33

Vorsichtig lenkte unser Taxifahrer seinen Wagen durch die vereisten Strassen: Er hielt die Tachonadel bei ungefähr dreißig und bremste nur dann, wenn er keine andere Möglichkeit mehr hatte. Die Stadt war in Eis gehüllt. Grosse gläserne Flächen bedeckten die Fassaden der Häuser; die Dachrinnen bogen sich unter dem Gewicht der weißen Eiszapfen. Die Bäume glänzten platinfarben, die Autos an den Strassen hatten sich in Eisskulpturen verwandelt. „Heute nacht gibt’s bestimmt ‘ne Menge Stromausfälle“, meinte der Taxifahrer.
„Glauben Sie?“ erwiderte Angie geistesabwesend.
„Und wie, schöne Frau. Das Eis, das drückt die ganzen Stromleitungen runter. Warten Sie’s mal ab. In so ‘ner schlimmen Nacht sollte keiner draußen sein. Nee.“
„Und warum sind Sie draußen?“ fragte ich.
„Die Kinder müssen doch was zu beißen haben! Müssen aber nicht wissen, wie hart die Welt für ihren Papa ist. Nein. Die müssen nur wissen, dass sie was zu beißen kriegen.“
Ich dachte an Maes verwirrten, verschreckten Gesichtsausdruck. In meinen Ohren hallten die Worte wider, die ich ihrer Mutter entgegengeschleudert hatte.
Die Kinder müssen es nicht wissen. Wie hatte ich das nur vergessen können?
Timothy Dünn ließ seine Taschenlampe zweimal aufleuchten, als wir uns dem Weg vor Angies Haus näherten.
Vorsichtig kam er über die Strasse auf uns zu. Er war ein schmaler junger Mann mit einem breiten, offenen Gesicht. Er hätte besser auf einen Bauernhof oder ins Priesterseminar gepasst.
Seine Polizeimütze war in Plastik eingewickelt, um sie vor der Nässe zu schützen. Der schwere, schwarze Regenmantel war voller Regentropfen. Er tippte sich an die Mütze, als wir uns an der Haustreppe trafen.
„Mr. Kenzie, Ms. Gennaro. Ich bin Officer Timothy Dünn. Wie geht’s uns heute Abend?“
„Ging schon mal besser“, gab Angie zurück.
„Ja, Ma’am, schon gehört.“
„Miss“, verbesserte Angie.
„Wie bitte?“
„Nennen Sie mich bitte Miss oder einfach Angie. Wenn Sie Ma’am sagen, komme ich mir vor, als wäre ich Ihre Mutter.“ Sie sah ihn an. „Und das bin ich doch nicht, oder?“
Er lächelte schüchtern: „Das möchte ich aber entschieden bezweifeln, Miss.“
„Wie alt sind Sie?“
„ Vierundzwanzig.“
„Puh!“
„Und Sie?“ fragte er.
x Angie kicherte. „Fragen Sie eine Frau nie nach ihrem Gewicht oder ihrem Alter, Officer Dünn.“
Er nickte. „Ich meinte nur, so oder so hat es der Herr ziemlich gut mit Ihnen gemeint, Miss.“
Ich verdrehte die Augen.
Sie lehnte sich nach hinten und sah ihn näher an.
„Sie werden es weit bringen, Officer Dünn.“
„Vielen Dank, Miss. Das sagen die Leute öfter zu mir.“
„Dann glauben Sie ihnen“, antwortete Angie.
Einen Moment lang sah er auf seine Schuhe herunter, scharrte leicht damit und zog sich am rechten Ohrläppchen. Ich war mir sicher, dass es ein nervöser Tick von ihm war.
Er räusperte sich. „Sergeant Amronklin meinte, die Jungs vom FBI würden Unterstützung vorbeischicken, sobald sie genug Leute von der Südküste abgezogen haben. Er meinte, spätestens um zwei oder drei Uhr morgens. Mir wurde gesagt, die Vorder- und Hintertür seien durch Alarmanlagen gesichert, und der hintere Teil des Hauses sei sicher.“
Angie nickte.
„Ich würde trotzdem gerne einmal nachsehen.“
„Tun Sie sich keinen Zwang an!“
Er tippte sich wieder an die Mütze und ging ums Haus herum nach hinten, während wir auf der Veranda standen und seinen Fußstapfen lauschten, die auf dem gefrorenen Rasen knirschten. „Wo hat Devin denn diesen Jungen her?“ fragte Angie. „Aus einem Prospekt für Musterschüler?“
„Ist wahrscheinlich ein Neffe von ihm“, erwiderte ich.
