9
Alaine bahnte sich den Weg durch die Menge des neugierigen Burgvolks, das Rorik und seine unglückseligen Gefangenen umringte. Wenige erkannten sie in ihren ärmlichen Kleidern, und sie mußte heftig ihre Ellbogen einsetzen, um sich durch das Menschenknäuel hindurchzuquetschen. Endlich war sie ganz vorne.
Rorik saß auf seinem dunkelbraunen Roß und blickte halb mitleidig, halb verächtlich auf die elenden Gestalten, die er im Burghof zusammengetrieben hatte. Er war die fruchtlosen Geplänkel mit den Bewohnern von Ste. Claire leid. Seine Geduld – niemals eine besondere Stärke von ihm – war allmählich am Ende. Immer noch weigerten sich die Dorfbewohner, ihren Pflichten ihm gegenüber nachzukommen, ob Frondienst oder Abgaben. Versprengte aus Alaines früherer Truppe verharrten trotzig im Wald unter der Führung irgendeines Tölpels, der sich ausgerechnet Retter von Ste. Claire nannte. Nun hatten es auch noch tatsächlich acht Leute dieses Dorfgesindels gewagt, einen seiner Jagdtrupps zu überfallen.
»Peitscht sie einen nach dem anderen am Pranger aus«, befahl Rorik mit mächtiger Stimme. »Laßt sie den Peitschenhieb spüren. Dann laßt uns sehen, wie erpicht sie noch darauf sind, braven Männern aufzulauern, die friedlich ihrer Arbeit nachgehen.«
Der erste, den man an den Pranger fesselte und das Hemd vom Rücken herunterriß, war Uther von Bethune. Er war noch fast ein Knabe. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als Roriks Mannen ihn an den Pfahl banden. Trotz der fröstelnden Kälte, glänzte sein nackter Oberkörper vor Schweiß.
Rorik wandte sich an die anderen sieben wartenden Männer. »Achtet genau auf seinen Schmerz, denn jedem von euch wird es ebenso ergehen. Es ist, wie euch wohl bekannt sein wird, eine weitaus mildere Strafe, als ihr sie verdient. Wenn ihr mit brennenden Rücken von den Peitschenhieben in eure Dörfer zurückkehrt, denkt daran; erhebt ihr noch einmal die Waffen gegen mich, so habt ihr euer Leben verspielt.«
Nun richtete er sich an den Burgschmied, der zugleich auch Stockmeister war und gab ihm den Befehl anzufangen. Mit bärbeißigem Gesicht zog der Schmied die Peitsche hervor, dann erhob er den Arm zum ersten Hieb. Noch ehe der erste grausame Schlag auf Uthers Fleisch niedersausen konnte, fegte ein kleiner Wirbelwind aus der gaffenden Menge nach vorn und riß die geflochtene Schnur der Knute aus der Hand des Stockmeisters.
Die Menge hielt den Atem an. Alaine, mit weit aufgerissenen Augen und nach Luft ringend, stand dem verdatterten Schmied gegenüber, in ihrer Hand baumelte die Peitsche. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Langsam wandte sie sich Rorik zu. Er sah sie gleichmütig an, als könne ihn keiner ihrer Handlungen mehr überraschen.
Mit höchster Anstrengung hielt sie das Schlottern zurück, das ihren ganzen Körper zu erschüttern drohte. Sie erwiderte Roriks Blick mit einer unerschrockenen – wenn auch nur vorgetäuschten Standhaftigkeit. Lange starrten sie sich gegenseitig an. Dann, auf einen Druck der Knie seines Herrn bewegte sich das dunkelbraune Streitroß vorwärts, bis sein warmer Atem Alaines Gesicht streifte. Sie widerstand dem Impuls zurückzutreten und blieb hartnäckig auf der Stelle stehen.
»Ihr dürft diese Männer nicht strafen!« Sie hatte die Worte nicht laut ausgesprochen, aber sie klangen in dem erwartungsvollen Schweigen des menschenüberfüllten Burghofs wie ein Schrei.
