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Ich stand als erstes auf. Mit einem Handy am
Ohr trat ich auf die Veranda hinaus, während mehrere Wagen des FBI
kreischend die Strasse hochkamen.
„Grace?“
„Ja?“
„Alles in Ordnung?“ Ich rutschte auf dem Eis aus, hielt mich aber
am Geländer fest. In dem Moment kamen Angie und Bolton nach
draußen.
„Was? Du hast mich geweckt. Ich muss um sechs Uhr arbeiten. Wieviel
Uhr ist es denn?“
„Zehn. Tut mir leid.“
„Können wir nicht morgen früh reden?“
„Nein. Nein. Ich möchte, dass du am Telefon bleibst und dabei alle
Türen und Fenster überprüfst.“
Vor Angies Haus kamen die Autos schlingernd zum Halten. „Was? Was
ist das für ein Krach?“
„Grace, überprüf alle Türen und Fenster, ob sie verschlossen sind.“
Ich arbeitete mich auf den rutschigen Bürgersteig vor. Die Bäume
trugen schwere glänzende Eiszapfen. Strasse und Bürgersteige
glänzten schwarz unter einer Eisschicht.
„Patrick, ich…“
„Guck jetzt nach, Grace!“
Ich sprang auf den Rücksitz des ersten Autos, ein dunkelblauer
Lincoln, und Angie nahm neben mir Platz. Bolton setzte sich nach
vorne und gab dem Fahrer Grace’ Adresse.
„Los!“ Ich schlug gegen die Kopfstütze des Fahrers. „Los!“
„Patrick“, fragte Grace, „was ist denn?“
„Hast du alle Türen zu?“
„Ich gucke gerade nach. Haustür ist zu. Kellertür ist zu. Warte,
ich gehe gerade nach hinten.“
„Auto von rechts!“ warnte Angie.
Unser Fahrer trat aufs Gaspedal, und wir schössen in südlicher
Richtung über die Kreuzung, während das Auto, das von rechts auf
uns zukam, auf dem Eis in die Bremsen ging, hupte und über die
Kreuzung schleuderte. Die Karawane von Wagen hinter uns wich nach
rechts aus und schlitterte hinter dem kreuzenden Auto her.
„Hintertür ist zu“, sagte Grace. „Jetzt gucke ich nach den
Fenstern.“ „ Gut.“
„Du machst mir verdammte Angst.“
„Ich weiß. Tut mir leid. Die Fenster.“
„Vorderes Schlafzimmer und Wohnzimmer: beide zu. Jetzt gehe ich in
Maes Zimmer. Zu, zu…“
„Mommy?“
„Ist schon gut, Schatz. Bleib liegen! Ich bin sofort wieder da.“
Unser Lincoln raste mit mindestens neunzig auf die Auffahrt zur 93.
Die Hinterräder hüpften über einen Buckel aus Eis oder gefrorenem
Schlamm und prallten gegen die Leitplanke.
„Jetzt bin ich in Annabeth’ Zimmer“, flüsterte Grace. „Zu. Zu.
Offen.“ „Offen?“
„Ja. Sie hat es einen Spalt offengelassen.“
„Scheiße.“
„Patrick, sag mir jetzt sofort, was los ist!“
„Mach es zu, Grace! Mach es zu!“
„Hab ich doch. Was glaubst du eigentlich…“
„Wo ist deine Pistole?“
„Meine Pistole? Ich habe keine. Ich hasse Waffen.“
„Dann ein Messer!“
„Was?“
„Hol dir ein Messer, Grace. O Gott! Hol dir…“
Angie riss mir das Telefon aus der Hand, legte den Finger auf die
Lippen und machte „Psst!“ zu mir.
„Grace, hier ist Ange. Hör mal zu! Du bist vielleicht in Gefahr.
Wir sind nicht ganz sicher. Bleib einfach am Telefon und beweg dich
nicht von der Stelle, es sei denn, du bist sicher, dass ein
Eindringling bei euch im Haus ist.“
Die Ausfahrten flogen an uns vorbei: Andrew Square, Massachusetts
Avenue. Der Lincoln schwenkte auf die Frontage Road, vorbei an den
verschwommenen Umrissen von Halden für Industrieabfälle rasten wir
in Richtung East Berklee.