„Von Devin?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht.“ „Glaub mir! Devin hat acht Schwestern, davon sind die Hälfte Nonnen. Im Kloster. Die andere Hälfte ist mit Männern verheiratet, die glauben, einen sicheren Platz zur Rechten des allmächtigen Vaters zu haben.“
„Und wie konnte Devin so einer Genmasse entspringen?“ „Das ist ein Mirakel, muss ich zugeben.“
„Der Kleine ist so unschuldig und ehrlich“, meinte sie.
„Er ist zu jung für dich.“
„Jeder Junge braucht eine Frau, die ihn verdirbt“, gab sie zurück. „Und dafür bist du genau die Richtige?“
„Darauf kannst du deinen Arsch wetten. Hast du seine Oberschenkel in der engen Hose gesehen?“
Ich seufzte.
Der Strahl der Taschenlampe kündigte die knirschenden Schritte von Timothy Dünn an, der kurz darauf um die Ecke bog. „Alles klar!“ rief er zu uns rüber, wir waren auf die Verandastufen heruntergekommen.
„Vielen Dank, Officer!“
Er sah Angie ins Gesicht, seine Pupillen weiteten sich, dann wich er ihrem Blick aus.
„Tim“, verbesserte er, „nennen Sie mich doch Tim, Miss.“ „Dann nenn du mich Angie. Das ist Patrick.“
Er nickte und warf mir einen schuldbewussten Blick zu.
„Also“, sagte er zögernd.
„Also“, sagte auch Angie.
„Also – ich bin dann im Wagen. Wenn ich ins Haus kommen muss, rufe ich vorher an. Sergeant Amronklin hat mir die Nummer gegeben.“
„Was ist, wenn besetzt ist?“ wollte ich wissen.
Das hatte er sich schon überlegt. „Ich leuchte mit der Taschenlampe dreimal in das Zimmer da.“ Er wies auf das Wohnzimmer. „Ich habe einen Plan vom Haus gesehen; das Licht müsste in jedem Raum außer in Küche und Badezimmer zu sehen sein. Stimmt das?“
„Ja.“
„Und wenn Sie schlafen oder mich nicht sehen sollten, klingel ich an der Tür. Zweimal kurz. Okay?
„Hört sich gut an“, lobte ich.
„Wird schon klappen“, meinte er.
Angie nickte. „Danke, Tim.“
Er nickte, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen. Dann ging er zurück zur Strasse und stieg ins Auto.
Ich schnitt Angie eine Grimasse. „Danke, Tim“, wiederholte ich. „Ach, halt den Mund!“
„Sie werden sich schon wieder beruhigen“, meinte Angie. Wir saßen im Wohnzimmer und sprachen über Grace und Mae. Neben der Haustür konnte ich den kleinen roten Punkt der Alarmanlage leuchten sehen. Anstatt mich zu beruhigen, schien er unsere Verletzlichkeit nur noch zu betonen.
„Nein, bestimmt nicht.“
„Wenn sie dich lieben, dann sehen sie irgendwann ein, dass du bei dem Stress einfach ausgerastet bist. Schwer ausgerastet, das gebe ich zu, aber mehr auch nicht.“
Ich schüttelte den Kopf. „Grace hatte recht. Ich hab ihr die ganze Gewalt ins Haus gebracht. Und bin dann selbst so geworden. Ich habe ihre Tochter in Angst und Schrecken versetzt, Angie.“ „Kinder sind nicht unterzukriegen“, beruhigte sie mich.
„Wenn du Grace wärst, und ich hätte diese Nummer vor dir abgezogen, so dass dein Kind wahrscheinlich einen Monat lang Alpträume hat, was würdest du dann tun?“
„Ich bin nicht Grace.“
„Aber wenn du sie wärst.“
Angie schüttelte den Kopf und blickte auf das Bier in ihrer Hand. „Los, sag schon!“
Als sie sprach, guckte sie noch immer auf das Bier. „Wahrscheinlich würde ich dich nie wieder sehen wollen. Niemals mehr.“ Wir zogen uns ins Schlafzimmer zurück und setzten uns erschöpft, aber zu aufgedreht, um schlafen zu können, auf zwei Stühle zu beiden Seiten des Bettes.
