3
Bevor Sandro ins Obergeschoss zum Ehrwürdigen
gehen würde, warf er noch einen Blick in den Speisesaal. Es war
offensichtlich, dass Ignatius kurz vorher dort gewesen war und das
Nötigste mitgeteilt hatte. Die Gäste waren fortgeschickt worden,
und die Mitbrüder knieten vor dem Kreuz und beteten für die Seele
des Toten. Zufrieden stellte Sandro fest, dass dort, wo Johannes
gesessen hatte, die Speisen von Doktor Pinetto abgeräumt worden
waren.
Er wollte sich gerade abwenden, als er von der
geöffneten Seitentür her, dort, wo es zur Küche ging, ein
Schluchzen vernahm, das Schluchzen einer Frau, das augenblicklich
sein Mitleid erregte. Unmöglich für ihn, es einfach zu ignorieren.
Es zog ihn an, und obwohl er sich in Erinnerung rief, dass der
Ehrwürdige auf ihn wartete, gab er dem Drang nach, diesem Ruf der
Traurigkeit zu folgen.
In der Küche angekommen, blickte er auf jene Frau,
die vorhin geholfen hatte, die Speisen aufzutragen. Sie sah ihn
nicht. Sie saß auf einem Schemel vor einem fleckigen Holztisch, auf
dem ihre schweren Arme ruhten. Ihr Körper zuckte bei jedem
Schluchzen.
»Ich bin Bruder Sandro«, sagte er und setzte sich
neben sie.
Langsam hob sie den Kopf. Ihr Gesicht glänzte
feucht und war vom Weinen verquollen.
»Giovanna«, schluchzte sie, und erneut zuckte ihr
korpulenter Körper. »Soll ich dir Kräutersud machen, Bruder
Sandro?«
»Nein, danke.«
»Doch, doch, ich kann auch einen brauchen.« Sie
stand auf, und Sandro lächelte, als sie mit geübten Handgriffen die
Zutaten zusammensuchte. Sie war eine Mama, wie man sie sich
wünschte - und wie halb Rom eine hatte: immer um das Leibeswohl der
Schützlinge besorgt. So typisch wie ihr Name waren auch ihre
Korpulenz, die schweren, kurzen Beine, der schwarze Haarknoten auf
dem Hinterkopf und die Kraft und Lebenserfahrung, die von Frauen
wie ihr ausgingen.
Giovanna wandte Sandro bei der Zubereitung des Suds
den Rücken zu. Eine römische Mutter, wusste Sandro, zeigt ihre
Traurigkeit nicht gerne, obwohl sie häufig traurig ist. Die vielen
Kinder machen Sorgen, eines ist immer in Schwierigkeiten, und die
Mama versucht, mit einer Mischung aus Herzlichkeit und Strenge die
Familie zusammenzuhalten, gleichsam eine Kapitänin auf rauer See.
Selbst die schwierigsten Söhne wagen kaum, die Autorität der Mama
anzuzweifeln.
»Hast du ihn sehr gemocht?«, fragte Sandro, der
sich sofort auf ihr vertrauliches Du einließ, das bei den
einfacheren Schichten gang und gäbe war.
»Er hatte keine Mutter, weißt du? Das hat er mir
erzählt. Ich finde, jeder Junge seines Alters sollte eine Mutter
haben. Jemanden, der an ihm hängt, an ihn denkt, für ihn betet … Er
hatte keine mehr. Und nun ist er tot. In seinem Alter - das ist
nicht recht. Ich habe neun Kinder, zwei sind tot, eines starb vier
Tage nach der Geburt, ein anderes mit sieben Jahren. Wenn sie
so jung sind, kann viel passieren, die Blattern, das Fieber, die
Unfälle, man ist als Mutter darauf eingestellt. Aber wenn die
Kinder erst einmal fünfzehn Jahre alt sind, denkt man, dass sie es
geschafft haben. Zwischen fünfzehn und dreißig ist das beste Alter:
Die Liebe kommt, die Hoffnung, die Heirat, für manche das
Abenteuer. Sie in dieser Zeit aus dem Leben zu nehmen - wie kann
man da nicht weinen? Sag mir das, Bruder Sandro? Wie kann man da
nicht weinen?«
Giovanna brühte den Sud auf. Noch immer wandte sie
Sandro den Rücken zu.
»Niemand weint um ihn. Alle beten, aber niemand
weint. Ich kannte ihn nicht gut, woher auch, er war ja noch nicht
lange da, und auch ich war erst vier-, fünfmal in diesem Haus. Ich
sah ihn ab und zu, schlug ihm auf die Finger, wenn er an meine
Töpfe ging, um zu naschen … Gestern Abend hat er auch genascht. Er
rannte durch die Küche in den Hof, auf die Latrine, und als er
zurückkam, steckte er seinen Finger in meine Fischsuppe. Ich warf
eine Kirsche nach ihm. Das war das letzte Mal, dass ich … Dio mio.
Er war noch ein Kind. Neunzehn, nun gut. Trotzdem noch ein
Kind.«
Sie stützte sich mit beiden Händen auf einer
Arbeitsplatte ab. Wieder zuckte ihr Körper.
»Weißt du, wie er mich nannte? Mama Giovanna. Mama
Giovanna. Alle Schüler im Collegium nennen mich so: Mama. Wie kann
man da nicht weinen?«
Sie hielt in ihren Bewegungen inne. Sandro ging zu
ihr und legte den Arm um ihre Schultern. »Es ist gut. Weine,
Giovanna. Weine, Mama.«
Sie sah ihn an. Dann glitt der Hauch eines Lächelns
über ihre Lippen. Dass er sie Mama genannt hatte, gefiel ihr.
Sie schob ihm den Becher zu. »Ingwer mit Honig.
Schmeckt unwiderstehlich.«
»Davon bin ich überzeugt.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und eroberte
sich dadurch ein Stück des rauen Wesens zurück, das ihr eigen war.
»Rede nicht, trink.«
Er trank, und als er ihr zulächelte, lächelte sie
zurück. »Du bist der Einzige, der sich bisher in der Küche hat
blicken lassen - außer Birnbaum, der mir kurz gesagt hat, was
passiert ist.«
»Die anderen haben vom Ehrwürdigen die Aufgabe
erhalten, zu beten.«
»Ich weiß, ich weiß. Gebetet wird viel in diesem
Haus. Geholfen hat’s nichts. Keine gute Stimmung hier. Von Anfang
an nicht. Hier ist der Wurm drin. Auch die Schüler sind nicht gerne
hier, außer dem Johannes. Aber der Gisbert und der Tilman, die
haben mich mal zu meiner Wohnung begleitet, als es spät und dunkel
war, und da haben sie mir beide gesagt, dass sie das bevorstehende
Studium nur absolvieren, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Es
liegt kein Segen über diesem Haus, das spüre ich bis in die
Knochen. Du hast doch nicht etwa vor, hier als Lehrer zu
arbeiten?«
»Nein, ich …«
»Das kann ich ja nicht mit ansehen«, unterbrach sie
ihn.
»Was?«
»Wie dünn du bist. Warte, ich gebe dir was zu
essen.«
»O nein, ich …«
»Keine Widerrede.« Sie fischte mit einem riesigen
Löffel in diversen Töpfen nach Speisen, die sie auf eine Platte
legte und ihm vorsetzte. »Zartere geschmorte Nierchen hast du nie
gegessen. Versuch die zuerst.«
»Ich habe ja vorhin schon …«
»Nun zier dich nicht, mein Junge - äh, Bruder.« Sie
lachte. »Iss. Nun iss endlich.«
Er sah auf die Platte hinab, dann streifte sein
Blick nachdenklich über die zahlreichen Töpfe und Pfannen.
»Genau genommen«, sagte er, »wäre es besser, das
alles wegzuwerfen. Johannes wurde vergiftet, und wir wissen noch
nicht, worin das Gift war. Ich glaube zwar nicht, dass …«
Er kam nicht weiter.
