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»Mylord! Sir Rorik!« Der Hauptmann aus seiner Gefolgschaft hastete Rorik hinterher, der mit seinen langen Beinen in Richtung Burgtor stürmte.

»Was hat sich denn zugetragen, mein Herr? Ihr ward noch in der einen Minute unmittelbar hinter uns und in der nächsten ward Ihr verschwunden. Drei Suchtrupps haben auf meinen Befehl die Wälder nach Euch durchkämmt.«

Sihtric kicherte und ließ sich auch nicht von Roriks saurer Miene zum Schweigen bringen. »Was sich zugetragen hat? Das ist eine gute Geschichte! Los, erzähl sie ihm doch, Rorik!«

»Mylord?«

»Was sich zugetragen hat, Hauptmann?« Rorik grinste höhnisch. »Waldelfen haben uns gewaltsam entführt und vor die Waldhexe gebracht. Das war’s.«

Der Hauptmann sah seinen Herrn mit einigem Befremden an, wagte es aber nicht, ihm noch weitere Fragen zu stellen. Wenigstens nicht solange der Ärger sein Gesicht verdüsterte.

»Lord Rorik!« Joanna traf sie am unteren Burgtor. »Ihr seid wieder zurück!«

»Sehr wohl, das bin ich. Habt Ihr etwas anderes erwartet, Mylady?«

Verwirrt stammelte sie etwas vor sich hin, ohne sich das mißtrauische Glitzern in Roriks Augen erklären zu können. »Wir haben uns Sorgen gemacht«, fügte sie etwas lahm hinzu.

»Ich wette, Ihr sagt die Wahrheit!« stichelte Sihtric. »Die Frage ist nur, um wen habt Ihr Euch Sorgen gemacht?«

Joanna reckte ihren immer noch ranken Leib und durchbohrte den blonden Hünen mit einem vernichtenden Blick. »Gewiß nicht um Euch, Ihr Riesenochse! Meine Sorge galt allein Sir Rorik.«

Sihtric wölfisches Grinsen legte kräftige, weiße Zähne bloß. »Was soll das heißen?«

Mit Gunnor, die auf sie zueilte, fiel eine weitere Stimme in den Chor der Willkommensgrüße ein. »Lord Rorik! Oh, mein Herr! Ich habe ja so um Eure sichere Rückkehr gebetet!« Ihr neckisches Lächeln, das sie ihm beim Betreten des Saals zuwarf, verschlechterte Roriks Laune zusehends.

Joanna wandte ihren wütenden Blick von Sihtric ab und eilte mütterlich besorgt an Roriks Seite. »Der Hauptmann sagte, Ihr hättet die Diebe erschlagen. Die Ihr nicht getötet habt, sollt Ihr in die Flucht geschlagen haben. Habt Ihr … waren es …?«

»Das Räuberpack, das in den Dörfern wütete, hat nichts mit Eurer Stieftochter zu tun«, erklärte Rorik mit schwindender Geduld. »Ich denke, diese Bande wird uns nicht mehr belästigen.«

»Mylord …?« Der Hauptmann buhlte mit dem Frauen um Roriks Aufmerksamkeit

»Später unterhalte ich mich mit Euch, Hauptmann. Seht, ob die Rüstungen der Männer in Ordnung sind und ihre Waffen eingefettet und blankgeputzt.«

»Habt Ihr vor, bald wieder auszureiten, Mylord?«

»Das habe ich. Aber im Augenblick habe ich einzig und allein vor, die Waffen abzulegen und mich in einem warmen Bad einzuweichen. Mylady«, er wandte sich an Joanna, »hättet Ihr die Güte?«

»Selbstverständlich, Sir Rorik«, erwiderte Joanna, der sein Gesichtsausdruck gar nicht behagte. Sie winkte einen Diener herbei und bestellte ein heißes Bad.

»Und Essen. Ich will ein anständiges, kräftiges, warmes Essen. In meiner Kammer. Jetzt.«

Die Diener stoben in alle Windrichtungen, um Roriks Wünsche zu erfüllen, wobei sie angespornt durch den bedrohlichen Ton seiner Stimme, eine ungewöhnliche Eile an den Tag legten.

