22
Alaine schrie auf, als der Bolzen durch Roriks Rüstung in seinen Rücken traf. Ehe er auf den Boden aufschlug, hatte sie sich von Sihtrics Griff losgerissen und war in die Arena gestürzt.
Ritter und Knappen die zu ihrem am Boden liegenden Herrn geeilt waren, machten ihr mit betretenen, mitleidigen Blicken Platz. Sie kniete sich auf die aufgestampfte Erde, ohne ihre Umgebung zu beachten. Dunkel merkte sie, daß Phillip verschwunden war. Irgendwo in ihren Gedanken hegte sie die undeutliche Hoffnung, er wäre tot. Doch das alles war jetzt nicht von Belang. Jetzt zählte einzig und allein das aschgraue Antlitz ihres Mannes und die blutgetränkte Pfeilspitze, die abscheuerregend aus seinem Schlüsselbein hervorstak. Leise Zuversicht leuchtete in ihren Augen auf, als sie seine Brust in flachen, unregelmäßigen Atemzügen auf- und niedersinken sah. Behutsam legte sie die Hand auf seine Wange. Angestrengt öffnete er die Augen, schloß sie dann wieder, um sie erneut zu öffnen.
»Rorik! Oh, Rorik! Zum Teufel mit Euch!« knirschte sie leise, so daß nur er sie hören konnte. »Geht nicht von mir, Ihr schrecklicher Kerl! Ihr werdet es noch bereuen, wenn Ihr es wagt! Das schwöre ich bei allen Heiligen!«
Er schloß die Augen, doch ein Mundwinkel verzog sich zu einem schwachen Lächeln. Seine Lippen formten noch ihren Namen. Dann fiel er in tiefe Bewußtlosigkeit.
»Sihtric …!« stieß Alaine hervor und packte seine Pranke, die auf ihrer Schulter ruhte. »Er ist …«
Sihtric stellte sie auf ihre Füße. »Nein, ist er nicht, Mädchen.« Der Brustton der Überzeugung, mit der der Nordmann dies äußerte, ließ keinerlei Zweifel zu. »Ihm ist nur das Tageslicht ausgepustet worden. Man könnte sagen, er ruht ein wenig. Wir werden diesen kleinen Bolzen im Handumdrehen rausgezogen haben. Ehe Ihr es Euch verseht, wird er uns allen wieder Ärger bereiten. Nun, macht diesmal, was ich Euch sage und geht zurück ins Zelt. Wir können ihn dort verarzten.«
Alaine schluckte ihre Tränen hinunter und folgte Sihtric, der, ungeachtet seiner jüngsten Wunde, Rorik über seine Schultern legte und ihn vom Gelände forttrug, als wäre er ein Federgewicht.
»Schickt jemanden nach der Zange des Schmieds«, befahl Sihtric. »Und seht zu, daß heißes Wasser auf dem Feuer dort gemacht wird. Jemand muß es kräftig schüren. Wir werden das Wasser sehr bald brauchen.« Er sah plötzlich hoch. »Ihr werdet mir doch nicht ohnmächtig? Ich dachte, Ihr würdet Lady Joanna auf Ste. Claire beim Heilen und Pflegen zur Hand gehen.«
Alaine unterdrückte die Übelkeit, die ihr beim Anblick ihres leichenblassen Mannes mit dem blutgetränkten Pfeil in der Brust aufstieg. Doch niemand konnte sie von Roriks Seite wegbringen, als Sihtric sich mit der schweren Zange daranmachte, den Bolzen aus dem Muskelfleisch und dem Knochen herauszuziehen. Sie biß die Zähne zusammen und durchlitt Höllenqualen. Sie hielt eine leblose Hand ihres Mannes in beiden Händen. Der Kranke erlebte ein plötzliches Erwachen, als Sihtric den blutigen Bolzen aus seinem Körper riß. Sein Schmerzensschrei brachte das Zelt beinahe zum Einstürzen. Alaines Hände waren noch Tage danach von seinem verzweifelten Griff blau angelaufen.
