Als mich jemand am Arm berührt, schrecke ich auf und stoße einen wortlosen Schrei aus. Ein Licht blendet mich, und ich hebe die Hände, um das Gesicht abzuschirmen.
»Immer mit der Ruhe, ich bin es nur.« Ich spüre eine Hand auf dem Arm, eine weiche Frauenhand. Als die Augen sich angepasst haben, erkenne ich eine hübsche Frau mit einer Stiftlampe. Zuerst denke ich an Lucy, doch dann fällt der Strahl auf das Gesicht. Es ist jemand anders. »Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe, Michael. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin Shauna, die Nachtschwester. Geht es Ihnen gut?«
»Ja, ich … ich hatte nur Angst. Ich bin erschrocken. Jetzt geht es mir wieder gut.«
»Das tut mir leid. Ich wollte Sie nicht wecken, aber nun ist es passiert.« Sie fasst mich am Handgelenk und leuchtet auf die Armbanduhr, während sie mir den Puls misst. Ich warte und sehe ihr beim Zählen zu. Als sie fertig ist, lässt sie mein Handgelenk nicht los.
»Wie geht es Ihnen?«
»Sie können ruhig das Licht einschalten«, biete ich ihr an. »Das ist besser als die …« Ich betrachte die kleine Taschenlampe und frage mich, ob die Gesichtslosen auch solche Geräte anzapfen können. Die Lampe erzeugt ein elektrisches Feld, auch wenn es nur klein ist, aber sie kann doch eigentlich nicht senden und empfangen. Wenn die Gesichtslosen das Krankenhaus infiltriert haben, kann die Lampe es vielleicht doch. Ich will Shauna sagen, sie soll das Ding wegbringen, aber ich will auch normal wirken. Wenn sie mich verdächtigen, kann ich nicht fliehen. »Mir geht es gut.« Ich nicke. »Alles klar.«
»Schön«, sagt sie. Kühl und beruhigend liegt ihre Hand auf meinem Arm. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«
Ich überlege. Die Reporterin war schon lange nicht mehr hier. Sie wollte ein paar Tage später wiederkommen, aber inzwischen ist mehr als eine Woche vergangen. Was ist passiert? Ist es so schwer, Beweise zu finden, die meine Unschuld bestätigen?
»Sagen Sie mal … gibt es eine Liste der Personen, die zu Besuch kommen? Müssen sie irgendwo unterschreiben oder so?«
»Die gibt es«, bestätigt sie nickend. »Soll ich etwas für Sie überprüfen?«
»Ich wollte nur …« Ich weiß es selbst nicht genau. »Ich erwarte eine Freundin, die aber nicht gekommen ist, und nun frage ich mich … ich weiß auch nicht.«
»Sie denken, sie könnte gekommen sein, während Sie geschlafen haben?«
Ich blicke zum Fenster in der Tür. Dahinter ist das schwache Flurlicht zu erkennen. »Ich mache mir Sorgen, sie könnte gekommen sein, hat hereingeschaut und sich dann entschlossen, doch nicht mit mir zu sprechen. Verstehen Sie? Ich bin …« Mir werden die Augen feucht, ich wische sie mit dem Handrücken trocken. »Ich bin doch so etwas wie ein Monster. Ich kann hier nichts tun, niemanden treffen, nirgendwo hingehen … ich komme mir vor wie im Zoo.«
»Ruhig, Michael.« Sie drückt mein Handgelenk. Ich fühle mich dumm und schwach. »Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man hier lebt«, sagt sie. »Aber Sie haben ja uns. Wir sind Ihre Freunde.« Sie lächelt, und ich versuche, nicht vor dem Licht des Stifts zurückzuzucken. »Mögen Sie Pfirsiche?«
»Pfirsiche?«
Warm und fröhlich lacht sie in der Dunkelheit. »Ich mag Pfirsiche. Meine Eltern hatten einen Obstgarten, und meine Mutter hat sie jedes Jahr eingekocht. Pfirsiche stimmen mich froh. Es ist nichts Besonderes, aber wenn Sie zum Frühstück Pfirsiche mögen, notiere ich es auf Ihrer Karte. Vielleicht schickt die Küche morgen früh welche hoch. Damit … damit Sie sich etwas mehr wie ein Mensch fühlen. Verstehen Sie?«
Ich bin verlegen wie ein kleiner Junge, aber es ist ein nettes Angebot. Ich nicke. »Das wäre schön. Ich mag Pfirsiche.«
»Wundervoll.« Im Dunkeln kann ich sie nicht erkennen, stelle mir aber vor, dass sie lächelt. Ich lächle zurück.
