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Vorsichtig lenkte unser Taxifahrer seinen Wagen
durch die vereisten Strassen: Er hielt die Tachonadel bei ungefähr
dreißig und bremste nur dann, wenn er keine andere Möglichkeit mehr
hatte. Die Stadt war in Eis gehüllt. Grosse gläserne Flächen
bedeckten die Fassaden der Häuser; die Dachrinnen bogen sich unter
dem Gewicht der weißen Eiszapfen. Die Bäume glänzten platinfarben,
die Autos an den Strassen hatten sich in Eisskulpturen verwandelt.
„Heute nacht gibt’s bestimmt ‘ne Menge Stromausfälle“, meinte der
Taxifahrer.
„Glauben Sie?“ erwiderte Angie geistesabwesend.
„Und wie, schöne Frau. Das Eis, das drückt die ganzen
Stromleitungen runter. Warten Sie’s mal ab. In so ‘ner schlimmen
Nacht sollte keiner draußen sein. Nee.“
„Und warum sind Sie draußen?“ fragte ich.
„Die Kinder müssen doch was zu beißen haben! Müssen aber nicht
wissen, wie hart die Welt für ihren Papa ist. Nein. Die müssen nur
wissen, dass sie was zu beißen kriegen.“
Ich dachte an Maes verwirrten, verschreckten Gesichtsausdruck. In
meinen Ohren hallten die Worte wider, die ich ihrer Mutter
entgegengeschleudert hatte.
Die Kinder müssen es nicht wissen. Wie hatte ich das nur vergessen
können?
Timothy Dünn ließ seine Taschenlampe zweimal aufleuchten, als wir
uns dem Weg vor Angies Haus näherten.
Vorsichtig kam er über die Strasse auf uns zu. Er war ein schmaler
junger Mann mit einem breiten, offenen Gesicht. Er hätte besser auf
einen Bauernhof oder ins Priesterseminar gepasst.
Seine Polizeimütze war in Plastik eingewickelt, um sie vor der
Nässe zu schützen. Der schwere, schwarze Regenmantel war voller
Regentropfen. Er tippte sich an die Mütze, als wir uns an der
Haustreppe trafen.
„Mr. Kenzie, Ms. Gennaro. Ich bin Officer Timothy Dünn. Wie geht’s
uns heute Abend?“
„Ging schon mal besser“, gab Angie zurück.
„Ja, Ma’am, schon gehört.“
„Miss“, verbesserte Angie.
„Wie bitte?“
„Nennen Sie mich bitte Miss oder einfach Angie. Wenn Sie Ma’am
sagen, komme ich mir vor, als wäre ich Ihre Mutter.“ Sie sah ihn
an. „Und das bin ich doch nicht, oder?“
Er lächelte schüchtern: „Das möchte ich aber entschieden
bezweifeln, Miss.“
„Wie alt sind Sie?“
„ Vierundzwanzig.“
„Puh!“
„Und Sie?“ fragte er.
x Angie kicherte. „Fragen Sie eine Frau nie nach ihrem Gewicht oder
ihrem Alter, Officer Dünn.“
Er nickte. „Ich meinte nur, so oder so hat es der Herr ziemlich gut
mit Ihnen gemeint, Miss.“
Ich verdrehte die Augen.
Sie lehnte sich nach hinten und sah ihn näher an.
„Sie werden es weit bringen, Officer Dünn.“
„Vielen Dank, Miss. Das sagen die Leute öfter zu mir.“
„Dann glauben Sie ihnen“, antwortete Angie.
Einen Moment lang sah er auf seine Schuhe herunter, scharrte leicht
damit und zog sich am rechten Ohrläppchen. Ich war mir sicher, dass
es ein nervöser Tick von ihm war.