Rorik hob abschätzig die Brauen. »Und warum nicht, mein Fräulein?«
»Es sind gute Männer«, gab sie in entschlossenem Ton zurück, »sie dienen treu einer Sache, die sie für gerecht halten.«
Rorik lächelte frostig. »Allerdings sind sie ihrem rechtmäßigen Herrn gegenüber nicht treu. Ohne den geringsten Anlaß, haben sie einen Jagdtrupp meiner Leute überfallen, der auf Pirsch war, um die Speisekammern mit Wildbret zu füllen.«
Alaine spürte die verzweifelten Blicke der Gefangenen hinter sich. Es waren schließlich ihre Gefolgsmänner gewesen, die aus Empörung gegen das ihr zugefügte Unrecht zu den Waffen gegriffen hatten. Sie durfte sie nicht fallen lassen.
»Sie kämpfen für mich«, sagte sie schlicht. »Bestraft mich. Aber nicht sie.«
Rorik starrte sie aus schmalen, mißtrauischen Augen an. »Habt Ihr ihnen befohlen, durch einen Boten oder einem Signal, meine Leute anzugreifen?«
»Nein«, antwortete Alaine. »Ich sagte Euch, daß ich meine Männer zurückrufen würde und das habe ich auch getan. Aber es gibt welche, die ihre Loyalität mir gegenüber nicht aufgeben.«
Etwas von der Spannung war aus seiner Stimme gewichen. »Es ist gut, daß Ihr Eure Beteiligung in dieser Sache verneinen könnt. Sonst würde auch Euer Rücken den Schlag der Peitsche spüren. Was die betrifft«, er wies auf die verschreckten Gefangenen, »kein Mann kann sich gegen seinen Herrn auflehnen und einer Strafe entgehen.« Seine grünglitzernden Augen bohrten sich in ihren Augen fest. »Vor allem Ihr solltet das wissen.«
Er streckte die Hand aus. »Gebt mir die Peitsche.«
Sie zögerte, während ihre Finger krampfhaft die Peitsche umklammert hielten. Die Menge war totenstill. Die Spannung zwischen dem Ritter zu Pferd und dem entschlossenen Mädchen mit den fest zusammengepreßten Lippen flirrte beinahe greifbar in der Luft. Schließlich bewegte sich Alaine, als wäre jeder Schritt ein innerer Kampf, auf ihn zu und legte den Peitschenstock in seine Hand.
Ein winziges Lächeln zuckte um Roriks Mund, als sich seine langen Finger um die Peitsche schlossen. Er warf sie dem Schmied zu, dann bückte er sich, legte seine Hand auf Alaines Schulter und drehte sie dem Pranger zu.
»Da Ihr nun meint, das Schicksal dieser Narren teilen zu müssen, könnt Ihr von hier zusehen, wie ihnen ihre Strafe zuteil wird. Und wenn Ihr ihre Wunden verbindet, sagt ihnen, daß sich diejenige ergeben hat, für die sie gekämpft haben. Überzeugt sie gründlich, Alaine. Ich will nicht mehr den Rücken von irregeleiteten Männern blutig schlagen, die glauben, aus Loyalität zu Euch zu den Waffen greifen zu müssen.«
Kreuzunglücklich und klammen Herzens stand sie nun da, als die Schläge ausgeteilt wurden. Rorik hielt ihre Schulter mit eisernem Griff fest. Anfangs weigerte sie sich aus Stolz, die Augen zu schließen. Dann endlich gab sie ihrem gramvollen Herzen und flauem Magen nach, und versuchte die Szene hinter fest geschlossenen Lidern auszublenden. Aber es gab kein Entkommen vor dem Klatschen der Peitschenhiebe und den Schreien der Opfer, die ihr durch Mark und Bein fuhren. Nachdem der letzte der unglückseligen acht Männer losgebunden und fortgetragen worden war, um seine Wunden zu säubern und zu stillen, stand sie schweißgebadet und ihr Magen drohte zu rebellieren.
Die Hand, die sie fest umklammert hielt, versetzte ihr einen sanften Schubs in Richtung der Ställe, wo die acht Dörfler verarztet wurden.
»Seht nach Euren Kameraden, Alaine«, befahl Rorik mit barscher Stimme. »Und kümmert Euch darum, daß sie begreifen, wem sie ab jetzt zu dienen haben.«
Seine Augen verfolgten sie nachdenklich, als sie sich auf den Weg zu den Ställen begab, sichtlich schwankend vor innerer Erregung. Mit offensichtlicher Anstrengung straffte sie die Schultern, drückte das Kreuz durch und festigte ihre Schritte. Zur Hölle mit ihr! fluchte Rorik stumm. Sie war jeder Zoll so stolz und aufrecht wie am ersten Tag, als er ihr im Wald begegnet war. Was sollte er bloß mit diesem Dickkopf anfangen?