Giovanna riss Augen und Mund auf. »Heißt das, du
nimmst an, es ist in meinem Essen?«
»Vermutlich ist es nicht …«
»Aber du schließt es nicht aus?«
»Immer mit der Ruhe, Mama Giovanna. Zum jetzigen
Zeitpunkt kann ich gar nichts ausschließen.«
Giovanna zögerte keinen Moment. Sie machte sich mit
der Kelle über alle Töpfe her, und Sandro, der sie aufzuhalten
versuchte, wurde von ihren kräftigen Armen zurückgestoßen. Nieren,
Fischsuppe, Kaninchenfleisch - alles stopfte sie in sich hinein.
Und als sie fertig war, rief sie: »So, wenn ich morgen tot bin,
weißt du, dass es Selbstmord war. Dann habe ich mich selbst
vergiftet.«
»Giovanna, was hast du da gemacht? Niemand
verdächtigt dich.«
»Und damit das so bleibt, habe ich den besten
Beweis für meine Unschuld geliefert. Ich habe nur von dem Essen
gekostet, das ich selbst gekocht habe. Die deutsche Pampe, die
dieser Birnbaum zusammengepanscht hat, habe ich nicht
angerührt.«
»Aber was, Giovanna, wenn der Mörder ohne dein
Wissen etwas in dein Essen gegeben hat?«
»Das kann nicht sein. Ich bin ja erst ins Collegium
gekommen, als die anderen zur Messe gegangen sind. Und ich war die
ganze Zeit hier. Außerdem schmecke ich den ganzen Abend lang mein
Essen ab. Da hätte ich schon dreimal tot umfallen müssen. Und du
auch. Oder hast du vorhin an der Tafel etwa mein Kaninchen und die
Nierchen nicht angerührt?«
Sie griff nach dem Kochlöffel und schwang
ihn.
»Doch, natürlich habe ich davon gegessen«, beeilte
Sandro sich zu bestätigen.
Sie ließ den Löffel sinken, und er fiel zu Boden.
Der Ausdruck unendlicher Müdigkeit senkte sich wie ein Vorhang über
ihr Gesicht, über den ganzen Körper. »Ich will nach Hause«, sagte
sie. »Darf ich nach Hause, Bruder Sandro?«
Sandro war ergriffen von ihrer ermatteten,
kraftlosen Stimme. Innerhalb einer Viertelstunde war Giovanna
abwechselnd todtraurig, dann heiter und zornig gewesen, und
schließlich war sie entkräftet. So waren sie, die römischen
Mütter.
»Selbstverständlich«, sagte er und sah zu, wie sie
ihre Sachen packte und die Küche durch den zweiten Ausgang, der zu
einem Hof führte, verließ.
Hauptmann Barnabas Forli fand exakt jene Situation
vor, die er sich auf dem Weg von seiner Kommandantur auf dem
Aventino zum Collegium Germanicum vorgestellt hatte: kniende
Mönche, Gebete brabbelnd, mit gefalteten Händen und gekrümmten
Nacken. Vom bloßen Zuschauen drehte sich ihm schon der Magen um.
Zwar wurde ihm von jeher beim Anblick der Geistlichkeit ein wenig
übel, aber Mönche waren eine Kategorie für sich. Sie liefen mit
einem Heiligenschein herum, als kämen sie soeben von einer
Besprechung mit Jesus Christus im Garten Gezemane zurück, dabei
konnte man die meisten von ihnen mit einem Knurren in die Flucht
schlagen. Forlis Meinung nach wurde man nur deswegen Mönch, weil
man die eigene Schwäche mit der Kutte tarnen wollte. Einige nutzten
die Kutte, um sich einen Nimbus zu verschaffen, den sie im wahren
Leben, dem Leben da draußen, nie erlangt hätten. Sie spielten sich
als Gelehrte auf, weil sie auswendig gelernte Lateinverse
aufsagten, als Gesegnete, weil sie Choräle sangen, die zum
Einschlafen waren, als Apostel, weil sie ihre Hände beschwörend
über Häuptern kreisen ließen, und als Feldherren
Gottes, weil sie irre Ideen in die Welt setzten, die allein ihnen
nutzten, niemandem sonst. Sicher, es gab auch Bescheidene. Sie
waren so lebensuntüchtig, dass ihnen nichts anderes einfiel, als in
einen Orden einzutreten und so zu tun, als seien sie aus freien
Stücken bescheiden und zurückhaltend. In Wahrheit waren sie weder
das eine noch das andere, sondern schlicht Figuren kläglicher
Feigheit.
Die einfachen Leute jedoch, vor allem auf dem Land,
sahen eine Kutte, ein Kreuz, eine Tonsur, eine Bibel und hörten
sofort alle Engel singen und nahmen eine unterwürfige Haltung ein.
Das gefiel den Prahlhänsen und Verrückten natürlich.
Es mochte Ausnahmen geben, aber Forli kannte nur
eine: Sandro Carissimi. Und es hatte fast ein Jahr sowie fünf
aufgeklärte Morde lang gedauert, bis er ihn als Ausnahme anerkannt
hatte.
Alle in einen Sack und draufhauen, dachte Forli,
als er die Mönchsbande von hinten betrachtete. Man träfe immer den
Richtigen.
Er verließ den Saal wieder und suchte nach
Carissimi, als er Angelo aus einer Tür kommen sah. Der junge
Diener, der ihn gerufen und ins Collegium geführt hatte, sah müde
aus, was nicht erstaunlich war, wenn jemand zuerst durch die halbe
Stadt in den Vatikan gerannt war, um den Leibarzt des Papstes zu
unterrichten, und dann erneut durch die halbe Stadt auf den
Aventino gerannt war, um ihn zu holen. Vor Burschen wie diesem
Angelo zog er seinen Hut.
»Wo ist Carissimi?«
Angelo zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch
nicht. Ah, da vorn ist er, er kommt gerade aus der Küche.«
»Danke, mein Junge, du kannst dich jetzt irgendwo
ausruhen, am besten in der Nähe der brabbelnden Jesuiten. Behalte
sie ein bisschen im Auge.« Forli ging Carissimi entgegen. »Seid
gegrüßt, Mönch«, rief er und fügte hinzu: »Bäh, Ihr riecht nach
Weihrauch. Habt Ihr schon Euren Totenschnickschnack zelebriert,
Carissimi?«
»Nein, der Weihrauch haftet wohl noch von der Messe
an meinem Gewand. Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Liegt wohl daran, dass Euch das Zeug nach all den
Jahren mittlerweile in den Adern zirkuliert. Dann riecht man es
nicht mehr.«
Carissimi lächelte. »So wie Ihr den Schweiß, wie?
Danke, dass Ihr so schnell gekommen seid.«
»Ihr wisst doch: Ohne Euch kann ich nicht leben.
Und ohne Eure Morde schon gar nicht.« Er lachte. »Ehrlich, wenn ich
mal ein paar Monate keine Toten sehe, geht’s mir richtig schlecht.
Seht mich nicht so vorwurfsvoll an, war ja nur ein Spaß, Carissimi.
Euren Humor habt Ihr wohl, neben vielem anderen, für immer unter
der Kutte versteckt, was? Nun redet schon. Euer Diener wusste nicht
allzu viel. Was hat der Arzt gesagt? War es Mord?«
Carissimi nickte. »Das Gift muss dem Schüler
Johannes von Donaustauf zwischen der fünften und siebten Stunde
zuge - führt worden sein. Vielleicht von jemandem im Collegium.
Habt Ihr Wachen mitgebracht? Ich will nicht, dass Beweismittel
verschwinden.«
»Ein Mann steht vor der Hauptpforte, ein Zweiter am
Hinterausgang. Und ich stehe an Eurer Seite.«
»Danke, Forli, aber das geht nicht. Die Stadtwache
darf nicht in den Fall verwickelt werden, jedenfalls nicht, was die
Ermittlungen angeht. Zu heikel. Das wird weder der Papst noch der
Pater General gestatten.«
»Aber Ihr habt mich doch eigens rufen lassen, um
…«
»Um das Haus zu bewachen, Forli.«
»Ich bin doch kein Köter.«
»Und das Haus zu durchsuchen, sobald ich die
Erlaubnis des Pater Generals habe.«
»Das heißt, ich habe die Arbeit, und Ihr habt den
Spaß. Da mache ich nicht mit.«
Carissimi sah ihn auf eine Weise an, die
ausdrückte, dass Forli ihm noch einen Gefallen schuldig war. Und
das stimmte. Leider. Er wäre heute nicht mehr Hauptmann, wenn
Carissimi sich nicht für ihn eingesetzt hätte.