Er räusperte sich. „Sergeant Amronklin meinte, die Jungs vom FBI
würden Unterstützung vorbeischicken, sobald sie genug Leute von der
Südküste abgezogen haben. Er meinte, spätestens um zwei oder drei
Uhr morgens. Mir wurde gesagt, die Vorder- und Hintertür seien
durch Alarmanlagen gesichert, und der hintere Teil des Hauses sei
sicher.“
Angie nickte.
„Ich würde trotzdem gerne einmal nachsehen.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an!“
Er tippte sich wieder an die Mütze und ging ums Haus herum nach
hinten, während wir auf der Veranda standen und seinen Fußstapfen
lauschten, die auf dem gefrorenen Rasen knirschten. „Wo hat Devin
denn diesen Jungen her?“ fragte Angie. „Aus einem Prospekt für
Musterschüler?“
„Ist wahrscheinlich ein Neffe von ihm“, erwiderte ich.
„Von Devin?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht.“ „Glaub
mir! Devin hat acht Schwestern, davon sind die Hälfte Nonnen. Im
Kloster. Die andere Hälfte ist mit Männern verheiratet, die
glauben, einen sicheren Platz zur Rechten des allmächtigen Vaters
zu haben.“
„Und wie konnte Devin so einer Genmasse entspringen?“ „Das ist ein
Mirakel, muss ich zugeben.“
„Der Kleine ist so unschuldig und ehrlich“, meinte sie.
„Er ist zu jung für dich.“
„Jeder Junge braucht eine Frau, die ihn verdirbt“, gab sie zurück.
„Und dafür bist du genau die Richtige?“
„Darauf kannst du deinen Arsch wetten. Hast du seine Oberschenkel
in der engen Hose gesehen?“
Ich seufzte.
Der Strahl der Taschenlampe kündigte die knirschenden Schritte von
Timothy Dünn an, der kurz darauf um die Ecke bog. „Alles klar!“
rief er zu uns rüber, wir waren auf die Verandastufen
heruntergekommen.
„Vielen Dank, Officer!“
Er sah Angie ins Gesicht, seine Pupillen weiteten sich, dann wich
er ihrem Blick aus.
„Tim“, verbesserte er, „nennen Sie mich doch Tim, Miss.“ „Dann nenn
du mich Angie. Das ist Patrick.“
Er nickte und warf mir einen schuldbewussten Blick zu.
„Also“, sagte er zögernd.
„Also“, sagte auch Angie.
„Also – ich bin dann im Wagen. Wenn ich ins Haus kommen muss, rufe
ich vorher an. Sergeant Amronklin hat mir die Nummer
gegeben.“
„Was ist, wenn besetzt ist?“ wollte ich wissen.
Das hatte er sich schon überlegt. „Ich leuchte mit der Taschenlampe
dreimal in das Zimmer da.“ Er wies auf das Wohnzimmer. „Ich habe
einen Plan vom Haus gesehen; das Licht müsste in jedem Raum außer
in Küche und Badezimmer zu sehen sein. Stimmt das?“
„Ja.“
„Und wenn Sie schlafen oder mich nicht sehen sollten, klingel ich
an der Tür. Zweimal kurz. Okay?
„Hört sich gut an“, lobte ich.
„Wird schon klappen“, meinte er.
Angie nickte. „Danke, Tim.“
Er nickte, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen. Dann ging er
zurück zur Strasse und stieg ins Auto.
Ich schnitt Angie eine Grimasse. „Danke, Tim“, wiederholte ich.
„Ach, halt den Mund!“
„Sie werden sich schon wieder beruhigen“, meinte Angie. Wir saßen
im Wohnzimmer und sprachen über Grace und Mae. Neben der Haustür
konnte ich den kleinen roten Punkt der Alarmanlage leuchten sehen.
Anstatt mich zu beruhigen, schien er unsere Verletzlichkeit nur
noch zu betonen.
