32

Ich stand als erstes auf. Mit einem Handy am Ohr trat ich auf die Veranda hinaus, während mehrere Wagen des FBI kreischend die Strasse hochkamen.
„Grace?“
„Ja?“
„Alles in Ordnung?“ Ich rutschte auf dem Eis aus, hielt mich aber am Geländer fest. In dem Moment kamen Angie und Bolton nach draußen.
„Was? Du hast mich geweckt. Ich muss um sechs Uhr arbeiten. Wieviel Uhr ist es denn?“
„Zehn. Tut mir leid.“
„Können wir nicht morgen früh reden?“
„Nein. Nein. Ich möchte, dass du am Telefon bleibst und dabei alle Türen und Fenster überprüfst.“
Vor Angies Haus kamen die Autos schlingernd zum Halten. „Was? Was ist das für ein Krach?“
„Grace, überprüf alle Türen und Fenster, ob sie verschlossen sind.“ Ich arbeitete mich auf den rutschigen Bürgersteig vor. Die Bäume trugen schwere glänzende Eiszapfen. Strasse und Bürgersteige glänzten schwarz unter einer Eisschicht.
„Patrick, ich…“
„Guck jetzt nach, Grace!“
Ich sprang auf den Rücksitz des ersten Autos, ein dunkelblauer Lincoln, und Angie nahm neben mir Platz. Bolton setzte sich nach vorne und gab dem Fahrer Grace’ Adresse.
„Los!“ Ich schlug gegen die Kopfstütze des Fahrers. „Los!“ „Patrick“, fragte Grace, „was ist denn?“
„Hast du alle Türen zu?“
„Ich gucke gerade nach. Haustür ist zu. Kellertür ist zu. Warte, ich gehe gerade nach hinten.“
„Auto von rechts!“ warnte Angie.
Unser Fahrer trat aufs Gaspedal, und wir schössen in südlicher Richtung über die Kreuzung, während das Auto, das von rechts auf uns zukam, auf dem Eis in die Bremsen ging, hupte und über die Kreuzung schleuderte. Die Karawane von Wagen hinter uns wich nach rechts aus und schlitterte hinter dem kreuzenden Auto her. „Hintertür ist zu“, sagte Grace. „Jetzt gucke ich nach den Fenstern.“ „ Gut.“
„Du machst mir verdammte Angst.“
„Ich weiß. Tut mir leid. Die Fenster.“
„Vorderes Schlafzimmer und Wohnzimmer: beide zu. Jetzt gehe ich in Maes Zimmer. Zu, zu…“
„Mommy?“
„Ist schon gut, Schatz. Bleib liegen! Ich bin sofort wieder da.“ Unser Lincoln raste mit mindestens neunzig auf die Auffahrt zur 93. Die Hinterräder hüpften über einen Buckel aus Eis oder gefrorenem Schlamm und prallten gegen die Leitplanke.
„Jetzt bin ich in Annabeth’ Zimmer“, flüsterte Grace. „Zu. Zu. Offen.“ „Offen?“
„Ja. Sie hat es einen Spalt offengelassen.“
„Scheiße.“
„Patrick, sag mir jetzt sofort, was los ist!“
„Mach es zu, Grace! Mach es zu!“
„Hab ich doch. Was glaubst du eigentlich…“
„Wo ist deine Pistole?“
„Meine Pistole? Ich habe keine. Ich hasse Waffen.“
„Dann ein Messer!“
„Was?“
„Hol dir ein Messer, Grace. O Gott! Hol dir…“
Angie riss mir das Telefon aus der Hand, legte den Finger auf die Lippen und machte „Psst!“ zu mir.
„Grace, hier ist Ange. Hör mal zu! Du bist vielleicht in Gefahr. Wir sind nicht ganz sicher. Bleib einfach am Telefon und beweg dich nicht von der Stelle, es sei denn, du bist sicher, dass ein Eindringling bei euch im Haus ist.“
Die Ausfahrten flogen an uns vorbei: Andrew Square, Massachusetts Avenue. Der Lincoln schwenkte auf die Frontage Road, vorbei an den verschwommenen Umrissen von Halden für Industrieabfälle rasten wir in Richtung East Berklee.
