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Bevor Sandro ins Obergeschoss zum Ehrwürdigen gehen würde, warf er noch einen Blick in den Speisesaal. Es war offensichtlich, dass Ignatius kurz vorher dort gewesen war und das Nötigste mitgeteilt hatte. Die Gäste waren fortgeschickt worden, und die Mitbrüder knieten vor dem Kreuz und beteten für die Seele des Toten. Zufrieden stellte Sandro fest, dass dort, wo Johannes gesessen hatte, die Speisen von Doktor Pinetto abgeräumt worden waren.
Er wollte sich gerade abwenden, als er von der geöffneten Seitentür her, dort, wo es zur Küche ging, ein Schluchzen vernahm, das Schluchzen einer Frau, das augenblicklich sein Mitleid erregte. Unmöglich für ihn, es einfach zu ignorieren. Es zog ihn an, und obwohl er sich in Erinnerung rief, dass der Ehrwürdige auf ihn wartete, gab er dem Drang nach, diesem Ruf der Traurigkeit zu folgen.
In der Küche angekommen, blickte er auf jene Frau, die vorhin geholfen hatte, die Speisen aufzutragen. Sie sah ihn nicht. Sie saß auf einem Schemel vor einem fleckigen Holztisch, auf dem ihre schweren Arme ruhten. Ihr Körper zuckte bei jedem Schluchzen.
»Ich bin Bruder Sandro«, sagte er und setzte sich neben sie.
Langsam hob sie den Kopf. Ihr Gesicht glänzte feucht und war vom Weinen verquollen.
»Giovanna«, schluchzte sie, und erneut zuckte ihr korpulenter Körper. »Soll ich dir Kräutersud machen, Bruder Sandro?«
»Nein, danke.«
»Doch, doch, ich kann auch einen brauchen.« Sie stand auf, und Sandro lächelte, als sie mit geübten Handgriffen die Zutaten zusammensuchte. Sie war eine Mama, wie man sie sich wünschte - und wie halb Rom eine hatte: immer um das Leibeswohl der Schützlinge besorgt. So typisch wie ihr Name waren auch ihre Korpulenz, die schweren, kurzen Beine, der schwarze Haarknoten auf dem Hinterkopf und die Kraft und Lebenserfahrung, die von Frauen wie ihr ausgingen.
Giovanna wandte Sandro bei der Zubereitung des Suds den Rücken zu. Eine römische Mutter, wusste Sandro, zeigt ihre Traurigkeit nicht gerne, obwohl sie häufig traurig ist. Die vielen Kinder machen Sorgen, eines ist immer in Schwierigkeiten, und die Mama versucht, mit einer Mischung aus Herzlichkeit und Strenge die Familie zusammenzuhalten, gleichsam eine Kapitänin auf rauer See. Selbst die schwierigsten Söhne wagen kaum, die Autorität der Mama anzuzweifeln.
»Hast du ihn sehr gemocht?«, fragte Sandro, der sich sofort auf ihr vertrauliches Du einließ, das bei den einfacheren Schichten gang und gäbe war.
»Er hatte keine Mutter, weißt du? Das hat er mir erzählt. Ich finde, jeder Junge seines Alters sollte eine Mutter haben. Jemanden, der an ihm hängt, an ihn denkt, für ihn betet … Er hatte keine mehr. Und nun ist er tot. In seinem Alter - das ist nicht recht. Ich habe neun Kinder, zwei sind tot, eines starb vier Tage nach der Geburt, ein anderes mit sieben Jahren. Wenn sie so jung sind, kann viel passieren, die Blattern, das Fieber, die Unfälle, man ist als Mutter darauf eingestellt. Aber wenn die Kinder erst einmal fünfzehn Jahre alt sind, denkt man, dass sie es geschafft haben. Zwischen fünfzehn und dreißig ist das beste Alter: Die Liebe kommt, die Hoffnung, die Heirat, für manche das Abenteuer. Sie in dieser Zeit aus dem Leben zu nehmen - wie kann man da nicht weinen? Sag mir das, Bruder Sandro? Wie kann man da nicht weinen?«
Giovanna brühte den Sud auf. Noch immer wandte sie Sandro den Rücken zu.
»Niemand weint um ihn. Alle beten, aber niemand weint. Ich kannte ihn nicht gut, woher auch, er war ja noch nicht lange da, und auch ich war erst vier-, fünfmal in diesem Haus. Ich sah ihn ab und zu, schlug ihm auf die Finger, wenn er an meine Töpfe ging, um zu naschen … Gestern Abend hat er auch genascht. Er rannte durch die Küche in den Hof, auf die Latrine, und als er zurückkam, steckte er seinen Finger in meine Fischsuppe. Ich warf eine Kirsche nach ihm. Das war das letzte Mal, dass ich … Dio mio. Er war noch ein Kind. Neunzehn, nun gut. Trotzdem noch ein Kind.«
Sie stützte sich mit beiden Händen auf einer Arbeitsplatte ab. Wieder zuckte ihr Körper.
»Weißt du, wie er mich nannte? Mama Giovanna. Mama Giovanna. Alle Schüler im Collegium nennen mich so: Mama. Wie kann man da nicht weinen?«
Sie hielt in ihren Bewegungen inne. Sandro ging zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. »Es ist gut. Weine, Giovanna. Weine, Mama.«
Sie sah ihn an. Dann glitt der Hauch eines Lächelns über ihre Lippen. Dass er sie Mama genannt hatte, gefiel ihr.
Sie schob ihm den Becher zu. »Ingwer mit Honig. Schmeckt unwiderstehlich.«
»Davon bin ich überzeugt.«
Sie stemmte die Hände in die Hüften und eroberte sich dadurch ein Stück des rauen Wesens zurück, das ihr eigen war. »Rede nicht, trink.«
Er trank, und als er ihr zulächelte, lächelte sie zurück. »Du bist der Einzige, der sich bisher in der Küche hat blicken lassen - außer Birnbaum, der mir kurz gesagt hat, was passiert ist.«
»Die anderen haben vom Ehrwürdigen die Aufgabe erhalten, zu beten.«
»Ich weiß, ich weiß. Gebetet wird viel in diesem Haus. Geholfen hat’s nichts. Keine gute Stimmung hier. Von Anfang an nicht. Hier ist der Wurm drin. Auch die Schüler sind nicht gerne hier, außer dem Johannes. Aber der Gisbert und der Tilman, die haben mich mal zu meiner Wohnung begleitet, als es spät und dunkel war, und da haben sie mir beide gesagt, dass sie das bevorstehende Studium nur absolvieren, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Es liegt kein Segen über diesem Haus, das spüre ich bis in die Knochen. Du hast doch nicht etwa vor, hier als Lehrer zu arbeiten?«
»Nein, ich …«
»Das kann ich ja nicht mit ansehen«, unterbrach sie ihn.
»Was?«
»Wie dünn du bist. Warte, ich gebe dir was zu essen.«
»O nein, ich …«
»Keine Widerrede.« Sie fischte mit einem riesigen Löffel in diversen Töpfen nach Speisen, die sie auf eine Platte legte und ihm vorsetzte. »Zartere geschmorte Nierchen hast du nie gegessen. Versuch die zuerst.«
»Ich habe ja vorhin schon …«
»Nun zier dich nicht, mein Junge - äh, Bruder.« Sie lachte. »Iss. Nun iss endlich.«
Er sah auf die Platte hinab, dann streifte sein Blick nachdenklich über die zahlreichen Töpfe und Pfannen.
»Genau genommen«, sagte er, »wäre es besser, das alles wegzuwerfen. Johannes wurde vergiftet, und wir wissen noch nicht, worin das Gift war. Ich glaube zwar nicht, dass …«
Er kam nicht weiter.
