37

Mir gefiel nicht, wie Pine Phil ansah, während wir mit dem Aufzug nach unten fuhren. Phil hielt den Kopf gesenkt und hatte die Hände auf das Dach des Porsche gelegt, als müsse er sich dort abstützen, um nicht umzufallen. Pines Blick wankte keine Sekunde. Als wir uns dem Erdgeschoss näherten, sagte Pine etwas zu Bubba, doch der stopfte die Hände in die Taschen seines Trenchcoats und zuckte mit den Schultern.
Dann öffneten sich die Türen des Aufzugs, und wir stiegen in die Autos. Ich fuhr mit Phil hinten aus dem Gebäude heraus und bog in die nächste kleine Strasse ein, die zur South Street führte. „Oh, Mann!“ brachte Phil heraus.
Langsam fuhr ich die Strasse hinunter, die Augen auf das Licht der Scheinwerfer gerichtet, die vor uns durch die tiefe Dunkelheit schnitten.
„Halt mal eben an!“ sagte Phil verzweifelt.
„Nein, Phil.“
„Bitte! Mir wird schlecht!“
„Ich weiß“, antwortete ich. „Aber du musst aushaken, bis wir außer Sicht sind.“
„Warum, verdammt noch mal?“
Ich bog auf die South Street. „Weil Pine und Bubba glauben, dass sie dir nicht vertrauen können, wenn sie dich kotzen sehen. Jetzt reiß dich zusammen!“
Ich fuhr einen Häuserblock weit, bog dahinter rechts ab und beschleunigte dann auf der Summer Street. Am Bahnhof South Station fuhr ich hinter dem Postamt rechts ab, prüfte dort die einzelnen Ladebuchten, um sicherzugehen, dass noch keine Lkws beladen wurden, und hielt schließlich hinter einem Müllcontainer an. Phil sprang aus dem Auto, bevor wir endgültig zum Stehen gekommen waren. Ich drehte das Radio auf, damit ich die Geräusche seines Körpers nicht hören musste, der gegen das rebellierte, was er gerade erlebt hatte.
Ich stellte die Musik noch lauter, bis die Fensterscheiben vibrierten. Die scharfen Gitarrenriffs von „Plowed“ von Sponge dröhnten aus den Lautsprechern und schnitten durch meinen Schädel. Zwei Männer waren tot, und es hätte genausogut ich sein können, der den Abzug betätigte. Sie waren alles andere als unschuldig. Sie waren alles andere als unbefleckt. Aber trotzdem waren es Menschen.
Phil kam zurück zum Auto, und ich reichte ihm ein Kleenex aus dem Handschuhfach und stellte das Radio wieder leiser. Phil drückte sich das Taschentuch auf den Mund, und wir fuhren wieder los, die Summer Street hinunter Richtung Southie.
„Warum hat er sie umgelegt? Sie haben uns doch gesagt, was wir wissen wollten.“
„Sie haben seinem Boss nicht gehorcht. Stell dir nicht zu viele Fragen, Phil!“
„Aber, Mann! Der hat die einfach abgeknallt! Der hat einfach die Knarre gezogen, und die saßen gefesselt da, und ich steh daneben und gucke sie an und dann… Scheiße! Kein Geräusch, nichts, nur diese Löcher.“
„Phil! Hör mir zu!“
Bei einem dunklen Straßenabschnitt in der Nähe des Araban Coffee Building fuhr ich rechts heran. In der Luft lag das Aroma von gerösteten Kaffeebohnen, doch es konnte den öligen Gestank von den Hafendocks links von uns nicht übertünchen.
