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Antonia hatte lange in das Orange geblickt, das
die Junisonne auf den Wolken hinterlässt, wenn sie untergeht.
Hineingeblickt vom Entstehen bis zum Verschwinden. Und dann in das
Schwarz-Grau, das es nur einmal am Tag gibt, kurz, nachdem das
himmlische Feuerwerk abgebrannt ist.
Jetzt war es finster. Die Piazza del Popolo war ein
schwarzes Loch von unsagbarer Dichte, man konnte glauben, man
könnte hinunterspringen und ewig fliegen. Doch nach ein paar Metern
wäre Schluss.
Mörder, Mörder, Mörder.
Das Wort dröhnte in ihr. Nicht so sehr in Antonias
Kopf, es dröhnte dort, wo sich die kurze Verliebtheit zwischen ihr
und Milo abgespielt hatte, in ihrem Herz und ihrem Leib.
Mörder, Mörder, Mörder.
Sie hatte einen Mörder in ihren Körper aufgenommen,
den Mörder ihrer Freundin. Wenn sie daran zurückdachte, an die
Nächte mit Milo, an Milos Küsse, dann sah sie plötzlich Carlotta
vor sich … Sie hatte Carlottas Mörder in ihren Körper
aufgenommen.
Mörder, Mörder, Mörder.
Von hinten kam eine Umarmung, warme Hände, eine
Wange, die sich an ihre schmiegte, Atem an ihrem Ohr. Sandros
Atem.
Antonia wollte Sandro sagen, dass sie in dieser
Nacht nicht würde schlafen können, da fiel ihr ein, dass sie Sandro
nichts erklären musste. Er verstand von selbst, dass sie sich nicht
einfach schlafen legen konnte, schon gar nicht in ihr Bett,
in dem sie mit Milo geschlafen hatte, und zwar erst vor ein paar
Tagen.
Mörder, Mörder.
Sandro streichelte ihren Leib. Er meinte es gut,
tröstete Antonia.
Doch sie, sie hatte nur einen Trost: Dass sie mit Milo gebrochen
hatte, bevor sie wusste, was er war. Ihre Verliebtheit zu ihm war
gestorben, genau einen Tag vor der Erkenntnis. Und wenn es eine
Stunde gewesen wäre, auch gut. Wichtig war, dass sie sich nicht bis
zuletzt gestattet hatte, ihn zu begehren, und dass etwas in ihr so
stark und klug und intuitiv gewesen war, den Schnitt zu
vollziehen.
Mörder.
Dadurch, dass es Sandro gab, war ihr mehr geholfen
als dadurch, dass er sie streichelte. Seine bloße Existenz, die
Tatsache, dass da jemand war, den sie mehr liebte als Milo, war der
große Trost. Sandro war da. Durch ihn konnte sie sich verzeihen und
war keine Verräterin an Carlotta.
Sandro holte eine Decke und breitete sie auf dem
Boden aus. Sie legten sich gemeinsam darauf. Er drängte sich nicht
auf, und seine Verschiedenheit im Vergleich zu Milo tat ihr gut.
Sandros Brust war weniger behaart als die von Milo. Sandro roch
anders, atmete langsamer. Die Hände waren feingliedrig,
Edelmannhände.
In der Nacht hat die Zeit keinen Rhythmus. Antonia
wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren, als sie sagte: »Du
liebst mich.«
Sie sagte nicht: »Ich liebe dich«, denn das wusste
Sandro, und sie würde ihm noch oft, viele Male in ihrem Leben
sagen, dass sie ihn liebte. Heute musste er wissen, dass sie
wusste, dass er sie liebte. Das bedeutete weit mehr in so einer
Nacht, in der noch das Aroma des Mörders in der Luft lag und in der
der Mörder noch nicht ganz aus ihrem Leib verschwunden war.
Sie drehte sich zur Seite, und Sandro drehte sich
mit. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr, seine Hände, Beine,
seinen Körper.