Giovanna riss Augen und Mund auf. »Heißt das, du nimmst an, es ist in meinem Essen?«
»Vermutlich ist es nicht …«
»Aber du schließt es nicht aus?«
»Immer mit der Ruhe, Mama Giovanna. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich gar nichts ausschließen.«
Giovanna zögerte keinen Moment. Sie machte sich mit der Kelle über alle Töpfe her, und Sandro, der sie aufzuhalten versuchte, wurde von ihren kräftigen Armen zurückgestoßen. Nieren, Fischsuppe, Kaninchenfleisch - alles stopfte sie in sich hinein. Und als sie fertig war, rief sie: »So, wenn ich morgen tot bin, weißt du, dass es Selbstmord war. Dann habe ich mich selbst vergiftet.«
»Giovanna, was hast du da gemacht? Niemand verdächtigt dich.«
»Und damit das so bleibt, habe ich den besten Beweis für meine Unschuld geliefert. Ich habe nur von dem Essen gekostet, das ich selbst gekocht habe. Die deutsche Pampe, die dieser Birnbaum zusammengepanscht hat, habe ich nicht angerührt.«
»Aber was, Giovanna, wenn der Mörder ohne dein Wissen etwas in dein Essen gegeben hat?«
»Das kann nicht sein. Ich bin ja erst ins Collegium gekommen, als die anderen zur Messe gegangen sind. Und ich war die ganze Zeit hier. Außerdem schmecke ich den ganzen Abend lang mein Essen ab. Da hätte ich schon dreimal tot umfallen müssen. Und du auch. Oder hast du vorhin an der Tafel etwa mein Kaninchen und die Nierchen nicht angerührt?«
Sie griff nach dem Kochlöffel und schwang ihn.
»Doch, natürlich habe ich davon gegessen«, beeilte Sandro sich zu bestätigen.
Sie ließ den Löffel sinken, und er fiel zu Boden. Der Ausdruck unendlicher Müdigkeit senkte sich wie ein Vorhang über ihr Gesicht, über den ganzen Körper. »Ich will nach Hause«, sagte sie. »Darf ich nach Hause, Bruder Sandro?«
Sandro war ergriffen von ihrer ermatteten, kraftlosen Stimme. Innerhalb einer Viertelstunde war Giovanna abwechselnd todtraurig, dann heiter und zornig gewesen, und schließlich war sie entkräftet. So waren sie, die römischen Mütter.
»Selbstverständlich«, sagte er und sah zu, wie sie ihre Sachen packte und die Küche durch den zweiten Ausgang, der zu einem Hof führte, verließ.
 
Hauptmann Barnabas Forli fand exakt jene Situation vor, die er sich auf dem Weg von seiner Kommandantur auf dem Aventino zum Collegium Germanicum vorgestellt hatte: kniende Mönche, Gebete brabbelnd, mit gefalteten Händen und gekrümmten Nacken. Vom bloßen Zuschauen drehte sich ihm schon der Magen um. Zwar wurde ihm von jeher beim Anblick der Geistlichkeit ein wenig übel, aber Mönche waren eine Kategorie für sich. Sie liefen mit einem Heiligenschein herum, als kämen sie soeben von einer Besprechung mit Jesus Christus im Garten Gezemane zurück, dabei konnte man die meisten von ihnen mit einem Knurren in die Flucht schlagen. Forlis Meinung nach wurde man nur deswegen Mönch, weil man die eigene Schwäche mit der Kutte tarnen wollte. Einige nutzten die Kutte, um sich einen Nimbus zu verschaffen, den sie im wahren Leben, dem Leben da draußen, nie erlangt hätten. Sie spielten sich als Gelehrte auf, weil sie auswendig gelernte Lateinverse aufsagten, als Gesegnete, weil sie Choräle sangen, die zum Einschlafen waren, als Apostel, weil sie ihre Hände beschwörend über Häuptern kreisen ließen, und als Feldherren Gottes, weil sie irre Ideen in die Welt setzten, die allein ihnen nutzten, niemandem sonst. Sicher, es gab auch Bescheidene. Sie waren so lebensuntüchtig, dass ihnen nichts anderes einfiel, als in einen Orden einzutreten und so zu tun, als seien sie aus freien Stücken bescheiden und zurückhaltend. In Wahrheit waren sie weder das eine noch das andere, sondern schlicht Figuren kläglicher Feigheit.
Die einfachen Leute jedoch, vor allem auf dem Land, sahen eine Kutte, ein Kreuz, eine Tonsur, eine Bibel und hörten sofort alle Engel singen und nahmen eine unterwürfige Haltung ein. Das gefiel den Prahlhänsen und Verrückten natürlich.
Es mochte Ausnahmen geben, aber Forli kannte nur eine: Sandro Carissimi. Und es hatte fast ein Jahr sowie fünf aufgeklärte Morde lang gedauert, bis er ihn als Ausnahme anerkannt hatte.
Alle in einen Sack und draufhauen, dachte Forli, als er die Mönchsbande von hinten betrachtete. Man träfe immer den Richtigen.
Er verließ den Saal wieder und suchte nach Carissimi, als er Angelo aus einer Tür kommen sah. Der junge Diener, der ihn gerufen und ins Collegium geführt hatte, sah müde aus, was nicht erstaunlich war, wenn jemand zuerst durch die halbe Stadt in den Vatikan gerannt war, um den Leibarzt des Papstes zu unterrichten, und dann erneut durch die halbe Stadt auf den Aventino gerannt war, um ihn zu holen. Vor Burschen wie diesem Angelo zog er seinen Hut.
»Wo ist Carissimi?«
Angelo zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ah, da vorn ist er, er kommt gerade aus der Küche.«
»Danke, mein Junge, du kannst dich jetzt irgendwo ausruhen, am besten in der Nähe der brabbelnden Jesuiten. Behalte sie ein bisschen im Auge.« Forli ging Carissimi entgegen. »Seid gegrüßt, Mönch«, rief er und fügte hinzu: »Bäh, Ihr riecht nach Weihrauch. Habt Ihr schon Euren Totenschnickschnack zelebriert, Carissimi?«
»Nein, der Weihrauch haftet wohl noch von der Messe an meinem Gewand. Ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Liegt wohl daran, dass Euch das Zeug nach all den Jahren mittlerweile in den Adern zirkuliert. Dann riecht man es nicht mehr.«
Carissimi lächelte. »So wie Ihr den Schweiß, wie? Danke, dass Ihr so schnell gekommen seid.«
»Ihr wisst doch: Ohne Euch kann ich nicht leben. Und ohne Eure Morde schon gar nicht.« Er lachte. »Ehrlich, wenn ich mal ein paar Monate keine Toten sehe, geht’s mir richtig schlecht. Seht mich nicht so vorwurfsvoll an, war ja nur ein Spaß, Carissimi. Euren Humor habt Ihr wohl, neben vielem anderen, für immer unter der Kutte versteckt, was? Nun redet schon. Euer Diener wusste nicht allzu viel. Was hat der Arzt gesagt? War es Mord?«
Carissimi nickte. »Das Gift muss dem Schüler Johannes von Donaustauf zwischen der fünften und siebten Stunde zuge - führt worden sein. Vielleicht von jemandem im Collegium. Habt Ihr Wachen mitgebracht? Ich will nicht, dass Beweismittel verschwinden.«
»Ein Mann steht vor der Hauptpforte, ein Zweiter am Hinterausgang. Und ich stehe an Eurer Seite.«
»Danke, Forli, aber das geht nicht. Die Stadtwache darf nicht in den Fall verwickelt werden, jedenfalls nicht, was die Ermittlungen angeht. Zu heikel. Das wird weder der Papst noch der Pater General gestatten.«
»Aber Ihr habt mich doch eigens rufen lassen, um …«
»Um das Haus zu bewachen, Forli.«
»Ich bin doch kein Köter.«
»Und das Haus zu durchsuchen, sobald ich die Erlaubnis des Pater Generals habe.«
»Das heißt, ich habe die Arbeit, und Ihr habt den Spaß. Da mache ich nicht mit.«
Carissimi sah ihn auf eine Weise an, die ausdrückte, dass Forli ihm noch einen Gefallen schuldig war. Und das stimmte. Leider. Er wäre heute nicht mehr Hauptmann, wenn Carissimi sich nicht für ihn eingesetzt hätte.
