geringen Punktzahl beim PPI – so wie die Psychopathen sich vielleicht auch im Vergleich mit den meisten normalen Mitgliedern der Gesellschaft weniger durch Gähnen anstecken lassen.[28]90

Auf Fecteau und ihr Team wartete jedoch eine ziemliche Überraschung. Zu ihrer großen Verwunderung geschah genau das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatten. Probanden mit hohen Punktzahlen beim PPI – vor allem diejenigen, die hohe Punktzahlen auf der Subskala »Kaltherzigkeit« erzielt hatten, eben jener Subskala, die am direktesten mit Empathie zu tun hat – zeigten eine stärkere Verzögerung der TMS-Reaktion als Probanden mit niedrigen Punktzahlen. Das lässt darauf schließen, dass Psychopathen keineswegs in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt sind, die Gefühle anderer zu erkennen, sondern sogar ein Talent dafür haben, und dass das Problem nichts mit der Emotionserkennung an sich zu tun hat, sondern mit der Trennung zwischen deren sensorischer und affektiver Komponente: zwischen dem Wissen, was ein Gefühl ist, und dem Spüren, wie es sich anfühlt.

Die Psychologin Abigail Baird hat etwas Ähnliches entdeckt. Bei einer Emotionserkennungsaufgabe zeigten die fMRT-Scans, dass bei Probanden mit einer hohen Punktzahl beim PPI im Vergleich mit Probanden mit einer niedrigen Punktzahl nicht nur die Amygdala-Aktivität reduziert war, wenn sie bei Gesichtern mit ähnlichem emotionalem Ausdruck die zugehörigen Gefühle benennen sollten (übereinstimmend mit einem Defizit in der emotionalen Verarbeitung) – sie zeigten auch eine erhöhte Aktivität im visuellen und im dorsolateralen präfrontalen Kortex, was laut Baird und ihrem Team darauf hinweist, dass »sich Probanden mit einer hohen Punktzahl bei der Bewältigung von Emotionserkennungsaufgaben auf Bereiche stützen, die mit Wahrnehmung und Kognition assoziiert werden«.91

Einer der Psychopathen, mit denen ich sprach, formulierte es so: »Selbst der Farbenblinde weiß, wann er an einer Ampel stehen bleiben muss. Sie wären überrascht. Ich habe verborgene Qualitäten.«

Oder wie Homer Simpson uns zu Beginn dieses Kapitels erinnerte: dass einem etwas egal ist, heißt noch lange nicht, dass man es nicht versteht.

Die größere Fähigkeit des Psychopathen, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen, könnte so wie seine größere Fähigkeit, Gefühle vorzutäuschen, eine Erklärung für seine hervorragenden Überredungs- und Manipulationskünste sein. Doch die Fähigkeit, »kalte« sensorische Empathie von »warmer« emotionaler Empathie abzukoppeln, hat noch andere Vorteile – vor allem in Arenen, in denen wie im medizinischen Bereich ein gewisser Grad an affektiver Distanziertheit erhalten bleiben muss.

Wie er sich kurz vor Betreten des Operationssaals fühlt, beschreibt einer der britischen Top-Chirurgen so: »Werde ich vor einer großen Operation nervös? Nein, das würde ich nicht sagen. Aber ich denke, es ist so wie bei jeder großen Aufgabe. Man muss sich hochpuschen. Und man muss sich auf den Job konzentrieren und fokussiert bleiben, darf sich nicht ablenken lassen. Man muss die Sache hinbekommen.

Sie haben eben die Spezialeinheit erwähnt. Möglicherweise haben ein Chirurg und z. B. ein Elitesoldat, der im Begriff ist, ein Gebäude oder ein Flugzeug zu stürmen, eine sehr ähnliche Mentalität. In beiden Fällen wird der ›Job‹ als Operation bezeichnet. In beiden Fällen ›rüstet man sich aus‹ und trägt eine Maske. Und in beiden Fällen können all die Jahre an Praxis und Ausbildung einen nie ganz auf das Element der Unsicherheit vorbereiten, wenn man die erste Inzision macht; auf diesen beglückenden Sekundenbruchteil des ›explosiven Eindringens‹, wenn man die Haut zurückklappt und plötzlich merkt ... man ist DRIN.