Phil hielt sich die Augen zu. „Oh, Scheiße, Mann!“
„Phil! Guck mich an, verdammt noch mal!“
Er ließ die Hände sinken. „Was?“
„Es ist nichts passiert!“
„Was?“
„Es ist nichts passiert. Verstanden?“ schrie ich ihn an, und Phil versuchte, sich mir im dunklen Auto zu entwinden, doch das war mir jetzt egal. „Willst du auch sterben? Ja? Darum geht es hier nämlich, Phil!“
„O Gott! Ich? Warum?“
„Weil du ein Zeuge bist.“
„Ich weiß, aber…“
„Hier gibt es kein Aber. So einfach ist das, Phil! Du bist nur am Leben, weil Bubba keinen umbringen würde, der mir etwas bedeutet. Du bist am Leben, weil er Pine überzeugt hat, dass ich dich auf Kurs halte. Ich bin am Leben, weil sie wissen, dass ich nichts sage. Und im übrigen würden wir beide, du und ich, wegen zweifachen Mordes in den Knast wandern, wenn wir den Mund aufmachen würden, nur weil wir dabei waren. Aber so weit würde es nie kommen, Phil, weil Pine nämlich, wenn er einen Grund dazu sieht, dich umbringt, dann mich umbringt und Bubba wahrscheinlich auch.“ „Aber…“
„Hör mit dem scheiß Aber auf, Phil! Ich flehe dich an! Red dir besser ein, dass da heute nichts passiert ist. War nur ein böser Traum. Kevin und Jack sind irgendwo im Urlaub.
Weil, wenn du das nicht auseinanderhältst in deinem Kopf, dann redest du irgendwann.“
„Tu ich nicht.“
„Doch. Irgendwann erzählst du’s deiner Frau oder deiner Freundin oder irgend jemandem in der Kneipe, und dann sind wir alle tot. Und der, dem du das erzählt hast, ist auch tot. Verstehst du das?“ „Ja.“
„Außerdem lassen sie dich beobachten!“
„Was?“
Ich nickte. „Find dich damit ab und leb damit! Eine Zeitlang werden sie dich beobachten.“
Er schluckte, seine Augen quollen hervor. Ich befürchtete, ihm würde wieder schlecht.
Doch statt dessen drehte er den Kopf weg, starrte aus dem Fenster und drückte sich tiefer in den Sitz.
„Wie kannst du das machen?“ flüsterte er. „Tagein, tagaus?“ Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und lauschte dem Brummen des Motors.
„Wie kannst du mit dir selbst leben, Patrick?“
Ich legte den ersten Gang ein und sagte nichts mehr, während wir durch Southie fuhren und dann in unseren Stadtteil.
Ich ließ den Porsche vor meinem Haus stehen und ging auf den Crown Victoria zu, der einige Autos weiter hinten geparkt war, weil ein Porsche Baujahr ‘63 so ungefähr der letzte Wagen ist, mit dem man durch unsere Gegend fährt, wenn man nicht bemerkt werden will.
Phil stand neben der Beifahrertür, doch ich schüttelte den Kopf. „Was?“ fragte er.
„Du kannst nicht mitkommen, Phil. Das mache ich alleine!“ Jetzt schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich war mit ihr verheiratet, Patrick, und dieses Arschloch hat auf sie geschossen. „
„Soll er dich auch erschießen, Phil?“
Er zuckte mit den Schultern. „Glaubst du, ich komme nicht klar damit?“
Ich nickte. „Ich denke, damit kommst du nicht klar, Phil.“ „Warum nicht? Wegen der Sache auf der Bowlingbahn? Kevin, den kenne ich schon seit meiner Kindheit. War früher ein Freund. Ja gut, ich kam nicht gut damit zurecht, dass er erschossen wurde. Aber Gerry?“ Er legte seine Hand mit der Waffe auf das Dach des Wagens, betätigte den Schlitten und schob eine Kugel in die Kammer. „Gerry ist der letzte Dreck. Gerry muss sterben!“
Ich sah ihn an und wartete darauf, dass auch er merkte, wie albern er aussah, als er die Pistole wie ein Filmschauspieler lud und coole Sprüche von sich gab.
Er hielt meinem Blick stand und richtete die Mündung seiner Waffe langsam über das Wagendach auf mich.
„Willst du mich jetzt erschießen, Phil, oder was?“
Seine Hand zitterte nicht. Die Waffe verharrte regungslos in der Luft.
„Sag schon, Phil! Willst du mich erschießen?“
„Wenn du die Tür nicht aufmachst, Patrick, dann schieße ich ins Fenster und klettere durch!“
Ich ließ die Waffe in seiner Hand nicht aus den Augen.