„Nein, bestimmt nicht.“
„Wenn sie dich lieben, dann sehen sie irgendwann ein, dass du bei
dem Stress einfach ausgerastet bist. Schwer ausgerastet, das gebe
ich zu, aber mehr auch nicht.“
Ich schüttelte den Kopf. „Grace hatte recht. Ich hab ihr die ganze
Gewalt ins Haus gebracht. Und bin dann selbst so geworden. Ich habe
ihre Tochter in Angst und Schrecken versetzt, Angie.“ „Kinder sind
nicht unterzukriegen“, beruhigte sie mich.
„Wenn du Grace wärst, und ich hätte diese Nummer vor dir abgezogen,
so dass dein Kind wahrscheinlich einen Monat lang Alpträume hat,
was würdest du dann tun?“
„Ich bin nicht Grace.“
„Aber wenn du sie wärst.“
Angie schüttelte den Kopf und blickte auf das Bier in ihrer Hand.
„Los, sag schon!“
Als sie sprach, guckte sie noch immer auf das Bier. „Wahrscheinlich
würde ich dich nie wieder sehen wollen. Niemals mehr.“ Wir zogen
uns ins Schlafzimmer zurück und setzten uns erschöpft, aber zu
aufgedreht, um schlafen zu können, auf zwei Stühle zu beiden Seiten
des Bettes.
Der Regen hatte aufgehört, das Licht im Schlafzimmer war aus, und
das Eis warf ein silbriges Licht an die Wände und tauchte den Raum
in Perlmutt.
„Irgendwann frisst sie uns auf, die Gewalt“, sagte Angie. „Ich hab
immer gedacht, wir sind stärker als sie.“
„Da hast du dich geirrt. Nach einer Weile ergreift sie Besitz von
dir.“ „Sprichst du von mir oder von dir?“
„Von uns beiden. Weißt du noch, wie ich Bobby Royce vor ein paar
Jahren erschossen habe?“
Ich erinnerte mich daran. „Du hast mir das Leben gerettet.“ „Indem
ich ihm seines nahm.< Sie nahm einen langen Zug von ihrer
Zigarette. „Jahrelang habe ich mir versucht einzureden, dass ich
mich anders fühlte, als ich abdrückte, dass ich das nicht gefühlt
haben konnte.“
„Was denn?“ wollte ich wissen.
Sie beugte sich vor, die Füße auf der Bettkante, und schlang die
Arme um die Knie.
„Ich hab mich wie Gott gefühlt“, antwortete sie. „Ich hab mich toll
gefühlt, Patrick.“
Später lag sie mit dem Aschenbecher auf dem Bauch im Bett und
starrte zur Decke hoch; ich saß noch immer auf dem Stuhl. „Das hier
ist mein letzter Fall“, sagte sie. „Für ‘ne Weile
wenigstens.“
„Okay.“
Sie drehte mir den Kopf zu. „Ist dir das egal?“
„Nein.“
Sie blies Kringel an die Decke.
„Ich hab es so satt, Angst zu haben, Patrick. Ich hab es so satt,
so viel Wut zu fühlen. Mich macht das kaputt, wenn ich sehe,
wieviel Hass ich verspüre.“
„Ich weiß“, versicherte ich ihr.
„Ich habe es satt, mich ständig mit Irren, Totschlägern, Pennern
und Lügnern herumzuschlagen. Ich glaube ja schon langsam, die Welt
besteht nur aus solchen Menschen.“
Ich nickte. Ich hatte es auch satt.
„Wir sind noch jung.“ Sie sah zu mir herüber. „Weißt du?“
„Ja.“
„Wir sind noch jung genug, das zu ändern, wenn wir wollen. Wir sind
noch jung genug, um wieder clean zu werden.“
Ich beugte mich vor: „Seit wann fühlst du dich so?“
„Seitdem wir Marion Socia umgebracht haben. Vielleicht schon,
seitdem ich Bobby Royce getötet habe, weiß nicht. Jedenfalls schon
lange. Ich fühle mich schon so lange schmutzig, Patrick. Früher war
das anders.“
Meine Stimme war ein Flüstern: „Können wir denn wieder sauber
werden, Angie? Oder ist es schon zu spät?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Den Versuch ist es wert. Meinst du
nicht?“
„Klar.“ Ich griff nach ihrer Hand. „Wenn du das meinst, dann ist es
das wert.“
Sie lächelte. „Du bist der beste Freund, den ich je hatte.“
„Ebenfalls“, gab ich zurück.