Mit einem Grinsen hielt Sihtric den blutigen Bolzen vor Roriks aufgesperrte, trüb schimmernde Augen. »Ich sehe, deine Lunge arbeitet noch, mein Junge. Vielleicht überlebst du doch.«
Rorik überlebte, aber seine Genesung schritt nur langsam voran. Zwei Tage nach dem Kampf legte man ihn in das herrschaftliche Gemach im Großen Saal. Die meiste Zeit war er nicht bei Bewußtsein. Im Wachen versetzten Phantasmagorien aus den tiefsten Tiefen seiner Seele ihn in Raserei. Alaine erlaubte niemandem, ihn zu pflegen. Erst als sie zusammenbrach und Sihtric sie in eine andere Kammer trug, war es einer eifrig bemühten Hadwisa erlaubt, ihren Platz einzunehmen.
Während Rorik im herrschaftlichen Gemach darniederlag und zwischen dieser und einer anderen Welt schwebte, berieten sich Sihtric und Sir Gunnulf über den besten Weg, das Leben auf Brix wieder in geregelte Bahnen zu lenken. Phillip war ihnen während des Aufruhrs durch Roriks Verletzung entkommen. Der unglückselige Knappe, der Phillip als Handlanger gedient und die Armbrust gehandhabt hatte, war geschnappt und auf der Stelle erhängt worden. Roriks Gefolgsmänner waren wenig erfreut, ihren Herrn durch einen so feigen Anschlag niedergestreckt zu sehen. Der Tod des Knappen konnte ihre erregten Gemüter nicht beschwichtigen. Feindliche Gefühle schwellten unter Roriks Heer und den restlichen Kämpen von Brix. Kleine Handgemenge brachen immer wieder aus. Es hatte mindestens schon drei Tote gegeben – einen aus Roriks Gefolgschaft und zwei Männer, die Fulk und Phillip gedient hatten.
Sihtric und Gunnulf griffen mit harter Hand durch. Ein Bote wurde zu Herzog William geschickt, der ihm einen Bericht der Ereignisse abstattete und die Bitte vortrug, Phillip als Geächteten zu deklarieren. Die Geplänkel hörten sofort nach Sihtrics Warnung auf, die nächsten Unruhestifter, die er beim Streiten erwischte, sofort aufknüpfen lassen, was er auch prompt in die Tat umsetzte. Den Überlebenden von Phillips Heer wurden, unter der Bedingung, daß sie Rorik als ihren rechtmäßigen Herrn anerkannten, die Strafe erlassen.
Alaine erfaßte nur am Rande, was um sie herum geschah. Roriks Gemach war jetzt ihre Welt. Zweimal am Tag wechselte sie den Breiumschlag auf seiner Wunde und entfernte das tote und verfaulte Gewebe. Fünf Tage nachdem er ins herrschaftliche Gemach gebracht worden war, hob sie den Umschlag und sah, daß die Wunde gute Heilfortschritte machte. Die Haut hatte eine leicht rosige und gesunde Farbe angenommen. Eine schorfige Kruste bildete sich als Schutz über der Verletzung. Sein Atem ging leichter, wenn auch noch immer etwas flach, und seine Stirn fühlte sich kühl an. Alaine kniete sich hin und verrichtete ein müdes Dankesgebet. Dann klingelte sie nach Hadwisa, zog sich in ihre angrenzende Kammer zurück und schlief rund um die Uhr.
Bald benötigte Rorik Alaines ständige Hilfe nicht mehr. Ihr Mann verbrachte nun die Tage in ruheloser Schlaflosigkeit. Sie fühlte sich unbehaglich unter seiner ständigen Beobachtung. So widmete sie all ihre Kraft Brix, eine gute Burgherrin zu sein, gerade so, als hätte sie die Gewißheit, daß Rorik sie neben sich behalten würde. In Wahrheit war sie sich gar nicht sicher, ob Rorik dies auch vorhatte. Rorik erklärte ihr, Brix sei nun ihr Zuhause, doch wagte sie nicht bei dem unbeständigen Temperament ihres Mannes, irgend etwas vorauszusagen. War sie mit ihm allein, bekamen seine Augen einen warmen Glanz, verriet sein Lächeln ein verstecktes Glück. Nie erwähnte er die Nacht heftiger Leidenschaft vor dem Zweikampf. Auch kam er nie mehr auf ihr kleines Täuschungsmanöver mit ihrem Kind zu sprechen, noch erwähnte er ihren vermeintlichen Betrug mit Gilbert de Prestot. Sie konnte seine Gedanken nicht ergründen. Das machte sie unruhig. Und sie übertrug diese Unruhe auf Brix.