Worin besteht der Unterschied zwischen einem Fehlerspielraum von einem Millimeter, wenn es um einen Kopfschuss geht, und dem Fehlerspielraum von einem Millimeter, wenn es darum geht, zwischen zwei wichtigen Blutgefäßen hindurchzunavigieren? In beiden Fällen hält man Leben und Tod in den Händen und muss eine schwerwiegende Entscheidung treffen. Wobei in der Chirurgie buchstäblich alles auf des Messers Schneide steht.«

Die Punktzahl, die dieser Top-Chirurg beim PPI erzielte, lag weit über dem Durchschnitt. Sollte Sie das überraschen, dann denken Sie noch einmal nach. Yawei Cheng und ihre Mitarbeiter von der staatlichen Universität Yang-Ming in Taiwan schauten mithilfe von fMRT-Scans in die Gehirne einer Gruppe von Ärzten mit mindestens zwei Jahren Erfahrung in Akupunktur sowie einer Gruppe von Nicht-Medizinern, um zu beobachten, was geschah, wenn die Probanden sahen, dass Nadeln in Münder, Hände und Füße eingeführt wurden.92 Die Beobachtungen der Forscher waren äußerst interessant. Als die Probanden der Kontrollgruppe die Videos anschauten, in denen das Einführen der Nadeln zu sehen war, leuchteten bei ihnen die Bereiche ihres somatosensorischen Kortex, die den jeweiligen Körperregionen entsprachen, auf wie ein Weihnachtsbaum, ebenso andere Gehirnregionen wie das zentrale Höhlengrau (der Koordinator der Panikreaktion) und der anteriore cinguläre Kortex (der mit der Überwachung von Fehlern und Anomalien sowie der Schmerzverarbeitung in Verbindung gebracht wird).

Im Gegensatz dazu war im Gehirn der Experten kaum etwas von einer schmerzbezogenen Aktivität zu merken. Stattdessen ließ sich bei ihnen eine erhöhte Aktivität des medialen und des superioren präfrontalen Kortex sowie des temporoparietalen Übergangs beobachten: Gehirnregionen, die mit der Emotionsregulation und der Theory of Mind zu tun haben.[29]

Die Experten empfanden außerdem die Akupunkturaufnahmen als wesentlich weniger unangenehm als die Probanden der Kontrollgruppe – was an zahlreiche Laborergebnisse erinnert, die zeigen, dass die physiologischen Reaktionen von Psychopathen (z. B. Herzfrequenz, galvanische Hautreaktion (GHR) und Cortisolspiegel) bei der Präsentation von furchtbaren, abscheulichen oder erotischen Stimuli und angesichts von anstrengenden Stresstests wie dem Trier Social Stress Test abgeschwächt sind.[30]93

Was Experten sich durch Erfahrung erwerben, haben Psychopathen von Anfang an.

Psychopath light?

Nicht lange nachdem ich auf Yawei Chengs Studie gestoßen war, bestieg ich ein Flugzeug nach Washington, D. C., und suchte James Blair an den National Institutes of Mental Health auf. Blair ist einer der weltweit führenden Experten in puncto Psychopathen und hat wie Joe Newman schon so ziemlich alles gesehen.

»Zahlt es sich aus, ein Psychopath zu sein?«, fragte ich ihn. »Okay, vielleicht nicht immer. Aber manchmal – wenn die Situation es verlangt?«

Blair war vorsichtig. »Es stimmt, dass psychopathische Individuen weniger beunruhigt sind, wenn Unangenehmes passiert«, antwortete er. »Ob sie in solchen Situationen jedoch besonders gute Entscheidungen treffen, ist nicht so klar. Und indem sie das Ausmaß einer Gefahr nicht adäquat analysieren, begeben sie sich möglicherweise in die Gefahr hinein statt von ihr weg.«

Mit anderen Worten: Wenn wir den Verstand ein wenig ausschalten und es mit der Logik nicht so genau nehmen, ja, dann könnten psychopathische Merkmale in der Tat von Vorteil sein. Ansonsten kann man sie vergessen.