„Bolton“, mahnte ich, „sie ist kein Köder.“
„Ich weiß.“
„Ich will, dass sie in polizeilichen Gewahrsam kommt, und zwar so sicher, dass selbst der Präsident sie nicht mehr finden kann.“ „Ich verstehe.“
„Hol Mae“, wies Angie Grace an, „und geh mit ihr in ein Zimmer und schließ die Tür zu! Wir sind in drei Minuten da. Wenn einer versuchen sollte, die Tür aufzubrechen, steig aus dem Fenster und lauf Richtung Huntington oder Mass. Avenue und schrei dabei, so laut du kannst!“
In East Berklee rasten wir über die erste rote Ampel, ein Auto wich uns aus, fuhr gegen die Bordsteinkante und landete vor einer Laterne vor dem Pine Street Inn.
„Schon wieder ein Prozess“, stöhnte Bolton.
„Nein, nein“, rief Angie. „Du gehst nur nach draußen, wenn du etwas im Haus hörst. Wenn er draußen ist, dann wartet er ja nur auf dich. Wir sind fast da, Grace! In welchem Zimmer bist du?“ Der linke Hinterreifen schrammte am Bordstein vorbei, als wir auf die Columbus Avenue bogen.
„In Maes Zimmer? Gut. Wir sind noch acht Häuserblocks entfernt.“ Die Fahrbahn war unter einer schweren, mindestens fünf Zentimeter dicken Eisschicht begraben, so dass es uns schien, als führen wir über eine Schicht Lakritz.
Ich schlug mit der Faust gegen die Tür, während die Reifen durchdrehten, wieder griffen und dann erneut durchdrehten.
„Ruhig Blut“, sagte Bolton.
Angie klopfte mir aufs Knie.
Während der Lincoln nach rechts auf die West Newton abbog, explodierten in meinem Kopf Schwarzweißbilder wie Blitzlichter. Kara, in der Kälte gekreuzigt.
Jason Warrens Kopf, der an einem Kabel baumelt.
Peter Stimovich, der mich ohne Augen anstarrt.
Mae, die mit dem Hund im Gras herumtollt.
Grace’ feuchter Körper, der sich mitten in einer warmen Nacht auf mich rollt.
Cal Morrison, eingeschlossen im Laderaum des schmierigen weißen Lieferwagens.
Das blutrote höhnische Grinsen des Clowns, als er meinen Namen aussprach.
„Grace“, flüsterte ich.
„Ist schon gut“, sprach Angie ins Telefon, „jetzt sind wir sofort da.“ Wir bogen auf die St. Botolph Street, und der Fahrer trat auf die Bremse, befand sich jedoch wieder auf Eis, so dass wir an Grace’ rötlichbraunem Sandsteinhaus vorbeirutschten und erst zwei Häuser weiter zum Stehen kamen.
Die Wagen hinter uns versuchten, ebenfalls zu halten, während ich nach draußen sprang und auf das Haus zulief. Auf dem Bürgersteig rutschte ich aus und fiel aufs Knie. In dem Moment kam ein Mann zwischen zwei Autos rechts von mir hervor. Ich drehte mich um und zielte auf seine Brust, er hob einen Arm im dunklen Regen. Gerade wollte ich abdrücken, als er schrie: „Patrick, hör auf!“ Nelson.
Er ließ den Arm sinken, sein Gesicht war nass und voller Angst, da stieß Oscar von hinten wie eine Lokomotive gegen ihn, und Nelsons schmaler Körper verschwand vollständig unter Oscar, als beide zu Boden fielen.
„Oscar“, rief ich. „Er ist okay! Er ist okay! Er arbeitet für mich!“ Ich lief die Treppen zu Grace’ Haustür empor.
Angie und Devin waren hinter mir, Grace öffnete die Tür und fragte: „Patrick, was ist los, verdammt noch mal?“ Sie sah, wie Bolton hinter mir seinen Leuten Befehle zubellte, und ihre Augen weiteten sich.
In der ganzen Strasse gingen die Lichter an.
„Ist gut jetzt“, sagte ich.
Devin hatte die Waffe gezogen und trat jetzt an Grace vorbei. „Wo ist das Kind?“
„Was? In ihrem Zimmer.“
Er ging in Stellung und begann die Zimmer zu prüfen.
„Hey, Moment mal!“ Sie lief hinter ihm her.
Angie und ich folgten ihr, während Agenten mit Taschenlampen die angrenzenden Hinterhöfe durchforsteten.