„Bolton“, mahnte ich, „sie ist kein Köder.“
„Ich weiß.“
„Ich will, dass sie in polizeilichen Gewahrsam kommt, und zwar so
sicher, dass selbst der Präsident sie nicht mehr finden kann.“ „Ich
verstehe.“
„Hol Mae“, wies Angie Grace an, „und geh mit ihr in ein Zimmer und
schließ die Tür zu! Wir sind in drei Minuten da. Wenn einer
versuchen sollte, die Tür aufzubrechen, steig aus dem Fenster und
lauf Richtung Huntington oder Mass. Avenue und schrei dabei, so
laut du kannst!“
In East Berklee rasten wir über die erste rote Ampel, ein Auto wich
uns aus, fuhr gegen die Bordsteinkante und landete vor einer
Laterne vor dem Pine Street Inn.
„Schon wieder ein Prozess“, stöhnte Bolton.
„Nein, nein“, rief Angie. „Du gehst nur nach draußen, wenn du etwas
im Haus hörst. Wenn er draußen ist, dann wartet er ja nur auf dich.
Wir sind fast da, Grace! In welchem Zimmer bist du?“ Der linke
Hinterreifen schrammte am Bordstein vorbei, als wir auf die
Columbus Avenue bogen.
„In Maes Zimmer? Gut. Wir sind noch acht Häuserblocks entfernt.“
Die Fahrbahn war unter einer schweren, mindestens fünf Zentimeter
dicken Eisschicht begraben, so dass es uns schien, als führen wir
über eine Schicht Lakritz.
Ich schlug mit der Faust gegen die Tür, während die Reifen
durchdrehten, wieder griffen und dann erneut
durchdrehten.
„Ruhig Blut“, sagte Bolton.
Angie klopfte mir aufs Knie.
Während der Lincoln nach rechts auf die West Newton abbog,
explodierten in meinem Kopf Schwarzweißbilder wie Blitzlichter.
Kara, in der Kälte gekreuzigt.
Jason Warrens Kopf, der an einem Kabel baumelt.
Peter Stimovich, der mich ohne Augen anstarrt.
Mae, die mit dem Hund im Gras herumtollt.
Grace’ feuchter Körper, der sich mitten in einer warmen Nacht auf
mich rollt.
Cal Morrison, eingeschlossen im Laderaum des schmierigen weißen
Lieferwagens.
Das blutrote höhnische Grinsen des Clowns, als er meinen Namen
aussprach.
„Grace“, flüsterte ich.
„Ist schon gut“, sprach Angie ins Telefon, „jetzt sind wir sofort
da.“ Wir bogen auf die St. Botolph Street, und der Fahrer trat auf
die Bremse, befand sich jedoch wieder auf Eis, so dass wir an
Grace’ rötlichbraunem Sandsteinhaus vorbeirutschten und erst zwei
Häuser weiter zum Stehen kamen.
Die Wagen hinter uns versuchten, ebenfalls zu halten, während ich
nach draußen sprang und auf das Haus zulief. Auf dem Bürgersteig
rutschte ich aus und fiel aufs Knie. In dem Moment kam ein Mann
zwischen zwei Autos rechts von mir hervor. Ich drehte mich um und
zielte auf seine Brust, er hob einen Arm im dunklen Regen. Gerade
wollte ich abdrücken, als er schrie: „Patrick, hör auf!“
Nelson.
Er ließ den Arm sinken, sein Gesicht war nass und voller Angst, da
stieß Oscar von hinten wie eine Lokomotive gegen ihn, und Nelsons
schmaler Körper verschwand vollständig unter Oscar, als beide zu
Boden fielen.
„Oscar“, rief ich. „Er ist okay! Er ist okay! Er arbeitet für
mich!“ Ich lief die Treppen zu Grace’ Haustür empor.
Angie und Devin waren hinter mir, Grace öffnete die Tür und fragte:
„Patrick, was ist los, verdammt noch mal?“ Sie sah, wie Bolton
hinter mir seinen Leuten Befehle zubellte, und ihre Augen weiteten
sich.
In der ganzen Strasse gingen die Lichter an.
„Ist gut jetzt“, sagte ich.
Devin hatte die Waffe gezogen und trat jetzt an Grace vorbei. „Wo
ist das Kind?“
„Was? In ihrem Zimmer.“
Er ging in Stellung und begann die Zimmer zu prüfen.
„Hey, Moment mal!“ Sie lief hinter ihm her.
Angie und ich folgten ihr, während Agenten mit Taschenlampen die
angrenzenden Hinterhöfe durchforsteten.