Joanna und Gunnor begleiteten Rorik in seine Kammer. Joanna war dem Ritter beim Entkleiden behilflich. Sie zog das schwere Kettenhemd über seinen Kopf und seine Schultern, während Gunnor das Gesinde zu größerer Eile antrieb, die gerade Eimer voll heißen Wassers in den Zuber vor der Feuerstelle gossen. Sie prüfte mit einem kreisenden Finger die Temperatur des Wassers. Dann warf sie Rorik einen verstohlenen Blick zu, der sich soeben entkleidete. Sie war nur allzu bereit, den Pflichten einer Burgfrau nachzukommen und sich um ein ordentliches Bad für den Herrn zu kümmern. Es wäre ein wunderbarer Genuß mit eingeseiften Händen über die glatten Muskeln seiner starken Brust und seines straffen Bauches zu fahren – und vielleicht noch etwas tiefer. Vielleicht diesmal, überlegte sich Gunnor, würde es nach ihren Vorstellungen enden.

Ängstlich besorgt kümmerte sich Joanna um das geronnene schwarze Blut, das an Roriks Kettenhemd klebte. Sie nahm sich vor, Timor anzuweisen, die Rüstung spiegelblank zu putzen. Eigentlich war der Bursche viel zu jung für derlei Aufgaben. Sie wünschte, Garin wäre bei Roriks Ankunft zugegen gewesen.

Rorik sank erleichtert in den Zuber voll heißem Wasser und warf der reiferen Frau einen dankbaren Blick zu. Mit einer gereizten Handbewegung hingegen, wies er Gunnors eifrig-bemühte Hilfe beim Baden von sich. »Fragt Ihr Euch nicht, Madame, was mich so lange in den Wäldern aufgehalten hat?«

»Seid Ihr noch mehr Geächteten begegnet, mein Herr?« fragte Joanna zögerlich.

Rorik setzte ein schiefes Lächeln auf. »So kann man es auch nennen. Ich habe diese Nacht im Genuß der Gastfreundschaft Eurer Stieftochter verbracht, um die Ihr Euch so große Sorgen macht – auf der nackten Erde, wie ein Schlachtschwein gefesselt, ehe man es am Spieß brät.«

Joannas Augen wurden groß. Wieder sah sie auf die Blutspuren an Roriks Kettenhemd.

»Nicht ihres«, sagte Rorik, als er bemerkte, worauf ihr Blick ruhte. »Sie ist wohlauf. Obwohl ich für ihr zukünftiges Wohlergehen keine Hand ins Feuer legen kann.«

»Aber … mein Herr … gab es einen Kampf? Wie seid Ihr entkommen?«

»Als Kampf würde ich es nicht bezeichnen.« Ein leise belustigter Ton machte seine Stimme zum ersten Mal um eine Spur freundlicher. »Sihtric und ich waren so töricht gewesen, uns von den Halunken Eurer Stieftochter überfallen zu lassen. Das Gesindel brachte mich ausgerechnet mit Steinen zu Fall. Und ein ganzer Ast war nötig, um den armen Sihtric zu Boden zu bringen.«

»Aber wie …?«

»Ach, Eure arme kleine Alaine war sehr zuvorkommend. Sie hielt ihre Mordbuben davon ab, uns die Kehle aufzuschlitzen, so gerne sie dies auch getan hätten. Dann schlug sie einen Wettkampf vor- in der Gewißheit, als Siegerin hervorzugehen. Aber das Frauenzimmer hat eine böse Überraschung erleben müssen. Ich gewann, also mußte sie mich ziehen lassen. Sie hatte ihr Ehrenwort gegeben und hielt es auch. Teilweise zumindest. Mir scheint, sie hat für eine Frau ein bemerkenswertes Ehrgefühl.«

Gunnor hatte seinem Bericht über Alaines Hochmut aufmerksam zugehört. Nun lächelte sie mit unverhohlener Schadenfreude. »Ihr habt Alaine im Bogenschießen besiegt? Wie wunderbar! Das muß sie von ihrem hohen Roß heruntergeholt haben! Die Elende bildet sich ein, unbesiegbar zu sein.«

»Beinahe ist sie es auch«, gab Rorik zu.