Plötzlich saß ich aufrecht in Angies Bett.
„Was?“ fragte ich, doch hatte niemand mit mir gesprochen. In der
Wohnung war nichts zu hören. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas, das
sich bewegte. Ich drehte mich um und schaute auf das rückwärtige
Fenster. Während ich die gefrorenen Fensterscheiben untersuchte,
drückten sich die dunklen Äste der sich im Wind wiegenden Pappel an
die Scheibe und schnellten wieder zurück. Mir fiel auf, dass die
roten Digitalziffern auf Angies Wecker nicht zu lesen
waren.
Auf der Kommode suchte ich nach meiner Uhr und beugte mich vor, um
im eisigen Licht des Fensters die Uhrzeit zu lesen: 1:45 Uhr. Ich
drehte mich um und hob die Jalousie an, damit ich einen Blick auf
die Nachbarhäuser werfen konnte. Kein Licht war zu sehen, auch die
Straßenlaternen brannten nicht. Die Nachbarschaft sah aus wie ein
Bergdorf, überzogen mit einer Eisschicht, abgeschnitten von der
Außenwelt.
Als das Telefon klingelte, bekam ich fast einen Herzinfarkt. „Ich
nahm ab: „Hallo?“
„Mr. Kenzie?“
„Ja.“
„Tim Dünn.“
„Das Licht ist aus.“
„Ja“, bestätigte er. „In ganz Boston sind große Flächen betroffen.
Das Eis wird schwer und reißt die Leitungen nach unten, in ganz
Massachusetts geben die Transformatoren ihren Geist auf. Ich habe
die Stadtwerke über unsere Situation unterrichtet, aber es wird
noch ‘ne Weile dauern. „
„Okay. Danke, Officer Dünn!“
„Keine Ursache.“
„Officer Dünn?“
„Ja?“
„Welche von Devins Schwestern ist Ihre Mutter?“
„Woher wissen Sie das?“
„Ich bin doch Detektiv, schon vergessen?“
Er kicherte. „Theresa.“
„Ach“, erwiderte ich, „eine der älteren Schwestern. Vor denen hat
Devin immer Angst.“
Er lachte leise. „Ich weiß. Ist immer witzig.“
„Danke, dass Sie auf uns aufpassen, Officer Dünn.“
„Aber immer“, erwiderte er. „Nacht, Mr. Kenzie.“
Ich legte auf und betrachtete die reglose Mischung aus tiefen
Schwarztönen, hellem Silber und Perlmutt draußen.
„Patrick?“
Angie hob den Kopf und schob sich mit der linken Hand die schweren
Locken aus dem Gesicht. Sie stützte sich auf den Ellenbogen, und
ich bemerkte ihre Brüste unter dem High-School-T-Shirt. „Was ist
los?“
„Nichts“, beruhigte ich sie.
„Schlecht geträumt?“
Sie setzte sich auf, ein Bein unter dem Po, das andere glitt glatt
und nackt unter der Bettdecke hervor.
„Ich dachte, ich hätte was gehört.“ Ich nickte in Richtung des
Fensters. „War aber nur der Zweig von dem Baum da.“
Sie gähnte. „Den will ich schon lange abschneiden lassen. „
„Außerdem ist überall das Licht ausgefallen. In der ganzen Stadt.“
Sie lugte unter den Rollläden hervor. „Oh!“
„Dünn meinte, im ganzen Staat seien die Transformatoren kaputt.“
„Nein, nein“, sagte sie plötzlich, warf die Decke zurück und stieg
aus dem Bett. „So nicht. Zu dunkel.“
Sie rumorte in ihrem Schrank herum, bis sie einen Schuhkarton fand.