Nach einem besonders anstrengenden Tag, den sie mit Hilda bis abends in den Vorratskammern verbracht hatte, schlüpfte Alaine wortlos zu ihrer Bettstelle und warf sich erschöpft hin, zu müde, sich ihrer Gewänder zu entledigen.
»Ihr arbeitet zu viel«, erklang eine Hüsterstimme aus dem Himmelbett. Rorik schwang seine wackligen Beine über die Bettkante und betrachtete sie mit einem Lächeln. »Ihr seht zu geschwächt aus, um auch nur einen Finger zu rühren.«
Alaine sah ihn aus schläfrigen Augen an. »Ich sehe geschwächt aus?« schnaufte sie halb empört. »Und wie seht Ihr aus?«
Er grinste. Das milchige Mondlicht flutete durch das Fenster und gab ihm die Gestalt eines langen, geisterhaften Schattens, als er sich erhob und auf ihre Bettstelle zustrebte. Sie fuhr erschreckt hoch.
»Ihr solltet nicht aus dem Bett steigen!«
»Ich bin schon seit einer Woche auf meinen eigenen zwei Beinen. Wahrscheinlich bin ich gesünder als Ihr.«
Er war splitterfasernackt und zeigte tatsächliche deutliche Zeichen seiner wiedergewonnen Kraft. Das Blut schoß ihr ins Gesicht. »Marsch zurück ins Bett!« befahl sie und versuchte so gut sie konnte, ihrer Stimme Nachdruck zu geben.
Er überhörte sie und setzte sich statt dessen auf ihre Bettstelle. »Warum schlaft Ihr immer noch hier?«
Verdattert durch seine schroffe Frage, war sie um eine Antwort verlegen. »Ich … meine Gemächer sind kalt«, erwiderte sie aus dem Stegreif.
Er hob leicht belustigt die Brauen. »Ich meine, warum schlaft Ihr nicht im großen Bett mit mir? So zerbrechlich bin ich nicht, daß ich mich verletzen würde, wenn Ihr Euch im Bett hin und her werft.«
So schlüpften sie beide unter die Decken und lagen Seite an Seite. Jeder genoß dabei den ungewöhnlichen Frieden zwischen ihnen. Schließlich nahm er ihre Hand und legte sie dorthin, wo seine frisch erwachte Begierde wider alle Vernunft sich heftig regte.
»Meint Ihr, wir könnten etwas dagegen tun?« fragte er.
»Wißt Ihr denn nicht, daß Ihr noch schwach und krank seid?« rügte sie ihn.
»Bin ich das?« Sein Lächeln hätte einen Kieselstein erweichen können.
»Ja, das seid Ihr«, erwiderte sie. »Und Ihr seid der Teufel in Person, solche Gedanken zu denken, kaum daß Ihr dem Tod entronnen seid.«
»Und Ihr seid eine Hexe, die jedem Mann noch auf seinem Totenbett mit Wollust erfüllen könntet.«
Darauf schenkte sie ihm ein verführerisches Lächeln. Sie fühlte sich stark, fraulich, und vor allem begehrt. Wortlos kniete sie sich hin, setzte sich rittlings auf ihn und führte sein steifes Glied tief in sich hinein. Aufseufzend packte er sie an den Hüften. Er bewegte sie sanft hin und her, bis sie langsam auf seine breite Brust niedersank. Seine Hände fuhren besänftigend über die samtige Haut ihres Rückens. Sie lagen in stummer Vereinigung, bis die Natur ihren Lauf nahm. Als sie sich wieder an seine Seite schmiegte, neigte er den Kopf zu ihr herab und preßte seine Lippen gegen ihre.