Die Menge hatte sich zerstreut. Nun wurde Sihtric sichtbar, der angelehnt gegen einen Heuhaufen, Rorik mit wissenden Augen beobachtete.
»Man muß ihren Mut bewundern«, sagte der Nordmann beiläufig.
Ein Brummen Roriks war seine einzige Antwort.
»Und du kannst diesen Leuten keinen Vorwurf daraus machen, daß sie so einer wie ihr die Treue halten. Sie würden alles tun, was sie verlangt, bis zum letzten Mann.«
Rorik warf einen kurzen Blick auf die Stalltür, hinter der Alaine verschwunden war. »Worauf willst du eigentlich hinaus, mein Freund?«
Sihtric grinste boshaft. »Du weißt genau, worauf ich hinaus will, mein Junge.«
Rorik machte sich nicht die Mühe, abstreiten zu wollen. Er warf dem Nordmann einen übellaunigen Blick zu, worauf das Grinsen im Gesicht des blonden Hünen noch breiter wurde.
Roriks düstere Miene wurde langsam durch einen Ausdruck der Nachdenklichkeit abgelöst. Lange Zeit starrte er grübelnd auf den Stall. Seine Brauen zogen sich zusammen und plötzlich begann er stillvergnügt vor sich hin zu lachen.
»Ich wäre dazu imstande, Sihtric. Würde dich das überraschen?«
Sihtric schnaubte. »Nichts, was du tust, kann mich überraschen!«
»Es wäre die angemessene Antwort auf unsere Schwierigkeiten hier, glaube ich, und es kostet mich nicht viel.« Er grinste verschwörerisch. »Es gibt mehr als nur einen Weg, eine Burg zu erobern und gewiß mehr als eine Art und Weise, eine Widerspenstige zu zähmen.«
»Lady Alaine!«
Der alte Sir Oliver humpelte auf sie zu, gerade als sie damit kämpfte, einen Kessel voller Wasser über das Feuer zu hängen. Seine Gelenke waren mit zunehmender Kälte draußen steifer geworden. In letzter Zeit war sein Gang langsam und unsicher. Aber jetzt trat er beinahe freudig beschwingt auf sie zu.
»Lady Alaine!« wiederholte er und blieb etwas wacklig vor ihr neben dem Ofen stehen.
»Was ist, Sir Oliver?«
»Ich habe eine Botschaft von Lord Rorik zu überbringen, Mylady!«
»Was für eine Botschaft?« Sie überlegte, auf welche Probe sie Rorik heute stellen würde. Ihr Gemüt hatte sich immer noch nicht von dem gestrigen Schrecken erholt. Obwohl die acht Opfer Roriks am frühen Morgen sich in einigermaßen guter Laune nach Hause begeben hatten – dankbar, daß sie noch am Leben waren –, quälte sie weiterhin die Erinnerung an die Peitschenhiebe.
»Rorik bittet Euch, Eure Lumpen ausziehen. Eure Mägde sollen Euch die schönsten Gewänder anlegen. Er befiehlt Euch, heute abend mit den Edelleuten bei Tisch zu speisen.«
Alaine sah den alten Mann überrascht an, dann verzog sich ihr Mund zu einem bitteren Lächeln. »Was soll das heißen? Mägde dienen einer Leibeigenen? Rorik speist zusammen mit einer schmutzigen Küchenmagd? Gewiß irrt Ihr Euch, Sir Oliver.«
Oliver hob die Brauen. »Das ist kein Irrtum, Mylady. Ich rate Euch, streift diese bittere Rolle ab, die Ihr Euch auferlegt habt und nutzt seine gute Laune aus.«
Alaine stemmte die Hände in die Hüften und sah Oliver prüfend an. »Was hat er für einen Grund genannt?«
»Keinen Grund.« Als sie ihn weiterhin eindringlich ansah, begann er unruhig von einem Bein zum anderen zu treten. »Kommt schon, Kind. Nehmt den Sinneswandel des Herrn mit vertrauensvollem Herzen an. Vielleicht ist er zu dem Schluß gekommen, daß Eure Strafe beendet ist. Freut Euch!«
»Was heißt hier schon mit vertrauensvollem Herzen!« murmelte Alaine vor sich hin und wandte sich ab, um das Feuer unter dem Kessel zu schüren. Was immer Rorik vorhatte, sie war sicher, daß es ihr nichts Gutes verhieß.
