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Es war ein strahlender Sommertag, an dem es schneite, als Kara Rider mich anhielt und fragte, wie es im Jason-Warren-Fall stünde. Sie trug das Haar wieder blond, wie früher, und saß nur mit einer rosa Bikinihose bekleidet auf einem Liegestuhl vor dem Black Emerald. Um sie herum fiel der Schnee, er stapelte sich auf dem Stuhl, doch auf ihrer Haut schien die Sonne. Auf ihren kleinen, festen Brüsten standen Schweißperlen. Ich musste mich selbst zur Ordnung rufen; ich kannte sie seit ihrer Kindheit und wollte sie nicht unter sexuellen Aspekten betrachten.
Grace und Mae standen einen Häuserblock weiter, Grace steckte Mae eine schwarze Rose ins Haar. Von der anderen Straßenseite sah ihnen ein Rudel kleiner, geifernder weißer Hunde zu, dicker Schaum lief ihnen aus den Lefzen.
„Ich muss gehen“, sagte ich zu Kara, doch als ich mich umdrehte, waren Grace und Mae nicht mehr da.
„Setz dich hin!“ forderte mich Kara auf. „Nur einen Moment! „ Ich nahm Platz, und Schneeflocken fielen mir in den Nacken und kühlten meinen Rücken. Mit klappernden Zähnen sagte ich: „Ich dachte, du bist tot.“
„Nein“, erwiderte sie. „Ich war nur ‘ne Weile weg.“
„Wo bist du gewesen?“
„Brookline. Beschissen.“
„Was?“
„Es sieht hier genauso beschissen aus wie früher.“
Grace steckte den Kopf aus dem Black Emerald heraus: „Bist du fertig, Patrick?“
„Ich muss gehen“, wiederholte ich und klopfte Kara auf die Schulter. Sie ergriff meine Hand und legte sie auf ihre nackte Brust. Ich sah Grace an, doch es schien ihr nichts auszumachen. Angie stand neben ihr, beide lachten.
Kara strich mit meiner Hand über ihre Brustwarze. „Vergiss mich nicht!“
Jetzt fiel Schnee auf ihren Körper und begrub ihn langsam unter sich.
„Bestimmt nicht. Ich muss jetzt los.“
„Tschüs.“
Die Beine des Liegestuhls brachen unter dem Gewicht des Schnees zusammen, als ich mich umsah, konnte ich ihre Umrisse unter den weißen Schneewehen nur noch vermuten.
Mae kam aus der Bar, nahm meine Hand und verfütterte sie an ihren Hund.
Ich sah zu, wie mein Blut in der Hundeschnauze schäumte. Es tat nicht weh, es war fast schön.
„Guck mal, Patrick!“ sagte Mae. „Er mag dich.“
In der letzten Oktoberwoche waren wir mit dem Einverständnis von Diandra und Eric aus dem Jason-Warren-Fall ausgestiegen. Ich kenne Leute, die die Situation ausgenutzt hätten, die die Ängste einer besorgten Mutter noch ein bisschen geschürt hätten, doch ich mache so was nicht. Nicht weil ich besonders anständig bin, sondern weil es schlecht
fürs Geschäft ist, wenn die Hälfte der Einnahmen von Dauerkunden kommt. Wir hatten über alle Lehrer von Jason, die ihn in Bryce unterrichten (elf) und über all seine Bekanntschaften (Jade, Gabrielle, Lauren und sein Zimmergenosse) Akten angelegt, nur nicht über den Typ mit dem Ziegenbärtchen. Nichts deutete darauf hin, dass irgend jemand von ihnen eine Gefahr für Jason darstellte. Wir hatten unsere Beobachtungen täglich zusammengefasst, außerdem besaßen wir Protokolle von unserem Treffen mit Fat Freddy, Jack Rouse und Kevin Hurlihy und von meinem Telefonat mit Stan Timpson.
Diandra hatte keine weiteren Drohungen, Anrufe oder Fotos erhalten. In New Hampshire hatte sie sich mit Jason unterhalten und erwähnt, dass eine Freundin von ihr ihn eine Woche zuvor mit einem Typen im Sunset Grill gesehen hätte, doch Jason erzählte ihr etwas von „einem guten Freund“ und äußerte sich sonst nicht weiter.
Wir beschatteten ihn noch eine Woche, doch war es immer dasselbe: explosionsartige sexuelle Aktivität, Einsamkeit, Lernen. Diandra sah ein, dass das alles nicht weiterführte und dass es außer dem Foto, das sie erhalten hatte, keinen weiteren Anhaltspunkt dafür gab, dass sich Jason in Gefahr befand. Schließlich kamen wir zu dem Schluss, dass unsere anfängliche Einschätzung, dass Diandra Kevin Hurlihy unabsichtlich gereizt hatte, wohl doch richtig gewesen sein musste. Denn nach unserem Treffen mit Fat Freddy hatte es keinerlei Drohungen mehr gegeben; vielleicht hatten sich Freddy, Kevin, Jack und der Rest der Bande zurückgezogen, wollten aber vor ein paar Privatdetektiven nicht das Gesicht verlieren. Wie auch immer – die Sache war nun vorbei, Diandra bezahlte uns unsere Stunden und bedankte sich. Wir ließen
ihr unsere Visitenkarten und Telefonnummern da, falls sich etwas ändern sollte, und gingen dann wieder zum Alltag über. Es war die bislang laueste Saison für unsere Firma.
Einige Tage später trafen wir Devin auf seinen Wunsch um zwei Uhr nachmittags im Black Emerald. In der Tür hing ein Schild: „Geschlossen“, doch wir klopften, und Devin öffnete uns. Hinter uns wurde wieder verriegelt.
