5
Papst Julius hatte seit Wochen den gleichen, immer wiederkehrenden Traum. Ein Spätsommertag kurz vor der Ernte: Er ging durch ein endloses Kornfeld, dessen Ähren sich auf Höhe seiner Knie neigten. Weit und breit war nichts als Korn. Aber auf einer Anhöhe stand ein einzelner Baum, mal war es ein Ölbaum, mal eine riesige Buche. Plötzlich erhob sich eine Krähe von dem Baum und flog krächzend auf ihn zu. Die einzelne Krähe kam näher. Sie machte keine Anstalten, ihm auszuweichen. Als sie fast bei ihm war, schlug er nach ihr, und sie fiel zu Boden. Vom Baum her drang Geschrei zu ihm, das nicht nur von den Krähen zu kommen schien, sondern wie ein Heulen war. Zwei weitere Krähen stiegen auf. Er lief fort. Doch so schnell er auch lief, so viele Haken er auch schlug, so verzweifelt er in alle Richtungen blickte, er fand keinen Weg. Da war nur Korn, nichts als Korn, und ein Himmel so blass, als wolle er für immer verschwinden.
Als er sich umwandte, war der Baum noch immer genauso nah wie zuvor - und die Krähen stürzten auf ihn zu.
Er wehrte sich, duckte sich, schloss die Augen, schlug zu. Er traf fast bei jedem Schlag, spürte den Schmerz in der Hand, hörte den Schrei des verletzten Tiers. Wieder. Und wieder. Doch mit jeder Krähe, die zu Boden fiel, kamen zwei neue nach, und bald war er umgeben von Schwärze und Geschrei.
Seine Hand blutete.
Er war allein, einsam, angsterfüllt, niemand half ihm.
Da erkannte er eine Gestalt direkt neben sich. Er sah auf und erblickte - Sandro, Sandro Carissimi, den Mann, der seinem Sohn ein Freund gewesen war, der den Tod seiner Geliebten gerächt hatte, dem er in der Beichte ein kleines Stück seines dunklen Herzens geöffnet hatte.
Sandro, hilf mir!
Was sind das für Krähen, Heiligkeit? Wieso greifen sie an?
Julius schlug einen der Vögel zu Boden und trat auf ihn, bis sein Genick brach.
Sandro, hilf mir.
Hilf mir …
Hier teilte sich der Traum, so wie sich Wege teilen, die an völlig verschiedene Orte führen, zwei Schicksalen entgegen.
In dem einen Traum half ihm Sandro und stürzte sich in die Schlacht. Doch nun griffen die Krähen auch ihn an. Es gelang Sandro, sie in die Flucht zu schlagen, woraufhin sie sich auf den Baum zurückzogen und dort ausharrten, bereit, sich jederzeit wieder zu erheben.
In dem anderen Traum wandte Sandro sich ab, und Julius stieß einen entsetzlichen Schrei aus, der nicht endete, so als stürze er in einen unendlichen und leeren Abgrund.
»Heiligkeit.«
Julius spürte eine Hand nach ihm greifen.
»Heiligkeit.«
Er sah eine Kerze und ein Gesicht inmitten von Finsternis. Wo befand er sich? In einer Nacht! Aber in welcher, in der Nacht seiner Seele oder der Nacht der Erde?
Er spürte das Daunenkissen.
»Mein Gott, ich bin wach.«
»Eure Heiligkeit haben schlecht geträumt.«
»Sandro, bist du das?«
»Ja, ich bin es.«
Eine kindische Freude erfasste Julius. Er legte sich zurück und genoss den Atem, der langsam in ihn hinein- und hinausströmte, genoss den Anblick der kleinen Flamme und des Gesichts daneben. Er griff nach Sandros Hand.
»Setz dich zu mir, Sandro.«
»Ich weiß nicht, ob …«
»Ich sage dir: Setz dich.« Er wartete ab, bis Sandro seinem Befehl gefolgt war und sich auf die Bettkante gesetzt hatte, erst dann ließ er seine Hand wieder los.