»Hilda!« Sir Oliver rief die plumpe kleine Haushälterin zu sich, als sie in den Saal trat. Er war dankbar, seine halsstarrige Herrin jemanden anderen überlassen zu können. »Kümmere dich um unsere Herrin. Sie soll heute abend mit dem Herrn speisen.«
»Das hat man mir auch gesagt.« Hilda entblößte einen Mund voller halbverotteter Zähne zu einem seligen Lächeln. »Es war schon höchste Zeit, daß dieses großes Ungeheuer zur Vernunft kommt. Wie schön, Euch wieder auf dem rechtmäßigen Platz zu sehen, meine Herrin.«
Alaine machte ihrem Ärger auf die beiden mit einem Seufzer Luft. »Er spielt nur ein Spiel. Er wird mir heute abend bei Tisch einige Demütigungen an den Kopf werfen, und wenn er seinen Spaß gehabt hat, finde ich mich wieder auf meinem Strohlager in der Küche.«
»Nein, meine Herrin«, antwortete Hilda. »Sir Rorik mußte Euch eines Tages wieder Euren rechtmäßigen Platz zurückgeben.« Wieder zeigte sie ihr Grinsen voller schwarzer Zähne. »Und mit Verlaub, Ihr seid keine besonders gute Magd. Ich bin froh, Euch wieder auf dem Podium zu sehen, wo Ihr hingehört!«
Alaine wurde ins Gemach bugsiert, das sie einst mit Gunnor und Mathilde geteilt hatte. Ihre Haarbürsten und Kämme lagen noch alle auf dem Tisch neben dem großen Bett, so wie Alaine sie an jenem Tag – eine ganze Ewigkeit war es her – hingelegt hatte, ehe sie an dem kalten, dunklen Morgen ans Grab ihres Vaters gegangen war.
Hadwisa prüfte schnüffelnd eine Auswahl feiner Öle, um zu entscheiden, welches sie für das Bad ihrer Herrin verwenden sollte.
»Was zieht Ihr vor, mein Lämmchen?«
Sie bot die Öle Alaine dar, die aber wies sie ungehalten mit einer Handbewegung von sich.
»Ich lasse mich nicht mit Ölen und Wohlgerüchen präparieren wie ein Schlachtopfer für seine allmächtige Herrlichkeit. Wenn ihm mein Geruch nicht paßt, kann er mich zurück in die Küche schicken.«
Aber trotz ihrer Einwände fühlte sich das Bad wunderbar an. Sie genoß es, wie schon lange nichts mehr im Leben. Das dampfend heiße Wasser lullte sie fast in den Schlaf, und der zarte Rosenduft des Öls ließ sie beinahe die Gerüche, den Schmutz und die Plackerei der Küche vergessen. Sie spielte in Gedanken durch, wie groß Roriks Zorn auf sie wohl wäre, wenn sie einfach zum Abendessen nicht erschiene und den restlichen Abend in dem köstlichen heißen Bad verbrächte. Da vernahm sie die flötende Stimme Mathildes, die sie aus ihren Träumereien riß.
»Oh, Alaine! Ist es nicht wunderbar? Ich wußte, daß er nicht so grausam sein würde, dich für immer in die Küche zu verbannen!«
Alaine öffnete ein träges Auge und warf ihrer Stiefschwester einen nicht gerade sehr freundlichen Blick zu. Sie wollte die Atempause so lange wie möglich auskosten und nicht dem Geplapper Mathildes lauschen, so sehr ihr das Mädchen auch ans Herz gewachsen war.
»Hilda gab mir Bescheid, daß du hier oben bist, also bin ich gekommen, dir beim Anziehen und Frisieren zu helfen. Oh, ich bin ja so aufgeregt!«
»Mmmph!« Alaine versank tiefer in den Zuber.