Grace zeigte auf Devins Waffe. „Tun Sie die weg, Sergeant! Weg damit!“
Mae begann laut zu weinen. „Mommy!“
Devin steckte den Kopf in jede Tür, die Waffe eng ans Knie gedrückt.
Mir war schlecht. Ich stand im warmen Licht des Wohnzimmers, meine Hände zitterten vor Aufregung. Ich hörte Mae in ihrem Zimmer weinen und folgte dem Geräusch.
Mit einem Schaudern ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Fast hätte ich Nelson erschossen – doch im Nu war er weg.
Grace hatte Mae auf dem Arm. Als ich hereinkam, öffnete Mae die Augen und brach erneut in Tränen aus.
Grace sah zu mir herüber. „Mein Gott, Patrick, war das nötig?“ Von draußen strahlten Taschenlampen gegen die Fenster. „Ja“, erwiderte ich.
„Patrick“, sagte sie und starrte mit zornigem Blick auf meine Hand. „Tu das Ding weg!“
Ich sah hin und bemerkte die Waffe in meiner Hand. Mir wurde klar, dass sie Maes letzten Tränenausbruch ausgelöst hatte. Ich ließ sie zurück ins Holster gleiten, sah die beiden an, Mutter und Tochter, die sich auf dem Bett umarmten, und fühlte mich besudelt und schmutzig.
„Oberste Priorität hat“, sagte Bolton im Wohnzimmer zu Grace, während sich Mae in ihrem Zimmer umzog, „dass Sie und Ihre Tochter in Sicherheit gebracht werden. Draußen wartet ein Wagen auf Sie. Ich möchte, dass Sie mitkommen.“
„Wohin?“ fragte Grace.
„Patrick“, sagte eine kleine Stimme.
Ich drehte mich um und sah Mae frisch angezogen mit Jeans und Sweatshirt in der Tür zu ihrem Zimmer stehen, die Schnürsenkel an den Schuhen waren noch offen.
„Ja?“ fragte ich sanft.
„Wo ist deine Pistole?“
Ich versuchte zu lachen. „Habe ich weggesteckt. Tut mir leid, dass ich dir angst gemacht habe.“
„Ist sie dick?“
„Was?“ Ich kniete mich neben sie, um ihr die Schuhe zuzubinden. „Ist sie…“ Sie zögerte, suchte nach dem richtigen Wort und schämte sich, weil sie es nicht wusste.
„Schwer?“ schlug ich vor.
Sie nickte. „Ja. Schwer.“
„Sie ist schwer, Mae. So schwer, dass du sie nicht mal hochheben kannst.“
„Und du?“
„Für mich ist sie auch schon ziemlich schwer“, erwiderte ich. „Aber warum hast du sie dann?“ Sie legte den Kopf ein wenig schräg und blickte zu mir hoch.
„Das ist sozusagen mein Arbeitsgerät“, antwortete ich, „so wie deine Mami ein Stethoskop hat.“
Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Sie küsste mich auf die Wange und schlang mir die weichen Ärmchen um den Hals, und ich dachte, sie können nicht aus der gleichen Welt stammen, die einen Alec Hardiman, einen Evandro Arujo und Messer und Pistolen hervorbringt. Dann ging sie zurück in ihr Zimmer.
Im Wohnzimmer schüttelte Grace heftig den Kopf. „Nein.“ „Was?“ fragte Bolton.
„Nein“, wiederholte Grace. „Ich gehe nicht. Sie können Mae mitnehmen, und ich rufe ihren Vater an. Ich bin mir sicher, ja, er nimmt sich bestimmt frei und geht mit Mae, damit sie nicht alleine ist. Ich besuche sie, bis das vorbei ist, aber ich selber komme nicht mit.“ „Dr. Cole, das kann ich nicht zulassen.“
„Ich mache gerade ein Probejahr als Chirurgin, Agent Bolton. Verstehen Sie das?“
„Ja, tue ich, aber Ihr Leben ist in Gefahr.“
Sie schüttelte den Kopf. „Sie können mich ja schützen. Sie können mich beobachten lassen. Und meine Tochter können Sie verstecken.“ Mit Tränen in den Augen sah sie zu Maes Zimmertür hinüber. „Aber ich kann meinen Job nicht aufgeben. Nicht jetzt. Ich bekomme nie wieder eine vernünftige Stelle, wenn ich jetzt mitten im Probejahr einfach nicht zur Arbeit komme.“
„Dr. Cole“, sagte Bolton erneut, „ich kann das nicht zulassen. „ Grace schüttelte wieder den Kopf. „Das müssen Sie aber, Agent Bolton. Schützen Sie meine Tochter! Ich passe auf mich selber auf.“ „Der Mann, mit dem wir es hier zu tun haben…“
„… ist gefährlich, ich weiß. Das haben Sie mir schon alles erzählt. Und es tut mir leid, Agent Bolton, aber ich gebe nicht einfach auf, wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe. Nicht jetzt. Für niemanden.“
„Er holt dich“, sagte ich und fühlte dabei noch immer Maes weiche Arme um meinen Hals.