In seiner Stimme klang leise Anerkennung, worauf Gunnor ihre Augen zusammenkniff. Sie rümpfte geringschätzig die Nase. »Was anderes ist auch nicht zu erwarten, mein Herr, da sie über eine gewisse Fertigkeit verfügt. Alaine verbringt ihre ganzen Tage damit, sich darin zu üben, wie ein Mann zu werden. Sie hält sich für zu gut, um die Arbeit der Frauen zu erlernen. Sie weiß rein gar nicht, wie man mit einem Mann umzugehen hat.« Ihr schwüler Blick bedeutete Rorik, daß sie hingegen sehr wohl Bescheid wüßte, wie ein Mann zu behandeln sei.

Roriks Mund schmälerte sich verdrossen. Lady Joannas älteste Tochter war auf ihre üppige Art recht anziehend. Aber ihr klettenhaftes Wesen und ihre geziertes Getue konnte jeden Mann rasend machen.

Joanna bemerkte den Ausdruck seiner Augen. »Gunnor«, bemerkte sie knapp. »Woanders warten noch Pflichten auf dich, denke ich.«

Gunnors schwüler Blick wandelte sich in Trotz.

»Verlaß uns«, wiederholte Joanna. »Sir Rorik und ich haben einiges zu bereden.«

Gunnor entschwebte beleidigt durch die Tür und ließ die beiden schweigend zurück. Rorik rutschte tiefer in den Zuber und genoß die Abwesenheit des Mädchens. Seine unwirsche Laune löste sich beim Baden in Nichts auf. Der Duft von Speisen, die die Küchenmagd vor einigen Minuten hereingetragen hatte, trug noch weiter zur Verbesserung seiner Laune bei.

»Wenn Ihr meinen Rücken schrubben würdet, Mylady, dann könnte ich mich danach erheben und mich über die Speisen hermachen, die so verlockend auf dem Tisch winken.«

Joanna nahm ein Tuch und tat wie ihr geheißen. »Mein Herr«, sagte sie mitten im Schrubben. »Ich wünschte, Ihr würdet das mit Alaine verstehen.«

Er verzog das Gesicht. »Was gibt es da zu verstehen? Das Mädchen ist eine gesetzlose Rebellin gegen ihren rechtmäßigen Herrn.«

»Ihr müßt verstehen, wie sie erzogen worden ist, mein Herr. Sie ist ein gutes, liebes junges Mädchen, gewiß. Sie braucht nur …!«

Rorik schnaubte argwöhnisch. »Gewiß ist Eure Stieftochter ein Vorbild an Schicklichkeit, wenn sie nicht gerade durch die Wälder wie ein boshafter kleiner Waldkobold herumgeistert.«

Joanna seufzte bedrückt und reichte Rorik ein Handtuch, als er sich aus dem abgekühlten Wasser erhob. »Ich verstehe es einfach nicht, warum sie weiterhin diesen aussichtslosen Kampf führt. Ich war fest davon überzeugt, sie würde mit ihren Gefolgsleuten aus dem Wald zurückkehren, sobald sie erführe, daß sie Euch Vasallenpflicht schuldet.«

Rorik war überrascht. »Sobald sie erführe … Wollt Ihr damit sagen, sie weiß es nicht?«

Bestürzt sah ihn Joanna an. »Ihr habt es ihr nicht gesagt?«

»Ich nahm an, sie wüßte es, zum Teufel!«

»Wie denn, mein Herr? Wir waren in einer verzweifelten Lage, als Euer Heer heranrückte. Niemand kannte Euer Wappen. Alaine war schon fort, ehe wir wußten, daß Ihr der rechtmäßige Vicomte de Brix seid. Sie war der Meinung … wir alle waren der Meinung, es handelte sich bei Euch um einen weiteren Abenteurer, der darauf erpicht wäre, ihre Ländereien zu rauben und sie zur Heirat zu zwingen.«