»Ach, Alaine! Deine Hände! Wie abscheulich!« Sie ergriff eine der Hände Alaines, die am Zuberrand lag, und stieß beim Anblick des Schmutzes unter den Fingernägeln und in den Hautrillen einen Entsetzenschrei aus. »Oh! Wir müssen dringend dagegen etwas unternehmen! Und deine Haare! Ohhh!« beutelte es sie. »Es würde mich nicht wundern, wenn du auch noch Flöhe hättest!«
Alaine seufzte gottergeben. Die Zeit der Erholung war nun offensichtlich vorbei.
»Hadwisa«, fragte Mathilde mit zierlich gekräuselter Nase, »wo sind die Kleider, die sie getragen hat?«
»Ich habe sie verbrannt«, antwortete Hadwisa. »Man kann nie wissen, welches Ungeziefer sich darin eingenistet hat.«
»Ach, hört doch auf, ihr beiden«, befahl Alaine. »Ich habe mich jeden Tag mit dem Wasser gewaschen, das ich eigenhändig aus dem Brunnen gezogen habe, was ich von den meisten Küchenmägden nicht behaupten kann. Sie haben kaum die Zeit, zu essen und zu schlafen, und schon gar nicht, um sich zu baden. Versuch du mal, dich sauber zu halten, wenn du ein paar Tage in der Küche gearbeitet hast!«
Als Antwort drückte Hadwisa ihr den Kopf unter Wasser und begann zu schrubben, bis jede Haarsträhne vor Sauberkeit quietschte.
»Viel besser!« rief Mathilde, als Alaine aus dem Bad stieg und sich von einer der Mägde aus der Schar, die von Hadwisa ständig aus dem Gemach rein- und rausgejagt wurden, mit einem Handtuch umwickeln ließ.
Sie schwelgte im Hochgenuß, als die alte Amme ihr Haar vor dem Feuer trocknete. Mathilde gab schnalzende Laute von sich und kommentierte die Gewänder, die von einer der Mägde aufs Bett ausgebreitet worden waren.
»Ist das alles, was du besitzt, Alaine?« fragte sie schließlich.
Alaine grinste sie keck an. »Ich ziehe Tunika und Hosen vor.«
Verzweifelt runzelte ihre Stiefschwester die Stirn. »Nun, dann muß wohl dieses herhalten.« Sie hielt das kostbar bestickte Untergewand und Gewand in die Höhe, das Alaine zur Begrüßung des Eroberers Gilbert getragen hatte und das beinahe ihr Hochzeitsgewand geworden war.
»Das nicht«, erwiderte Alaine bestimmt.
»Keines ist so fein«, belehrte sie Mathilde. »Mach keine Schwierigkeiten.«
Alaine schüttelte den Kopf, während die Haarbürste in ihren dichten Locken baumelte. »Du kannst das ebenso ins Feuer werfen. Die Erinnerungen, die daran haften, sind schlimmer als jedes Ungeziefer, die in den Lumpen nisten, die du eben verbrannt hast.«
Das Abendessen war ein festliches Ereignis. Die Nachricht machte die Runde, daß an diesem Abend etwas Besonderes bevorstand. Alle erschienen in ihren besten Gewändern gekleidet. Die Gefolgsmänner Roriks waren überrascht, Alaine in den Gewändern einer vornehmen Dame und zur Rechten ihres Herrn sitzen zu sehen. Verglichen mit den anderen Damen auf dem Podium, war ihre Kleidung schlicht. Sie trug keinen weiteren Schmuck als einen einfachen Stirnreif, der einen duftigen Schleier über ihren schimmernden Locken festhielt. Und doch fragte sich so mancher Mann, der ihr in den vergangenen Wochen wegen ihrer Aufsässigkeit am liebsten an die Gurgel gegangen wäre, wie er sich nur über so ein bezauberndes Geschöpf hatte ärgern können. Besonders der junge Timor konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Er schwor bei sich, daß dies das schönste Fräulein in der ganzen Normandie sei. Seine Speisen wurden unberührt wieder fortgetragen, und er starrte sie in einer so weltvergessener Verzückung an, daß seine Nachbarn an der Tafel kicherten und wieherten und ihn unsanft in die Rippen stießen.