Dass es so weit kommen musste, dachte Forli. Einem Mönch etwas zu schulden, selbst wenn es ein sympathischer Mönch war, war ein Tiefpunkt seines Lebens.
»Also gut«, murrte er.
»Danke, Forli. Ihr seid ein Freund.«
»Und Ihr ein Erpresser.«
Carissimi lachte. »Ich beichte es bei nächster Gelegenheit. Jetzt muss ich mich beeilen, der Pater General wartet. Behaltet Ihr bitte meine Mitbrüder und die Schüler im Auge, ja?«
Carissimi, schon halb im Gehen, sah ihn noch einmal an und sagte: »Seid höflich zu ihnen, Forli. Ihr habt es hier nicht mit betrunkenem Gassenpöbel zu tun, sondern mit Jesuiten.«
»Das weiß ich doch. Ich werde ein paar Ave Maria mit ihnen beten, ihnen einen Pfannkuchen backen und die Schuhe putzen, also alles das tun, was Hauptleute normalerweise tun.«
»Forli …«
»Ja, ja, ich habe Euch verstanden. Keine Sorge. Ihr wisst ja: Jesuiten sind meine Lieblingsmönche.«
Als Carissimi gegangen war, ballte Forli die rechte Hand zur Faust, bis die Knöchel knackten.
 
Im Speisesaal war die Lage unverändert. Vier Jesuiten in schwarzen Gewändern knieten vor einem Kreuz an der Wand und wisperten, jeder für sich, Gebete. Zwei junge Burschen in krebsroten Talaren hielten sich im Hintergrund und beteiligten sich nicht an dem Gebrabbel, sondern verharrten, kniend zwar, dennoch in einigermaßen teilnahmsloser Haltung, wobei sie sich von Zeit zu Zeit einen Blick zuwarfen.
Angelo gab ihm zu verstehen, dass keiner der sechs inzwischen den Raum verlassen oder etwas angefasst hatte.
Forli spuckte in eine Ecke, wodurch er Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Einer der Mönche hatte ihn gehört und kam ihm entgegen. Die anderen wurden ebenfalls auf Forli aufmerksam und erhoben sich einer nach dem anderen.
»Ihr seid …?«, fragte der Mönch.
»Erbarmungslos«, antwortete Forli. Damit löste er bei seinem Gegenüber Erstaunen aus - und bei den beiden Jungen in den krebsroten Talaren Gelächter.
Forli schritt langsam zu ihnen, wobei er betont fest auftrat. Er war sich seiner Wirkung durchaus bewusst. Seine enorme Körpergröße, seine stämmige Statur und die dunklen Augen vermochten jeden einzuschüchtern, selbst diejenigen, die er gar nicht einschüchtern wollte, wie zum Beispiel Frauen. Aber wenn er es darauf anlegte, konnte er mehr als einschüchternd, konnte bedrohlich wirken.
Das gewünschte Ergebnis war umgehend bei den beiden jungen Männern zu erkennen, die verstummten und aussahen, als hätten sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas zu lachen gehabt. Forli überragte sie um deutlich mehr als einen Kopf.
»Setzen«, sagte er nur.
Die beiden Verunsicherten zögerten, aber nur so lange, bis er den Mund öffnete, um seinen Befehl zu wiederholen - wozu es nicht kam, da sie auf der Stelle an der Tafel Platz nahmen.
»Ich muss doch sehr bitten«, protestierte der Mönch. »Ich bin Bruder Nikolaus Königsteiner, und solange mein Ordensgeneral Ignatius von Loyola nicht anwesend ist, spreche ich in seinem Namen. Daher frage ich Euch, wer Ihr seid und was Euch anficht …«
Er wurde von einem anderen Mönch unterbrochen. »Dazu habe ich etwas zu sagen.«
»Nicht jetzt«, erwiderte Königsteiner gereizt. »Ich weiß ja, Bruder de Soto, dass Ihr Euch einbildet, Ihr würdet geeigneter sein, im Namen des Ehrwürdigen zu sprechen. Tatsache ist, dass ich der Ältere bin und daher das erste Wort habe.«
»Das erste Wort vielleicht, aber nicht das letzte, Bruder. Ich wollte nur sagen, dass dieser Mann Hauptmann Forli ist.«
Auch Forli hatte ihn sofort wiedererkannt: Luis de Soto. In Trient hatte er von diesem aufgeplusterten Mönch noch Befehle entgegennehmen müssen.
Forli begrüßte de Soto mit einem kurzen Nicken. »Setzen«, sagte er. »Alle setzen sich an den Tisch.«
Die Jesuiten sahen einander an und folgten dann dem Befehl. Nur Königsteiner hielt noch stand. Er war fast so groß wie Forli und verschränkte die Arme vor der Brust. Entweder hatte er Rückgrat und Mut oder kindischen Trotz in sich.
»Ihr habt mir nichts zu befehlen«, sagte er. »Hauptmann oder nicht, dies ist ein Haus des Herrn und ich …«
Forli packte ihn am Arm und im Nacken, zerrte ihn zur Tafel und drückte ihn unsanft auf einen Stuhl. Er blieb neben Königsteiner stehen und sah auf ihn hinab. Beide schwiegen; Forli, weil er das Nötige gesagt hatte, und Königsteiner, weil der Schreck ihm in den Knochen steckte.
Kaum hatte Forli sich ein paar Schritte entfernt, sagte Königsteiner: »Ich - ich setze mich nur unter Protest.«
»Meinetwegen«, sagte Forli. »Der ist so viel wert wie das, was die Hälfte von euch allen gerade in die Hose gemacht hat.«
Zufrieden besah er sich das Ergebnis. Die Mönche saßen an der Tafel und blickten ihn verunsichert an, der Widerstand war gebrochen. Damit war die Ordnung hergestellt, und er konnte sich einen Überblick über diesen armseligen Haufen Verdächtiger verschaffen, von denen er - das merkte er sofort - bis auf einen niemanden leiden konnte. Sie gehörten, wie de Soto und Königsteiner, zu den Wichtigtuern und, wie der Dicke und der Blasse mit den Pickeln, zu den Hasenfüßen.
»Ich bin Bruder Birnbaum«, begann der Dicke. »Soll ich - darf ich Euch etwas zu essen bringen?«
Königsteiner griff sich an die Stirn. »Wirklich, Bruder, ist das alles, woran du immerzu denkst? Du würdet wohl auch einen Wegelagerer bekochen, bevor er dir die Kehle durchschneidet.«
Der dicke Birnbaum blickte Königsteiner grimmig an, aber seine Erwiderung fiel äußerst devot aus. »Ich versuche ja nur … Ich wollte ein guter Gastgeber sein. Es ist doch offensichtlich, dass dieser Mann im offiziellen Auftrag gekommen ist, und ich möchte ihm die Herzlichkeit erweisen, die uns Jesuiten …«
»Seid still, Bruder Birnbaum«, sagte Königsteiner. »Um deiner selbst willen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das ist der von dir mit Abstand am häufigsten verwendete Satz, Bruder. Das sollte dir zu denken geben. Und noch etwas sollte dir zu denken geben. Ein Toter während des Essens, ein päpstlicher Arzt, ein Visitator, ein Hauptmann und unser Pater General, der so erschüttert ist, dass er nicht mit der Sprache herausrücken wollte, was eigentlich geschehen ist, sondern sich in sein Zimmer begeben hat. Und - nicht zu vergessen - ein Koch.«
Er sah Birnbaum an, und nun sahen auch alle anderen Birnbaum an. Dem verschlug es im ersten Moment die Sprache.