Grace zeigte auf Devins Waffe. „Tun Sie die weg, Sergeant! Weg
damit!“
Mae begann laut zu weinen. „Mommy!“
Devin steckte den Kopf in jede Tür, die Waffe eng ans Knie
gedrückt.
Mir war schlecht. Ich stand im warmen Licht des Wohnzimmers, meine
Hände zitterten vor Aufregung. Ich hörte Mae in ihrem Zimmer weinen
und folgte dem Geräusch.
Mit einem Schaudern ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Fast hätte
ich Nelson erschossen – doch im Nu war er weg.
Grace hatte Mae auf dem Arm. Als ich hereinkam, öffnete Mae die
Augen und brach erneut in Tränen aus.
Grace sah zu mir herüber. „Mein Gott, Patrick, war das nötig?“ Von
draußen strahlten Taschenlampen gegen die Fenster. „Ja“, erwiderte
ich.
„Patrick“, sagte sie und starrte mit zornigem Blick auf meine Hand.
„Tu das Ding weg!“
Ich sah hin und bemerkte die Waffe in meiner Hand. Mir wurde klar,
dass sie Maes letzten Tränenausbruch ausgelöst hatte. Ich ließ sie
zurück ins Holster gleiten, sah die beiden an, Mutter und Tochter,
die sich auf dem Bett umarmten, und fühlte mich besudelt und
schmutzig.
„Oberste Priorität hat“, sagte Bolton im Wohnzimmer zu Grace,
während sich Mae in ihrem Zimmer umzog, „dass Sie und Ihre Tochter
in Sicherheit gebracht werden. Draußen wartet ein Wagen auf Sie.
Ich möchte, dass Sie mitkommen.“
„Wohin?“ fragte Grace.
„Patrick“, sagte eine kleine Stimme.
Ich drehte mich um und sah Mae frisch angezogen mit Jeans und
Sweatshirt in der Tür zu ihrem Zimmer stehen, die Schnürsenkel an
den Schuhen waren noch offen.
„Ja?“ fragte ich sanft.
„Wo ist deine Pistole?“
Ich versuchte zu lachen. „Habe ich weggesteckt. Tut mir leid, dass
ich dir angst gemacht habe.“
„Ist sie dick?“
„Was?“ Ich kniete mich neben sie, um ihr die Schuhe zuzubinden.
„Ist sie…“ Sie zögerte, suchte nach dem richtigen Wort und schämte
sich, weil sie es nicht wusste.
„Schwer?“ schlug ich vor.
Sie nickte. „Ja. Schwer.“
„Sie ist schwer, Mae. So schwer, dass du sie nicht mal hochheben
kannst.“
„Und du?“
„Für mich ist sie auch schon ziemlich schwer“, erwiderte ich. „Aber
warum hast du sie dann?“ Sie legte den Kopf ein wenig schräg und
blickte zu mir hoch.
„Das ist sozusagen mein Arbeitsgerät“, antwortete ich, „so wie
deine Mami ein Stethoskop hat.“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie küsste mich auf die Wange und schlang mir die weichen Ärmchen
um den Hals, und ich dachte, sie können nicht aus der gleichen Welt
stammen, die einen Alec Hardiman, einen Evandro Arujo und Messer
und Pistolen hervorbringt. Dann ging sie zurück in ihr
Zimmer.
Im Wohnzimmer schüttelte Grace heftig den Kopf. „Nein.“ „Was?“
fragte Bolton.
„Nein“, wiederholte Grace. „Ich gehe nicht. Sie können Mae
mitnehmen, und ich rufe ihren Vater an. Ich bin mir sicher, ja, er
nimmt sich bestimmt frei und geht mit Mae, damit sie nicht alleine
ist. Ich besuche sie, bis das vorbei ist, aber ich selber komme
nicht mit.“ „Dr. Cole, das kann ich nicht zulassen.“
„Ich mache gerade ein Probejahr als Chirurgin, Agent Bolton.
Verstehen Sie das?“
„Ja, tue ich, aber Ihr Leben ist in Gefahr.“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie können mich ja schützen. Sie können
mich beobachten lassen. Und meine Tochter können Sie verstecken.“
Mit Tränen in den Augen sah sie zu Maes Zimmertür hinüber. „Aber
ich kann meinen Job nicht aufgeben. Nicht jetzt. Ich bekomme nie
wieder eine vernünftige Stelle, wenn ich jetzt mitten im Probejahr
einfach nicht zur Arbeit komme.“
„Dr. Cole“, sagte Bolton erneut, „ich kann das nicht zulassen. „
Grace schüttelte wieder den Kopf. „Das müssen Sie aber, Agent
Bolton. Schützen Sie meine Tochter! Ich passe auf mich selber auf.“
„Der Mann, mit dem wir es hier zu tun haben…“
„… ist gefährlich, ich weiß. Das haben Sie mir schon alles erzählt.