»Alaine«, flüsterte er. »Ihr seid eine gute Frau.«
Sie lächelte und fiel sogleich in tiefen Schlummer.
Die darauffolgende Woche wurde schwierig. Rorik war schlecht gelaunt und ruhelos. Zwar fühlte er die Kraft wieder in seinen Körper zurückkehren, doch reichte sie nur so weit, innerhalb seines Gemachs auf und ab zu stapfen, oder im Bett zu liegen und den bedauernswerten Sihtric und Sir Gunnulf mit Fragen zu löchern, wie sie wohl gedachten, Brix und seine Ländereien zu beschützen. In scharfem Ton bemängelte er Alaines hohle Wangen und beschuldigte sie, sich achtlos zu verausgaben und dabei ihre und die Gesundheit des ungeborenen Kindes aufs Spiel zu setzen. Er schlug vor, Joanna und ihre Töchter kommen zu laßen, um ihr bei der Haushaltsführung auf der Burg Hilfe zu leiten. Sofort sandte er höchstpersönlich einen Boten nach Ste. Claire.
Dieser Mann war nicht der gleiche Rorik, der von Ste. Claire auf einen Rachefeldzug aufgebrochen war – nicht der gleiche Rorik, der sie jede Nacht mit kalter Leidenschaft genommen hatte und ihr jeden Tag mit eisiger Verachtung begegnet war. Dieser Rorik schien auf dem Kampffeld durch Phillips tückischen Bolzen gestorben zu sein. Ein gnädiger Gott hatte an seine Stelle einen Rorik geschickt ohne die tiefschwarze Bitterkeit in seiner Seele. Es war ein Traum, zu schön, um wahr zu sein. Sie wollte auch keinerlei Fragen stellen. Doch schließlich tat sie es doch.
»Ich habe mich nicht verändert«, stritt er mit einem trockenen Lächeln ab und blickte auf sie herab, als sie in seinen Armen lag. Kerzenlicht malte unheimliche Schatten auf ihr Gesicht. »Ich bin ans Ende einer langen und traurigen Reise angelangt. Nun habe ich meinen Frieden gefunden – Frieden mit Brix, Frieden zwischen uns. Ich möchte die Vergangenheit auslöschen und von vorn anfangen.«
Dann nahm er eine goldene Haarsträhne und wickelte sie gedankenverloren um seinen Finger. »Ich bin hart zu Euch gewesen«, gestand er. »Vielleicht habt ihr das auch verdient. Doch manchmal denke ich, wohl nicht. Ich bin ein schwieriger Mann für eine Frau, und Ihr ward jung und unerfahren. Vielleicht habe ich Euch in Gilberts Bett getrieben.«
Sie wollte protestieren, doch er legte einen Finger auf ihren Mund.
»Sagt nichts«, befahl er. »Ich möchte keine weitere Lüge oder Entschuldigung hören. Die Tat ist verziehen. Alles was ich jetzt will, ist Friede.« Dabei wollte er ihr noch so viel mehr sagen –, daß er sie liebte, trotz allem. Daß er wußte, welche Zuneigung sie für ihn empfand, und daß dies seine Welt vollkommen machte. Doch konnte er sich nicht dazu überwinden, diese Waffe in ihre Frauenhände zu legen.
Alte Feindseligkeiten vergehen nur langsam. Einige, so vermutete er, vergingen wohl nie.
Der Frühling ging langsam in den Sommer über. Die Wiesen prangten mit bunten Blumen. Die Früchte reiften heran und hingen schwer und süß an den Bäumen. Die ganze Erde erblühte zum Leben. Auch Alaine. Joanna und ihre Familie waren alsbald gekommen, in Begleitung von Hilda und Hadwisa, und es gelang dieser einzigartigen Dame, das Gesinde auf Trab und Burg und Stall in geordneten Zustand zu bringen. Alles klappte jetzt wie am Schnürchen. Bald war Alaine wieder zu Kräften gekommen. Ihre sanften Rundungen hielt sie nicht von ihrem täglichen Ritt ab, um die Getreidefelder zu begutachten, einen Schwatz mit den Dorfbewohnern und Bauern zu halten und auf das Wohlbefinden dieser Menschen zu achten, denen sie sich nun zugehörig fühlte. Manchmal ritt Rorik mit ihr aus. Seine Kräfte kehrten zurück. Die Ringe unter seinen Augen waren verschwunden, und die Blässe wich in der Sonne langsam einer bronzenen Farbe. Seine Stimmung war heiter wie der Sommertag. Brix gehörte ihm. Alaine war sein, und bald wäre der Bestand seiner Familie durch einen Erben gesichert. Rorik war bereit, die Vergangenheit zu vergessen und in die Zukunft zu blicken – doch gab es da noch einen dunklen Punkt.