Als er sie wiedergefunden hatte, stammelte er: »Das wäre ja … wäre ja töricht, wenn ich … sollte ich … welchen Grund sollte ich … ich meine, das wäre eine Narretei sondergleichen, wenn ausgerechnet ich …«
»Ja, eben«, sagte Königsteiner. »Eben weil es töricht wäre, wird man sofort an dich denken.«
Forli hatte den kleinen Disput nicht unterbrochen, und er entfernte währenddessen mit einem Tafelmesser den Schmutz unter den Fingernägeln. Diese Arbeit war nun getan, und es wurde ihm langweilig. Carissimi hatte ihm zwar gesagt, dass er sich aus den Ermittlungen heraushalten solle, aber Forli juckte es gehörig in den Fingern.
»Hat jemand der Anwesenden diesen Saal verlassen, seit der Schüler zusammengebrochen ist?«, fragte er.
Die Jesuiten blickten sich gegenseitig an, und nach einer Weile sagte Königsteiner: »Ich glaube nicht, Hauptmann. Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher. Seht Ihr, wir waren alle sehr durcheinander und …«
»Er war draußen.«
Der Zwischenruf war von einem der Schüler gekommen, der nun die Aufmerksamkeit auf sich zog. Unter allen Kuttenträgern war er der Einzige, der Forli einigermaßen sympathisch war. Er wirkte uneitel, bodenständig, wie ein einfacher Bursche vom Land, ja, er erinnerte Forli ein bisschen an sich selbst, als er noch jung gewesen war. Die rötlichen Haare, die Sommersprossen, der rebellische Ausdruck auf dem Gesicht: ein kleiner Forli, nur dreißig Jahre jünger. Außerdem sprach für ihn, dass er sich in seinem Talar nicht wohlzufühlen schien.
»Wie ist dein Name, Junge?«, fragte Forli.
»Das ist Ried«, antwortete Königsteiner für ihn. »Tilman Ried.«
»Müsst Ihr immer ungefragt Euren Mund aufmachen«, fuhr Forli ihn an und trug damit zur allgemeinen Genugtuung bei, wie er den Mienen der anderen entnahm. »Tilman Ried, also. Gut, Tilman, wen meinst du mit ›er‹? Wer war draußen?«
Tilman blickte zu seinem Tischnachbarn, dem zweiten Schüler. »Ihn meine ich. Gisbert von Donaustauf, den Bruder des Toten. Er ist kurz nach Johannes’ Anfall in Richtung Küche gerannt und war eine ganze Weile weg.«
»Du Drecksack«, spie Gisbert aus. »Was willst du damit sagen?«
»Nur, was ich gesehen habe.«
»Ich hätt’s wissen müssen, dass du ein feiger Lump bist, ehrlos wie alle Bauerntölpel.«
Gisbert stürzte sich auf Tilman Ried, der Stuhl kippte um, und beide fielen zu Boden. Gisbert lag auf Tilman Ried und drückte ihm die Kehle zu, wogegen Tilman sich heftig wehrte. Alle sprangen von ihren Stühlen auf und versuchten, die beiden auseinanderzubringen - außer Luis de Soto, der abseits stehen blieb und das Spektakel wie ein belustigter Gott betrachtete. Forli bemühte sich, zu den Kampfhähnen vorzudringen, musste aber erst einen Jesuiten nach dem anderen beiseiteschieben. Schließlich packte er Gisbert mit beiden Händen und riss ihn wie einen Mehlsack, den man auf einen hohen Wagen hieven möchte, von seinem Gegner weg. Da Gisbert sich wie ein Wilder gebärdete, hielt Forli ihn von hinten an beiden Armen fest.
Tilman Ried rappelte sich auf. Aus seiner Nase rann Blut, das er jedoch nicht beachtete; auch das von Birnbaum angebotene Schnäuztuch ignorierte er.
Er machte einen großen Schritt auf Gisbert zu, der noch immer in Forlis Griff gefangen war, holte aus und schlug ihm mit der Faust in den Bauch, sodass Gisbert aufstöhnte und zusammenbrach.
Auf dem Boden liegend, krümmte Gisbert sich vor Schmerzen. Trotzdem blickte er hasserfüllt auf und rief: »Das schwöre ich dir, Ried, du bist der Nächste.«
 
Als Sandro in das Zimmer des Ordensgenerals eintrat, verstand er, wieso man Ignatius von Loyola heimlich den schwarzen Papst nannte. Der Name war in Anspielung auf seine schwarze Kutte entstanden - im Grunde gab es keine Vorschriften bezüglich des Ordensgewands, aber die schwarze Kutte hatte sich im Großen und Ganzen durchgesetzt. Trotzdem erklärte sich dadurch nur der erste Namensteil, das Schwarz, denn schließlich hatten auch die Benediktiner und Dominikaner und Franziskaner Ordensgeneräle, die dennoch niemand die braunen oder weißen oder grauen Päpste nannte. Von dem einundsechzigjährigen Ignatius ging eine seltsame Autorität aus, seltsam deshalb, weil er alles äußerlich Autoritäre vermied. Er trug dieselbe schlichte Kleidung wie alle Jesuiten, sprach mit leiser Stimme, gestikulierte so gut wie gar nicht und schritt fast lautlos wie eine Katze. Seine Augen strahlten keine Strenge aus, im Gegenteil, ihr Blick war halb nach innen gerichtet, und Ignatius wirkte so, als ob er nicht vollständig im Hier und Jetzt wäre, als ob ein Teil von ihm weit entfernt auf einem sanften Ruhekissen läge.
Dabei war der Mann General! Nicht nur Ordensgeneral, er war beinahe ein richtiger General gewesen, ein junger Ritter und Soldat, ein Befehlshaber im spanischen Pamplona, wo er im Kampf schwer verwundet worden war und viele Monate lang unter entsetzlichen Schmerzen gelitten hatte. Damals hatte er eine Erleuchtung gehabt und sein Leben radikal geändert. Doch so umfassend seine Wandlung auch war, bis heute war trotz aller Zurückhaltung im Auftreten etwas Soldatisches, Kämpferisches, Standhaftes bei ihm zu spüren. Er hatte die Societas Jesu gegründet, zusammen mit sechs Gefährten, die gemeinsam die Gelübde auf dem Montmartre in Paris abgelegt hatten. Und er hatte den Orden binnen weniger Jahre zu einem der bedeutendsten aufgebaut. Die Jünger liefen ihm scharenweise zu, begeistert davon, dass sich endlich einmal ein Orden den Armen und Kranken widmete, dass man endlich die Ungebildeten unterrichtete und die Menschen in den fernen, neu entdeckten Weltgegenden für Christus gewann, nachdem die Könige bereits die Schätze erschlossen hatten. Dazu kamen einige Vorteile: dass die Jesuiten nicht in klösterlicher Abgeschiedenheit lebten, sondern in Häusern inmitten der Städte, umgeben von den Herausforderungen des Lebens; dass es statt Chorgesang, Wallfahrten und Reliquienverehrung um innere Einkehr ging, um Seelenübungen und eine Besinnung auf sich selbst; dass jeder Jesuit, wann immer ihm danach war, sich zur Andacht zurückziehen durfte. Auch Sandro hatte, um Buße für ein Verbrechen zu tun, sich bewusst den Jesuiten angeschlossen, weil er das Gefühl hatte, dort etwas Nützliches bewirken zu können - nützlich für andere und nützlich für seine eigene Seele. Die Societas Jesu hatte allgemein eine magische Anziehungskraft bekommen, die jene des Papsttums längst überstrahlte.