»Habe ich im Schlaf gesprochen?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Ihr habt geschrien, sehr laut und ohne Pause, gerade so als …«
»Lass uns nicht mehr davon reden, hörst du?« Und er fügte dem strengen Satz sanft hinzu: »Bitte.«
Sandro sah ihn verdutzt an. »Wie Ihr wünscht, Eure Heiligkeit.«
Sie schwiegen. Er, der Papst, war dankbar für die Anwesenheit des Mönchs, für das Vertrauen und die Zuneigung. Seit dem Tod seiner geliebten Maddalena vor zwei Monaten hatte Julius keinen anderen Menschen mehr, dem er gute Gefühle entgegenbrachte, und er merkte, dass er daran litt und innerlich verdorrte wie eine Frucht an einem abgestorbenen Ast. Nur Sandro bereitete er gerne eine Freude, vielleicht, weil er in ihm jene Rechtschaffenheit sah, die ihm selbst abhandengekommen war. Er würde sich darum kümmern, dass ihm eine große Kirchenlaufbahn zuteil würde.
»Kommst du vom Collegium Germanicum?«
»Ja.«
»Ziemlich spät, muss ich sagen. Es sieht dem ach so weisen Ignatius von Loyola nicht ähnlich, seine Jesuiten erst zu nachtschlafender Zeit gehen zu lassen. Du bist mein Privatsekretär, nicht der seine.«
Julius hatte sich schärfer ausgedrückt, als er vorgehabt hatte, aber nun, da der Name des schwarzen Papstes - dieser Spitzname war eine Anmaßung, von der Julius glaubte, dass Ignatius von Loyola sie gerne hörte - wo also der Name des obersten Jesuiten schon mal im Raum stand, fand er Gefallen daran, noch ein wenig weiterzubohren.
»Warum wollte er dich unbedingt bei der Eröffnung dabeihaben?«
»Er hat mit mir sprechen wollen.«
»Eine Predigt, wie? Ich kann ihn hören, ohne dabei gewesen zu sein.« Julius zog eine Grimasse und sagte mit verstellter Stimme: »Der Vatikan ist nicht gut für dich, mein lieber Bruder Carissimi, du ziehst dich zu sehr aus unserer Gemeinschaft zurück, du wandelst auf gefährlichen Pfaden. Liege ich richtig?«
»Ihr seid nahe dran.«
»Ich kenne ihn. Einerseits schwört er dem Papsttum ewige Treue und Gehorsam, und andererseits möchte er sich am liebsten einen eigenen Papst backen. Hat er dir damit gedroht, dich aus dem Orden zu werfen?«
»Nein.«
»Soll er doch. Ich mache dich noch am selben Tag zum Dominikaner oder Franziskaner oder was immer du willst.«
»Ich kann nur Jesuit sein und sonst gar nichts, Eure Heiligkeit. Die Philosophie von Barmherzigkeit und Bildung ist für mich …«
»Ja, ich weiß, ich weiß«, unterbrach Julius ihn ungeduldig. Er musterte seinen Schützling über die brennende Kerze hinweg. Manchmal fragte er sich, ob Sandro nicht insgeheim hoffte, sein General entließe ihn aus dem Orden. Als Julius Sandro vor neun Monaten in Trient kennengelernt hatte, hatte dieser den Wunsch geäußert, den Orden und sein geistliches Dasein zu verlassen. Julius hatte das abgelehnt, weil das Geheimnis von Trient, das Sandro enthüllt hatte, zu groß und gefährlich war, als dass man jemanden damit in die Freiheit entlassen durfte, und weil Julius geahnt hatte, dass er die Fähigkeiten des jungen Mannes noch einmal würde brauchen können. Aber hatte Sandro sich damit arrangiert, weiterhin Geistlicher bleiben zu müssen, noch dazu im Intrigenpfuhl des Vatikans? Sandro hüllte sich gerne in Schweigen, vor allem, wenn es um ihn selbst ging.
War es denkbar, dass er Julius’ Tod erwartete, damit der Nachfolger im Pontifikat ihn freiließe?
Dieser Gedanke schreckte ihn auf. »Oh«, stöhnte er.
»Fehlt Euch etwas, Eure Heiligkeit?«
»Nein, schon gut, nur ein Zwicken.«
Julius dachte an Sandros unglückliche Liebe zu einer Glasmalerin. Sandro sprach nie darüber, aber Julius hatte auch so genug mitbekommen, um zu wissen, dass dort etwas im Argen lag. Natürlich sehnte Sandro sich nach einem weltlichen Leben, wenn er darin die Chance sah, diese Frau für sich zu gewinnen. Doch was wäre, wenn Julius’ unsichtbare Zauberhand die beiden zusammenbrächte? Dann würden Liebe und Kirchenkarriere sich für Sandro nicht ausschließen.