Aber Moment mal, dachte ich. Ist nicht genau das typisch für die Helden dieser Welt? Niemand würde ihnen vorwerfen, dass sie schlechte Entscheidungen treffen. Und wie sah es mit der Leistung der »funktionellen Psychopathen« von Bechara, Shiv und Loewenstein aus? Und mit Frydmans Spitzengaunern? (Okay, Träger des MAOA-Gens zu sein, das zu Risikobereitschaft und Aggression disponiert, macht einen nicht automatisch zum Psychopathen. Aber die Verbindung ist eindeutig da.) Wie sich zeigte, hätten sie in gewissen Situationen höchstwahrscheinlich bessere Entscheidungen getroffen als Sie oder ich.

Vielleicht war es also genau das. Vielleicht brauchte die Gleichung nur ein wenig Schadensregulierung:

Funktioneller Psychopath = Psychopath – schlechte Entscheidungen

Eine zweite Meinung holte ich mir beim Psychopathenjäger Kent Kiehl ein. Kiehl ist Associate Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der Universität von New Mexico und Direktor des Mind Research Network in Albuquerque. Wie Sie sich angesichts seiner Berufsbezeichnungen sicher denken können, hatte er eine Menge um die Ohren, als ich ihn traf.

Tatsächlich war Kiehl gerade auf einem Roadtrip, als wir uns trafen. Und ist es immer noch. Nicht dem normalen Roadtrip, den Sie sich vielleicht vorstellen, sondern einem mit einem Truck auf 18 Rädern: einem Fahrzeug, das so groß ist, dass ich mich jedes Mal, wenn er einparkt, wundere, dass er keine Standgenehmigung braucht. Was er jedoch braucht, ist eine Scanning-Genehmigung – denn in seinem Truck befindet sich die Spezialanfertigung eines Magnetresonanztomographen im Wert von zwei Millionen Dollar. Kiehl karrt in New Mexico herum und besucht in dem Bemühen, das Geheimnis um die neuronale Basis der Psychopathie zu enträtseln, eine Reihe von staatlichen Strafanstalten.

Ich stellte ihm dieselbe Frage wie James Blair. Zahlt es sich zuweilen aus, ein Psychopath zu sein? Wie Blair war auch Kiehl vorsichtig.

»Es trifft sicher zu, dass psychopathische Merkmale in der Normalbevölkerung anzutreffen sind«, sagte er mir. »Doch der Unterschied bei denen am oberen Ende des Spektrums ist der, dass sie [die Furchtlosigkeit] in Situationen, in denen dies angebracht wäre, nicht abschalten können. Ein CEO scheut sich vielleicht nicht, in gewissen Geschäftsbereichen Risiken einzugehen, würde andererseits aber nachts nicht in einer gefährlichen Gegend herumlaufen wollen. Ein Psychopath ist nicht fähig, diese Unterscheidung zu treffen. Bei einem Psychopathen ist es alles oder nichts.«

Was unserer Gleichung einen dritten Faktor hinzufügt:

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Was heißt, dass funktionelle Psychopathie letztlich kontextabhängig ist. Dass sie, in der Sprache der Persönlichkeitstheorie, ein »Zustand« im Gegensatz zu einem »Wesenszug« ist. Und dass sie unter den richtigen Umständen die Geschwindigkeit und Qualität der Entscheidungsfindung verbessern statt verschlechtern kann.

In den 1980er-Jahren kam der Soziologe John Ray zu einem ähnlichen Schluss. Ray postulierte eine umgekehrte U-Funktion als das passendste Modell für die Beziehung zwischen Psychopathie und Lebenserfolg (siehe Abb. 4.2).94

»Sowohl ein extrem hoher als auch ein extrem niedriger Grad an psychopathischen Wesenszügen kann maladaptiv sein. Ein mittlerer Grad ist am adaptivsten. Die Aussage, ein hoher Grad an psychopathischen Wesenszügen sei maladaptiv, basiert natürlich darauf, dass klinische Psychopathen sich oft in Schwierigkeiten bringen. Die Aussage, ein niedriger Grad an psychopathischen Wesenszügen sei möglicherweise auch maladaptiv, basiert auf der Rolle, die allgemeiner Beobachtung zufolge bei Psychopathen die Angst spielt: Psychopathen scheinen keine Angst zu zeigen. Dass ein hohes Maß an Angst schwächt, muss wohl kaum betont werden. Bei einer normalen, nicht in eine Anstalt eingewiesenen Population verleiht die relative Immunität gegenüber Angst den Psychopathen vielleicht einen Vorteil.«95