Den stellte sie auf den Boden und holte eine Handvoll weißer Kerzen
hervor.
„Soll ich dir helfen?“ bot ich mich an.
Sie schüttelte den Kopf und verteilte die Kerzen im ganzen Zimmer
auf Kerzenhalter und Leuchter, die ich im Dunkeln nicht erkennen
konnte. Überall standen Kerzen: auf den beiden Nachtschränken, dem
Wandschrank, der Frisierkommode. Es war schon fast beunruhigend,
ihr beim Anzünden der Dochte zuzuschauen, denn sie betätigte mit
dem Daumen unaufhörlich den Anzünder des Feuerzeugs, während sie
von einer Kerze zur nächsten kroch, bis alle Dochte entzündet waren
und flackernd ihr Licht an die Wände warfen.
In weniger als zwei Minuten hatte sie das Schlafzimmer in eine
kleine Kapelle verwandelt.
„So!“ sagte sie und schlüpfte wieder unter die Decke.
Über eine Minute lang sprach keiner von uns ein Wort. Ich sah zu,
wie die Flammen flackerten und zunahmen, wie das warme gelbe Licht
auf unserer Haut spielte, wie es in ihrem Haar glühte. Sie drehte
sich um, so dass sie mir ins Gesicht sehen konnte, die Beine hatte
sie verschränkt und an die Brust gezogen, die Bettdecke unter die
Hüfte geschoben. Sie knetete die Decke mit den Händen, neigte den
Kopf zur Seite und schüttelte ihn, so dass ihr das Haar locker über
die Schultern und den Rücken fiel.
„Ich träume ständig von Leichen“, sagte sie.
„Ich nur von Evandro“, entgegnete ich.
„Und was macht er?“ Sie beugte sich ein wenig vor.
„Er kommt näher, immer näher.“
„In meinen Träumen ist er schon da.“
„Dann sind die Leichen…“
„Das sind unsere Leichen.“ Sie presste die Hände im Schoss zusammen
und sah sie an, als erwarte sie, dass sie sich von selbst wieder
voneinander lösten.
„Ich will nicht sterben, Patrick!“
Ich lehnte mich gegen die Kopfstütze. „Ich auch nicht.“
Sie beugte sich vor. Sie wirkte geheimnisvoll mit den im Schoss
zusammengepressten Händen, dem vorgebeugten Oberkörper und ihrem
vom dichten Haar umrahmten, fast versteckten Gesicht. „Wenn er uns
kriegt…“
„Das schafft er nicht.“
Sie lehnte die Stirn gegen meine. „Doch.“
Das Haus quietschte, kam der Erde einen weiteren Hundertstel
Zentimeter näher.
„Wir sind bereit, wenn er kommt.“
Sie lachte, doch klang es kehlig, erstickt.
„Wir sind fertig mit den Nerven, Patrick. Du weißt es, ich weiß es,
und er weiß es wahrscheinlich auch. Wir haben seit Tagen nicht mehr
richtig gegessen oder geschlafen. Er hat uns emotional und
psychisch erledigt, und in jeder anderen Hinsicht auch.“ Sie legte
ihre feuchten Hände auf meine Wangen. „Wenn er will, macht er uns
fertig.“
Ich spürte ein Zittern, so als jagten Stromstösse durch ihre Hände.
Ihr Körper bebte vor Aufregung. Ich wusste, dass sie recht hatte.
Wenn er wollte, machte er uns fertig.