Theoda. Roriks Mutter geisterte durch die Burg wie ein scheues Gespenst. Sie kam und ging durch die Gemächer, ein verhärmtes, irrlichterndes Wesen mit strähnigen, grauen Haaren und den unruhigen Augen eines Vogels. Sie hatte Todesangst vor ihrem letzten überlebenden Sohn und huschte wie eine Ratte in ihr Versteck, wann immer sie seine Stimme vernahm. Rorik schenkte ihr keinerlei Beachtung und wandte beim Anblick ihrer hexenartigen Gestalt das Gesicht zur Seite. Doch Alaine empfand Mitleid für sie. Die Dienerschaft erzählte sich, sie habe unter Fulk großes Leid erdulden müssen. Und Sihtric zufolge hatte sie versucht, Phillip davon abzuhalten, Rorik auf unritterliche Weise mit dem Messer anzugreifen. Alaine konnte nicht umhin zu glauben, Theoda habe ihre Söhne geliebt. Ihr verzweifelter Versuch, den Mißhandlungen ihres Mannes zu entkommen, hatte ein tragisches Ende gefunden. All die Jahre lag der Tod ihrer Familie als schwere Last auf ihrer Seele. Kein Wunder, daß diese Frau nun halb dem Wahnsinn verfallen war.
Doch Rorik weigerte sich, mit dieser ungelösten Frage sich auseinanderzusetzen. Immer wenn er seine Mutter erblickte, stieg der alte Zorn in ihm hoch. Brachte Alaine das Gespräch auf Theoda, wurde seine Miene kalt und abweisend. Die Hündin bekommt ihre Mahlzeiten und einen Platz zum Schlafen, knurrte er. Sie sollte sich glücklich wähnen, nicht seine Hände an ihrer Kehle zu spüren.
So machte sich Alaine daran, dem Drachen eigenmächtig diesen Dorn zu ziehen. Sie suchte ein wohlhabendes Kloster in Cherbourg aus, in dem Theoda – ausgerüstet mit einer beträchtlichen Geldsumme – untergebracht werden konnte. Die Nonnen waren im Umgang mit gemütskranken Menschen geübt, und Rorik würde der täglichen Belastung entledigt sein, Theoda unter seinen Augen und in aufreizender Nähe seiner Hände zu haben.
Alaine erklärte Rorik, welche Schritte sie eigenhändig unternommen hatte, was er nur mit dürren Worten zur Kenntnis nahm. Das faßte sie als Zustimmung auf und erteilte der ehemaligen Herrin des Saals eine angemessene Eskorte. Dann verabschiedete sie sich von ihr. Noch ehe sie aufbrach, ergriff Theoda Alaines Hand. Die Augen blickten verständig, wenn auch nur für eine kurze Zeit.
»Frau meines Sohnes«, flüsterte sie heiser. »Ich bin eine gottlose Frau. Die Hölle hat für mich schon lange begonnen. Meine Söhne verfluchen mich aus ihrem Grab, und der einzige, der am Leben geblieben ist, denkt von mir niemals als seiner Mutter. Doch um seinetwillen bete ich, daß er mir eines Tages verzeihen kann und mich ein wenig verstehen lernt.« Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie die Spinnweben des Wahnsinns zerreißen. »Sagt ihm, ich flehe Euch an, ich habe es nie gewollt, daß auch nur einer von ihnen stirbt.«
Alaine nickte lediglich. Theoda senkte die Augen wieder zu Boden. Dann ritt sie aus dem Tor hinaus ohne sich noch einmal umzublicken.