»Sie zur Heirat zu zwingen?« rief Rorik mit schallendem Gelächter. »Welcher Mann bei gesundem Menschenverstand würde sich ein schmalhüftiges, knabenhaftes Mädchen zur Frau nehmen, das Hosen trägt und wie ein Mann kämpft?«

»Gilbert de Prestot zum einen«, erwiderte Joanna scharf, pikiert durch die Herabwürdigung Alaines. »Nur die Ankunft Eures Heeres hat die Hochzeitszeremonie unterbrochen.«

»Dann schuldet mir Gilbert de Prestot einen Gefallen«, scherzte Rorik.

»Mein Herr!« bat Joanna. »Seid bitte nicht so streng mit ihr. Wenn sie wüßte, wer Ihr seid, sie würde sich gewiß Eurem Willen beugen. Alaine kennt ihre Pflicht und Schuldigkeit.«

»Nun, dann laßt sie es wissen, Himmeldonnerwetter! Es muß doch hier jemand auf der Burg geben, der die Stelle ihres Lagers kennt, das könnt Ihr nicht abstreiten. Herrgott! Wo habe ich bloß meinen Kopf? Warum habe ich nicht schon eher daran gedacht? Jemand hier weiß doch wo die kleine Hexe ihr Lager aufgeschlagen hat. Wie sonst haben die Leute auf der Burg den Weg zu ihr gefunden? Den schnappen wir uns schon. Und er wird mich schnurstracks zu ihr führen.«

»Sir Rorik …!« flehte Joanna.

»Ich werde es diesem hochnäsigen kleinen Frauenzimmer schon zeigen, einen Höherstehenden hinters Licht zu führen!« Entschlossen schritt er zur Kammertür und brüllte den Gang hinunter. »Sir Oliver! Sihtric! Herauf zu mir!«

 

Niedergeschlagen beobachtete Alaine den Morgennebel, der sich spiralförmig um die Bäume wand. Sie saß da und kaute lustlos an einem kalten, faserigen Hasenbraten, ein Überbleibsel vom Vorabend. Auf dem Baumstumpf neben ihr saß Garin in ebenso verzagter Stimmung. »Heute reite ich nach Brix«, Verkündete sie plötzlich, der Entschluß war in dem gleichen Augenblick gefaßt, als sie ihn ausgesprochen hatte. »Ich brauche zwei Männer dazu. Wen immer Ihr entbehren könnt. Ich habe keine Lust, die lange Strecke ohne Begleitung zu reiten.«

Garin seufzte. »Warum nach Brix reiten? Timothy hat noch nicht die Nachricht von Fulks Rückkehr überbracht.«

»Ich glaube, Timothy hat unsere Sache aufgegeben. Fulk müßte jetzt schon zurück sein. Wenn nicht … nun, vielleicht versuche ich seine Gemahlin noch einmal davon zu überzeugen, daß es sich auszahlt, uns zu helfen.«

Garin sah sie nur bekümmert an.

Sie wandte ihren Blick betreten ab. »Es ist unsere einzige Hoffnung, Garin. Wir können unsere schwachen Kräfte nicht weiter an der Roriks messen. Wir sind wie Fliegen, die um einen Riesen herumschwirren. Früher oder später erschlägt er uns mit der Klatsche.«

»Ich fürchte, ich habe alles nur verschlimmert, als ich ihm auf den Schädel geschlagen und ihn hergeschleppt habe, nicht wahr?«

Alaine lächelte trocken. »Ihr habt es getan, weil Ihr helfen wolltet, Garin.«

Langsam kam Bewegung ins Lager. Die ersten beiden Männer, die ans Feuer traten, um ihr Frühstück einzunehmen, wurden gleich angewiesen, Alaine nach Brix zu begleiten.

»Und wenn er nein sagt, Herrin?« erkundigte sich einer der freien Bauern.