Der Regen hatte aufgehört, das Licht im Schlafzimmer war aus, und das Eis warf ein silbriges Licht an die Wände und tauchte den Raum in Perlmutt.
„Irgendwann frisst sie uns auf, die Gewalt“, sagte Angie. „Ich hab immer gedacht, wir sind stärker als sie.“
„Da hast du dich geirrt. Nach einer Weile ergreift sie Besitz von dir.“ „Sprichst du von mir oder von dir?“
„Von uns beiden. Weißt du noch, wie ich Bobby Royce vor ein paar Jahren erschossen habe?“
Ich erinnerte mich daran. „Du hast mir das Leben gerettet.“ „Indem ich ihm seines nahm.< Sie nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette. „Jahrelang habe ich mir versucht einzureden, dass ich mich anders fühlte, als ich abdrückte, dass ich das nicht gefühlt haben konnte.“
„Was denn?“ wollte ich wissen.
Sie beugte sich vor, die Füße auf der Bettkante, und schlang die Arme um die Knie.
„Ich hab mich wie Gott gefühlt“, antwortete sie. „Ich hab mich toll gefühlt, Patrick.“
Später lag sie mit dem Aschenbecher auf dem Bauch im Bett und starrte zur Decke hoch; ich saß noch immer auf dem Stuhl. „Das hier ist mein letzter Fall“, sagte sie. „Für ‘ne Weile wenigstens.“
„Okay.“
Sie drehte mir den Kopf zu. „Ist dir das egal?“
„Nein.“
Sie blies Kringel an die Decke.
„Ich hab es so satt, Angst zu haben, Patrick. Ich hab es so satt, so viel Wut zu fühlen. Mich macht das kaputt, wenn ich sehe, wieviel Hass ich verspüre.“
„Ich weiß“, versicherte ich ihr.
„Ich habe es satt, mich ständig mit Irren, Totschlägern, Pennern und Lügnern herumzuschlagen. Ich glaube ja schon langsam, die Welt besteht nur aus solchen Menschen.“
Ich nickte. Ich hatte es auch satt.
„Wir sind noch jung.“ Sie sah zu mir herüber. „Weißt du?“ „Ja.“
„Wir sind noch jung genug, das zu ändern, wenn wir wollen. Wir sind noch jung genug, um wieder clean zu werden.“
Ich beugte mich vor: „Seit wann fühlst du dich so?“
„Seitdem wir Marion Socia umgebracht haben. Vielleicht schon, seitdem ich Bobby Royce getötet habe, weiß nicht. Jedenfalls schon lange. Ich fühle mich schon so lange schmutzig, Patrick. Früher war das anders.“
Meine Stimme war ein Flüstern: „Können wir denn wieder sauber werden, Angie? Oder ist es schon zu spät?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Den Versuch ist es wert. Meinst du nicht?“
„Klar.“ Ich griff nach ihrer Hand. „Wenn du das meinst, dann ist es das wert.“
Sie lächelte. „Du bist der beste Freund, den ich je hatte.“ „Ebenfalls“, gab ich zurück.
Plötzlich saß ich aufrecht in Angies Bett.
„Was?“ fragte ich, doch hatte niemand mit mir gesprochen. In der Wohnung war nichts zu hören. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas, das sich bewegte. Ich drehte mich um und schaute auf das rückwärtige Fenster. Während ich die gefrorenen Fensterscheiben untersuchte, drückten sich die dunklen Äste der sich im Wind wiegenden Pappel an die Scheibe und schnellten wieder zurück. Mir fiel auf, dass die roten Digitalziffern auf Angies Wecker nicht zu lesen waren.
Auf der Kommode suchte ich nach meiner Uhr und beugte mich vor, um im eisigen Licht des Fensters die Uhrzeit zu lesen: 1:45 Uhr. Ich drehte mich um und hob die Jalousie an, damit ich einen Blick auf die Nachbarhäuser werfen konnte. Kein Licht war zu sehen, auch die Straßenlaternen brannten nicht. Die Nachbarschaft sah aus wie ein Bergdorf, überzogen mit einer Eisschicht, abgeschnitten von der Außenwelt.