Gerry Glynn war hinter der Theke, er saß auf dem Kühlschrank und sah nicht sehr glücklich aus. Oscar hockte vor einem Teller an der Theke, und Devin nahm neben ihm Platz und biss in den blutigsten Cheeseburger, den ich je gesehen hatte.
Ich setzte mich neben Devin, Angie machte es sich neben Oscar bequem und stibitzte eine von seinen Pommes.
Ich warf einen Blick auf Devins Cheeseburger. „Die Kuh haben sie doch höchstens kurz gegen die Heizung gelehnt!“
Er knurrte und stopfte sich noch einen Bissen in den Mund. „Devin, du weißt doch, dass rohes Fleisch schlecht fürs Herz ist, vom Darm ganz zu schweigen?“
Er wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. „Bist du jetzt zu so ‘nem schleimigen Gesundheitsfreak mutiert, als ich gerade mal nicht aufgepasst habe, Kenzie?“
„Nein. Aber draußen habe ich einen Wache schieben sehen.“ „Er griff sich an die Hüfte. „„„Hier. Nimm meine Knarre und erschieß den Wichser! Vielleicht kannst du ja nebenbei noch einen von diesen Pantomimen umpusten, wo du gerade dabei bist. Ich sorg schon dafür, dass es nicht ins Protokoll kommt.“
Hinter mir räusperte sich jemand, ich blickte in den Spiegel hinter der Theke. In der dunklen Sitzecke rechts hinter mir saß ein Mann. Er trug einen dunklen Anzug mit dunkler Krawatte, dazu ein feines, weißes Hemd und einen dazu passenden Schal. Das dunkle Haar hatte die Farbe von poliertem Mahagoni.
Er hockte so steif in der Ecke, als sei seine Wirbelsäule durch einen Stock ersetzt worden.
Devin wies mit dem Daumen über die Schulter. „Patrick Kenzie, Angela Gennaro: Das ist FBI-Spezialagent Barton Bolton.“ Angie und ich drehten uns auf unseren Barhockern um und grüssten mit einem: „HÜ“
Spezialagent Bolton sagte nichts. Er musterte uns beide von Kopf bis Fuß, als müsse er entscheiden, zu welcher Art von Zwangsarbeit wir zu verdonnern seien, und wandte dann seinen Blick in die Nähe von Oscar.
„Wir haben ein Problem“, begann Oscar.
„Könnte ein kleines Problem sein“, ergänzte Devin, „könnte auch ein großes sein.“
„Und was ist es?“ fragte Angie.
„Lass uns mal alle zusammen Platz nehmen!“ Oscar schob den Teller von sich.
Devin tat es ihm nach. Alle zusammen setzten wir uns in die Sitzecke zu Spezialagent Barton Bolton.
„Was ist mit Gerry?“ fragte ich und sah ihm zu, während er die Teller von der Theke räumte.
„Mr. Glynn ist schon befragt worden“, antwortete Bolton. „Ach.“
„Patrick“, sagte Devin, „deine Visitenkarte wurde in Kara Riders Hand gefunden.“
„Ich hab dir schon erzählt, wie sie dahin gekommen ist.“ „Das war auch kein Problem, so lange wir davon ausgingen, dass Micky Doog oder einer von ihren gammeligen
Freunden sie umgebracht hatte, weil sie ihm keinen blasen wollte oder was auch immer.“
„Und jetzt geht ihr nicht mehr davon aus?“ wollte Angie wissen. „Leider nicht.“ Devin zündete sich eine Zigarette an.
„Ihr habt aufgegeben“, stellte ich fest.
„Ohne Erfolg.“ Er zuckte mit den Achseln.
Agent Bolton zog ein Foto aus seiner Aktentasche und reichte es mir. Auf ihm war ein junger Mann zu sehen, Mitte Dreißig, gebaut wie ein griechischer Gott. Er trug lediglich Shorts und lächelte in die Kamera. Sein Oberkörper bestand aus prächtigen Muskeln, sein Bizeps war so groß wie ein Baseball.
„Kennen Sie diesen Mann?“
„Nein“, erwiderte ich und reichte Angie das Foto.
Sie sah es kurz an. „Nein.“
„Sind Sie sicher?“
„An den Körper könnte ich mich erinnern. Glauben Sie mir!“ antwortete sie.
„Wer ist das?“
„Peter Stimovich“, erklärte Oscar. „Um ganz genau zu sein: der verstorbene Peter Stimovich. Er wurde letzte Nacht ermordet.“ „Hatte der auch meine Visitenkarte in der Hand?“
„Soweit wir wissen, nicht.“
„Warum bin ich dann hier?“
Devin sah zu Gerry hinter der Theke hinüber. „Worüber hast du mit Gerry gesprochen, als du vor ein paar Tagen vorbeikamst?“ „Frag doch Gerry!“
„Haben wir.“
„Warte mal“, warf ich ein. „Woher weißt du, dass ich vor ein paar Tagen hier war?“
„Sie sind beobachtet worden“, mischte sich Bolton ein.
„Wie bitte?“
Devin zuckte mit den Achseln. „Die Sache ist eine Nummer zu groß für dich, Patrick. Ein paar Nummern zu groß.“
„Seit wann?“ fragte ich.
„Seit wann was?“
„Werde ich beobachtet?“ Ich sah Bolton an.
„Seitdem sich Alec Hardiman unserer Bitte widersetzt hat, mit ihm zu sprechen“, erläuterte Devon.
„Ja, und?“
„Er hat sich geweigert“, fügte Oscar hinzu, „und sagte, er würde nur mit dir sprechen.“
„Mit mir?“
„Ja, Patrick. Nur mit dir.“