Abgemacht, sagte Julius im Stillen zu sich selbst.
Sandro räusperte sich. »Ich bin zu so später Stunde gekommen, Eure Heiligkeit, weil im Collegium Germanicum ein Verbrechen begangen wurde.«
»O nein, sag nicht …«
»Doch, Mord.«
Julius schloss die Augen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Ausgerechnet jetzt!
»Wer?«
»Ein Schüler, Eure Heiligkeit.«
»Wie ist sein Name?«
Sandro schien sich kurz zu wundern, weshalb der Papst sich nach dem Namen irgendeines Schulbuben erkundigte.
»Johannes von Donaustauf. Ihr kanntet ihn?«
»Mach dich nicht lächerlich. Woher sollte ich ihn kennen? Wie ist das geschehen?«
»Gift. Euer Leibarzt hat es bestätigt. Der junge Mann starb vor meinen Augen.«
»Eine schlimme Sache. Wird Loyola nicht gefallen.«
»Wem könnte so etwas gefallen - außer dem Mörder?«
»Leg nicht jedes meiner Worte auf die Goldwaage, Sandro. Nicht, wenn ich ein Nachthemd trage. Und was nun? Du willst natürlich den Mord aufklären. Hat Loyola zugestimmt?«
»Ohne Begeisterung. Er hat mir zahlreiche Auflagen gemacht. Forli, den ich zur Hilfe gerufen hatte, musste ich wieder wegschicken.«
»Und nun erwartest du, dass ich dir den Rücken stärke.«
»Ich bin Visitator, Eure Heiligkeit. Das ist meine Arbeit. Und sie macht nur Sinn, wenn ich nach eigenem Ermessen vorgehen darf.«
Julius dachte nach. Er hatte Sandro in den letzten Wochen so sehr mit Arbeit eingedeckt, dass er fast darin erstickte. So viele private Briefe hatte Julius schon lange nicht mehr diktiert, er hatte sogar Leuten geschrieben, die er nicht ausstehen konnte, und das alles nur, damit Sandro keine Zeit für etwas anderes - besonders für die Aufklärung des Todes von Carlotta da Rimini - blieb. Julius hatte von Massa und Massa hatte vom »Todesengel« erfahren, dass Sandro Ungereimtheiten beim vermeintlichen Selbstmord der Hure aufgefallen waren und dass er sich seither mehr für den Todesfall interessierte, als Julius recht sein konnte. Wie viel wusste er bereits? Hatte die Hure Carlotta da Rimini ihm je von ihrer Vergangenheit erzählt, davon, dass Julius in seiner Zeit als Erzbischof den Tod ihrer Familie verschuldet hatte? Wieso hätte sie das tun sollen, da es ihr doch darum gegangen war, sich an Julius zu rächen, indem sie seinen Sohn tötete? Nein, Sandro war ahnungslos, und doch - er war gut, zu gut in dem, was er tat, als dass man ihn nach Herzenslust hätte ermitteln lassen dürfen. Julius setzte auf Zeit. Noch ein paar Wochen harter Arbeit für Sandro, und die Sache wäre ausgestanden.
So gesehen war der Mord im Collegium Germanicum für ihn nützlich.
»Gib mir Wein«, bat er.
»Wie bitte?«
»Wein. Dort drüben steht welcher. Nimm dir auch welchen.« Er musste nachdenken, und das ging besser mit Wein. Und tatsächlich: Er roch ihn, und sofort fiel ihm ein weiterer Nutzen ein, wenn Sandro im Fall des toten Schülers ermitteln würde.