Und es tut mir leid, Agent Bolton, aber ich gebe nicht einfach auf,
wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe. Nicht jetzt. Für
niemanden.“
„Er holt dich“, sagte ich und fühlte dabei noch immer Maes weiche
Arme um meinen Hals.
Jeder im Raum sah zu mir herüber.
Grace sagte: „Nicht, wenn…“
„Nicht, wenn was? Ich kann euch nicht alle schützen, Grace!“ „Ich
habe dich auch nicht gebeten…“
„Er hat gesagt, ich müsste mich entscheiden.“
„Wer?“
„Hardiman“, erklärte ich und staunte, wie laut meine Stimme war.
„Ich müsste mich zwischen Menschen entscheiden, die ich liebe. Er
meinte dich und Mae, Phil und Angie. Ich kann euch nicht alle
schützen, Grace.“
„Dann lass es halt, Patrick!“ Ihre Stimme war kalt. „Lass es! Du
hast dies alles in mein Leben gebracht. In das Leben meiner
Tochter. Du mit deiner Scheißverfluchten Gewaltverherrlichung hast
diesen Menschen zu mir geführt! Jetzt müssen meine Tochter und ich
dein Leben teilen, obwohl wir das niemals gewollt haben.“ Sie
schlug sich mit der Faust aufs Knie und sah dann zu Boden, atmete
heftig aus. „Ich komme zurück. Bringen Sie Mae an einen sicheren
Ort! Ich rufe jetzt ihren Vater an.“
Bolton warf Devin einen fragenden Blick zu; der zuckte mit den
Achseln.
„Ich kann Sie nicht zwingen, sich in die Obhut der Polizei zu
begeben…“
„Nein“, rief ich dazwischen. „Nein, nein, nein! Grace, du kennst
diesen Menschen nicht. Er holt dich. Ganz bestimmt. „
Ich stellte mich vor sie.
„Und?“ fragte sie.
„Und?“ wiederholte ich. „Und?“
Mir war bewusst, dass mich alle anstarrten. Ich merkte, dass ich
außer mir war. Ich fühlte mich verstört und rachsüchtig. Ich fühlte
mich gewalttätig, abstoßend und innerlich zerrüttet.
„Und?“ fragte Grace noch einmal.
„Und er schneidet dir den verdammten Kopf ab!“ schrie ich.
„Patrick!“ rief Angie.
Ich beugte mich über Grace. „Verstehst du das? Er schneidet dir den
Kopf ab. Aber erst zum Schluss. Vorher wird er dich eine Zeitlang
vergewaltigen, Grace, und dann wird er Streifen aus dir
herausschneiden, dann schlägt er dir Nägel durch die Hände und…“
„Hör auf!“ sagte sie leise.
Aber ich konnte nicht. Es schien mir wichtig, dass sie das
verstand. „… reißt dir die Eingeweide heraus, Grace. Das macht er
am liebsten. Er nimmt die Eingeweide raus und kann dann sehen, wie
der Körper dampft. Dann reißt er dir vielleicht noch die Augen
raus, während sein Partner in dir herumstochert und…“
Hinter mir ertönte ein Schrei.
Grace hielt sich die Ohren zu, doch nahm sie die Hände weg, als sie
den Schrei hörte.
Hinter mir stand Mae mit rot angelaufenem Gesicht und schlug
unkontrolliert mit den Armen um sich, als sei sie unter Strom
gesetzt worden.
„Nein, nein, nein!“ schrie sie unter Tränen, lief an mir vorbei zu
ihrer Mutter und drückte sich leidenschaftlich an sie.
Grace blickte mich an, während sie ihre Tochter an die Brust
gepresst hielt. In ihrem Blick stand nackter, grenzenloser Hass.
„Verlass mein Haus!“ sagte sie.
„Grace.“
„Jetzt!“
„Dr. Cole“, wandte Bolton ein, „ich möchte gerne, dass Sie…“ „Ich
komme mit Ihnen“, antwortete sie ihm.