Jeder Jesuit legte am Ende seiner Ausbildung neben den anderen Gelübden der Keuschheit, Ehelosigkeit und Armut auch noch das einzigartige Gelübde des absoluten und unbedingten Papstgehorsams ab. Auch Ignatius hatte dieses Gelübde geleistet. Seinen Sitz hatte er in Rom aufgestellt, um den Päpsten nahe zu sein - aber böse Zungen meinten, um die Päpste, seine Gefangenen, besser kontrollieren zu können. Denn mit dem Gelübde hatte er nicht nur den Orden an die Päpste, sondern auch die Päpste an den Orden gekettet. Und tatsächlich hatte auch Sandro manchmal den Eindruck, als fürchte Julius die zunehmende Macht des Ordens und seines Generals, des schwarzen Papstes, mehr, als dass er sich darüber freute.
Als Sandro das Zimmer des Generals betrat, stand Ignatius auf, ging ihm mit behutsam erhobenen Armen entgegen und küsste ihn auf beide Wangen, allerdings sehr vorsichtig, so wie man alte Leute küsst.
»Bruder Carissimi. Nun bist du schon so viele Jahre Teil der Gesellschaft Jesu, und wir begegnen uns erst jetzt.« Ignatius sagte das ohne Freude oder Bedauern, er sagte es, als müsste es gesagt werden. Er bat Sandro, näher zu treten. Magister Duré befand sich noch in dem Raum, der von einem halben Dutzend Öllampen zaghaft erleuchtet wurde. »Der Magister hat dir etwas zu sagen, Bruder.«
Duré räusperte sich und blickte beschämt zu Boden. »Ja, Bruder Carissimi, ich gestehe, Euch belogen zu haben. Oder besser gesagt, Euch etwas, das ich ahnte, nicht mitgeteilt zu haben. Es geht natürlich um den toten Johannes, Gott sei seiner Seele gnädig.« Duré atmete tief durch. »Ich fürchtete, dass seine Atemlähmung keine natürliche Ursache hatte, als sich herausstellte, dass er unfähig war, zu erbrechen. So etwas geschieht nur als Reflex auf einen Wirkstoff. Ich - ich ahnte etwas, ja, insgeheim kam ich zur selben Schlussfolgerung wie Doktor Pinetto. Aber ich …« Er sah Ignatius an, der ihm mit einem Senken der Augenlider bedeutete, fortzufahren. »Aber ich wollte eine Untersuchung verhindern«, sagte er seufzend.
Sandro runzelte die Stirn. »Wieso?«
In den Augen des Mannes bildeten sich Tränen, die im schwachen Licht der Öllampen funkelten.
»Der Gedanke daran, dass die Eröffnung von etwas so Gro ßem und Wichtigem wie des Collegium Germanicum von einem Mord besudelt würde, war mir unerträglich. Der Orden hat Feinde, Bruder Carissimi, zahlreiche Feinde, denen nichts lieber wäre, als diese Gelegenheit zu benutzen, um einen Skandal heraufzubeschwören, der das Ansehen und die Integrität der gesamten Societas Jesu beschädigen würde. Im schlimmsten Fall müsste das Collegium wieder geschlossen werden, weil die Schüler ausbleiben. Das wäre ein bitterer Rückschlag.«
Sandro dachte nach. »Ihr hättet also einen Mörder mit seiner Tat davonkommen lassen?«
»Ja«, sagte er laut und deutlich, warf dem General einen schuldbewussten Blick zu und sprach danach leiser weiter. »Ich nahm nicht an - und nehme immer noch nicht an -, dass jemand von den Brüdern oder Schülern dieses Verbrechen begangen hat. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Johannes außerhalb des Hauses schlechten Umgang hatte. Er war seit seiner Ankunft oft in der Stadt unterwegs, einmal sah ich ihn zufällig mit einem - einem Mädchen und einem Burschen, die beide keinen günstigen Eindruck auf mich machten. Ich schätze …«
»Danke, Magister Duré«, unterbrach ihn der Pater General. »Ich denke, diese Erläuterungen genügen, um Bruder Carissimi Euer Fehlverhalten deutlich zu machen.«
Duré nickte. »Was ich damit nur sagen wollte: Mir wäre es lieber gewesen, irgendein Halunke kommt davon, als dass auf immer ein Schatten über diesem Haus und dem Orden liegt. Ich dachte, ich tue das Richtige, aber der ehrwürdige Pater General hat mir die Augen geöffnet.«
Duré sank auf die Knie. »Ich erbitte Eure Verzeihung, Bruder Carissimi.«
Sandro war es immer schon unangenehm gewesen, wenn Menschen vor ihm auf die Knie gegangen waren, aber ein Gelehrter gehörte nun wirklich nicht dorthin.
Er half ihm auf die Beine und lächelte ihn freundlich an.
»Vergeben und vergessen, Magister Duré.«
Der Magister dankte und ging hinaus.
Sandro war mit Ignatius von Loyola allein.
Jetzt erst - Auge in Auge mit dem General - fielen ihm alle Ordensregeln ein, die Ignatius aufgestellt und Sandro missachtet hatte. In der Regel »Über den Umgang mit Menschen« hatte Ignatius genaue Anleitungen gegeben, wie menschliche Begegnungen abzulaufen hatten: Kopfhaltung, Gangart, Augenaufschlag, Verbot von zusammengepressten Lippen, Verbot des Stirnrunzelns … Sandro hatte vorhin die Stirn gerunzelt, er hatte außerdem gelächelt. Nicht gut. Gar nicht gut. Unter dem Blick des Generals fühlte er sich gläsern, oder schlimmer, wie gesprungenes, fehlerhaftes Glas.
Er trat die Flucht nach vorn an.
»Ich bin froh, dass das aufgeklärt ist«, sagte Sandro und versuchte, sein Gesicht und seine Hände so wenig wie möglich zu bewegen sowie seinen Rücken gerade zu halten. »Und ich verspreche, ehrwürdiger Pater General, die Untersuchung diskret zu führen. Doktor Pinetto ist verschwiegen, und außer Seiner Heiligkeit und den Mitbrüdern unten im Saal muss niemand sonst erfahren, dass es heute Abend ein Verbrechen gegeben hat.«
Ignatius nahm Platz und gab Sandro zu verstehen, sich zu ihm zu setzen. Die Stille einer Andacht kehrte ein. Sogar die Flammen der Öllampen brannten ruhig. Loyolas Zimmer war genauso schlicht ausgestattet wie das des Schülers: ein Bett, eine Truhe, ein Kruzifix. Kein Schreibtisch, kein Papier, keine Lektüre, keinerlei Anzeichen von Arbeit, wie man es im Zimmer eines Mannes erwarten würde, der Dutzenden von Kollegien in der ganzen Welt vorstand und dessen Ideen und Worte mittlerweile in Gegenden getragen wurden, für die man noch keinen Namen gefunden hatte. Voller Beschämung dachte Sandro an seinen pompösen Amtsraum im Vatikan und das mit allen Bequemlichkeiten ausgestattete Quartier.
Während Sandro das Zimmer betrachtete, hatte Ignatius ihn betrachtet.
»Bruder Carissimi«, begann Ignatius mit milder Stimme, »lass uns über deine Einstellung sprechen.«
Sandro zögerte. »Meine Einstellung - zu was?«
Ignatius ließ eine Weile verstreichen. »Zum Beispiel dazu, dass du gern Gegenfragen stellst.«
»Ehrwürdiger Pater General, wie soll ich eine Frage beantworten, wenn ich die Frage nicht verstehe?«
»Womit du soeben erneut eine Gegenfrage gestellt hast. Es scheint dir in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, Menschen zu befragen.«
Sandro gab sich demütig. »Ich bitte um Verzeihung. Mein Amt als Visitator bringt das mit sich.«
»Dein Amt als Visitator - ja, das ist so eine Sache … Vielleicht ist das der Grund des Übels, über das ich mit dir sprechen will.«
»Des Übels?«, fragte Sandro und stellte fest, dass er schon wieder eine Frage gestellt hatte.