Dass es so weit kommen musste, dachte Forli. Einem
Mönch etwas zu schulden, selbst wenn es ein sympathischer Mönch
war, war ein Tiefpunkt seines Lebens.
»Also gut«, murrte er.
»Danke, Forli. Ihr seid ein Freund.«
»Und Ihr ein Erpresser.«
Carissimi lachte. »Ich beichte es bei nächster
Gelegenheit. Jetzt muss ich mich beeilen, der Pater General wartet.
Behaltet Ihr bitte meine Mitbrüder und die Schüler im Auge,
ja?«
Carissimi, schon halb im Gehen, sah ihn noch einmal
an und sagte: »Seid höflich zu ihnen, Forli. Ihr habt es hier nicht
mit betrunkenem Gassenpöbel zu tun, sondern mit Jesuiten.«
»Das weiß ich doch. Ich werde ein paar Ave Maria
mit ihnen beten, ihnen einen Pfannkuchen backen und die Schuhe
putzen, also alles das tun, was Hauptleute normalerweise
tun.«
»Forli …«
»Ja, ja, ich habe Euch verstanden. Keine Sorge. Ihr
wisst ja: Jesuiten sind meine Lieblingsmönche.«
Als Carissimi gegangen war, ballte Forli die rechte
Hand zur Faust, bis die Knöchel knackten.
Im Speisesaal war die Lage unverändert. Vier
Jesuiten in schwarzen Gewändern knieten vor einem Kreuz an der Wand
und wisperten, jeder für sich, Gebete. Zwei junge Burschen in
krebsroten Talaren hielten sich im Hintergrund und beteiligten sich
nicht an dem Gebrabbel, sondern verharrten, kniend
zwar, dennoch in einigermaßen teilnahmsloser Haltung, wobei sie
sich von Zeit zu Zeit einen Blick zuwarfen.
Angelo gab ihm zu verstehen, dass keiner der sechs
inzwischen den Raum verlassen oder etwas angefasst hatte.
Forli spuckte in eine Ecke, wodurch er
Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Einer der Mönche hatte ihn gehört
und kam ihm entgegen. Die anderen wurden ebenfalls auf Forli
aufmerksam und erhoben sich einer nach dem anderen.
»Ihr seid …?«, fragte der Mönch.
»Erbarmungslos«, antwortete Forli. Damit löste er
bei seinem Gegenüber Erstaunen aus - und bei den beiden Jungen in
den krebsroten Talaren Gelächter.
Forli schritt langsam zu ihnen, wobei er betont
fest auftrat. Er war sich seiner Wirkung durchaus bewusst. Seine
enorme Körpergröße, seine stämmige Statur und die dunklen Augen
vermochten jeden einzuschüchtern, selbst diejenigen, die er gar
nicht einschüchtern wollte, wie zum Beispiel Frauen. Aber wenn er
es darauf anlegte, konnte er mehr als einschüchternd, konnte
bedrohlich wirken.
Das gewünschte Ergebnis war umgehend bei den beiden
jungen Männern zu erkennen, die verstummten und aussahen, als
hätten sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas zu lachen gehabt.
Forli überragte sie um deutlich mehr als einen Kopf.
»Setzen«, sagte er nur.
Die beiden Verunsicherten zögerten, aber nur so
lange, bis er den Mund öffnete, um seinen Befehl zu wiederholen -
wozu es nicht kam, da sie auf der Stelle an der Tafel Platz
nahmen.
»Ich muss doch sehr bitten«, protestierte der
Mönch. »Ich bin Bruder Nikolaus Königsteiner, und solange mein
Ordensgeneral Ignatius von Loyola nicht anwesend ist, spreche ich
in seinem Namen. Daher frage ich Euch, wer Ihr seid und was Euch
anficht …«
Er wurde von einem anderen Mönch unterbrochen.
»Dazu habe ich etwas zu sagen.«
»Nicht jetzt«, erwiderte Königsteiner gereizt. »Ich
weiß ja, Bruder de Soto, dass Ihr Euch einbildet, Ihr würdet
geeigneter sein, im Namen des Ehrwürdigen zu sprechen. Tatsache
ist, dass ich der Ältere bin und daher das erste Wort habe.«
»Das erste Wort vielleicht, aber nicht das letzte,
Bruder. Ich wollte nur sagen, dass dieser Mann Hauptmann Forli
ist.«
Auch Forli hatte ihn sofort wiedererkannt: Luis de
Soto. In Trient hatte er von diesem aufgeplusterten Mönch noch
Befehle entgegennehmen müssen.
Forli begrüßte de Soto mit einem kurzen Nicken.
»Setzen«, sagte er. »Alle setzen sich an den Tisch.«
Die Jesuiten sahen einander an und folgten dann dem
Befehl. Nur Königsteiner hielt noch stand. Er war fast so groß wie
Forli und verschränkte die Arme vor der Brust. Entweder hatte er
Rückgrat und Mut oder kindischen Trotz in sich.
»Ihr habt mir nichts zu befehlen«, sagte er.
»Hauptmann oder nicht, dies ist ein Haus des Herrn und ich …«
Forli packte ihn am Arm und im Nacken, zerrte ihn
zur Tafel und drückte ihn unsanft auf einen Stuhl. Er blieb neben
Königsteiner stehen und sah auf ihn hinab. Beide schwiegen; Forli,
weil er das Nötige gesagt hatte, und Königsteiner, weil der Schreck
ihm in den Knochen steckte.
Kaum hatte Forli sich ein paar Schritte entfernt,
sagte Königsteiner: »Ich - ich setze mich nur unter Protest.«
»Meinetwegen«, sagte Forli. »Der ist so viel wert
wie das, was die Hälfte von euch allen gerade in die Hose gemacht
hat.«
Zufrieden besah er sich das Ergebnis. Die Mönche
saßen an der Tafel und blickten ihn verunsichert an, der Widerstand
war gebrochen. Damit war die Ordnung hergestellt, und er konnte
sich einen Überblick über diesen armseligen Haufen Verdächtiger
verschaffen, von denen er - das merkte er sofort - bis auf
einen niemanden leiden konnte. Sie gehörten, wie de Soto und
Königsteiner, zu den Wichtigtuern und, wie der Dicke und der Blasse
mit den Pickeln, zu den Hasenfüßen.
»Ich bin Bruder Birnbaum«, begann der Dicke. »Soll
ich - darf ich Euch etwas zu essen bringen?«
Königsteiner griff sich an die Stirn. »Wirklich,
Bruder, ist das alles, woran du immerzu denkst? Du würdet wohl auch
einen Wegelagerer bekochen, bevor er dir die Kehle
durchschneidet.«
Der dicke Birnbaum blickte Königsteiner grimmig an,
aber seine Erwiderung fiel äußerst devot aus. »Ich versuche ja nur
… Ich wollte ein guter Gastgeber sein. Es ist doch offensichtlich,
dass dieser Mann im offiziellen Auftrag gekommen ist, und ich
möchte ihm die Herzlichkeit erweisen, die uns Jesuiten …«
»Seid still, Bruder Birnbaum«, sagte Königsteiner.
»Um deiner selbst willen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das ist der von dir mit Abstand am häufigsten
verwendete Satz, Bruder. Das sollte dir zu denken geben. Und noch
etwas sollte dir zu denken geben. Ein Toter während des Essens, ein
päpstlicher Arzt, ein Visitator, ein Hauptmann und unser Pater
General, der so erschüttert ist, dass er nicht mit der Sprache
herausrücken wollte, was eigentlich geschehen ist, sondern sich in
sein Zimmer begeben hat. Und - nicht zu vergessen - ein
Koch.«
Er sah Birnbaum an, und nun sahen auch alle anderen
Birnbaum an. Dem verschlug es im ersten Moment die Sprache.