»Wenn er nein sagt«, antwortete sie finster, »dann müssen du und die anderen einen neuen Herrn suchen, ehe der neue Herr auf Ste. Claire vor dem Südtor unsere Köpfe auf Spieße steckt.«

»Was würdet Ihr tun, Alaine?« fragte Garin. »Euch ergeben?«

Alaine lächelte ihn beinahe draufgängerisch an. »Dafür kennt Ihr mich zu gut, Garin. Ich ergebe mich nie.«

Alaine hatte gerade ihren letzten Frühstücksbissen heruntergeschluckt, da kündigte ein Knacken in den Ästen den heranstolpernden George Tanner an. Er war ein Dorfjunge aus Ste. Claire, der die Morgenwache hielt.

»Herrin«, keuchte er. »Reiter nähern sich! Der Drachenschild reitet ihnen voran!« Er plumpste auf die Knie und rang nach Atem. Dann stieß er einen erstickten Schrei aus, als er über seine Schulter blickte.

Der Drachenschild war aus dem Nebel aufgetaucht. Für einen Augenblick schien es frei im Dunst zu schweben, ein Symbol der Vernichtung. Dann traten ein Reiter und ein Pferd aus dem wallenden Nebel hervor. Und an beiden Seiten des Drachenschilds standen aufgereiht berittene Krieger, die das Lager in einem todbringenden Kreis umzingelten.

Für Sekunden war die Zeit aufgehoben. Die Männer zu Pferd standen wie bedrohliche Gespenster um das Lager herum. Alaines Gefolgschaft, die meisten von ihnen immer noch schlaftrunken, standen starr und stumm und sahen ihrem eigenen Verderben ins Auge.

Einer von Alaines Männern rührte sich, um sein Schwert zu ziehen. Metall kratzte gegen die Schwertscheide. Die Totenstille war gebrochen. Die Ritter drangen vor. Frauenschreie gellten. Männer stießen Flüche aus und eilten zu ihren Waffen. Alaine blieb einfach stehen. Sie konnte den Blick nicht von dem Bild des Drachens lösen, das in dem schauerlichen Nebel zum Leben erwachte. Er schien mit den Krallen zu schlagen und zu reißen, sich in rasendem Zorn aufzubäumen und blutrünstig zu fauchen.

»Fort, um Himmels willen!«

Garin packte sie am Arm und stieß sie beinahe um, ehe sie aus ihrem entrückten Zustand erwachte und ihre Beine in Bewegung setzte. Die Reiter preschten durch das Lager. Schmerzensschreie, Zorngebrüll, das Klirren von Metall auf Metall erfüllte die kleine Lichtung.

»Lauft!« schrie Alaine ihren Leuten zu. »Nicht kämpfen! Lauft!«

Alles in ihr schrie verzweifelt nach Flucht. Sie fühlte, wie die Augen Drachens nach ihr spähten. Dann hatte er ihren hellen Schopf zwischen dem Gewühl der Männer und Pferde entdeckt. Sie sah, wie er sich herandrängte. Sein Gesicht, zwar von der Kettenhaube und dem Helm halb bedeckt, hatte in ihrer Vorstellung den Ausdruck unerbittlicher Entschlossenheit.

»Fort hier, Garin!«

Sie stieß den Knappen in das nächstliegende Gebüsch und folgte ihm hinterher. Nur Rorik war ihnen auf den Fersen. Sie tauchten im dichten Gestrüpp unter. Im Wirrwarr des Gehölzes war für ein Pferd kein Durchkommen. Aber Rorik versuchte es dennoch. Ein lautes Knacken hinter ihnen verriet, daß er sie zu Fuß verfolgte. Seine Schritte wie ihre wurden von einem unüberhörbaren Geräusch aus knickenden Ästen und dem Rascheln verwelkter Blätter begleitet.