Diese Erkenntnis war furchtbar und verheerend, es war die
elementarste Form der Selbsterkenntnis: Wir waren nichts anderes,
wir beide, als eine Ansammlung von Organen, Muskeln und Sehnen, die
hinter einer zerbrechlichen, vergänglichen äußeren Hülle durch
Blutadern miteinander verbunden waren. Und Evandro konnte kommen
und uns einfach ausschalten, wie man einen Lichtschalter betätigt,
und schon würde unser System aus Organen und Venen nicht mehr
arbeiten, das Licht würde erlöschen, die Finsternis wäre
total.
„Denk dran, was ich dir gesagt habe“, erinnerte ich sie. „Wenn wir
sterben, nehmen wir ihn mit.“
„Ja, und?“ rief sie. „Was soll das, verdammt noch mal? Ich möchte
Evandro aber nicht mitnehmen. Ich möchte einfach nicht sterben. Ich
will, dass er mich in Ruhe lässt.“
„Hey“, beruhigte ich sie. „Ist schon gut. Komm!“
Traurig lächelte sie mich an. „Tut mir leid. Das ist nur, weil es
jetzt mitten in der Nacht ist und ich noch nie in meinem Leben
solche Angst gehabt habe, und weil ich jetzt keine coolen Sprüche
klopfen kann. Die klingen in letzter Zeit ziemlich hohl.“
Ihre Augen wurden feucht, ihre Handflächen ebenfalls, wie ich
bemerkte, als sie mir über die Wangen strich und sich langsam nach
hinten lehnte.
Sanft umfasste ich ihre Handgelenke, und sie beugte sich wieder
vor.
Mit der rechten Hand fuhr sie mir durchs Haar, strich es mir aus
der Stirn und senkte sich dabei mit dem Körper auf mich; die
Oberschenkel schob sie zwischen meine Beine, mit dem linken Fuß
strich sie an meinem rechten entlang, während sie die Bettdecke ans
Fußende schob.
Eine Haarsträhne von ihr kitzelte mich am linken Auge, und wir
hielten beide inne, unsere Gesichter berührten sich beinahe. Ich
roch die Angst in ihrem Atem, in unserem Haar, auf unserer Haut.
Ihre dunklen Augen beäugten mich mit einer Mischung
aus Neugier, Entschlossenheit und den Narben der alten Wunden, über
die wir nie gesprochen hatten. Sie grub die Finger tief in mein
Haar und presste das Becken gegen meins.
„Das dürfen wir nicht tun“, flüsterte sie.
„Nein“, erwiderte ich.
„Was ist mit Grace?“
Ich ließ die Frage im Raum schweben, da ich keine Antwort wusste.
„Was ist mit Phil?“ fragte ich.
„Phil ist vorbei“, sagte sie.
„Es gibt gute Gründe, warum wir das seit siebzehn Jahren nicht
getan haben“, entgegnete ich.
„Ich weiß. Aber sie wollen mir nicht einfallen.“
Ich hob die Hand und strich ihr durch das Haar an der linken
Schläfe; sie biss mich zärtlich in den Arm und streckte den Rücken
nach hinten, schob das Becken noch weiter vor.
„Renee“, stieß sie hervor und griff mit plötzlicher Wut in das Haar
an meinen Schläfen.
„Renee ist vorbei.“ Ich griff ihr genauso grob ins Haar.
„Bist du so sicher?“
„Schon mal gehört, dass ich von ihr geredet habe?“ Mit dem linken
Bein glitt ich an ihrem rechten entlang und verschränkte mein Bein
mit ihrem.
„Das ist schon auffällig“, gab sie zurück. Die linke Hand strich
über meine Brust und kniff mir kurz über dem Bund der Boxer-Shorts
in die Hüfte. „Es ist auffällig, dass du nicht über eine Frau
redest, mit der du verheiratet warst.“ Mit dem Handrücken schob sie
den Hosenbund herunter.
„Ange…“
„Sag nicht meinen Namen!“
„Was?“
„Nicht wenn du von dir und meiner Schwester redest.“
Da war es wieder. Seit zehn Jahren hatten wir das Thema kaum
gestreift, und jetzt war es mit all seinen schmutzigen
Verstrickungen wieder da.