Ignatius antwortete erst nach einer Weile, so als habe er noch rasch ein Gebet dazwischengeschoben. »Ich bekomme die widersprüchlichsten Berichte über dich, Bruder Carissimi. Dein ehemaliger Provinzial im Hospital in Neapel lobte die Hingabe und die Demut, mit der du die Kranken und Sterbenden gepflegt hast. Und Bruder Luis de Soto war in den Jahren, in denen du ihm als Assistent gedient hast, ausgesprochen zufrieden mit dir.«
Das kann ich mir denken, dachte Sandro. Ich war ein Narr gewesen, und genauso einen hat er gewollt.
»Doch dann«, sagte Ignatius, »kam Trient. Von dem Moment an, wo der Heilige Vater dich zum Visitator ernannte, ändern sich die Meinungen über dich. Es ist gerade so, als habe dir jemand einen neuen Kopf aufgesetzt und ein neues Herz gegeben.«
Der Pater General hatte - sei es zufällig oder sei es hellsichtig - genau die richtige Beschreibung gefunden. Ein neuer Kopf und ein neues Herz. Der neue Kopf, das bedeutete ein Talent, das er bis dahin nicht an sich entdeckt hatte - Verbrechen aufzuklären. Um diese Arbeit tun zu können, musste man den Kopf freimachen von vorgefassten Meinungen, man musste von allen ausgetretenen Pfaden abweichen und einen eigenen Weg durch das Dickicht schlagen. Nur dann umging man die Fallen, die überall lauerten, nur dann erlangte man die nötige Selbstständigkeit. Sandro hatte diese Arbeit lieb gewonnen, denn sie forderte ihn heraus, ohne ihn zu überfordern, und der Erfolg bestätigte ihn. Zum ersten Mal in seinem Leben sah und spürte er in seinem Tun eine Heimat.
Und das neue Herz spürte Liebe, wo in seiner Jugend nur Liebelei gewesen war, und danach, als Novize und junger Priester, Hingabe und Demut. Antonia und seine Arbeit - das waren die zwei neuen Stützpfeiler, auf die er seine Zukunft aufbauen wollte.
Ihm war natürlich klar, dass die Liebe zu Antonia, sollte sie sich erfüllen, sowie seine Vorstellungen von Selbstständigkeit mit seinem Leben als Jesuit nicht vereinbar waren. Der Gehorsam und die Einhaltung der Gelübde waren oberstes Gebot in der Societas Jesu, Eigenständigkeiten und Ausnahmen wurden nicht toleriert. Zwar lehnte der Pater General Strafmaßnahmen jedweder Art strikt ab - in anderen Orden kannte man solche durchaus -, dafür wurde kurzerhand der Ausschluss verhängt, die »Trennung«, wie Ignatius es nannte.
Sandro hatte sich bisher keiner Verfehlung schuldig gemacht. Aber er war auf bestem Weg, es dahin kommen zu lassen. Er hatte eine hervorgehobene Position in einem den weltlichen Freuden nicht abgeneigten Umfeld des Papstes inne; er unterstand nur formal dem Jesuitenprovinzial von Rom, der ihn jedoch selten zu Gesicht bekam; er erledigte eine für Geistliche im Allgemeinen und für Jesuiten im Speziellen ungewöhnliche Aufgabe. Das entging auch Ignatius nicht.
Aber was hätte Sandro ihm antworten sollen? Ehrwürdiger Pater General, ich liebe eine Frau und will sie haben, aber gleichzeitig will ich Jesuit und Visitator bleiben.
Er musste lügen. Er musste sich verstellen. Nicht vor dem vergnügungssüchtigen Papst, der Sandros Bemühungen um Liebe und Erfolg nicht nur hinnahm, sondern sogar unterstützte. Nein, er musste vor einem der respektabelsten Männer des Jahrhunderts ein Schauspiel abliefern.
»Mein Kopf«, sagte Sandro, »arbeitet für die Wahrheit, ehrwürdiger Pater General. Wer, wenn nicht ein Geistlicher, sollte sonst die Umstände eines Verbrechens innerhalb gesegneter Mauern ans Licht bringen? Die Treue und enge Verbundenheit unseres Ordens mit dem Heiligen Stuhl hat die Wahl des Papstes auf einen Jesuiten fallen lassen. Nur der Societas Jesu traut er zu, die Geheimnisse, die bei der Aufklärung eines Verbrechens zwangsläufig zutage treten, für immer unter Verschluss zu halten. Das ist eine hohe Auszeichnung für uns alle.«
»Diese Arbeit hat dich jedoch einige Gewohnheiten annehmen lassen, Bruder Carissimi, die ich nicht billigen kann. Bruder de Soto teilte mir mit, dass du dich in Trient unbotmäßig aufgeführt hast. Der Provinzial von Rom erzählte mir, dass du deine Arbeit im hiesigen Hospital, wo du dich kaum noch blicken lässt, vernachlässigst. Ich selbst muss erstaunt feststellen, dass du einen Diener an deiner Seite hast. Andererseits überschlägt der Heilige Vater sich geradezu in Lobeshymnen, was deine Person betrifft. Ich erfahre, dass du deinen Einfluss einsetzt, um gute Werke zu tun, beispielsweise hat der Heilige Vater seine Zuwendungen an die Armenhäuser von Rom deutlich erhöht. Dann wieder höre ich, deinen Charakter betreffend, von problematischen Entwicklungen. Du siehst, Bruder, ich erhalte kein einheitliches Bild. Mein Gefühl sagt mir, dass sich hinter deiner Neigung, Fragen und Gegenfragen zu stellen, eine Art von Flucht vor dir selbst verbirgt. Du bist nicht mehr im Reinen mit dir.«
»Aber Ihr selbst, Pater General, befürwortet die unbedingte Loyalität zum Heiligen Stuhl.«
»Es geht hierbei nicht um den Heiligen Stuhl, sondern um dich.«
Ignatius zögerte, dann fuhr er fort: »Jeder Mensch hat eine Schwäche, Bruder, ein Schlupfloch, in das etwas Fremdes eindringen kann. Ich sage dir ganz freimütig, dass meine Schwäche die Sentimentalität ist, ja, ich hänge sehr an Vergangenem und Vertrautem, und das verstellt mir bisweilen den Blick auf die Gegenwart. Deine Schwäche, Bruder, scheint mir - nach allem, was ich höre und beobachte - der Wunsch zu sein, jedem zu helfen, sowie der Drang, es allen recht zu machen. Lass dir sagen, dass diese beiden scheinbar untadeligen Bedürfnisse unter ihrer Schale den giftigen Keim der Zersetzung tragen. Ja, sie zersetzen den Charakter, denn Kraft kann nur durch Sammlung entstehen, niemals durch Verzettelung. Wer es jedem recht machen will, wird zerrieben, und das bedeutet, dass aus etwas Ganzem ein beliebig verformbarer Haufen Einzelteile geworden ist. Es ist Tradition in dem Orden, dem wir beide dienen, dass man sich den Gefahren und Verlockungen der Welt stellt, ja, sich ihnen absichtlich aussetzt, mit dem Ziel, sie zu bestehen. Ich bin mir nicht sicher, ob du, Bruder, noch dieses Ziel hast.«
Sandro wusste, dass die Mahnungen des Generals sich auf die Nähe zum Vatikan bezogen, aber er selbst bezog sie auch auf seine Liebe zu Antonia, und deswegen nahm er Ignatius von Loyola seine Worte übel. Er weigerte sich, zu glauben, dass er drauf und dran war, ein verformbarer Haufen zu werden, schon gar nicht durch Antonias Schuld. Was war falsch daran, eine Frau zu lieben und gleichzeitig der Kirche zu dienen? Worin lag der Fehler, wenn er einem schuldbewussten Papst die Beichte abnahm und ihn zu guten Taten anregte?