Als er sie wiedergefunden hatte, stammelte er: »Das
wäre ja … wäre ja töricht, wenn ich … sollte ich … welchen Grund
sollte ich … ich meine, das wäre eine Narretei sondergleichen, wenn
ausgerechnet ich …«
»Ja, eben«, sagte Königsteiner. »Eben weil es
töricht wäre, wird man sofort an dich denken.«
Forli hatte den kleinen Disput nicht unterbrochen,
und er
entfernte währenddessen mit einem Tafelmesser den Schmutz unter
den Fingernägeln. Diese Arbeit war nun getan, und es wurde ihm
langweilig. Carissimi hatte ihm zwar gesagt, dass er sich aus den
Ermittlungen heraushalten solle, aber Forli juckte es gehörig in
den Fingern.
»Hat jemand der Anwesenden diesen Saal verlassen,
seit der Schüler zusammengebrochen ist?«, fragte er.
Die Jesuiten blickten sich gegenseitig an, und nach
einer Weile sagte Königsteiner: »Ich glaube nicht, Hauptmann.
Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher. Seht Ihr, wir waren alle
sehr durcheinander und …«
»Er war draußen.«
Der Zwischenruf war von einem der Schüler gekommen,
der nun die Aufmerksamkeit auf sich zog. Unter allen Kuttenträgern
war er der Einzige, der Forli einigermaßen sympathisch war. Er
wirkte uneitel, bodenständig, wie ein einfacher Bursche vom Land,
ja, er erinnerte Forli ein bisschen an sich selbst, als er noch
jung gewesen war. Die rötlichen Haare, die Sommersprossen, der
rebellische Ausdruck auf dem Gesicht: ein kleiner Forli, nur
dreißig Jahre jünger. Außerdem sprach für ihn, dass er sich in
seinem Talar nicht wohlzufühlen schien.
»Wie ist dein Name, Junge?«, fragte Forli.
»Das ist Ried«, antwortete Königsteiner für ihn.
»Tilman Ried.«
»Müsst Ihr immer ungefragt Euren Mund aufmachen«,
fuhr Forli ihn an und trug damit zur allgemeinen Genugtuung bei,
wie er den Mienen der anderen entnahm. »Tilman Ried, also. Gut,
Tilman, wen meinst du mit ›er‹? Wer war draußen?«
Tilman blickte zu seinem Tischnachbarn, dem zweiten
Schüler. »Ihn meine ich. Gisbert von Donaustauf, den Bruder des
Toten. Er ist kurz nach Johannes’ Anfall in Richtung Küche gerannt
und war eine ganze Weile weg.«
»Du Drecksack«, spie Gisbert aus. »Was willst du
damit sagen?«
»Nur, was ich gesehen habe.«
»Ich hätt’s wissen müssen, dass du ein feiger Lump
bist, ehrlos wie alle Bauerntölpel.«
Gisbert stürzte sich auf Tilman Ried, der Stuhl
kippte um, und beide fielen zu Boden. Gisbert lag auf Tilman Ried
und drückte ihm die Kehle zu, wogegen Tilman sich heftig wehrte.
Alle sprangen von ihren Stühlen auf und versuchten, die beiden
auseinanderzubringen - außer Luis de Soto, der abseits stehen blieb
und das Spektakel wie ein belustigter Gott betrachtete. Forli
bemühte sich, zu den Kampfhähnen vorzudringen, musste aber erst
einen Jesuiten nach dem anderen beiseiteschieben. Schließlich
packte er Gisbert mit beiden Händen und riss ihn wie einen
Mehlsack, den man auf einen hohen Wagen hieven möchte, von seinem
Gegner weg. Da Gisbert sich wie ein Wilder gebärdete, hielt Forli
ihn von hinten an beiden Armen fest.
Tilman Ried rappelte sich auf. Aus seiner Nase rann
Blut, das er jedoch nicht beachtete; auch das von Birnbaum
angebotene Schnäuztuch ignorierte er.
Er machte einen großen Schritt auf Gisbert zu, der
noch immer in Forlis Griff gefangen war, holte aus und schlug ihm
mit der Faust in den Bauch, sodass Gisbert aufstöhnte und
zusammenbrach.
Auf dem Boden liegend, krümmte Gisbert sich vor
Schmerzen. Trotzdem blickte er hasserfüllt auf und rief: »Das
schwöre ich dir, Ried, du bist der Nächste.«
Als Sandro in das Zimmer des Ordensgenerals
eintrat, verstand er, wieso man Ignatius von Loyola heimlich den
schwarzen Papst nannte. Der Name war in Anspielung auf seine
schwarze Kutte entstanden - im Grunde gab es keine Vorschriften
bezüglich
des Ordensgewands, aber die schwarze Kutte hatte sich im Großen
und Ganzen durchgesetzt. Trotzdem erklärte sich dadurch nur der
erste Namensteil, das Schwarz, denn schließlich hatten auch die
Benediktiner und Dominikaner und Franziskaner Ordensgeneräle, die
dennoch niemand die braunen oder weißen oder grauen Päpste nannte.
Von dem einundsechzigjährigen Ignatius ging eine seltsame Autorität
aus, seltsam deshalb, weil er alles äußerlich Autoritäre vermied.
Er trug dieselbe schlichte Kleidung wie alle Jesuiten, sprach mit
leiser Stimme, gestikulierte so gut wie gar nicht und schritt fast
lautlos wie eine Katze. Seine Augen strahlten keine Strenge aus, im
Gegenteil, ihr Blick war halb nach innen gerichtet, und Ignatius
wirkte so, als ob er nicht vollständig im Hier und Jetzt wäre, als
ob ein Teil von ihm weit entfernt auf einem sanften Ruhekissen
läge.
Dabei war der Mann General! Nicht nur
Ordensgeneral, er war beinahe ein richtiger General gewesen, ein
junger Ritter und Soldat, ein Befehlshaber im spanischen Pamplona,
wo er im Kampf schwer verwundet worden war und viele Monate lang
unter entsetzlichen Schmerzen gelitten hatte. Damals hatte er eine
Erleuchtung gehabt und sein Leben radikal geändert. Doch so
umfassend seine Wandlung auch war, bis heute war trotz aller
Zurückhaltung im Auftreten etwas Soldatisches, Kämpferisches,
Standhaftes bei ihm zu spüren. Er hatte die Societas Jesu
gegründet, zusammen mit sechs Gefährten, die gemeinsam die Gelübde
auf dem Montmartre in Paris abgelegt hatten. Und er hatte den Orden
binnen weniger Jahre zu einem der bedeutendsten aufgebaut. Die
Jünger liefen ihm scharenweise zu, begeistert davon, dass sich
endlich einmal ein Orden den Armen und Kranken widmete, dass man
endlich die Ungebildeten unterrichtete und die Menschen in den
fernen, neu entdeckten Weltgegenden für Christus gewann, nachdem
die Könige bereits die Schätze erschlossen hatten. Dazu kamen
einige
Vorteile: dass die Jesuiten nicht in klösterlicher
Abgeschiedenheit lebten, sondern in Häusern inmitten der Städte,
umgeben von den Herausforderungen des Lebens; dass es statt
Chorgesang, Wallfahrten und Reliquienverehrung um innere Einkehr
ging, um Seelenübungen und eine Besinnung auf sich selbst; dass
jeder Jesuit, wann immer ihm danach war, sich zur Andacht
zurückziehen durfte. Auch Sandro hatte, um Buße für ein Verbrechen
zu tun, sich bewusst den Jesuiten angeschlossen, weil er das Gefühl
hatte, dort etwas Nützliches bewirken zu können - nützlich für
andere und nützlich für seine eigene Seele. Die Societas Jesu hatte
allgemein eine magische Anziehungskraft bekommen, die jene des
Papsttums längst überstrahlte.