Garin zerrte sie durch ein besonders dorniges Buschwerk das steile, vom Dickicht überwucherte Bachufer hinunter. Er bedeutete ihr, stillzuhalten. Rorik bahnte sich weiterhin den Weg hinter ihnen her. Sie schloß die Augen und richtete ein stummes Stoßgebet an irgendeinen Heiligen, der sie zu hören bereit war. Das Knacken verstummte. Nur ein Fluch ertönte noch. Alaine vergrub ihren Kopf in Garins Schultern. Sie wagte nicht einmal zu atmen. Doch die Geräusche wurden immer leiser. Er befand sich auf den Weg zurück ins Lager.

Sie verharrten einige Zeit in ihrem sicheren Versteck, noch lange nachdem der Laut von Roriks vorbeiziehenden Schritten verklungen war. Garin sprach als erster.

»Er hat aufgegeben«, hauchte er.

»Der nicht«, widersprach Alaine. »Der gibt nicht eher auf, bis er uns gefunden hat. Denkt an meine Worte.«

»Dann müssen wir fliehen«, meinte Garin, der ihr bereitwillig Glauben schenkte. »Wir kreisen um das Lager in Richtung Koppel. Wenn wir Glück haben, können wir zwei Pferde herausholen und uns auf den Weg machen. Sie werden auf keinen Reiter achten, ehe sie nicht alle Versprengten eingefangen haben.«

Sie knirschte verzweifelt mit den Zähnen. »Ich kann diese Menschen nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Sie sind mir gefolgt. Sie haben mir ihr Vertrauen geschenkt.«

»Glaubt Ihr etwa, ihnen helfen zu können?« fragte Garin mit einem zynischen Unterton, der neu war. »Glaubt Ihr etwa, er verschont ihr Leben, wenn Ihr Euch ergebt? Warum sollte er? Diese Menschen lieben Euch, Alaine«, beschwor er sie. »Sie wußten, was ihnen bevorstand, als sie Euch hierher folgten. Sogar die Burgritter. Ihr habt ihnen die Wahl gelassen. Und sie sind trotzdem gekommen. Wenn Ihr euch jetzt ergebt, verspielt Ihr das Leben dieser Menschen.«

Tränen quollen ihr aus den Augen. Sie wischte sie fort und verfluchte dabei ihre weibliche Schwäche. »Ihr habt fraglos recht. Verzeiht, daß ich wie eine Frau weine. Gehen wir.«

Der Nebel hatte sich in einen eiskalten Schauer verwandelt. Der Boden war glitschig, als sie vorsichtig die Koppel umkreisten. Sie lagen hinter einem dicken abgestorbenen Baumstumpf an einem Ende der Koppel geduckt. Vorsichtig lugte Alaine über die zersplissene Oberfläche des Baumstumpfes. Sie hatte damit gerechnet, die Erde übersät mit den Leichen jener Männer und Frauen zu sehen, die ihr auf das tollkühne Unternehmen gefolgt waren. Statt dessen erblickte sie einen zerlumpten und gefesselten Menschenhaufen inmitten des Lagerplatzes. Vier Soldaten zu Pferd wachten über die erbitterte Menge. Sie stießen im Wortwechsel mit den gefangenen Männern Drohungen und Beleidigungen aus und machten den Frauen gegenüber anzügliche Bemerkungen.

»Los«, flüsterte sie.

Langsam krochen sie auf die Pferde zu, wobei sie geschickt die wenigen Stellen ausnutzten, die die Koppel als Versteck bot. Garin hatte zwei Seile an sich genommen, die um einen Pfosten gehangen hatten. Nun waren sie schon sehr nahe dran, fast nahe genug, um das Seil über den Kopf der Pferde zu winden, da entdeckte man sie.

»Hierher«, erscholl eine Stimme.

Soldaten wie Gefangene, alle richteten ihre Blicke in Richtung der Koppel. Hastig krabbelten beide auf allen vieren zurück durch den Zaun, ohne die Kratzer und Schnitte zu beachten, die der steinige Boden ihren Händen und Knien zufügte.

»Kommt schon!« Garin packte ihren Arm und schob sie in nördliche Richtung, wo das Gebüsch besonders dicht wucherte. Nur ein Pferd kam krachend zwischen den Bäumen hinter ihnen hergeritten. Garin blickte sich zögernd um.