Diagramm

Abb. 4.2. Die Beziehung zwischen Psychopathie und Funktionalität (nach Ray & Ray, 1982)

Ironischerweise ist dies genau das, was Eyal Aharoni bei der kriminellen Bruderschaft feststellte. Weder ein hoher noch ein niedriger Grad an Psychopathie war ausschlaggebend für kriminellen Erfolg, sondern vielmehr ein moderates Level: etwas, das der Aufmerksamkeit von Bob Hare und Paul Babiak bei ihren weiterführenden Forschungen zum Thema Psychopathie in der Unternehmenswelt nicht entgangen ist.

Hare und Babiak haben ein Business-Scan (kurz B-Scan) genanntes Instrument entwickelt: einen auf Selbsteinschätzung basierenden Fragebogen mit vier Subskalen (persönlicher Stil, emotionaler Stil, organisationsbezogene Effektivität und soziale Verantwortung), der nicht dazu dient, die Anwesenheit psychopathischer Merkmale innerhalb krimineller Populationen (wie bei der PCL-R) oder der Allgemeinbevölkerung als Ganzer (wie beim PPI), sondern ausschließlich innerhalb von Unternehmen zu bewerten (siehe Tabelle 4.1).96

Tabelle

Tabelle 4.1. Der B-Scan: Führungsmerkmale und ihre psychopathischen Äquivalente

In diesen Umgebungen können sich psychopathische Merkmale manchmal in die für eine einflussreiche Führungskraft charakteristischen Starqualitäten verwandeln. Will man die Anwesenheit solcher Merkmale feststellen – mit der nötigen Sensibilität für den Kontext –, ist es deswegen unerlässlich, die richtigen Fragen unter Verwendung der richtigen Ausdrucksweise und Sprache zu stellen. Genau darauf zielt der B-Scan ab, indem er Items in den unternehmerischen Bezugsrahmen stellt und sie mithilfe der alltäglichen Businessterminologie formuliert (z. B. »Es ist in Ordnung zu lügen, um das Geschäft abzuschließen« – stimme zu/stimme nicht zu auf einer Skala von 1 – 4). Zurzeit lassen wir den Fragebogen in einer Stichprobe von Anwälten, Wertpapierhändlern und Soldaten der Spezialeinheit in Großbritannien ausfüllen, um zu sehen, aus welchem Stoff sie sind: eine Art psychologische Biopsie verschiedener Hochleistungsberufe.

In einem Café in Upstate New York, ganz in der Nähe von Babiaks Beratungsunternehmen, berichte ich ihm von einer Unterhaltung, die ich einmal mit einem britischen Top-Anwalt in dessen Kanzlei in der Londoner City hatte.

»Im Gerichtssaal habe ich Leute geradezu umgebracht, sie im Zeugenstand gekreuzigt«, erzählte der Typ mir. »Ich habe absolut kein Problem damit, ein angebliches Vergewaltigungsopfer im Zeugenstand zum Weinen zu bringen. Und wissen Sie, warum? Weil das mein Job ist. Dafür bezahlt mich mein Mandant. Am Ende des Tages kann ich meine Perücke und meine Robe ablegen, mit meiner Frau in ein Restaurant gehen und mich einen Dreck darum scheren – obwohl ich weiß, dass das, was vorhin passiert ist, das Leben dieser Leute ruiniert haben könnte.

Wenn meine Frau jedoch z. B. in einem Kaufhaus ein Kleid kauft, die Quittung verliert und mich dann bittet, es zurückzubringen ... ja, dann ist das eine völlig andere Geschichte. Ich hasse es, so etwas zu tun. Darin bin ich hoffnungslos. Ein richtiger Waschlappen ...«

Babiak nickt. Er weiß genau, worauf ich hinauswill. Es ist genau das, worauf der B-Scan abzielt. Wir schlürfen unseren Latte macchiato und starren in den Hudson River. Über dem eisgrauen Wasser ziehen tief hängende Wolkenmassen langsam und unaufhaltsam am Himmel entlang.