Sie lehnte sich zurück und saß nun auf meinen Oberschenkeln, meine
Hände lagen auf ihren Hüften.
„Ich hab schon genug dafür bezahlt“, protestierte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Doch.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Es macht mir aber nichts mehr aus.
Im Moment jedenfalls nicht.“
„Ange…“
Sie legte mir einen Finger auf die Lippen, lehnte sich dann wieder
zurück und zog das T-Shirt aus. Sie warf es neben das Bett, griff
nach meinen Händen und führte sie über ihren Brustkorb zu ihren
Brüsten.
Dann senkte sie den Kopf, so dass ihr Haar über meine Hände fiel.
„Siebzehnjahre lang hast du mir gefehlt“, murmelte sie.
„Du mir auch“, erwiderte ich mit rauher Stimme.
„Gut“, flüsterte sie.
Wieder fiel mir ihr Haar ins Gesicht, während ihre Lippen über
meinen schwebten und ihre Knie gegen meine Beine drückten und meine
Shorts herunterschoben. Ihre schlanke Zunge berührte meine
Oberlippe. „Gut“, wiederholte sie.
Ich hob den Kopf und küsste sie, die rechte Hand in ihren Locken.
Als sich meine Lippen wieder von ihren lösten, erwiderte sie den
Kuss, öffnete den Mund und ließ die Zunge in meinen Mund gleiten.
Ich fuhr ihr mit den Händen über den Rücken, strich ihr mit den
Fingern die Wirbelsäule entlang und zog dann am Gummiband ihres
Slips.
Sie griff mit dem Arm an das Kopfende des Bettes und zog sich
höher, während ich mit der Zunge ihren Hals entlangglitt und ihren
seidenen Slip über Hüfte und Po herunterrollte. Dann war ihr Busen
in meinem Mund, und sie keuchte leicht und streckte sich. Mit dem
Handrücken strich sie mir über den Bauch und an den Lenden entlang,
dabei schob sie ihren aufgerollten Seidenslip bis zu den
Fußknöcheln herunter und senkte sich auf mich.
Da klingelte das Telefon.
„Ich bring ihn um – egal wer es ist!“ fluchte ich.
Leicht stießen wir mit den Nasen zusammen, sie stöhnte, dann
lachten wir beide, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
„Hilf mir mal, dass ich da rauskomme!“ bat sie mich. „Ich hab mich
ganz verheddert!“
Wieder klingelte das Telefon laut und schrill.
Wir hatten uns mit den Beinen in der Unterwäsche so verwickelt,
dass ich mit der Hand heruntergriff, um das Durcheinander zu lösen.
Dabei berührte ich Angies Hand Diese unerwartete Berührung war eins
der erotischsten Gefühle, die ich je verspürt habe. Abermals
klingelte das Telefon, und Angie legte sich seitwärts übers Bett,
wodurch sich unsere Füße entwirrten und ich im Kerzenlicht den
Schweiß auf ihrer olivbraunen Haut glänzen sah. Sie stöhnte, aber
es war ein verärgertes, wütendes Stöhnen, und als sie über mich
nach dem Telefon griff, rieben unsere Körper aneinander.
„Könnte Officer Dünn sein“, bemerkte sie, „Scheiße!“
„Tim“, verbesserte ich. „Für dich heißt er doch Tim.“
„Du Arschloch!“ lachte sie kehlig und schlug mir auf die Brust. Mit
dem Hörer rutschte sie wieder an mir entlang, dann fiel sie neben
mir ins Bett – ihre Haut glänzte noch dunkler durch das weiße
Betttuch unter ihr.
„Hallo!“ meldete sie sich und blies eine nasse Haarsträhne fort,
die an ihrer Stirn klebte.
Ich hörte ein kratzendes Geräusch. Schwach, aber unablässig. Am
Fenster rechts von mir sah ich die dunklen Zweige an der Scheibe
entlangkratzen.