»Er hat seine Mannen zurückgeschickt. Der Bastard will dies zu seinem Privatkrieg machen, glaube ich.«

Bilder schossen ihr durch den Kopf – Garin, ihr treuer Freund und in allem wie ein Bruder, außer von Geburt, der in einer Blutfontäne niedersank, von einem riesigen blitzenden Breitschwert tödlich getroffen – und sie in der qualvollen Lage, die tödliche Klinge zu sehen, wie sie sich langsam gegen ihre Brust richtete. Ihr Herz begann heftig zu pochen. Sie strengte sich an, die Beine schneller zu bewegen.

»Beeilt Euch«, trieb Garin sie verzweifelt an.

»Ich komme ja schon!«

Ein Stein rutschte unter ihrem Fuß weg. Sie spürte einen Riß, als ein Schmerz ihr ganzes Bein durchzuckte. Nasse Steine, Blätter und Erdklumpen flogen ihr entgegen.

»Alaine!« Garin kniete neben ihr und strich ihr die Erde aus Gesicht und Stirn.

»Geht weiter!« befahl sie ihm und biß die Zähne vor Schmerzen zusammen. Sie wollte nicht, daß er fortging. Sie wollte nicht der Gnade oder Ungnade ihres Feindes überlassen werden. Aber er mußte gehen.

»Nein!« widersprach er. »Nur er ist hinter uns her. Nur er. Ich kann ihn bezwingen.«

»Seid kein Dummkopf!« rief sie mit barscher Stimme. »In zehn, fünfzehn Jahren könntet Ihr ihn vielleicht bezwingen. Aber jetzt hackt er Euch in tausend blutige Stücke. Und läßt er Euch am Leben, endet Ihr am Galgen.«

Garin warf einen ängstlichen Blick hoch. Roriks Jagd hinter ihnen wurde immer deutlicher vernehmbar.

»Garin! Im Namen des Herrn! Verschwendet Euer Leben nicht einer verlorenen Sache. Vielleicht verschont mich Rorik. Aber für Euch gibt es keine Hoffnung. Geht jetzt!«

»Ich gebe nicht eher auf, bis Ihr errettet seid.« Mit kalten Lippen berührte er sanft ihre Stirn. »Ich verspreche Euch, niemals aufzugeben.« Dann war er verschwunden.

Alaine trommelte mit den Fäusten auf den Boden in einer Mischung aus Verzweiflung und Schmerz. Sie wollte ihr Schicksal laut verfluchen. Aber sie tat es nicht. Statt dessen begann sie sich unter einen Busch zu schleppen, ungeachtet der Schmerzen, die bei jeder Bewegung ihr Bein durchbohrten. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Aufgabe, ein Versteck zu finden, so daß sie nicht mal die knackenden Äste im Gestrüpp hinter sich hörte.

»Wen haben wir denn da?« Roriks Stimme klang aufreizend spöttisch, voll boshafter Freude.

Alaine blickte über die Schultern und schnappte nach Luft. Das dunkelbraune Streitroß stand schnaubend im Regen. Rorik trieb es weiter voran, bis seine großen Hufe dicht an ihrem Kopf dumpf auf die Erde prallten. Sie rührte sich nicht. Sie atmete nicht. Der Tod war nur ein paar Zoll von ihr entfernt.

Anmutig schwang sich Drache vom Sattel. Mit einer knappen Bewegung zog er sein Breitschwert aus der Scheide und richtete es gegen ihre Brust. Sie schloß die Augen, abwartend. Dabei durchlebte sie noch einmal ihren Traum. Aber der Todesstoß kam nicht.

Die Schwertspitze streifte ihr mit einem blitzschnellen Ruck die Kapuze vom Kopf und setzte ihr Gesicht und ihr Haar dem kalten Regen aus. Sogar im trüben Licht glänzte ihr Haar golden.

»Mylady Alaine«, begann er. Sie vermeinte ein verstecktes Lachen herauszuhören. »Welch treffliche Begegnung. Ich habe mich schon auf den Tag gefreut, an dem Ihr und ich uns wiedersehen würden.«