„Ich liebe sie auch, Patrick.“ Er ließ die Pistole sinken.
Ich stieg ein. Er klopfte mit der Waffe gegen das Fenster, und ich atmete tief ein, weil ich wusste, dass er mir, wenn nötig, zu Fuß hinterherkommen oder in das Fenster
von meinem Porsche schießen und ihn kurzschließen würde. Gegen Mitternacht begann es zu regnen. Zuerst nieselte es kaum, einige Tropfen vermischten sich mit dem Schmutz auf der Windschutzscheibe und liefen zu den Scheibenwischern herunter. Wir hatten vor einem Altersheim auf der Dorchester Avenue geparkt, ein paar Häuser vom Black Emerald entfernt. Plötzlich goss es in Strömen, der Regen peitschte auf das Wagendach und rauschte wie eine schwarze Wand auf die Strasse herunter. Der Regen war eiskalt, so wie gestern, und er bewirkte nur, dass die Eisschicht auf den Bürgersteigen und Häusern etwas sauberer, aber auch gefährlicher aussah.
Anfangs waren wir dankbar dafür, da unsere Fensterscheiben beschlugen und wir beide im Innern des Autos nur dann zu sehen waren, wenn sich jemand direkt neben uns stellte.
Doch bald war es gar nicht mehr günstig, weil wir die Kneipe und den Eingang zu Gerrys Wohnung nicht mehr richtig sehen konnten. Das Gebläse war kaputt, die Lüftung auch, die feuchte Kälte stieg an uns hoch. Ich machte das Fenster einen Spaltbreit auf, und Phil tat es mir nach. Dann wischte ich mit dem Ellbogen über die beschlagene Scheibe, bis die Eingänge zu Gerrys Wohnung und dem Emerald wieder verschwommen zu sehen waren.
„Warum bist du dir so sicher, dass es Gerry war, der mit Hardiman zusammengearbeitet hat?“ wollte Phil wissen.
„Bin ich mir gar nicht“, erwiderte ich. „Kommt mir nur logisch vor.“ „Und warum rufen wir dann nicht die Bullen?“
„Und was erzählen wir denen? Zwei Typen mit frischen Einschusslöchern in der Stirn hätten uns gesagt, Gerry ist ein böser Junge?“ „Und was ist mit dem FBI?“
„Wir haben keine Beweise. Und wenn es Gerry ist und wir es ihm zu früh zeigen, entwischt er uns vielleicht wieder, macht einen Winterschlaf oder so und killt irgendwelche Penner, die keiner vermisst.“ „Und warum sind wir dann hier?“
„Weil ich sehen will, wenn er sich bewegt. Die kleinste Bewegung, Phil.“
Phil wischte über seine Windschutzscheibe und spähte auf die Kneipe. „Vielleicht gehen wir einfach rein und stellen ihm ein paar Fragen.“
Ich starrte ihn an: „Bist du verrückt?“
„Warum nicht?“
„Weil, wenn er es ist, bringt er uns um, Phil!“
„Aber wir sind zu zweit, Patrick. Beide bewaffnet.“
Ich merkte, dass er es sich einzureden versuchte, dass er versuchte, den Mut zusammenzunehmen, der nötig war, um diese Türschwelle zu überschreiten. Aber er war noch weit davon entfernt. „Das ist die Anspannung“, erklärte ich. „Vom Warten.“
„Was ist damit?“
„Manchmal kommt einem das Warten viel schlimmer vor als eine direkte Auseinandersetzung, so als müsste man einfach irgendwas tun, und dann würde man das Gefühl loswerden, dass man sich so unwohl fühlt in seiner Haut.“
Er nickte. „Ja, so fühlt sich das an.“
„Das Problem ist nur, Phil, dass die Auseinandersetzung mit Gerry, wenn er denn derjenige ist, viel schlimmer sein wird als das Warten. Er bringt uns um, ob mit oder ohne Waffen.“
Er schluckte kurz, dann nickte er.