Kratz, kratz.
Angie zog das rechte Bein fort, und mir war plötzlich kalt. „Ach,
Phil, bitte“, sagte sie, „es ist fast zwei Uhr nachts.“ Sie drückte
Kopf und Schultern ins Kopfkissen, klemmte sich den Hörer zwischen
Ohr und Schulter, hob das Becken an und zog den Slip wieder
hoch.
„Das freut mich ja auch, dass es dir gutgeht“, beruhigte sie ihn,
„aber können wir nicht morgen früh weiterreden, Phil?“
Wieder kratzten die Zweige am Fenster, während ich meine
BoxerShorts suchte und sie anzog.
Geistesabwesend streichelte Angie meine Hüfte, dann drehte sie sich
zu mir um und verdrehte die Augen, als wolle sie sagen: „Ist das zu
glauben?“ Plötzlich kniff sie mir ins Fleisch über der Hüfte, wo
ich ihrer Meinung nach ein kleines Röllchen hatte, und biss sich
auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Es gelang nicht.
„Phil, du hast doch was getrunken, stimmt’s?“
Kratz, kratz.
Ich sah zum Fenster hinüber, doch die Zweige waren nicht zu sehen,
sie wurden vom starken Wind nach hinten gebogen. „Das weiß ich
doch, Phillip“, sagte sie traurig. „Ich weiß. Ich versuch’s ja
auch.“ Sie ließ die Hand von meiner
Hüfte gleiten, widmete sich ganz dem Telefon und stand auf. „Tue
ich nicht. Ich hasse dich nicht.“
Dort stand sie, ein Knie aufs Bett gestützt, und sah aus dem
Fenster, das Telefonkabel schnitt sich in die Rückseite ihrer
Oberschenkel, während sie sich wieder in das T-Shirt
zwängte.
Ich stand ebenfalls auf und zog mir Jeans und Hemd an. Ohne die
Wärme eines anderen Körpers war es kalt im Haus, aber ich hatte
nicht den Wunsch, wieder unter die Decke zu krabbeln, während sie
mit Phil plauderte.
„Ich verurteile dich ja gar nicht“, sagte sie, „aber wenn Arujo
zufällig heute nacht bei dir vorbeikommt, wäre es doch besser, wenn
du klar im Kopf wärst, oder?“
Ein weißer Lichtstrahl erklomm ihre vom Kerzenlicht beschienene
Schulter, dreimal blinkte es gegen die Wand vor ihr. Sie hielt den
Kopf gesenkt, so dass sie ihn nicht bemerkte. Deshalb stand ich
auf, ging in den Flur, rieb mir die Arme wegen der Kälte und sah
durch das Wohnzimmerfenster Tim Dünn über die Strasse auf das Haus
zukommen.
Als ich den Alarm deaktivieren wollte, merkte ich, dass auch er vom
Stromausfall betroffen war.
Bevor er klingeln konnte, öffnete ich die Tür.
„Was ist los?“ fragte ich.
Wegen der von den Bäumen heruntertropfenden Nässe hielt er den Kopf
gesenkt. Ich bemerkte, dass er auf meine nackten Füße sah. Im
Wohnzimmer rauschte das Walkie-talkie.
„Kalt?“ fragte Dünn und zog sich am Ohrläppchen.
„Ja, kommen Sie rein!“ lud ich ihn ein. „Machen Sie die Tür hinter
sich zu.“
Ich ging voraus in den Flur, als ich Devins Stimme über das
Walkietalkie hörte: „Patrick, sofort raus aus dem
Haus! Arujo hat uns reingelegt! Er hat uns reingelegt! Er ist nicht
auf Nahant!“
Ich drehte mich um, Dünn hob den Kopf, und Evandro Arujos Gesicht
starrte mich unter der Krempe an.
„Arujo ist nicht in Nahant, Patrick! Er ist hier. Er ist bei
euch!“