Als das Telefon klingelte, bekam ich fast einen Herzinfarkt. „Ich nahm ab: „Hallo?“
„Mr. Kenzie?“
„Ja.“
„Tim Dünn.“
„Das Licht ist aus.“
„Ja“, bestätigte er. „In ganz Boston sind große Flächen betroffen. Das Eis wird schwer und reißt die Leitungen nach unten, in ganz Massachusetts geben die Transformatoren ihren Geist auf. Ich habe die Stadtwerke über unsere Situation unterrichtet, aber es wird noch ‘ne Weile dauern. „
„Okay. Danke, Officer Dünn!“
„Keine Ursache.“
„Officer Dünn?“
„Ja?“
„Welche von Devins Schwestern ist Ihre Mutter?“
„Woher wissen Sie das?“
„Ich bin doch Detektiv, schon vergessen?“
Er kicherte. „Theresa.“
„Ach“, erwiderte ich, „eine der älteren Schwestern. Vor denen hat Devin immer Angst.“
Er lachte leise. „Ich weiß. Ist immer witzig.“
„Danke, dass Sie auf uns aufpassen, Officer Dünn.“
„Aber immer“, erwiderte er. „Nacht, Mr. Kenzie.“
Ich legte auf und betrachtete die reglose Mischung aus tiefen Schwarztönen, hellem Silber und Perlmutt draußen.
„Patrick?“
Angie hob den Kopf und schob sich mit der linken Hand die schweren Locken aus dem Gesicht. Sie stützte sich auf den Ellenbogen, und ich bemerkte ihre Brüste unter dem High-School-T-Shirt. „Was ist los?“
„Nichts“, beruhigte ich sie.
„Schlecht geträumt?“
Sie setzte sich auf, ein Bein unter dem Po, das andere glitt glatt und nackt unter der Bettdecke hervor.
„Ich dachte, ich hätte was gehört.“ Ich nickte in Richtung des Fensters. „War aber nur der Zweig von dem Baum da.“
Sie gähnte. „Den will ich schon lange abschneiden lassen. „ „Außerdem ist überall das Licht ausgefallen. In der ganzen Stadt.“ Sie lugte unter den Rollläden hervor. „Oh!“
„Dünn meinte, im ganzen Staat seien die Transformatoren kaputt.“ „Nein, nein“, sagte sie plötzlich, warf die Decke zurück und stieg aus dem Bett. „So nicht. Zu dunkel.“
Sie rumorte in ihrem Schrank herum, bis sie einen Schuhkarton fand. Den stellte sie auf den Boden und holte eine Handvoll weißer Kerzen hervor.
„Soll ich dir helfen?“ bot ich mich an.
Sie schüttelte den Kopf und verteilte die Kerzen im ganzen Zimmer auf Kerzenhalter und Leuchter, die ich im Dunkeln nicht erkennen konnte. Überall standen Kerzen: auf den beiden Nachtschränken, dem Wandschrank, der Frisierkommode. Es war schon fast beunruhigend, ihr beim Anzünden der Dochte zuzuschauen, denn sie betätigte mit dem Daumen unaufhörlich den Anzünder des Feuerzeugs, während sie von einer Kerze zur nächsten kroch, bis alle Dochte entzündet waren und flackernd ihr Licht an die Wände warfen.
In weniger als zwei Minuten hatte sie das Schlafzimmer in eine kleine Kapelle verwandelt.
„So!“ sagte sie und schlüpfte wieder unter die Decke.
Über eine Minute lang sprach keiner von uns ein Wort. Ich sah zu, wie die Flammen flackerten und zunahmen, wie das warme gelbe Licht auf unserer Haut spielte, wie es in ihrem Haar glühte. Sie drehte sich um, so dass sie mir ins Gesicht sehen konnte, die Beine hatte sie verschränkt und an die Brust gezogen, die Bettdecke unter die Hüfte geschoben. Sie knetete die Decke mit den Händen, neigte den Kopf zur Seite und schüttelte ihn, so dass ihr das Haar locker über die Schultern und den Rücken fiel.
„Ich träume ständig von Leichen“, sagte sie.
„Ich nur von Evandro“, entgegnete ich.
„Und was macht er?“ Sie beugte sich ein wenig vor.
„Er kommt näher, immer näher.“
„In meinen Träumen ist er schon da.“
„Dann sind die Leichen…“
„Das sind unsere Leichen.“ Sie presste die Hände im Schoss zusammen und sah sie an, als erwarte sie, dass sie sich von selbst wieder voneinander lösten.