Jeder Jesuit legte am Ende seiner Ausbildung neben
den anderen Gelübden der Keuschheit, Ehelosigkeit und Armut auch
noch das einzigartige Gelübde des absoluten und unbedingten
Papstgehorsams ab. Auch Ignatius hatte dieses Gelübde geleistet.
Seinen Sitz hatte er in Rom aufgestellt, um den Päpsten nahe zu
sein - aber böse Zungen meinten, um die Päpste, seine Gefangenen,
besser kontrollieren zu können. Denn mit dem Gelübde hatte er nicht
nur den Orden an die Päpste, sondern auch die Päpste an den Orden
gekettet. Und tatsächlich hatte auch Sandro manchmal den Eindruck,
als fürchte Julius die zunehmende Macht des Ordens und seines
Generals, des schwarzen Papstes, mehr, als dass er sich darüber
freute.
Als Sandro das Zimmer des Generals betrat, stand
Ignatius auf, ging ihm mit behutsam erhobenen Armen entgegen und
küsste ihn auf beide Wangen, allerdings sehr vorsichtig, so wie man
alte Leute küsst.
»Bruder Carissimi. Nun bist du schon so viele Jahre
Teil der Gesellschaft Jesu, und wir begegnen uns erst jetzt.«
Ignatius sagte das ohne Freude oder Bedauern, er sagte es, als
müsste es gesagt werden. Er bat Sandro, näher zu treten. Magister
Duré
befand sich noch in dem Raum, der von einem halben Dutzend
Öllampen zaghaft erleuchtet wurde. »Der Magister hat dir etwas zu
sagen, Bruder.«
Duré räusperte sich und blickte beschämt zu Boden.
»Ja, Bruder Carissimi, ich gestehe, Euch belogen zu haben. Oder
besser gesagt, Euch etwas, das ich ahnte, nicht mitgeteilt zu
haben. Es geht natürlich um den toten Johannes, Gott sei seiner
Seele gnädig.« Duré atmete tief durch. »Ich fürchtete, dass seine
Atemlähmung keine natürliche Ursache hatte, als sich herausstellte,
dass er unfähig war, zu erbrechen. So etwas geschieht nur als
Reflex auf einen Wirkstoff. Ich - ich ahnte etwas, ja, insgeheim
kam ich zur selben Schlussfolgerung wie Doktor Pinetto. Aber ich …«
Er sah Ignatius an, der ihm mit einem Senken der Augenlider
bedeutete, fortzufahren. »Aber ich wollte eine Untersuchung
verhindern«, sagte er seufzend.
Sandro runzelte die Stirn. »Wieso?«
In den Augen des Mannes bildeten sich Tränen, die
im schwachen Licht der Öllampen funkelten.
»Der Gedanke daran, dass die Eröffnung von etwas so
Gro ßem und Wichtigem wie des Collegium Germanicum von einem Mord
besudelt würde, war mir unerträglich. Der Orden hat Feinde, Bruder
Carissimi, zahlreiche Feinde, denen nichts lieber wäre, als diese
Gelegenheit zu benutzen, um einen Skandal heraufzubeschwören, der
das Ansehen und die Integrität der gesamten Societas Jesu
beschädigen würde. Im schlimmsten Fall müsste das Collegium wieder
geschlossen werden, weil die Schüler ausbleiben. Das wäre ein
bitterer Rückschlag.«
Sandro dachte nach. »Ihr hättet also einen Mörder
mit seiner Tat davonkommen lassen?«
»Ja«, sagte er laut und deutlich, warf dem General
einen schuldbewussten Blick zu und sprach danach leiser weiter.
»Ich nahm nicht an - und nehme immer noch nicht an -, dass jemand
von den Brüdern oder Schülern dieses Verbrechen begangen
hat. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Johannes außerhalb des
Hauses schlechten Umgang hatte. Er war seit seiner Ankunft oft in
der Stadt unterwegs, einmal sah ich ihn zufällig mit einem - einem
Mädchen und einem Burschen, die beide keinen günstigen Eindruck auf
mich machten. Ich schätze …«
»Danke, Magister Duré«, unterbrach ihn der Pater
General. »Ich denke, diese Erläuterungen genügen, um Bruder
Carissimi Euer Fehlverhalten deutlich zu machen.«
Duré nickte. »Was ich damit nur sagen wollte: Mir
wäre es lieber gewesen, irgendein Halunke kommt davon, als dass auf
immer ein Schatten über diesem Haus und dem Orden liegt. Ich
dachte, ich tue das Richtige, aber der ehrwürdige Pater General hat
mir die Augen geöffnet.«
Duré sank auf die Knie. »Ich erbitte Eure
Verzeihung, Bruder Carissimi.«
Sandro war es immer schon unangenehm gewesen, wenn
Menschen vor ihm auf die Knie gegangen waren, aber ein Gelehrter
gehörte nun wirklich nicht dorthin.
Er half ihm auf die Beine und lächelte ihn
freundlich an.
»Vergeben und vergessen, Magister Duré.«
Der Magister dankte und ging hinaus.
Sandro war mit Ignatius von Loyola allein.
Jetzt erst - Auge in Auge mit dem General - fielen
ihm alle Ordensregeln ein, die Ignatius aufgestellt und Sandro
missachtet hatte. In der Regel »Über den Umgang mit Menschen« hatte
Ignatius genaue Anleitungen gegeben, wie menschliche Begegnungen
abzulaufen hatten: Kopfhaltung, Gangart, Augenaufschlag, Verbot von
zusammengepressten Lippen, Verbot des Stirnrunzelns … Sandro hatte
vorhin die Stirn gerunzelt, er hatte außerdem gelächelt. Nicht gut.
Gar nicht gut. Unter dem Blick des Generals fühlte er sich gläsern,
oder schlimmer, wie gesprungenes, fehlerhaftes Glas.
Er trat die Flucht nach vorn an.
»Ich bin froh, dass das aufgeklärt ist«, sagte
Sandro und versuchte, sein Gesicht und seine Hände so wenig wie
möglich zu bewegen sowie seinen Rücken gerade zu halten. »Und ich
verspreche, ehrwürdiger Pater General, die Untersuchung diskret zu
führen. Doktor Pinetto ist verschwiegen, und außer Seiner
Heiligkeit und den Mitbrüdern unten im Saal muss niemand sonst
erfahren, dass es heute Abend ein Verbrechen gegeben hat.«
Ignatius nahm Platz und gab Sandro zu verstehen,
sich zu ihm zu setzen. Die Stille einer Andacht kehrte ein. Sogar
die Flammen der Öllampen brannten ruhig. Loyolas Zimmer war genauso
schlicht ausgestattet wie das des Schülers: ein Bett, eine Truhe,
ein Kruzifix. Kein Schreibtisch, kein Papier, keine Lektüre,
keinerlei Anzeichen von Arbeit, wie man es im Zimmer eines Mannes
erwarten würde, der Dutzenden von Kollegien in der ganzen Welt
vorstand und dessen Ideen und Worte mittlerweile in Gegenden
getragen wurden, für die man noch keinen Namen gefunden hatte.
Voller Beschämung dachte Sandro an seinen pompösen Amtsraum im
Vatikan und das mit allen Bequemlichkeiten ausgestattete
Quartier.
Während Sandro das Zimmer betrachtete, hatte
Ignatius ihn betrachtet.
»Bruder Carissimi«, begann Ignatius mit milder
Stimme, »lass uns über deine Einstellung sprechen.«
Sandro zögerte. »Meine Einstellung - zu was?«
Ignatius ließ eine Weile verstreichen. »Zum
Beispiel dazu, dass du gern Gegenfragen stellst.«
»Ehrwürdiger Pater General, wie soll ich eine Frage
beantworten, wenn ich die Frage nicht verstehe?«
»Womit du soeben erneut eine Gegenfrage gestellt
hast. Es scheint dir in Fleisch und Blut übergegangen zu sein,
Menschen zu befragen.«
Sandro gab sich demütig. »Ich bitte um Verzeihung.
Mein Amt als Visitator bringt das mit sich.«
»Dein Amt als Visitator - ja, das ist so eine Sache
… Vielleicht ist das der Grund des Übels, über das ich mit dir
sprechen will.«
»Des Übels?«, fragte Sandro und stellte fest, dass
er schon wieder eine Frage gestellt hatte.