»Was schätzen Sie?«, frage ich ihn. »Glauben Sie, wir werden beim B-Scan einen optimalen Wert finden? Eine goldene Zahl, die mit Spitzenleistungen korreliert?«

Er zuckt die Schultern. »Vielleicht«, sagt er. »Aber ich schätze, es wird sich eher um einen Bereich handeln. Und der könnte, je nach Beruf, leicht variieren.«

Ich stimme ihm zu. Plötzlich muss ich an Johnny denken, und ich frage mich, wo er auf dieser Skala wohl anzusiedeln wäre. James Bond hatte die Lizenz zum Töten. Doch er tötete nicht wahllos. Er tötete, wenn er es tun musste – ohne mit der Wimper zu zucken.

Verrückt, böse ... oder »supernormal«?

Schließlich stelle ich meine Theorie der funktionellen Psychopathie einem Freund vor. Tom ist Mitglied der britischen Spezialeinheit und war an einigen der heißesten, entlegensten und gefährlichsten Orten der Welt als verdeckter Ermittler tätig.

Er liebt seinen Job.

Ich erzähle ihm von den Glücksspielen, den Emotionserkennungsaufgaben, Ahmed Karims transkraniellem magnetischem Lügenverstärker und den Akupunkteuren. Dann berichte ich ihm, was James Blair, Kent Kiehl, Bob Hare, Paul Babiak und Peter Jonason gesagt haben.

»Worauf willst du eigentlich hinaus?«, fragt er mich, als ich ihm schließlich erkläre, dass das Tragen von Nachtsichtbrillen und der Messerkampf gegen die Taliban in tiefen, dunklen Höhlen in den Bergen Nordafghanistans vielleicht nicht nach dem Geschmack jedes Soldaten seien. »Dass ich verrückt bin? Dass ich ein Irrer bin, der sich dorthin vorwagt, wohin sich sonst niemand traut? Und darauf abfährt? Dafür bezahlt wird?«

Sobald ich wieder aus dem Schwitzkasten raus bin, erzählt Tom mir eine Geschichte. Vor ein paar Jahren war er eines Nachts, nachdem er den Horror-Thriller ›Saw‹ gesehen hatte, mit seiner Freundin auf dem Nachhauseweg. Plötzlich taucht aus einem Eingang ein Typ mit einer Klinge auf. Toms Freundin hat Angst und beginnt zu hyperventilieren. Doch Tom, ähm, entwaffnet den Typen ganz ruhig und jagt ihn zum Teufel.

»Das Komische war«, erzählt Tom, »ich fand den Film wirklich ziemlich gruselig. Aber weißt du, als ich mich plötzlich in einer realen Situation wiederfand, hab ich einfach irgendwie den Schalter umgelegt. Es war total einfach. Keine Panik. Kein Drama. Einfach nur ... nichts.«

Der Neurochirurg, von dem wir früher gehört haben, stimmt dem zu. Bachs Matthäus-Passion rührt ihn jedes Mal zu Tränen. Und wenn es um Fußball geht und das Team, das er seit seiner Kindheit unterstützt ... manchmal kann er einfach nicht hinschauen.

»Ein Psychopath?«, sagt er. »Da bin ich mir nicht sicher. Und ich bin mir auch nicht sicher, was meine Patienten dazu sagen würden! Aber es ist ein gutes Wort. Und ja, es stimmt, wenn man sich vor einer schwierigen Operation die Hände schrubbt, dann spürt man so etwas wie einen Adrenalinschub. Wie soll ich das beschreiben? Ich kann es nur mit einem Rausch vergleichen. Nur dass es ein Rausch ist, der die Sinne schärft, statt sie abzustumpfen. Ein veränderter Bewusstseinszustand, der sich von Präzision und Klarheit nährt statt von Verschwommenheit und Zusammenhanglosigkeit ... Vielleicht wäre ›supernormal‹ eine bessere Beschreibung. Nicht so unheimlich. Spiritueller vielleicht ...«

Er lacht.

»Aber vielleicht klingt das ja noch verrückter.«