„Ich will nicht sterben, Patrick!“
Ich lehnte mich gegen die Kopfstütze. „Ich auch nicht.“
Sie beugte sich vor. Sie wirkte geheimnisvoll mit den im Schoss zusammengepressten Händen, dem vorgebeugten Oberkörper und ihrem vom dichten Haar umrahmten, fast versteckten Gesicht. „Wenn er uns kriegt…“
„Das schafft er nicht.“
Sie lehnte die Stirn gegen meine. „Doch.“
Das Haus quietschte, kam der Erde einen weiteren Hundertstel Zentimeter näher.
„Wir sind bereit, wenn er kommt.“
Sie lachte, doch klang es kehlig, erstickt.
„Wir sind fertig mit den Nerven, Patrick. Du weißt es, ich weiß es, und er weiß es wahrscheinlich auch. Wir haben seit Tagen nicht mehr richtig gegessen oder geschlafen. Er hat uns emotional und psychisch erledigt, und in jeder anderen Hinsicht auch.“ Sie legte ihre feuchten Hände auf meine Wangen. „Wenn er will, macht er uns fertig.“
Ich spürte ein Zittern, so als jagten Stromstösse durch ihre Hände. Ihr Körper bebte vor Aufregung. Ich wusste, dass sie recht hatte. Wenn er wollte, machte er uns fertig.
Diese Erkenntnis war furchtbar und verheerend, es war die elementarste Form der Selbsterkenntnis: Wir waren nichts anderes, wir beide, als eine Ansammlung von Organen, Muskeln und Sehnen, die hinter einer zerbrechlichen, vergänglichen äußeren Hülle durch Blutadern miteinander verbunden waren. Und Evandro konnte kommen und uns einfach ausschalten, wie man einen Lichtschalter betätigt, und schon würde unser System aus Organen und Venen nicht mehr arbeiten, das Licht würde erlöschen, die Finsternis wäre total.
„Denk dran, was ich dir gesagt habe“, erinnerte ich sie. „Wenn wir sterben, nehmen wir ihn mit.“
„Ja, und?“ rief sie. „Was soll das, verdammt noch mal? Ich möchte Evandro aber nicht mitnehmen. Ich möchte einfach nicht sterben. Ich will, dass er mich in Ruhe lässt.“
„Hey“, beruhigte ich sie. „Ist schon gut. Komm!“
Traurig lächelte sie mich an. „Tut mir leid. Das ist nur, weil es jetzt mitten in der Nacht ist und ich noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt habe, und weil ich jetzt keine coolen Sprüche klopfen kann. Die klingen in letzter Zeit ziemlich hohl.“
Ihre Augen wurden feucht, ihre Handflächen ebenfalls, wie ich bemerkte, als sie mir über die Wangen strich und sich langsam nach hinten lehnte.
Sanft umfasste ich ihre Handgelenke, und sie beugte sich wieder vor.
Mit der rechten Hand fuhr sie mir durchs Haar, strich es mir aus der Stirn und senkte sich dabei mit dem Körper auf mich; die Oberschenkel schob sie zwischen meine Beine, mit dem linken Fuß strich sie an meinem rechten entlang, während sie die Bettdecke ans Fußende schob.
Eine Haarsträhne von ihr kitzelte mich am linken Auge, und wir hielten beide inne, unsere Gesichter berührten sich beinahe. Ich roch die Angst in ihrem Atem, in unserem Haar, auf unserer Haut. Ihre dunklen Augen beäugten mich mit einer Mischung
aus Neugier, Entschlossenheit und den Narben der alten Wunden, über die wir nie gesprochen hatten. Sie grub die Finger tief in mein Haar und presste das Becken gegen meins.
„Das dürfen wir nicht tun“, flüsterte sie.
„Nein“, erwiderte ich.
„Was ist mit Grace?“
Ich ließ die Frage im Raum schweben, da ich keine Antwort wusste. „Was ist mit Phil?“ fragte ich.
„Phil ist vorbei“, sagte sie.
„Es gibt gute Gründe, warum wir das seit siebzehn Jahren nicht getan haben“, entgegnete ich.
„Ich weiß. Aber sie wollen mir nicht einfallen.“
Ich hob die Hand und strich ihr durch das Haar an der linken Schläfe; sie biss mich zärtlich in den Arm und streckte den Rücken nach hinten, schob das Becken noch weiter vor.