Jeder im Raum sah zu mir herüber.
Grace sagte: „Nicht, wenn…“
„Nicht, wenn was? Ich kann euch nicht alle schützen, Grace!“ „Ich habe dich auch nicht gebeten…“
„Er hat gesagt, ich müsste mich entscheiden.“
„Wer?“
„Hardiman“, erklärte ich und staunte, wie laut meine Stimme war. „Ich müsste mich zwischen Menschen entscheiden, die ich liebe. Er meinte dich und Mae, Phil und Angie. Ich kann euch nicht alle schützen, Grace.“
„Dann lass es halt, Patrick!“ Ihre Stimme war kalt. „Lass es! Du hast dies alles in mein Leben gebracht. In das Leben meiner Tochter. Du mit deiner Scheißverfluchten Gewaltverherrlichung hast diesen Menschen zu mir geführt! Jetzt müssen meine Tochter und ich dein Leben teilen, obwohl wir das niemals gewollt haben.“ Sie schlug sich mit der Faust aufs Knie und sah dann zu Boden, atmete heftig aus. „Ich komme zurück. Bringen Sie Mae an einen sicheren Ort! Ich rufe jetzt ihren Vater an.“
Bolton warf Devin einen fragenden Blick zu; der zuckte mit den Achseln.
„Ich kann Sie nicht zwingen, sich in die Obhut der Polizei zu begeben…“
„Nein“, rief ich dazwischen. „Nein, nein, nein! Grace, du kennst diesen Menschen nicht. Er holt dich. Ganz bestimmt. „
Ich stellte mich vor sie.
„Und?“ fragte sie.
„Und?“ wiederholte ich. „Und?“
Mir war bewusst, dass mich alle anstarrten. Ich merkte, dass ich außer mir war. Ich fühlte mich verstört und rachsüchtig. Ich fühlte mich gewalttätig, abstoßend und innerlich zerrüttet.
„Und?“ fragte Grace noch einmal.
„Und er schneidet dir den verdammten Kopf ab!“ schrie ich. „Patrick!“ rief Angie.
Ich beugte mich über Grace. „Verstehst du das? Er schneidet dir den Kopf ab. Aber erst zum Schluss. Vorher wird er dich eine Zeitlang vergewaltigen, Grace, und dann wird er Streifen aus dir herausschneiden, dann schlägt er dir Nägel durch die Hände und…“ „Hör auf!“ sagte sie leise.
Aber ich konnte nicht. Es schien mir wichtig, dass sie das verstand. „… reißt dir die Eingeweide heraus, Grace. Das macht er am liebsten. Er nimmt die Eingeweide raus und kann dann sehen, wie der Körper dampft. Dann reißt er dir vielleicht noch die Augen raus, während sein Partner in dir herumstochert und…“
Hinter mir ertönte ein Schrei.
Grace hielt sich die Ohren zu, doch nahm sie die Hände weg, als sie den Schrei hörte.
Hinter mir stand Mae mit rot angelaufenem Gesicht und schlug unkontrolliert mit den Armen um sich, als sei sie unter Strom gesetzt worden.
„Nein, nein, nein!“ schrie sie unter Tränen, lief an mir vorbei zu ihrer Mutter und drückte sich leidenschaftlich an sie.
Grace blickte mich an, während sie ihre Tochter an die Brust gepresst hielt. In ihrem Blick stand nackter, grenzenloser Hass. „Verlass mein Haus!“ sagte sie.
„Grace.“
„Jetzt!“
„Dr. Cole“, wandte Bolton ein, „ich möchte gerne, dass Sie…“ „Ich komme mit Ihnen“, antwortete sie ihm.