Vielleicht spiegelte sich Sandros Verstimmung allzu sehr in seinen Augen wider, denn Ignatius von Loyola, der bisher mit größter Milde gesprochen hatte, mischte nun eine winzige Spur Vehemenz in seinen Tonfall und wechselte das Thema.
»Bruder Carissimi, ich sehe ein, dass das ernste Gespräch, das ich heute eigentlich vorhatte, mit dir zu führen, von den Umständen verhindert wird. Was diesen Vorfall angeht, diesen Mord, so werde ich nur dann billigen, dass du als Visitator ermittelst, wenn ich das Recht habe, bei den Befragungen der Mitbrüder anwesend zu sein.«
»Selbstverständlich«, sagte Sandro, dachte aber sogleich daran, wie das seine Arbeit erschweren würde. Im Beisein des Ordensgenerals würden sowohl er als auch die Befragten befangen sein.
»Außerdem brauche ich die Einwilligung des Papstes zu deiner Untersuchung.«
»Das ist nur eine Formalität, ehrwürdiger Pater General. Ich würde Euch darum bitten, die Brüder und Schüler anzuweisen, zwei Tage lang das Collegium nicht zu verlassen.«
Ignatius nickte. »Ich bewillige einen Tag.«
»Ich bat um zwei Tage, ehrwürdiger Pater General.«
»Und ich gebe dir einen Tag.«
Das passte Sandro gar nicht, aber er verneigte sich zum Zeichen der Unterwerfung. »Ich habe Wachen vor den Eingängen postiert, die sicherstellen, dass das Ausgangsverbot - das selbstverständlich nicht für Euch gilt - eingehalten wird. Und ferner möchte ich Eure Erlaubnis einholen, mithilfe des Hauptmanns Forli, dem ich vertraue, die Zimmer zu durchsuchen - außer Euer Zimmer natürlich.«
Ignatius erhob sich. »Nein, das werde ich nicht gestatten. Die Societas Jesu ist kein normaler Orden, wie du weißt. Der private Bereich jedes Bruders ist uns heilig. Deswegen haben die Zimmertüren keine Riegel, und keiner darf ein Zimmer eines Mitbruders betreten, wenn dieser nicht anwesend ist oder auf das Klopfen nicht reagiert.«
»Hier handelt es sich um eine Ausnahme, wie Ihr sicher zugeben müsst.«
»Ausnahmen gibt es nicht. Wenn wir von Jesuiten erwarten, dass sie sich an Regeln halten, dürfen wir sie nicht brechen, wenn es uns in den Kram passt. Vertrauen kennt keine Ausnahmen. Soldaten oder Polizisten dürfen das Collegium nicht betreten.«
»Ich habe Hauptmann Forli bereits hereingebeten.«
»Das war voreilig und eigenmächtig. Der Hauptmann hat das Collegium umgehend zu verlassen. Guten Abend, Bruder. Ich möchte dich nicht länger aufhalten.«
Sandro stand der Sinn nach Widerspruch, aber er ahnte, dass das nichts bringen würde. Loyola war nicht dafür bekannt, sich belehren zu lassen, und sich zu diesem frühen Zeitpunkt mit dem zweitmächtigsten Mann der Kirche anzulegen, noch bevor Sandro mit dem mächtigsten Mann gesprochen hatte, wäre unvorsichtig. Immerhin hatte er bisher ja noch nicht einmal das Mandat, dieses Verbrechen aufzuklären.
»Bevor ich gehe«, sagte er und spürte dabei eine gewisse Genugtuung, »hätte ich noch ein oder zwei Fragen an Euch, ehrwürdiger Pater General. Und zwar den Toten betreffend.«
 
Rosina tanzte. Und die Leute sahen zu. Sie bildeten einen Kreis, sie klatschten zur Fidel, sie sangen, und sie sprangen von einem Bein aufs andere. Aber keiner drehte sich wie Rosina. Sie hatte eine Technik entwickelt, mit der sie sich wie eine Windhose drehen konnte, wieder und wieder. Das bisschen Schwindel ignorierte sie. Wenn es zu arg wurde, machte sie ein paar Sprünge, warf die Beine hoch oder bog sich nach hinten, bis sich das Mieder über den Brüsten spannte, oder sie bewegte die Arme wie Geäst im Gewitter - irgendetwas fiel ihr immer ein. Sie wusste in dem einen Augenblick noch nicht, was sie im nächsten tun würde, aber das fand sich stets, und zwar im Tanz ebenso wie im Leben. Und wenn ihr nichts mehr einfiel, dann drehte sie sich eben wieder, schnell und schneller, und wenn jemand rief: »Noch schneller«, dann schaffte sie auch das. Sie war Rosina. Sie war das Prachtmädchen. An den Fenstern und auf den Balkonen rund um den kleinen Innenhof he - rum standen die Frauen und schüttelten bewundernd die Köpfe. »Dieses Prachtmädchen.« Und: »Diese Blume im Wind.« Und: »Diese Rosina.«
Rosina machte die Abende, an denen sie im Hof tanzte, zum Fest, so auch diesen Abend. Als sie zu tanzen aufhörte, hatte sich das Feuer auf alle Männer und Frauen im Innenhof übertragen. Der Fiedler spielte weiter, und die Leute hakten sich an den Armen unter und tanzten zusammen, und diejenigen, die zu alt waren, wiegten sich und klatschten in die Hände. Überall war Lachen, wo sonst nur Trübsinn gewesen wäre.
Das war ihr Werk, sie wusste es. Sie war die Flamme, die die Freude entzündete. Und sie war die Prinzessin. Neider hatte sie nicht. Die anderen Frauen, deren Wohnungen um den kleinen Hof herum lagen, hatten bereits Ehemänner, oder sie waren kleine Mädchen, die noch nicht an Männer dachten. Somit war Rosina nicht nur die Flamme und die Prinzessin, sondern auch die Braut, die schöne Sechzehnjährige, die Nächste.
Sie genoss all diese heimlichen Titel, jeden einzelnen. Bescheidenheit war ihr fremd. Man hörte nie ein prahlerisches Wort von ihr, aber wenn man sie bewunderte, war es ihr sehr recht. Und wenn sie sich einmal schlecht fühlte oder ärgerte oder Angst hatte, oder wenn ihr Herz bei Aufregung wie wild schlug, dann ging sie eben in den Hof und tanzte. Meistens dauerte es nicht lang, der Fiedler bemerkte sie von seinem Fenster aus und spielte auf. So war es heute Abend gewesen. Sobald sie sich drehte, drehte sich alles nur noch um sie, dann vergaß sie die Sorgen, die Angst, alle Schmerzen.
Vergaß auch das Böse in ihr.
Schwer atmend, aber mit einem breiten Lächeln, zog sie sich in eine Ecke des Innenhofes zurück. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß und Ekstase. Die Pose, mit der sie sich auf die noch warmen Pflastersteine legte, war aufreizend, aber sie tat das nicht deswegen, sondern weil die aufreizenden Posen meistens auch die bequemsten sind. Sie stützte sich mit den Ellenbogen auf und spreizte die angewinkelten Beine, sodass der lange Rock sich spannte. Dann blies sie sich eine lockige Strähne aus der Stirn und lachte zu dem Reigen der Alten und Kinder und der Eheleute. Ihre Füße wollten noch nicht zur Ruhe kommen und bewegten sich leicht zur Musik.
Ab und zu sah einer der verheirateten Jungmänner zu ihr herüber, aber keiner belästigte sie, denn jeder wusste, dass sie keine von denen war, die Ehefrauen traurig machte. Schließlich würde sie irgendwann selbst eine Ehefrau sein.