Eine ganze Minute lang ließ ich den Eingang zum Emerald nicht aus den Augen. Seit wir hier waren, hatte ich niemanden hineinoder hinausgehen sehen. Das war mehr als seltsam für eine Kneipe so kurz nach Mitternacht in dieser Gegend. Der Regen rauschte vor uns auf die Strasse herab, in der Ferne heulte der Wind. „Wie viele Menschen?“ fragte Phil.
„Was?“
Phil zeigte mit dem Kopf in Richtung des Emerald. „Wenn er es ist, wie viele hat er dann umgebracht, was meinst du? Sein Leben lang? Ich meine, wenn man bedenkt, dass er im Lauf der Jahre vielleicht die ganzen Penner abgemurkst hat und vielleicht noch einen Haufen Leute, von denen keiner was weiß und…“ „Phil!“
„Ja?“
„Ich bin schon nervös genug. Es gibt ein paar Sachen, über die ich jetzt nicht nachdenken will.“
„Oh.“ Phil rieb sich über die Bartstoppeln am Kinn. „Gut.“ Ich starrte zur Kneipe hinüber und zählte noch einmal bis hundert. Niemand ging hinein oder kam heraus.
Plötzlich klingelte mein Handy. Phil und ich zuckten so zusammen, dass wir mit dem Kopf gegen die Wagendecke stießen.
„Oh, Mann!“ fluchte Phil. „Lieber Gott!“
Ich klappte das Handy auseinander. „Ja?“
„Patrick, ich bin’s, Devin. Wo bist du?“
„In meinem Auto. Was ist los?“
„Ich habe gerade mit Erdham vom FBI gesprochen. Er hat einen Teilfingerabdruck unter den Bodendielen in deiner Wohnung genommen, wo die Wanzen versteckt waren.“
„Und?“ Das Blut erstarrte in meinen Adern.
„Es ist Glynn, Patrick. Gerry Glynn.“
Ich blickte durch die beschlagene Fensterscheibe und konnte die Umrisse der Kneipe so gerade erkennen. In mir stieg eine Angst auf, wie ich sie noch niemals gespürt hatte.
„Patrick? Noch da?“
„Ja. Hör mal, Devin, ich steh bei Gerry vor der Wohnung.“ „Bitte wo bist du?“
„Du hast mich verstanden. Ich bin vor ‘ner Stunde zu der gleichen Lösung gekommen.“
„O Gott, Patrick! Hau ab da! Los! Mach keinen Scheiß! Los, hau ab!“
Ich wollte ja auch, wirklich.
Aber wenn er jetzt da drinnen war, sich Eispickel und Rasierklingen in die Tasche stopfte und sich auf seinen nächsten Ausflug vorbereitete, wo er das nächste Opfer…
„Ich kann nicht, Dev. Wenn er hier ist und etwas macht, werde ich ihm folgen.“
„Nein, nein, nein. Nein, Patrick! Hast du mich verstanden? Hau jetzt ab da, verfluchte Scheiße!“
„Ich kann nicht, Dev.“
„Scheiße!“ Er schlug gegen etwas Hartes. „Okay. Ich komme jetzt mit einer ganzen Armee herüber. Verstanden? Du bleibst da sitzen, wir sind in fünfzehn Minuten da. Wenn was passiert, rufst du die folgende Nummer an!“
Er nannte mir eine Nummer, die ich auf einen am Armaturenbrett befestigten Notizblock schrieb.
„Beeil dich!“ sagte ich.
„Ich beeile mich.“ Devin legte auf.
Ich warf Phil einen Blick zu. „Jetzt ist es sicher. Gerry ist unser Mann.“
Phil sah auf das Telefon in meiner Hand, sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Übelkeit und Verzweiflung.
„Verstärkung ist unterwegs?“ fragte er.
„Verstärkung ist unterwegs“, bestätigte ich.
Inzwischen waren die Fenster vollkommen beschlagen, so dass ich wieder über meines wischte. Dabei merkte ich aus dem Augenwinkel heraus, dass sich an der Hintertür etwas Dunkles, Schweres bewegte.
Dann wurde die Tür geöffnet, und Gerry Glynn sprang ins Auto und legte seine nassen Arme um mich.