Der goldene Sommer hielt weiter an. Das Getreide reifte und gedeihte wie schon seit zwei Jahren nicht mehr. Der Garten hinter den Mauern des Großen Saals brachte eine satte Fülle von Kirschen, Birnen, Pfirsichen, Erbsen, Zwiebeln, Rüben und Kohl hervor. Niemand würde im kommenden Winter Hunger leiden, weder auf der Burg noch im Dorf. Die Erde war wieder fruchtbar. Die Sommerregen waren mild und warm. Sogar die See wogte sanft gegen die Felsenklippen von Brix.
Eines Abends zur Dämmerung machte sich Alaine auf den Weg zu den oberen Stallungen, in denen die Streitrösser der Burgritter und ein halbes Dutzend sanftmütige Zelter untergebracht waren.
Es brannte nur eine einzige Laterne, als sie durch die Stalltür schlüpfte. Ihr spärlich flackerndes Licht konnte die Dunkelheit kaum vertreiben. Sofort zündete Alaine eine zweite Laterne an und trug sie vor sich her. Ihre kleine Stute wieherte bei ihrem Näherkommen. Lächelnd gurrte Alaine einen zärtlichen Willkommensgruß. Beim Klang ihrer Stimme ertönte vom Heuboden ein dumpfer Schlag. Stroh rieselte herunter, goldglänzend im funkelnden Licht der Laterne.
»Wer da?« fragte Alaine und dachte ziemlich aufgebracht, der Stalljunge hätte eine der Mägde von ihren Pflichten abgehalten, um sich mit ihr im Heu zu vergnügen. Auf Ste. Claire hatte sie sich nicht mit arbeitsscheuem Gesinde herumschlagen müssen.
Die einzige Antwort war Stille. Alaines Zorn wuchs. Sie entdeckte eine Leiter, die gegen einen Stein gelehnt stand. Wenn der Stalljunge wieder seine Pflichten vernachlässigte, würde sie ihm die Ohren langziehen.
Ein Rascheln und Rumpeln folgte, was wiederum eine Strohwolke von oben heruntersegeln ließen. Doch das war alles, was sie zu hören bekam. Also hing sie die Laterne an einen Haken und kletterte hinauf. Der schrille Schrei einer weiblichen Stimme empfing sie, als sie ihren Blick auf den Heuboden heftete. Die breiten Schultern eines Mannes, an dessen Rücken zahllose Heugräser klebten, war alles, was sie entdecken konnte. Sie runzelte die Stirn. Dillon, der Stalljunge, verfügte jedenfalls nicht über derart kräftige Schultern.
Sie trat auf den Heuboden, die Hände in die Hüften gestemmt und ungeduldig mit einem Fuß auf den Boden tappend. »Wer zum Henker …?«
Mit einem Seufzer straffte der Mann die Schultern und drehte sich um. Garin! Garin wälzte sich im Heu! Das Herz der armen Mathilde würde brechen, wenn sie es erführe. Dann tauchte das weiße Gesicht der armen Mathilde auf, das hinter dem Schutz von Garins Körper hervorlugte. Alaine klappte den Mund auf.
»Oh, Alaine!« jammerte Mathilde. »Es ist nicht … es ist nicht …« Ihre Worte erstickten in einer Flut von Tränen.
Alaine starrte auf Garin. Ihr treuer Freund! Ihr Herzensbruder! Machte sich an die arme, unschuldige Mathilde heran auf einem gewöhnlichen Heuboden!
»Ihr erbärmlicher Schurke!« zischte sie. »Das hätte ich nie gedacht! Wie konntet Ihr nur …!«
Mit überraschender Heftigkeit warf sich Mathilde vor Garin. Alaine, die zu einer Ohrfeige für Garin ausgeholt hatte, hielt mitten in der Luft inne.
»Wag es nicht, ihn zu schlagen, Alaine!« quietschte Mathilde aufgeregt.
»Geht zurück in den Saal!« befahl Alaine und wies mit einem herrischen Finger in Richtung Leiter.