„Was?“
Sie hatte die Augen noch immer auf mich gerichtet. „Ich gehe mit Ihnen, Agent Bolton. Ich lasse meine Tochter nicht allein. Ich komme“, sagte sie leise.
Ich versuchte es: „Sieh mal, Grace…“
Sie legte die Hände auf die Ohren ihrer Tochter.
„Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst verdammt noch mal mein Haus verlassen!“
Das Telefon klingelte. Sie hob ab, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Hallo!“ Sie runzelte die Stirn. „Ich hatte Ihnen schon heute nachmittag gesagt, dass Sie nicht mehr anzurufen brauchen. Wenn Sie mit Patrick reden wollen…“
„Wer ist es?“ fragte ich.
Sie warf den Hörer vor mir auf den Boden. „Hast du meine Nummer an deinen irren Freund weitergegeben, Patrick?“
„Bubba?“ Ich hob den Hörer auf. Rasch ging sie an mir vorbei und brachte Mae in ihr Zimmer.
„Hallo, Patrick.“
„Wer ist da?“ fragte ich.
„Wie haben dir die Bilder gefallen, die ich von deinen Freundinnen gemacht habe?“
Ich warf Bolton einen Blick zu und formte mit den Lippen lautlos den Namen „Evandro“.
Bolton rannte aus dem Haus, Devin folgte ihm.
„Die haben mich nicht sehr beeindruckt, Evandro.“
„Ach“, erwiderte er, „das tut mir aber leid. Ich habe meine Technik verbessert, versuche jetzt mit Licht und Schatten zu spielen, die Raumaufteilung zu beachten und so weiter. Ich finde, ich habe mich künstlerisch verbessert. Du nicht?“
Vor dem Fenster erklomm ein Agent einen Telefonmasten. „Weiß ich nicht, Evandro. Ich bezweifle, dass du Annie Leibovitz schon mal über die Schulter gesehen hast.“
Evandro kicherte. „Aber dir kann ich über die Schulter gucken, stimmt’s, Patrick?“
Devin kam herein und hielt ein Blatt Papier in der Hand, auf dem stand: „Halt ihn zwei Minuten!“
„Ja, stimmt. Wo bist du, Evandro?“
„Ich beobachte dich.“
„Ach ja?“ Ich widerstand der Versuchung, mich umzudrehen und aus den Fenstern auf die Strasse zu gucken.
„Ich beobachte dich und deine Freundin und die ganzen hübschen Bullen, die um das Haus herumstehen.“
„Na, wenn du in der Nähe bist, dann komm doch vorbei!“ Wieder ein leises Kichern. „Ich warte lieber noch. Aber du siehst sehr hübsch aus im Moment, Patrick, wie du das Telefon am Ohr hältst, die Stirn vor Sorgen in Falten, das Haar vom Regen zerzaust. Einfach bezaubernd.“
Grace kam ins Wohnzimmer zurück und stellte einen Koffer neben der Tür ab.
„Vielen Dank für die Blumen, Evandro!“
Grace zuckte, als sie den Namen hörte, und sah zu Angie hinüber. „Ist mir ein Vergnügen“, erwiderte Evandro.
„Was habe ich an?“
„Wie bitte?“ fragte er.
„Was habe ich an?“
„Patrick, als ich diese Fotos von deiner Freundin und ihrer Tochter…“
„Was habe ich an, Evandro?“
„… gemacht habe, da habe ich…“
„Du weißt es nicht, weil du das Haus gar nicht beobachtest. Stimmt’s?“
„Ich sehe viel mehr, als du dir vorstellen kannst.“
„Du hast nur Scheiße im Kopf, Evandro!“ Ich lachte. „Versuchst hier, einen auf…“
„Wage es nicht, über mich zu lachen!“
„… allwissenden, allgegenwärtigen Meister des Bösen zu machen…“
„Du redest nicht in diesem Ton mit mir, Patrick!“
„… aber ich finde, du bist nichts als ein jämmerlicher Anfänger!“ Devin sah auf seine Armbanduhr und hob drei Finger. Noch dreißig Sekunden also.
„Ich schneide das Kind in Stücke und schick sie dir mit der Post.“ Ich drehte mich um und sah Mae über ihren Koffer gebeugt im Kinderzimmer stehen, sie rieb sich noch immer die Augen.