Dieser Gedanke brandete wie eine große Welle über sie hinweg und löschte Freude und Flamme, löschte alle Illusionen aus. Rosinas Füße standen nun still. Die Beine berührten sich an den Knien, und die aufreizende Pose wandelte sich in ein Kauern. Sie hörte die Musik nicht mehr. Die klatschenden Frauen, die soeben noch ein Quell der Ermunterung gewesen waren, verkörperten plötzlich die Ahnung von Niedergang und Gleichgültigkeit. Sie saßen tagein, tagaus in ihren kleinen Wohnungen, von den Männern alleingelassen mit den Kindern, von den Männern mit Gleichgültigkeit behandelt und schlimmstenfalls geschlagen. Solche Frauen hatten, waren die Kinder erst erwachsen, bloß noch einander. Eine schlurfte zur anderen und beklagte sich, und irgendwann nicht einmal mehr das. Sie schlurften zueinander und schwiegen. Sie trauerten schweigend. Sie starben schweigend.
Doch man sollte sich nicht täuschen: Jede dieser Frauen war einst eine tanzende Rosina gewesen, nun gut, vielleicht nicht ganz so begabt, aber gewiss auf eine Art reizvoll. Sie alle waren Sechzehnjährige gewesen, jede von ihnen die Prinzessin irgendeines Innenhofes. Und nun standen sie auf den Balkonen mit schrundigen Händen, Zahnlücken und ausgetrockneten Augen, und sie klatschten und klatschten in der absurden Erwartung, dieser Abend der Freude und Ablenkung möge nie vergehen.
Doch er würde vergehen. Er war bereits dabei zu vergehen. Dieser Abend, und morgen der nächste, und dann der übernächste. Und jeder Abend brachte die Frauen auf den Balkonen dem erlösenden Tod näher - und Rosina der Zukunft als Frau auf dem Balkon.
Was war sie, Rosina, denn schon? Eine Innenhofprinzessin, eine Salome der Armen, umgeben von brüchigen Häusern, die von Menschen mit zerbrochenen Wünschen bewohnt waren. Schon zwei Häuser weiter befand sich der nächste Hof, dem ein dritter folgte und so weiter. Ein Mosaik aus tausend Innenhöfen, einer trostloser als der andere.
Dieser Abend war ein Trugbild, der Tanz nur ein Traum.
»Was liegt denn mein Rosinchen hier in der Ecke und trauert?«
Es war seine Stimme, die Stimme ihres älteren Bruders Franco, die im Nu ein wenig Hoffnung brachte. Doch sie wandte sich ihm nicht zu, damit er glaubte, sie sei seinetwegen beleidigt.
»Wo warst du? Ich habe getanzt.«
»Wie oft ich dich schon tanzen gesehen habe, Rosinchen!« Franco lachte leise und sogar ein bisschen verschämt, so als wäre er nicht ein älterer, sondern ein jüngerer Bruder. Und manchmal schien es tatsächlich so zu sein.
Er fügte hinzu: »Ich hatte zu tun.«
»Um diese Zeit schleppst du noch Holz und Mörtel?« Ihr Vater arbeitete für einen jener Bauleute, die einfache Baracken errichteten, und Rosinas Bruder half ihm. Für seinen Vater schleppte er die schweren Sachen, natürlich ohne dafür entlohnt zu werden. Nur ab und zu steckte der geizige Vater ihm eine kleine Münze zu.
»Holz und Mörtel«, sagte Franco enttäuscht, als handele es sich um verlorene Wetten. »Nein, heute habe ich für dich gearbeitet, Rosinchen.«
»Ach, was du nicht sagst«, murmelte sie in gespielter Gleichgültigkeit. »Welchen Wunsch hast du mir erfüllt?«
»Erzähl mir von deinen Wünschen. Nun komm, zier dich nicht, erzähl sie mir alle.«
Sie schloss die Augen. Die Musik drang jetzt wieder in sie ein, und sie war wie Wein, wie Trunkenheit. Die Wünsche zogen langsam an Rosina vorüber, gleichsam Karawanen, beladen mit Kisten voll mit Spezereien.
»Ein Haus mit viel Platz«, flüsterte Rosina. »Die Sonne strömt herein, das Silber blinkt, ich streichle es, ich schmiege mich auf ein weiches Kleid, das auf dem Bett liegt.«
Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen.
»Eine Kutsche mit vier Pferden - nein, zwei genügen. Zwei Pferde also, die mich an Orte ziehen, die ich zufällig einmal beim Kartenzeichner um die Ecke gesehen habe, Orte mit verheißungsvollen Namen, hinter denen sich etwas zu verbergen scheint: Fontainebleau, Montserrat, Lochleven, Utrecht, Antiochia, Saloniki …«
Sie seufzte leise. »Aber im Grunde braucht es all das nicht, sondern nur eines: ein Mann, der mich will, der mich wirklich will, der in mir etwas Wichtiges für sich sieht. Und genug Geld, um nicht den nächsten Tag fürchten zu müssen. Damit will ich zufrieden sein.«
Francos Hand berührte ihre Schulter, und er flüsterte in ihr Ohr: »Siehst du, genau dafür habe ich heute gearbeitet.«
Nun wandte sie sich ihm zu. Sie waren sich ganz nah, das war schon immer so gewesen. Daran war nichts Verwerfliches, nichts, was einen Ablass gekostet hätte. Sie waren sich eben nur nah, ungewöhnlich nah, das war alles. Er war keiner dieser ewig eifersüchtigen Brüder, die ihren Schwestern keinen Spaß erlaubten. Wenn sie tanzte, klatschte er dazu, wenn man sie bewunderte, freute es ihn. Auch darin war er also eher ein jüngerer als ein älterer Bruder. Er würde ihr jeden Mann gönnen. Sogar zwei Männer.
Sie küssten sich auf die Wangen. Rosina betrachtete ihn. Wie viel von ihr selbst sie an ihm wiedererkannte: die kleinen schwarzen Locken, die etwas zu vollen Wangen, die immer ein wenig ölige, braune Haut, und in den dunklen Augen der Glanz des Ehrgeizes, des Willens, hier herauszukommen.
»Was hast du getan?«, fragte Rosina, und vielleicht sprach sie es mit Misstrauen aus.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass Wünsche, wie wir sie haben, vom Himmel fallen?« Francos Stimme hatte sich verändert. Es war nun die Stimme eines älteren Bruders. Rosina passte sich dieser Veränderung sofort an. Sie wusste aus Erfahrung, dass die Rolle des ein wenig gekränkten Schwesterchens und Täubchens für heute ausgespielt war. Er redete ernsthaft mit ihr, und das hieß, dass er die Führung übernahm, der sie sich stets unterordnete.
Als er sah, dass sie nicht widersprechen würde, egal, was er sagte, wurde sein Ton wieder sanfter, wenn auch nicht mehr so verspielt wie zu Anfang des Gesprächs. »Unsere Wünsche erfordern Maßnahmen, die …«
Er ließ den Satz absichtlich ins Leere laufen, dorthin, wo die Fantasie allen Raum hat und alles entstehen lassen kann.
Sie waren sich wieder nah, so nah. Es war, als würden ihre Augen sich berühren, und sie spürte erneut das, was sie verband, all die Ähnlichkeiten, zu denen auch das Böse gehörte.
»Was hast du getan?«, fragte sie noch einmal, aber diesmal ohne Misstrauen oder Vorwurf. »Was willst du, dass ich tue?«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, denn sie fürchtete sich vor ihr. Ihr Herz pochte wie bei einem Schicksalsschlag - und zugleich wie bei einer immensen Vorfreude.
»Komm, sieh zu, wie ich tanze.« Sie eilte in die Mitte des Hofes, wo das Feuer der Ausgelassenheit schon am Verglimmen gewesen war. Nun flackerte es noch einmal auf.
Tanze, Rosina, tanze dir den Teufel aus dem Leib.
Rosina tanzte mit ihm.
Der Schwarze Papst
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