„Renee“, stieß sie hervor und griff mit plötzlicher Wut in das Haar an meinen Schläfen.
„Renee ist vorbei.“ Ich griff ihr genauso grob ins Haar.
„Bist du so sicher?“
„Schon mal gehört, dass ich von ihr geredet habe?“ Mit dem linken Bein glitt ich an ihrem rechten entlang und verschränkte mein Bein mit ihrem.
„Das ist schon auffällig“, gab sie zurück. Die linke Hand strich über meine Brust und kniff mir kurz über dem Bund der Boxer-Shorts in die Hüfte. „Es ist auffällig, dass du nicht über eine Frau redest, mit der du verheiratet warst.“ Mit dem Handrücken schob sie den Hosenbund herunter.
„Ange…“
„Sag nicht meinen Namen!“
„Was?“
„Nicht wenn du von dir und meiner Schwester redest.“
Da war es wieder. Seit zehn Jahren hatten wir das Thema kaum gestreift, und jetzt war es mit all seinen schmutzigen Verstrickungen wieder da.
Sie lehnte sich zurück und saß nun auf meinen Oberschenkeln, meine Hände lagen auf ihren Hüften.
„Ich hab schon genug dafür bezahlt“, protestierte ich.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Doch.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Es macht mir aber nichts mehr aus. Im Moment jedenfalls nicht.“
„Ange…“
Sie legte mir einen Finger auf die Lippen, lehnte sich dann wieder zurück und zog das T-Shirt aus. Sie warf es neben das Bett, griff nach meinen Händen und führte sie über ihren Brustkorb zu ihren Brüsten.
Dann senkte sie den Kopf, so dass ihr Haar über meine Hände fiel. „Siebzehnjahre lang hast du mir gefehlt“, murmelte sie.
„Du mir auch“, erwiderte ich mit rauher Stimme.
„Gut“, flüsterte sie.
Wieder fiel mir ihr Haar ins Gesicht, während ihre Lippen über meinen schwebten und ihre Knie gegen meine Beine drückten und meine Shorts herunterschoben. Ihre schlanke Zunge berührte meine Oberlippe. „Gut“, wiederholte sie.
Ich hob den Kopf und küsste sie, die rechte Hand in ihren Locken. Als sich meine Lippen wieder von ihren lösten, erwiderte sie den Kuss, öffnete den Mund und ließ die Zunge in meinen Mund gleiten. Ich fuhr ihr mit den Händen über den Rücken, strich ihr mit den Fingern die Wirbelsäule entlang und zog dann am Gummiband ihres Slips.
Sie griff mit dem Arm an das Kopfende des Bettes und zog sich höher, während ich mit der Zunge ihren Hals entlangglitt und ihren seidenen Slip über Hüfte und Po herunterrollte. Dann war ihr Busen in meinem Mund, und sie keuchte leicht und streckte sich. Mit dem Handrücken strich sie mir über den Bauch und an den Lenden entlang, dabei schob sie ihren aufgerollten Seidenslip bis zu den Fußknöcheln herunter und senkte sich auf mich.
Da klingelte das Telefon.
„Ich bring ihn um – egal wer es ist!“ fluchte ich.
Leicht stießen wir mit den Nasen zusammen, sie stöhnte, dann lachten wir beide, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. „Hilf mir mal, dass ich da rauskomme!“ bat sie mich. „Ich hab mich ganz verheddert!“
Wieder klingelte das Telefon laut und schrill.
Wir hatten uns mit den Beinen in der Unterwäsche so verwickelt, dass ich mit der Hand heruntergriff, um das Durcheinander zu lösen. Dabei berührte ich Angies Hand Diese unerwartete Berührung war eins der erotischsten Gefühle, die ich je verspürt habe. Abermals klingelte das Telefon, und Angie legte sich seitwärts übers Bett, wodurch sich unsere Füße entwirrten und ich im Kerzenlicht den Schweiß auf ihrer olivbraunen Haut glänzen sah. Sie stöhnte, aber es war ein verärgertes, wütendes Stöhnen, und als sie über mich nach dem Telefon griff, rieben unsere Körper aneinander.