Ignatius antwortete erst nach einer Weile, so als
habe er noch rasch ein Gebet dazwischengeschoben. »Ich bekomme die
widersprüchlichsten Berichte über dich, Bruder Carissimi. Dein
ehemaliger Provinzial im Hospital in Neapel lobte die Hingabe und
die Demut, mit der du die Kranken und Sterbenden gepflegt hast. Und
Bruder Luis de Soto war in den Jahren, in denen du ihm als
Assistent gedient hast, ausgesprochen zufrieden mit dir.«
Das kann ich mir denken, dachte Sandro. Ich war ein
Narr gewesen, und genauso einen hat er gewollt.
»Doch dann«, sagte Ignatius, »kam Trient. Von dem
Moment an, wo der Heilige Vater dich zum Visitator ernannte, ändern
sich die Meinungen über dich. Es ist gerade so, als habe dir jemand
einen neuen Kopf aufgesetzt und ein neues Herz gegeben.«
Der Pater General hatte - sei es zufällig oder sei
es hellsichtig - genau die richtige Beschreibung gefunden. Ein
neuer Kopf und ein neues Herz. Der neue Kopf, das bedeutete ein
Talent, das er bis dahin nicht an sich entdeckt hatte - Verbrechen
aufzuklären. Um diese Arbeit tun zu können, musste man den Kopf
freimachen von vorgefassten Meinungen, man musste von allen
ausgetretenen Pfaden abweichen und einen eigenen Weg durch das
Dickicht schlagen. Nur dann umging man die Fallen, die überall
lauerten, nur dann erlangte man die nötige Selbstständigkeit.
Sandro hatte diese Arbeit lieb gewonnen, denn sie forderte ihn
heraus, ohne ihn zu überfordern, und der Erfolg bestätigte ihn. Zum
ersten Mal in seinem Leben sah und spürte er in seinem Tun eine
Heimat.
Und das neue Herz spürte Liebe, wo in seiner Jugend
nur Liebelei gewesen war, und danach, als Novize und junger
Priester, Hingabe und Demut. Antonia und seine Arbeit - das waren
die zwei neuen Stützpfeiler, auf die er seine Zukunft aufbauen
wollte.
Ihm war natürlich klar, dass die Liebe zu Antonia,
sollte sie sich erfüllen, sowie seine Vorstellungen von
Selbstständigkeit mit seinem Leben als Jesuit nicht vereinbar
waren. Der Gehorsam und die Einhaltung der Gelübde waren oberstes
Gebot in der Societas Jesu, Eigenständigkeiten und Ausnahmen wurden
nicht toleriert. Zwar lehnte der Pater General Strafmaßnahmen
jedweder Art strikt ab - in anderen Orden kannte man solche
durchaus -, dafür wurde kurzerhand der Ausschluss verhängt, die
»Trennung«, wie Ignatius es nannte.
Sandro hatte sich bisher keiner Verfehlung schuldig
gemacht. Aber er war auf bestem Weg, es dahin kommen zu lassen. Er
hatte eine hervorgehobene Position in einem den weltlichen Freuden
nicht abgeneigten Umfeld des Papstes inne; er unterstand nur formal
dem Jesuitenprovinzial von Rom, der ihn jedoch selten zu Gesicht
bekam; er erledigte eine für Geistliche im Allgemeinen und für
Jesuiten im Speziellen ungewöhnliche Aufgabe. Das entging auch
Ignatius nicht.
Aber was hätte Sandro ihm antworten sollen?
Ehrwürdiger Pater General, ich liebe eine Frau und will sie haben,
aber gleichzeitig will ich Jesuit und Visitator bleiben.
Er musste lügen. Er musste sich verstellen. Nicht
vor dem vergnügungssüchtigen Papst, der Sandros Bemühungen um Liebe
und Erfolg nicht nur hinnahm, sondern sogar unterstützte. Nein, er
musste vor einem der respektabelsten Männer des Jahrhunderts ein
Schauspiel abliefern.
»Mein Kopf«, sagte Sandro, »arbeitet für die
Wahrheit, ehrwürdiger Pater General. Wer, wenn nicht ein
Geistlicher, sollte sonst die Umstände eines Verbrechens innerhalb
gesegneter
Mauern ans Licht bringen? Die Treue und enge Verbundenheit unseres
Ordens mit dem Heiligen Stuhl hat die Wahl des Papstes auf einen
Jesuiten fallen lassen. Nur der Societas Jesu traut er zu, die
Geheimnisse, die bei der Aufklärung eines Verbrechens zwangsläufig
zutage treten, für immer unter Verschluss zu halten. Das ist eine
hohe Auszeichnung für uns alle.«
»Diese Arbeit hat dich jedoch einige Gewohnheiten
annehmen lassen, Bruder Carissimi, die ich nicht billigen kann.
Bruder de Soto teilte mir mit, dass du dich in Trient unbotmäßig
aufgeführt hast. Der Provinzial von Rom erzählte mir, dass du deine
Arbeit im hiesigen Hospital, wo du dich kaum noch blicken lässt,
vernachlässigst. Ich selbst muss erstaunt feststellen, dass du
einen Diener an deiner Seite hast. Andererseits überschlägt der
Heilige Vater sich geradezu in Lobeshymnen, was deine Person
betrifft. Ich erfahre, dass du deinen Einfluss einsetzt, um gute
Werke zu tun, beispielsweise hat der Heilige Vater seine
Zuwendungen an die Armenhäuser von Rom deutlich erhöht. Dann wieder
höre ich, deinen Charakter betreffend, von problematischen
Entwicklungen. Du siehst, Bruder, ich erhalte kein einheitliches
Bild. Mein Gefühl sagt mir, dass sich hinter deiner Neigung, Fragen
und Gegenfragen zu stellen, eine Art von Flucht vor dir selbst
verbirgt. Du bist nicht mehr im Reinen mit dir.«
»Aber Ihr selbst, Pater General, befürwortet die
unbedingte Loyalität zum Heiligen Stuhl.«
»Es geht hierbei nicht um den Heiligen Stuhl,
sondern um dich.«
Ignatius zögerte, dann fuhr er fort: »Jeder Mensch
hat eine Schwäche, Bruder, ein Schlupfloch, in das etwas Fremdes
eindringen kann. Ich sage dir ganz freimütig, dass meine Schwäche
die Sentimentalität ist, ja, ich hänge sehr an Vergangenem und
Vertrautem, und das verstellt mir bisweilen den Blick auf die
Gegenwart. Deine Schwäche, Bruder, scheint mir - nach allem,
was ich höre und beobachte - der Wunsch zu sein, jedem zu helfen,
sowie der Drang, es allen recht zu machen. Lass dir sagen, dass
diese beiden scheinbar untadeligen Bedürfnisse unter ihrer Schale
den giftigen Keim der Zersetzung tragen. Ja, sie zersetzen den
Charakter, denn Kraft kann nur durch Sammlung entstehen, niemals
durch Verzettelung. Wer es jedem recht machen will, wird zerrieben,
und das bedeutet, dass aus etwas Ganzem ein beliebig verformbarer
Haufen Einzelteile geworden ist. Es ist Tradition in dem Orden, dem
wir beide dienen, dass man sich den Gefahren und Verlockungen der
Welt stellt, ja, sich ihnen absichtlich aussetzt, mit dem Ziel, sie
zu bestehen. Ich bin mir nicht sicher, ob du, Bruder, noch dieses
Ziel hast.«
Sandro wusste, dass die Mahnungen des Generals sich
auf die Nähe zum Vatikan bezogen, aber er selbst bezog sie auch auf
seine Liebe zu Antonia, und deswegen nahm er Ignatius von Loyola
seine Worte übel. Er weigerte sich, zu glauben, dass er drauf und
dran war, ein verformbarer Haufen zu werden, schon gar nicht durch
Antonias Schuld. Was war falsch daran, eine Frau zu lieben und
gleichzeitig der Kirche zu dienen? Worin lag der Fehler, wenn er
einem schuldbewussten Papst die Beichte abnahm und ihn zu guten
Taten anregte?