„Was?“
Sie hatte die Augen noch immer auf mich gerichtet. „Ich gehe mit
Ihnen, Agent Bolton. Ich lasse meine Tochter nicht allein. Ich
komme“, sagte sie leise.
Ich versuchte es: „Sieh mal, Grace…“
Sie legte die Hände auf die Ohren ihrer Tochter.
„Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst verdammt noch mal mein
Haus verlassen!“
Das Telefon klingelte. Sie hob ab, ohne mich aus den Augen zu
lassen. „Hallo!“ Sie runzelte die Stirn. „Ich hatte Ihnen schon
heute nachmittag gesagt, dass Sie nicht mehr anzurufen brauchen.
Wenn Sie mit Patrick reden wollen…“
„Wer ist es?“ fragte ich.
Sie warf den Hörer vor mir auf den Boden. „Hast du meine Nummer an
deinen irren Freund weitergegeben, Patrick?“
„Bubba?“ Ich hob den Hörer auf. Rasch ging sie an mir vorbei und
brachte Mae in ihr Zimmer.
„Hallo, Patrick.“
„Wer ist da?“ fragte ich.
„Wie haben dir die Bilder gefallen, die ich von deinen Freundinnen
gemacht habe?“
Ich warf Bolton einen Blick zu und formte mit den Lippen lautlos
den Namen „Evandro“.
Bolton rannte aus dem Haus, Devin folgte ihm.
„Die haben mich nicht sehr beeindruckt, Evandro.“
„Ach“, erwiderte er, „das tut mir aber leid. Ich habe meine Technik
verbessert, versuche jetzt mit Licht und Schatten zu spielen, die
Raumaufteilung zu beachten und so weiter. Ich finde, ich habe mich
künstlerisch verbessert. Du nicht?“
Vor dem Fenster erklomm ein Agent einen Telefonmasten. „Weiß ich
nicht, Evandro. Ich bezweifle, dass du Annie Leibovitz schon mal
über die Schulter gesehen hast.“
Evandro kicherte. „Aber dir kann ich über die Schulter gucken,
stimmt’s, Patrick?“
Devin kam herein und hielt ein Blatt Papier in der Hand, auf dem
stand: „Halt ihn zwei Minuten!“
„Ja, stimmt. Wo bist du, Evandro?“
„Ich beobachte dich.“
„Ach ja?“ Ich widerstand der Versuchung, mich umzudrehen und aus
den Fenstern auf die Strasse zu gucken.
„Ich beobachte dich und deine Freundin und die ganzen hübschen
Bullen, die um das Haus herumstehen.“
„Na, wenn du in der Nähe bist, dann komm doch vorbei!“ Wieder ein
leises Kichern. „Ich warte lieber noch. Aber du siehst sehr hübsch
aus im Moment, Patrick, wie du das Telefon am Ohr hältst, die Stirn
vor Sorgen in Falten, das Haar vom Regen zerzaust. Einfach
bezaubernd.“
Grace kam ins Wohnzimmer zurück und stellte einen Koffer neben der
Tür ab.
„Vielen Dank für die Blumen, Evandro!“
Grace zuckte, als sie den Namen hörte, und sah zu Angie hinüber.
„Ist mir ein Vergnügen“, erwiderte Evandro.
„Was habe ich an?“
„Wie bitte?“ fragte er.
„Was habe ich an?“
„Patrick, als ich diese Fotos von deiner Freundin und ihrer
Tochter…“
„Was habe ich an, Evandro?“
„… gemacht habe, da habe ich…“
„Du weißt es nicht, weil du das Haus gar nicht beobachtest.
Stimmt’s?“
„Ich sehe viel mehr, als du dir vorstellen kannst.“
„Du hast nur Scheiße im Kopf, Evandro!“ Ich lachte. „Versuchst
hier, einen auf…“
„Wage es nicht, über mich zu lachen!“
„… allwissenden, allgegenwärtigen Meister des Bösen zu
machen…“
„Du redest nicht in diesem Ton mit mir, Patrick!“
„… aber ich finde, du bist nichts als ein jämmerlicher Anfänger!“
Devin sah auf seine Armbanduhr und hob drei Finger. Noch dreißig
Sekunden also.
„Ich schneide das Kind in Stücke und schick sie dir mit der Post.“
Ich drehte mich um und sah Mae über ihren Koffer gebeugt im
Kinderzimmer stehen, sie rieb sich noch immer die Augen.