»Das werde ich nicht. Wir haben nur …!«
»Ich weiß, was ihr gemacht habt! Geht zurück in den Saal!«
»Nein!« Mathilde reckte trotzig das Kinn hoch.
Nie hätte Alaine gedacht, daß ihre sanfte, scheue Stiefschwester so viel Mumm besäße. Sie wandte ihren Blick zu Garin, der wenigstens angemessen einfältig dreinsah. »Wißt Ihr, was Rorik mit Euch anstellen würde, wenn er Euch so erwischte? Mathilde ist seine Schutzbefohlene. Sie steht unter seiner Obhut. Wie konntet es Ihr nur wagen …?«
»Ich würde alles für Mathilde opfern«, seufzte Garin. »Das Leben hat ohne sie keinen Sinn.«
»Dummes Zeug!« gab Alaine zurück. »Geht zurück in den Saal. Mit Euch werde ich später ein Hühnchen rupfen. Und klopft das Stroh von Euren Kleidern ab.«
Garin war klug genug, ihrer Aufforderung nachzukommen. In seiner Abwesenheit verwandelte sich Mathildes Aufmüpfigkeit in ein Tränenmeer. Alaines Zorn legte sich beim Anblick des verzweifelten Mädchens.
»Oh, Mathilde«, seufzte sie. »Was hast du da getan?«
»Wir haben nichts getan!« schluchzte Mathilde. »Ich liebe ihn ja so sehr! Ich wollte … Ich wollte, daß er das tun würde, was ein Mann mit einer Frau macht. Aber er wollte nicht!« jammerte sie. »Er sagte, wir müßten warten«
»Na, wenigstens hat Garin einen Funken Verstand, wenn schon nicht du!« Garin stieg wieder etwas in ihrer Meinung. »Hast du überhaupt eine Ahnung, mit was du da gespielt hast?«
»Wenn ich ein Kind bekommen hätte, dann müßte Rorik uns vermählen!«
Alaine zog tief Luft durch die Nase. »Sei nicht dumm. Wenn du ein Kind bekommen hättest, könnte Rorik alle möglichen Dinge mit dir unternehmen, statt dich mit Garin zu vermählen! Und keines dieser Dinge wäre allzu angenehm ausgefallen!«
Mathilde sank laut aufschluchzend aufs Stroh und machte keinerlei Anstalten, sich die Tränen fortzuwischen. »Du hast es versprochen!« jammerte sie. »Du hast versprochen, mit ihm über unsere Sache zu sprechen.«
Alaine bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hatte genug Sorgen gehabt. Mathildes Sorge hatte sie stets vor sich hergeschoben. Es stimmt, sie hatte es ihr versprochen. »Ich sagte dir schon, wir müssen auf den richtigen Zeitpunkt warten.«
»Der Zeitpunkt ist jetzt!« schnüffelte Mathilde laut. »Ich werde alt und unfruchtbar, ehe du dich entschließt, mir zu helfen!«
»Ach, Mathilde!« erwiderte Alaine leicht ungeduldig. »Du weißt, daß ich helfen will. Aber wenn ich Rorik frage, und er sagt nein, dann ist alle Hoffnung dahin. Ich will nur abwarten, bis er in der richtigen Stimmung ist.«
»Wenn er nein sagt, bringe ich mich um!« erklärte sie hitzig und warf Alaine ihren gekonntesten Märtyrerblick zu. Doch eine triefende Nase und verquollene Augen beeinträchtigten die Wirkung.
Alaine lachte laut heraus. »Nein, das wirst du nicht, du Gänschen.« Ihr Zorn war ebensoschnell verfolgen, wie er gekommen war. »Komm schon. Wir müssen in deine Kammer schleichen, damit niemand dein Gesicht und diese Kleider sieht. Du siehst aus, als hättest du dich mit deinem Liebsten im Heuboden getroffen, meine liebe Schwester.«
Seufzend folgte Alaine Mathilde die Leiter hinunter. Als hätte sie nicht schon genug Schwierigkeiten, ihren eigenen Ehemann für sich zu erobern! Jetzt mußte sie wohl auch noch einen Mann für Mathilde gewinnen.