Vielleicht spiegelte sich Sandros Verstimmung allzu
sehr in seinen Augen wider, denn Ignatius von Loyola, der bisher
mit größter Milde gesprochen hatte, mischte nun eine winzige Spur
Vehemenz in seinen Tonfall und wechselte das Thema.
»Bruder Carissimi, ich sehe ein, dass das ernste
Gespräch, das ich heute eigentlich vorhatte, mit dir zu führen, von
den Umständen verhindert wird. Was diesen Vorfall angeht, diesen
Mord, so werde ich nur dann billigen, dass du als Visitator
ermittelst, wenn ich das Recht habe, bei den Befragungen der
Mitbrüder anwesend zu sein.«
»Selbstverständlich«, sagte Sandro, dachte aber
sogleich
daran, wie das seine Arbeit erschweren würde. Im Beisein des
Ordensgenerals würden sowohl er als auch die Befragten befangen
sein.
»Außerdem brauche ich die Einwilligung des Papstes
zu deiner Untersuchung.«
»Das ist nur eine Formalität, ehrwürdiger Pater
General. Ich würde Euch darum bitten, die Brüder und Schüler
anzuweisen, zwei Tage lang das Collegium nicht zu verlassen.«
Ignatius nickte. »Ich bewillige einen Tag.«
»Ich bat um zwei Tage, ehrwürdiger Pater
General.«
»Und ich gebe dir einen Tag.«
Das passte Sandro gar nicht, aber er verneigte sich
zum Zeichen der Unterwerfung. »Ich habe Wachen vor den Eingängen
postiert, die sicherstellen, dass das Ausgangsverbot - das
selbstverständlich nicht für Euch gilt - eingehalten wird. Und
ferner möchte ich Eure Erlaubnis einholen, mithilfe des Hauptmanns
Forli, dem ich vertraue, die Zimmer zu durchsuchen - außer Euer
Zimmer natürlich.«
Ignatius erhob sich. »Nein, das werde ich nicht
gestatten. Die Societas Jesu ist kein normaler Orden, wie du weißt.
Der private Bereich jedes Bruders ist uns heilig. Deswegen haben
die Zimmertüren keine Riegel, und keiner darf ein Zimmer eines
Mitbruders betreten, wenn dieser nicht anwesend ist oder auf das
Klopfen nicht reagiert.«
»Hier handelt es sich um eine Ausnahme, wie Ihr
sicher zugeben müsst.«
»Ausnahmen gibt es nicht. Wenn wir von Jesuiten
erwarten, dass sie sich an Regeln halten, dürfen wir sie nicht
brechen, wenn es uns in den Kram passt. Vertrauen kennt keine
Ausnahmen. Soldaten oder Polizisten dürfen das Collegium nicht
betreten.«
»Ich habe Hauptmann Forli bereits
hereingebeten.«
»Das war voreilig und eigenmächtig. Der Hauptmann
hat
das Collegium umgehend zu verlassen. Guten Abend, Bruder. Ich
möchte dich nicht länger aufhalten.«
Sandro stand der Sinn nach Widerspruch, aber er
ahnte, dass das nichts bringen würde. Loyola war nicht dafür
bekannt, sich belehren zu lassen, und sich zu diesem frühen
Zeitpunkt mit dem zweitmächtigsten Mann der Kirche anzulegen, noch
bevor Sandro mit dem mächtigsten Mann gesprochen hatte, wäre
unvorsichtig. Immerhin hatte er bisher ja noch nicht einmal das
Mandat, dieses Verbrechen aufzuklären.
»Bevor ich gehe«, sagte er und spürte dabei eine
gewisse Genugtuung, »hätte ich noch ein oder zwei Fragen an Euch,
ehrwürdiger Pater General. Und zwar den Toten betreffend.«
Rosina tanzte. Und die Leute sahen zu. Sie
bildeten einen Kreis, sie klatschten zur Fidel, sie sangen, und sie
sprangen von einem Bein aufs andere. Aber keiner drehte sich wie
Rosina. Sie hatte eine Technik entwickelt, mit der sie sich wie
eine Windhose drehen konnte, wieder und wieder. Das bisschen
Schwindel ignorierte sie. Wenn es zu arg wurde, machte sie ein paar
Sprünge, warf die Beine hoch oder bog sich nach hinten, bis sich
das Mieder über den Brüsten spannte, oder sie bewegte die Arme wie
Geäst im Gewitter - irgendetwas fiel ihr immer ein. Sie wusste in
dem einen Augenblick noch nicht, was sie im nächsten tun würde,
aber das fand sich stets, und zwar im Tanz ebenso wie im Leben. Und
wenn ihr nichts mehr einfiel, dann drehte sie sich eben wieder,
schnell und schneller, und wenn jemand rief: »Noch schneller«, dann
schaffte sie auch das. Sie war Rosina. Sie war das Prachtmädchen.
An den Fenstern und auf den Balkonen rund um den kleinen Innenhof
he - rum standen die Frauen und schüttelten bewundernd die Köpfe.
»Dieses Prachtmädchen.« Und: »Diese Blume im Wind.« Und: »Diese
Rosina.«
Rosina machte die Abende, an denen sie im Hof
tanzte, zum
Fest, so auch diesen Abend. Als sie zu tanzen aufhörte, hatte sich
das Feuer auf alle Männer und Frauen im Innenhof übertragen. Der
Fiedler spielte weiter, und die Leute hakten sich an den Armen
unter und tanzten zusammen, und diejenigen, die zu alt waren,
wiegten sich und klatschten in die Hände. Überall war Lachen, wo
sonst nur Trübsinn gewesen wäre.
Das war ihr Werk, sie wusste es. Sie war die
Flamme, die die Freude entzündete. Und sie war die Prinzessin.
Neider hatte sie nicht. Die anderen Frauen, deren Wohnungen um den
kleinen Hof herum lagen, hatten bereits Ehemänner, oder sie waren
kleine Mädchen, die noch nicht an Männer dachten. Somit war Rosina
nicht nur die Flamme und die Prinzessin, sondern auch die Braut,
die schöne Sechzehnjährige, die Nächste.
Sie genoss all diese heimlichen Titel, jeden
einzelnen. Bescheidenheit war ihr fremd. Man hörte nie ein
prahlerisches Wort von ihr, aber wenn man sie bewunderte, war es
ihr sehr recht. Und wenn sie sich einmal schlecht fühlte oder
ärgerte oder Angst hatte, oder wenn ihr Herz bei Aufregung wie wild
schlug, dann ging sie eben in den Hof und tanzte. Meistens dauerte
es nicht lang, der Fiedler bemerkte sie von seinem Fenster aus und
spielte auf. So war es heute Abend gewesen. Sobald sie sich drehte,
drehte sich alles nur noch um sie, dann vergaß sie die Sorgen, die
Angst, alle Schmerzen.
Vergaß auch das Böse in ihr.
Schwer atmend, aber mit einem breiten Lächeln, zog
sie sich in eine Ecke des Innenhofes zurück. Ihr Gesicht glänzte
vor Schweiß und Ekstase. Die Pose, mit der sie sich auf die noch
warmen Pflastersteine legte, war aufreizend, aber sie tat das nicht
deswegen, sondern weil die aufreizenden Posen meistens auch die
bequemsten sind. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf und
spreizte die angewinkelten Beine, sodass der lange Rock sich
spannte. Dann blies sie sich eine lockige Strähne aus der Stirn und
lachte zu dem Reigen der Alten und Kinder und
der Eheleute. Ihre Füße wollten noch nicht zur Ruhe kommen und
bewegten sich leicht zur Musik.
Ab und zu sah einer der verheirateten Jungmänner zu
ihr herüber, aber keiner belästigte sie, denn jeder wusste, dass
sie keine von denen war, die Ehefrauen traurig machte. Schließlich
würde sie irgendwann selbst eine Ehefrau sein.