Auf dem Podium wand sich Alaine innerlich angesichts der vielen Blicke, die auf ihr lasteten. Rorik saß ihr zur Linken und war ein Vorbild an Wohlerzogenheit. Er pickte die köstlichsten Happen von den Tellern, die man vorbeitrug, und legte sie ihr auf die Schüssel. Seine Konversation war recht wortkarg aber höflich und enthielt keinerlei Andeutung für seine Gründe, sie plötzlich von einer Leibeigenen zur Dame zu erheben.
Das Abendessen ging zu Ende. Ein Kuchen mit kandierten Früchten wurde als Nachtisch serviert – ein seltener Luxus auf Ste. Claire. Bierkrüge wurden nachgefüllt. Rorik hatte zu diesem besonderen Anlaß ein paar gute Weine für alle diejenigen, die einem feineren Getränk den Vorzug gaben, aus der Speisekammer kommen lassen. Solch ungewohnte Festlichkeit schürte Alaines Mißtrauen noch mehr. Fragend blickte sie zu Joanna hinüber, die an der linken Seite Roriks saß, aber ihre Stiefmutter zuckte nur ahnungslos mit den Achseln. Gereizt lehnte sich Alaine zurück, um das Spiel Roriks zu beobachten. Fast wünschte sie sich, sie wäre wieder in der Küche. Dort kannte sie wenigstens den Unbill, der sie erwarteten.
Der Nachtisch wurde zusammen mit etlichen Krügen kalten Bieres verspeist. Ein Weinkelch stand unberührt vor Alaine. Sie hatte weder Appetit auf Essen noch auf Trinken. Doch dann, als Rorik sich erhob und mit der Hand um Ruhe bat, hatte sie das plötzliche Bedürfnis, das Getränk in einem Zug hinunterzuschütten. »Hört mich an! Alle!« begann er ohne jegliche Vorbemerkung. Seine starke Stimme drang bis in die hintersten Winkel des Saales.
Die Tafelnden verstummten erwartungsvoll, mit Ausnahme jener, die schon zu tief ins Glas geschaut hatten und keine Aufmerksamkeit mehr aufbringen konnten.
»Ihr alle, die ihr hier versammelt seid – meine Gefolgsleute und die Mannen von Ste. Claire- wißt, weshalb ich hier bin. Ich bin der rechtmäßige Vicomte von Brix und Oberlehnsherr von Ste. Claire. Es ist daher sowohl meine Pflicht als auch mein Recht, nach dem Tod des treuen Sir Geoffrey diese Burg, das Land und die Dörfer zu beschützen, bis ein Gemahl für seine Erbin auserwählt worden ist – der bezaubernden Lady Alaine.«
Er wandte sich ihr lächelnd zu, seine smaragdfarbenen Augen funkelten vor Schalk und noch etwas anderem, das gewiß nichts Gutes verhieß. Krampfhaft umklammerte sie die Stuhllehne. Ohne Zweifel hatte er vor, sie zu verheiraten und dadurch die Dienste eines unbedeutenden Barons und seiner Mannen zu erwerben. Das hätte sie sich denken können. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie zwang sich jedoch, eine ruhige und würdige Miene aufzusetzen. Vor diesem Schurken würde sie sich nicht bloßstellen und ihm einen Grund geben, sie noch mehr auszulachen. Stolz hob sie das Kinn und blickte in die Menge. Sie erwartete mit innerlichem Bangen die nächsten Worte Roriks.
»Es liegt in meiner Verantwortung, mich darum zu kümmern, daß Sir Geoffreys Tochter an einen Mann vermählt wird, der dieses Land und sie wohl zu behüten weiß. Bei so einem lieblichen Fräulein, das meinen Schutz genießt«, an dieser Stelle wurde unter Roriks Leuten vereinzelt ein Kichern laut, die Alaine besonders kratzbürstig erlebt hatten. Ein finsteres Zusammenziehen von Roriks Brauen schaffte sogleich wieder ein ehrfürchtiges Schweigen im Saal. »Bei einem so lieblichen und schönen Fräulein, das meinen Schutz genießt«, wiederholte er mit fester Stimme, »fiel die Entscheidung nicht schwer.«
Kein Husten oder Kichern unterbrach die erwartungsvolle Stille. Ein Schauder der Angst lief ihr eiskalt über den Rücken, den sie versuchte, besonders gerade zu halten.
»Das Aufgebot wird morgen auf das Portal der Dorfkirche angebracht. In drei Wochen ist Lady Alaine meine Frau.«