„Könnte Officer Dünn sein“, bemerkte sie, „Scheiße!“
„Tim“, verbesserte ich. „Für dich heißt er doch Tim.“
„Du Arschloch!“ lachte sie kehlig und schlug mir auf die Brust. Mit dem Hörer rutschte sie wieder an mir entlang, dann fiel sie neben mir ins Bett – ihre Haut glänzte noch dunkler durch das weiße Betttuch unter ihr.
„Hallo!“ meldete sie sich und blies eine nasse Haarsträhne fort, die an ihrer Stirn klebte.
Ich hörte ein kratzendes Geräusch. Schwach, aber unablässig. Am Fenster rechts von mir sah ich die dunklen Zweige an der Scheibe entlangkratzen.
Kratz, kratz.
Angie zog das rechte Bein fort, und mir war plötzlich kalt. „Ach, Phil, bitte“, sagte sie, „es ist fast zwei Uhr nachts.“ Sie drückte Kopf und Schultern ins Kopfkissen, klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter, hob das Becken an und zog den Slip wieder hoch.
„Das freut mich ja auch, dass es dir gutgeht“, beruhigte sie ihn, „aber können wir nicht morgen früh weiterreden, Phil?“
Wieder kratzten die Zweige am Fenster, während ich meine BoxerShorts suchte und sie anzog.
Geistesabwesend streichelte Angie meine Hüfte, dann drehte sie sich zu mir um und verdrehte die Augen, als wolle sie sagen: „Ist das zu glauben?“ Plötzlich kniff sie mir ins Fleisch über der Hüfte, wo ich ihrer Meinung nach ein kleines Röllchen hatte, und biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Es gelang nicht.
„Phil, du hast doch was getrunken, stimmt’s?“
Kratz, kratz.
Ich sah zum Fenster hinüber, doch die Zweige waren nicht zu sehen, sie wurden vom starken Wind nach hinten gebogen. „Das weiß ich doch, Phillip“, sagte sie traurig. „Ich weiß. Ich versuch’s ja auch.“ Sie ließ die Hand von meiner
Hüfte gleiten, widmete sich ganz dem Telefon und stand auf. „Tue ich nicht. Ich hasse dich nicht.“
Dort stand sie, ein Knie aufs Bett gestützt, und sah aus dem Fenster, das Telefonkabel schnitt sich in die Rückseite ihrer Oberschenkel, während sie sich wieder in das T-Shirt zwängte.
Ich stand ebenfalls auf und zog mir Jeans und Hemd an. Ohne die Wärme eines anderen Körpers war es kalt im Haus, aber ich hatte nicht den Wunsch, wieder unter die Decke zu krabbeln, während sie mit Phil plauderte.
„Ich verurteile dich ja gar nicht“, sagte sie, „aber wenn Arujo zufällig heute nacht bei dir vorbeikommt, wäre es doch besser, wenn du klar im Kopf wärst, oder?“
Ein weißer Lichtstrahl erklomm ihre vom Kerzenlicht beschienene Schulter, dreimal blinkte es gegen die Wand vor ihr. Sie hielt den Kopf gesenkt, so dass sie ihn nicht bemerkte. Deshalb stand ich auf, ging in den Flur, rieb mir die Arme wegen der Kälte und sah durch das Wohnzimmerfenster Tim Dünn über die Strasse auf das Haus zukommen.
Als ich den Alarm deaktivieren wollte, merkte ich, dass auch er vom Stromausfall betroffen war.
Bevor er klingeln konnte, öffnete ich die Tür.
„Was ist los?“ fragte ich.
Wegen der von den Bäumen heruntertropfenden Nässe hielt er den Kopf gesenkt. Ich bemerkte, dass er auf meine nackten Füße sah. Im Wohnzimmer rauschte das Walkie-talkie.
„Kalt?“ fragte Dünn und zog sich am Ohrläppchen.
„Ja, kommen Sie rein!“ lud ich ihn ein. „Machen Sie die Tür hinter sich zu.“
Ich ging voraus in den Flur, als ich Devins Stimme über das Walkietalkie hörte: „Patrick, sofort raus aus dem
Haus! Arujo hat uns reingelegt! Er hat uns reingelegt! Er ist nicht auf Nahant!“
Ich drehte mich um, Dünn hob den Kopf, und Evandro Arujos Gesicht starrte mich unter der Krempe an.
„Arujo ist nicht in Nahant, Patrick! Er ist hier. Er ist bei euch!“