Am nächsten Morgen bekomme ich Pfirsiche zur Hafergrütze, aber sie schmecken falsch. Süß und trotzdem substanzlos. Ich kann es nicht genau beschreiben. Außerdem geben sie mir eine zusätzliche Tablette. Sie haben die Dosis verdoppelt. Das deprimiert mich, als hätte ich alles kaputtgemacht. Der Gemeinschaftsraum summt vor Gesprächen, aber soweit ich weiß, reden die meisten Patienten mit sich selbst. Wer von ihnen ist mein geheimer Verbündeter? Unauffällig lasse ich den Blick über die Tische schweifen, doch auf diese Weise kann ich ihn natürlich nicht entdecken.
»Michael.«
Überrascht fahre ich auf. Doktor Vanek setzt sich neben mir auf einen Stuhl. »Sie waren tief in Gedanken versunken und haben mich gar nicht bemerkt.«
»Entschuldigung«, sage ich. »Ich … ich habe nachgedacht.«
»Deshalb sagte ich ja, dass Sie tief in Gedanken versunken waren.«
An unserem Tisch sitzt noch ein Patient, ein kleiner Mann mit riesigen Augen und wuscheligem Haar. Vanek verscheucht ihn. »Ich hasse diese Kliniken.«
»Was Sie nicht sagen«, gebe ich zurück. »Wie sind Sie überhaupt Psychiater geworden?«
»Nennen Sie es eine Überlebensstrategie.«
»Sie hassen auch alle, die hier drinnen sind.«
»Außerdem hasse ich alle, die draußen sind. Deshalb ist die Psychiatrie nicht schlimmer als alles andere.«
»Wie schön.« Ich esse weiter. »Warum sind Sie überhaupt hier?«
»Ihre Psychosen. Je mehr ich darüber erfahre, desto stärker faszinieren sie mich.«
Ich nicke und schnalze mit der Zunge. »Freut mich, dass Sie mich so unterhaltsam finden.«
»Sagen Sie mal, Michael, gibt es eine bestimmte Erinnerung an ein Telefon, die Sie besonders schrecklich finden?«
»Was?«
»Telefone«, wiederholt er. »Sie haben Angst vor ihnen, und ich möchte den Grund wissen. Viele schizophrene Wahnvorstellungen beruhen auf konkreten Ereignissen im Leben des Patienten. Vielleicht sehen Sie die Gesichtslosen, weil Sie in der Kindheit von einem Mann mit einem verhüllten Gesicht misshandelt wurden.«
»Ich wurde nicht misshandelt«, widerspreche ich rasch.
»O doch«, widerspricht er. »Zumindest emotional, und zwar von dieser Katastrophe, die Sie Ihren Vater nennen. Es könnte sein, dass Ihre Wahnvorstellungen von gesichtslosen Männern irgendwie mit ihm zu tun haben.«
»Mein Vater hat ein Gesicht.«
»Ich sehe schon, Sie missverstehen prinzipiell alles, was ich zu sagen versuche«, antwortet er. »Dann lassen wir das Allgemeine bleiben und kehren zum Konkreten zurück. Warum haben Sie Angst vor Telefonen? Betrifft dies alle Handys? Sind es die Geräte selbst, oder geht es um deren Benutzung? Ist es ein bestimmter Klingelton, der irgendeine verborgene Bedeutung für Sie hat?«
»Sie kennen den Grund.«
»Ja, das schon«, sagt er. »Allerdings bezieht sich Ihre Erklärung auf alle elektrischen und elektronischen Geräte. Ihr Ausbruch vor ein paar Wochen, als Sie Devon angegriffen haben, war jedoch an ein bestimmtes Gerät geknüpft. Sie haben nicht auf das Uhrenradio in Ihrem Zimmer reagiert, aber vor dem Handy hatten Sie ungeheure Angst.«
»Warten Sie mal«, sage ich und lege mit gerunzelter Stirn die Gabel weg. »War ein Handy in meinem Zimmer?«
»Aber natürlich. Was glauben Sie denn, was da auf einmal gesummt hat?«
»Das Summen stammte von einem Handy?«
Doktor Vanek zieht die Augenbrauen hoch und trommelt mit den feisten Fingern auf den Tisch. »Er stellt immer den Vibrationsalarm ein, um die Patienten nicht zu erschrecken. Das hat in Ihrem Fall aber offenbar nicht funktioniert. Sagen Sie mal, Michael, wofür haben Sie es denn gehalten?«
»Ich dachte, es war … keine Ahnung.«