„Du wirst nicht mehr in ihre Nähe kommen, du Wichser! Du hast deine
Chance verpasst.“
„Ich lösche jeden aus, den du kennst.“ Die Stimme war rauh vor
Zorn.
Bolton kam durch die Eingangstür und nickte.
„Du kannst nur beten, dass ich dich nicht zuerst erwische,
Evandro.“
„Das schaffst du nicht, Patrick. Das schafft keiner. Auf
Wiedersehen!“
Und dann war eine zweite Stimme in der Leitung, rauher als
Evandros: „Wir sehen uns, Leute!“
Dann brach die Verbindung ab. Ich sah Bolton an.
„Sogar beide“, bemerkte er.
„Ja.“
„Haben Sie die zweite Stimme erkannt?“
„Nicht mit dem falschen Akzent.“
„Sie sind an der Nordküste.“
„An der Nordküste?“ wiederholte Angie.
Bolton nickte. „Auf Nahant.“
„Sie haben sich auf eine Insel verzogen?“ staunte Devin. „Jetzt
können wir sie einkesseln“, erklärte Bolton. „Ich habe schon die
Küstenwache alarmiert und Polizeiwagen von Nahant, Lynn und
Swampscott ausgeschickt, die die Brücke sperren sollen.“ „Dann sind
wir also in Sicherheit?“ wollte Grace wissen. „Nein“, widersprach
ich.
Doch sie ignorierte mich und sah Bolton an.
„Ich kann das Risiko nicht eingehen“, antwortete dieser. „Auch Sie
nicht, Dr. Cole. Ich kann nicht Ihre Sicherheit und die Ihrer
Tochter aufs Spiel setzen, solange wir die beiden nicht
haben.“
Sie sah Mae entgegen, die mit dem Pocahontas-Koffer in der Hand aus
ihrem Zimmer kam. „Okay. Sie haben recht.“
Bolton wandte sich an mich. „Ich habe zwei Beamte zu Mr. Dimassis
Wohnung abgeordnet, aber jetzt gehen mir langsam die Leute aus. Die
Hälfte ist immer noch an der Südküste. Ich brauche jeden, den ich
bekommen kann.“
Ich warf Angie einen fragenden Blick zu, und sie nickte.
„Die Alarmanlagen an Ihrer Vorder- und Hintertür, Ms. Gennaro, sind
auf dem neuesten Stand der Technik.“
„Wir können ein paar Stunden auf uns selbst aufpassen“, erwiderte
ich.
Er schlug mir auf die Schulter. „Wir haben sie bald, Mr. Kenzie.“
Dann fragte er Grace und Mae: „Fertig?“
Sie nickte und hielt Mae die Hand hin. Das Mädchen ergriff sie und
blickte verwirrt und traurig zu mir auf.
„Grace!“
„Nein.“ Grace schüttelte den Kopf, als ich versuchte, ihr
die Hand auf die Schulter zu legen. Sie drehte sich um und ging.
Sie wurden in einem schwarzen Chrysler mit kugelsicheren Scheiben
fortgebracht. Der Fahrer hatte kalte, aufmerksame Augen. „Wohin
bringen Sie sie?“ erkundigte ich mich.
„Weit weg“, entgegnete Bolton, „weit weg.“
In der Mitte der Massachusetts Avenue landete ein Hubschrauber;
Bolton, Erdham und Fields liefen vorsichtig über den gefrorenen
Boden hinüber.
Als der Hubschrauber abhob und entlang der Strasse Müll gegen die
Schaufensterscheiben wirbelte, hielten Devin und Oscar mit dem Auto
neben uns.
„Ich habe deinen Kumpel, diesen Winzling, ins Krankenhaus
gebracht“, erzählte Oscar und hob entschuldigend die Hände. „Hab
ihm sechs Rippen gebrochen. Tut mir leid.“
Ich zuckte mit den Schultern. Irgendwann mache ich das wieder gut
bei Nelson.
„Ich hab einen Wagen zu Angie geschickt“, erklärte Devin. „Ich kenn
den Jungen. Er heißt Tim Dünn. Dem könnt ihr vertrauen. Fahrt
direkt hin!“
Angie und ich standen gemeinsam im Regen und sahen zu, wie sich das
Auto zwischen Polizeiwagen und FBI-Caravan einfädelte und die
Massachusetts Avenue hinunterfuhr. Das Klatschen der Regentropfen
auf dem Eis war das einsamste Geräusch, das ich je gehört
hatte.