„Du wirst nicht mehr in ihre Nähe kommen, du Wichser! Du hast deine Chance verpasst.“
„Ich lösche jeden aus, den du kennst.“ Die Stimme war rauh vor Zorn.
Bolton kam durch die Eingangstür und nickte.
„Du kannst nur beten, dass ich dich nicht zuerst erwische, Evandro.“
„Das schaffst du nicht, Patrick. Das schafft keiner. Auf Wiedersehen!“
Und dann war eine zweite Stimme in der Leitung, rauher als Evandros: „Wir sehen uns, Leute!“
Dann brach die Verbindung ab. Ich sah Bolton an.
„Sogar beide“, bemerkte er.
„Ja.“
„Haben Sie die zweite Stimme erkannt?“
„Nicht mit dem falschen Akzent.“
„Sie sind an der Nordküste.“
„An der Nordküste?“ wiederholte Angie.
Bolton nickte. „Auf Nahant.“
„Sie haben sich auf eine Insel verzogen?“ staunte Devin. „Jetzt können wir sie einkesseln“, erklärte Bolton. „Ich habe schon die Küstenwache alarmiert und Polizeiwagen von Nahant, Lynn und Swampscott ausgeschickt, die die Brücke sperren sollen.“ „Dann sind wir also in Sicherheit?“ wollte Grace wissen. „Nein“, widersprach ich.
Doch sie ignorierte mich und sah Bolton an.
„Ich kann das Risiko nicht eingehen“, antwortete dieser. „Auch Sie nicht, Dr. Cole. Ich kann nicht Ihre Sicherheit und die Ihrer Tochter aufs Spiel setzen, solange wir die beiden nicht haben.“
Sie sah Mae entgegen, die mit dem Pocahontas-Koffer in der Hand aus ihrem Zimmer kam. „Okay. Sie haben recht.“
Bolton wandte sich an mich. „Ich habe zwei Beamte zu Mr. Dimassis Wohnung abgeordnet, aber jetzt gehen mir langsam die Leute aus. Die Hälfte ist immer noch an der Südküste. Ich brauche jeden, den ich bekommen kann.“
Ich warf Angie einen fragenden Blick zu, und sie nickte.
„Die Alarmanlagen an Ihrer Vorder- und Hintertür, Ms. Gennaro, sind auf dem neuesten Stand der Technik.“
„Wir können ein paar Stunden auf uns selbst aufpassen“, erwiderte ich.
Er schlug mir auf die Schulter. „Wir haben sie bald, Mr. Kenzie.“ Dann fragte er Grace und Mae: „Fertig?“
Sie nickte und hielt Mae die Hand hin. Das Mädchen ergriff sie und blickte verwirrt und traurig zu mir auf.
„Grace!“
„Nein.“ Grace schüttelte den Kopf, als ich versuchte, ihr
die Hand auf die Schulter zu legen. Sie drehte sich um und ging. Sie wurden in einem schwarzen Chrysler mit kugelsicheren Scheiben fortgebracht. Der Fahrer hatte kalte, aufmerksame Augen. „Wohin bringen Sie sie?“ erkundigte ich mich.
„Weit weg“, entgegnete Bolton, „weit weg.“
In der Mitte der Massachusetts Avenue landete ein Hubschrauber; Bolton, Erdham und Fields liefen vorsichtig über den gefrorenen Boden hinüber.
Als der Hubschrauber abhob und entlang der Strasse Müll gegen die Schaufensterscheiben wirbelte, hielten Devin und Oscar mit dem Auto neben uns.
„Ich habe deinen Kumpel, diesen Winzling, ins Krankenhaus gebracht“, erzählte Oscar und hob entschuldigend die Hände. „Hab ihm sechs Rippen gebrochen. Tut mir leid.“
Ich zuckte mit den Schultern. Irgendwann mache ich das wieder gut bei Nelson.
„Ich hab einen Wagen zu Angie geschickt“, erklärte Devin. „Ich kenn den Jungen. Er heißt Tim Dünn. Dem könnt ihr vertrauen. Fahrt direkt hin!“
Angie und ich standen gemeinsam im Regen und sahen zu, wie sich das Auto zwischen Polizeiwagen und FBI-Caravan einfädelte und die Massachusetts Avenue hinunterfuhr. Das Klatschen der Regentropfen auf dem Eis war das einsamste Geräusch, das ich je gehört hatte.