»Sie haben doch sicher lange genug darüber nachgedacht, um sich irgendeine Erklärung zurechtzulegen. Eine Hose fängt nicht einfach so an zu summen, und Ihre heftige Reaktion auf das Geräusch zeigt, dass Sie es bemerkt haben.«
»Ich dachte, es war …« Ich breche ab. Ich kann ihm doch meine Gedanken nicht preisgeben. Soweit ich weiß, ist Vanek in den Plan eingeweiht. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass es ein Handy war.«
»Aber das war es«, bekräftigt er. »Und das bringt mich auf meine Frage zurück: Warum haben Sie solche Angst vor Telefonen?«
»Es sind nicht alle Telefone, nur Handys«, erwidere ich. »Es geht nicht einmal um die Handys selbst, sondern lediglich um die Signale, die sie aussenden und empfangen. Bei normalen Telefonen ist alles in den Leitungen gefangen, aber Handys strahlen ringsum ab.« Nervös sehe ich mich um, ob ein anderer Arzt mithört. Sie sollen nichts erfahren, was sie als verrückt interpretieren könnten. »Warum fragen Sie mich danach?«
»Weil ich Psychiater bin.«
»Sie sind nicht mein Psychiater. Nicht mehr.«
»Ich habe mit der Klinik einen Forschungsvertrag geschlossen«, erklärt er. »Mit Zustimmung der Ärzte habe ich begrenzten Zugang zu allen Patienten.«
»Und Doktor Little hat Ihnen erlaubt, mich zu besuchen? Ich habe den Eindruck, er kann Sie nicht sonderlich gut leiden.«
»Ich mag ihn auch nicht.« Vanek hebt die Schultern. »Gott sei Dank können wir auf beruflicher Basis gut miteinander umgehen.«
Devon hatte ein Handy. Das alles ist nur passiert, weil ein Handy geklingelt hat. Ist das die Methode, mit der sie mich kontrollieren – ein äußeres Signal von einem Handy in der Nähe? Ich lächle. Möglicherweise ist das ganz gut so. Wenn sie eine äußere Signalquelle brauchen, dann haben sie mir keinen Sender eingepflanzt. Deshalb kann ich fliehen und werde frei sein, solange ich außer Reichweite ihrer Signale bleibe. Vielleicht ist das der Durchbruch, auf den ich schon so lange warte.
»Nun?«, fragt Doktor Vanek. »Was meinen Sie? Warum haben Sie Angst vor Handys?«
Ich schnalze mit der Zunge und nehme mir ein Stück Putenfleisch vom Frühstückstablett. »Ich bin nicht verrückt.«
Vanek nickt. »Vernünftigere Worte hat noch nie jemand ausgesprochen. Sagen Sie mal, Michael, haben Sie noch mehr Gesichtslose gesehen?«
Ich schüttle den Kopf. »Natürlich nicht. Sie haben mir doch selbst gesagt, dass sie nicht real sind.« Ich knirsche mit den Zähnen. »Ich bin nicht verrückt.«
Er lächelt schmallippig. »Vor zwei Wochen haben sie deren Existenz als Beweis für Ihre geistige Gesundheit angeführt. Jetzt benutzen Sie deren Nichtexistenz als Beweis für das Gleiche. Entweder, Sie waren damals verrückt, oder Sie sind es heute. Da Sie die Gesichtslosen selbst ins Spiel gebracht haben, muss eine der beiden Möglichkeiten zutreffen.« Er steht auf. »Wenn Sie das nächste Mal mit Doktor Little reden, sollten Sie etwas sorgfältiger über Ihre Geschichte nachdenken.«
Er geht, und ich starre das Tablett an. Er hat recht. Ich kann nicht behaupten, geheilt zu sein, ohne zuzugeben, dass ich vorher wenigstens für eine Weile verrückt war. Ich nicke und suche nach einem Ausweg.
»Zeit für die Medizin«, sagt Devon. Ich schrecke instinktiv zurück. Ob sein Handy wieder anschlägt? Er stellt einen kleinen Plastikbecher auf den Tisch, in dem zwei Loxitantabletten liegen, halb grün und halb braun, wie in Tarnfarben gekleidet. »Alles in Ordnung?«
»Super«, sage ich und nehme den Becher. Es ist egal, was sie denken, ich kann fliehen. »Mir geht es gut, danke.« Ich schlucke die Pillen und spüle mit Apfelsaft nach. Es wird Zeit, von hier zu verschwinden.