Dieser Gedanke brandete wie eine große Welle über
sie hinweg und löschte Freude und Flamme, löschte alle Illusionen
aus. Rosinas Füße standen nun still. Die Beine berührten sich an
den Knien, und die aufreizende Pose wandelte sich in ein Kauern.
Sie hörte die Musik nicht mehr. Die klatschenden Frauen, die soeben
noch ein Quell der Ermunterung gewesen waren, verkörperten
plötzlich die Ahnung von Niedergang und Gleichgültigkeit. Sie saßen
tagein, tagaus in ihren kleinen Wohnungen, von den Männern
alleingelassen mit den Kindern, von den Männern mit
Gleichgültigkeit behandelt und schlimmstenfalls geschlagen. Solche
Frauen hatten, waren die Kinder erst erwachsen, bloß noch einander.
Eine schlurfte zur anderen und beklagte sich, und irgendwann nicht
einmal mehr das. Sie schlurften zueinander und schwiegen. Sie
trauerten schweigend. Sie starben schweigend.
Doch man sollte sich nicht täuschen: Jede dieser
Frauen war einst eine tanzende Rosina gewesen, nun gut, vielleicht
nicht ganz so begabt, aber gewiss auf eine Art reizvoll. Sie alle
waren Sechzehnjährige gewesen, jede von ihnen die Prinzessin
irgendeines Innenhofes. Und nun standen sie auf den Balkonen mit
schrundigen Händen, Zahnlücken und ausgetrockneten Augen, und sie
klatschten und klatschten in der absurden Erwartung, dieser Abend
der Freude und Ablenkung möge nie vergehen.
Doch er würde vergehen. Er war bereits dabei zu
vergehen. Dieser Abend, und morgen der nächste, und dann der
übernächste. Und jeder Abend brachte die Frauen auf den Balkonen
dem erlösenden Tod näher - und Rosina der Zukunft als Frau auf dem
Balkon.
Was war sie, Rosina, denn schon? Eine
Innenhofprinzessin, eine Salome der Armen, umgeben von brüchigen
Häusern, die von Menschen mit zerbrochenen Wünschen bewohnt waren.
Schon zwei Häuser weiter befand sich der nächste Hof, dem ein
dritter folgte und so weiter. Ein Mosaik aus tausend Innenhöfen,
einer trostloser als der andere.
Dieser Abend war ein Trugbild, der Tanz nur ein
Traum.
»Was liegt denn mein Rosinchen hier in der Ecke und
trauert?«
Es war seine Stimme, die Stimme ihres älteren
Bruders Franco, die im Nu ein wenig Hoffnung brachte. Doch sie
wandte sich ihm nicht zu, damit er glaubte, sie sei seinetwegen
beleidigt.
»Wo warst du? Ich habe getanzt.«
»Wie oft ich dich schon tanzen gesehen habe,
Rosinchen!« Franco lachte leise und sogar ein bisschen verschämt,
so als wäre er nicht ein älterer, sondern ein jüngerer Bruder. Und
manchmal schien es tatsächlich so zu sein.
Er fügte hinzu: »Ich hatte zu tun.«
»Um diese Zeit schleppst du noch Holz und Mörtel?«
Ihr Vater arbeitete für einen jener Bauleute, die einfache Baracken
errichteten, und Rosinas Bruder half ihm. Für seinen Vater
schleppte er die schweren Sachen, natürlich ohne dafür entlohnt zu
werden. Nur ab und zu steckte der geizige Vater ihm eine kleine
Münze zu.
»Holz und Mörtel«, sagte Franco enttäuscht, als
handele es sich um verlorene Wetten. »Nein, heute habe ich für dich
gearbeitet, Rosinchen.«
»Ach, was du nicht sagst«, murmelte sie in
gespielter Gleichgültigkeit. »Welchen Wunsch hast du mir
erfüllt?«
»Erzähl mir von deinen Wünschen. Nun komm, zier
dich nicht, erzähl sie mir alle.«
Sie schloss die Augen. Die Musik drang jetzt wieder
in sie ein, und sie war wie Wein, wie Trunkenheit. Die Wünsche
zogen langsam an Rosina vorüber, gleichsam Karawanen, beladen mit
Kisten voll mit Spezereien.
»Ein Haus mit viel Platz«, flüsterte Rosina. »Die
Sonne strömt herein, das Silber blinkt, ich streichle es, ich
schmiege mich auf ein weiches Kleid, das auf dem Bett liegt.«
Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen.
»Eine Kutsche mit vier Pferden - nein, zwei
genügen. Zwei Pferde also, die mich an Orte ziehen, die ich
zufällig einmal beim Kartenzeichner um die Ecke gesehen habe, Orte
mit verheißungsvollen Namen, hinter denen sich etwas zu verbergen
scheint: Fontainebleau, Montserrat, Lochleven, Utrecht, Antiochia,
Saloniki …«
Sie seufzte leise. »Aber im Grunde braucht es all
das nicht, sondern nur eines: ein Mann, der mich will, der mich
wirklich will, der in mir etwas Wichtiges für sich sieht. Und genug
Geld, um nicht den nächsten Tag fürchten zu müssen. Damit will ich
zufrieden sein.«
Francos Hand berührte ihre Schulter, und er
flüsterte in ihr Ohr: »Siehst du, genau dafür habe ich heute
gearbeitet.«
Nun wandte sie sich ihm zu. Sie waren sich ganz
nah, das war schon immer so gewesen. Daran war nichts
Verwerfliches, nichts, was einen Ablass gekostet hätte. Sie waren
sich eben nur nah, ungewöhnlich nah, das war alles. Er war keiner
dieser ewig eifersüchtigen Brüder, die ihren Schwestern keinen Spaß
erlaubten. Wenn sie tanzte, klatschte er dazu, wenn man sie
bewunderte, freute es ihn. Auch darin war er also eher ein jüngerer
als ein älterer Bruder. Er würde ihr jeden Mann gönnen. Sogar zwei
Männer.
Sie küssten sich auf die Wangen. Rosina betrachtete
ihn. Wie viel von ihr selbst sie an ihm wiedererkannte: die kleinen
schwarzen Locken, die etwas zu vollen Wangen, die immer
ein wenig ölige, braune Haut, und in den dunklen Augen der Glanz
des Ehrgeizes, des Willens, hier herauszukommen.
»Was hast du getan?«, fragte Rosina, und vielleicht
sprach sie es mit Misstrauen aus.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass Wünsche, wie wir
sie haben, vom Himmel fallen?« Francos Stimme hatte sich verändert.
Es war nun die Stimme eines älteren Bruders. Rosina passte sich
dieser Veränderung sofort an. Sie wusste aus Erfahrung, dass die
Rolle des ein wenig gekränkten Schwesterchens und Täubchens für
heute ausgespielt war. Er redete ernsthaft mit ihr, und das hieß,
dass er die Führung übernahm, der sie sich stets
unterordnete.
Als er sah, dass sie nicht widersprechen würde,
egal, was er sagte, wurde sein Ton wieder sanfter, wenn auch nicht
mehr so verspielt wie zu Anfang des Gesprächs. »Unsere Wünsche
erfordern Maßnahmen, die …«
Er ließ den Satz absichtlich ins Leere laufen,
dorthin, wo die Fantasie allen Raum hat und alles entstehen lassen
kann.
Sie waren sich wieder nah, so nah. Es war, als
würden ihre Augen sich berühren, und sie spürte erneut das, was sie
verband, all die Ähnlichkeiten, zu denen auch das Böse
gehörte.
»Was hast du getan?«, fragte sie noch einmal, aber
diesmal ohne Misstrauen oder Vorwurf. »Was willst du, dass ich
tue?«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, denn sie
fürchtete sich vor ihr. Ihr Herz pochte wie bei einem
Schicksalsschlag - und zugleich wie bei einer immensen
Vorfreude.
»Komm, sieh zu, wie ich tanze.« Sie eilte in die
Mitte des Hofes, wo das Feuer der Ausgelassenheit schon am
Verglimmen gewesen war. Nun flackerte es noch einmal auf.
Tanze, Rosina, tanze dir den Teufel aus dem
Leib.
Rosina tanzte mit ihm.