»Wenn einer diesen Mord aufklären wird, dann du«, lobte er ehrlich, aber auch mit Kalkül. Man nahm Menschen für sich ein, wenn man sie lobte. »Schön, ich stelle dich frei. Und ich gebe dir volle Handlungsfreiheit. Aber bevor du dich freust, Sandro, will ich dir noch einmal in Erinnerung rufen, was ich dir schon mehrfach geraten habe: Du darfst dir nicht immer nur Feinde machen, du musst dir auch ein paar Freunde und Unterstützer suchen. Deine Leidenschaft für Kriminalistik und deine Kompromisslosigkeit haben dir Sympathien bei der Bevölkerung eingebracht, aber die Bevölkerung zählt nicht. Du wirst künftig darauf angewiesen sein, Kardinäle, Kämmerer und hohe Ordensleute auf deiner Seite zu haben, Menschen, die dich gegen Anfeindungen verteidigen. Und Anfeindungen wird es geben, und die können dir höchst gefährlich werden. Das kann ich nicht oft genug betonen.«
»Redet Ihr von jemand Bestimmtem? Von Massa?«
»Massa ist ein Problem, aber ein kleines. Ich spreche von Luis de Soto. Seine Verbindungen in die Bistümer und den Vatikan sind exzellent. Er hat schon mehr Leuten Gefälligkeiten erwiesen, als du Haare auf dem Kopf hast. Dreiviertel der Kurie steht in seiner Schuld. Wenn du ihm auf die Füße trittst, Sandro, und er schreit, dann springen hundert Wölfe aus den Büschen und zerfleischen dich.«
»Eure animalische Wortwahl verursacht mir Gänsehaut«, scherzte Sandro.
»Das ist nicht witzig«, rief Julius streng. »Meine Möglichkeiten, dich zu schützen, sind begrenzter, als du glaubst, Sandro. Wenn de Soto es heute darauf anlegen würde, Front gegen dich zu machen, dann würde ihm das mühelos gelingen. Niemand ist unangreifbar, und auch ein mühsam erworbener Leumund ist schnell Schall und Rauch. Über Dritte könnte er Ermittlungen gegen dich einleiten lassen, er ist gut bekannt mit mehreren Inquisitoren. Ein Machtwort von mir könnte dich vor dem Schlimmsten bewahren, aber sobald eines Tages die tausend Glocken meinen Tod verkünden … Wenn schon nicht an dich selbst, musst du wenigstens an diejenigen denken, die dir nahestehen.«
Mit dem letzten Satz hatte er Sandro endlich aufgerüttelt.
»Also überdenke gut und wäge ab, bevor du etwas gegen de Soto unternimmst«, fügte Julius hinzu. »Ich sollte dir diesen Mordfall eigentlich nicht übertragen, aber ich weiß ja, dass du keine Ruhe geben würdest.« Julius hob ein wenig besorgt, aber auch zufrieden den Kelch. »Auf gutes Gelingen.«
Sandro nickte. »Auf die Wahrheit!«
 
»Du bist mir noch einen Mord schuldig.«
Laurenzio Massa wartete an ihrem üblichen Treffpunkt auf ihn, auf dem Palatinischen Hügel inmitten von Ruinen und Gestrüpp. Weiter vorn standen die Halbwüchsigen und jungen Männer, um sich älteren Männern anzubieten, aber bis hier hinten kamen sie nie, und selbst wenn - Milo und Massa waren ein junger und ein reifer Mann. Niemand würde auf die Idee kommen, dass der Kammerherr des Papstes und ein »Todesengel«, ein Auftragsmörder in vatikanischen Diensten, hier ihre Besprechungen abhielten.
»Ihr wisst sehr gut«, antwortete Milo, »dass ich bisher keine Gelegenheit hatte, Carissimi für Euch umzubringen. Er hat in den letzten Wochen den Vatikan so gut wie nie verlassen.«
»Der Papst hat ihn dummerweise mit Arbeit überhäuft, damit er keine Zeit für andere Dinge hat.«
»Heute hatte er sie. Er befragte eine Greisin, die den Mord an Carlotta von ihrem Fenster aus beobachtet hat. Und das Beste daran ist: Ich war dabei.«
Milo lachte, aber Massa hatte keinen Humor. Er fragte: »Hat sie dich erkannt?«
»Nein. Sie war damals viel zu weit weg. Macht Euch keine Sorgen.«
»Nicht du sagst mir, was ich machen soll, sondern umgekehrt. Du hast einen bezahlten Auftrag von mir bekommen. Erfülle ihn.«
»Ich habe schon eine Idee, wie ich …«
»Kleinigkeiten interessieren mich nicht. Ich will ein Ergebnis, und zwar bald. Morgen.«
Milo ließ sich durch Massas Gereiztheit nicht aus der Ruhe bringen. »Was kann denn schon passieren?«, sagte er. »Angenommen, Carissimi käme in die Nähe der Wahrheit. Glaubt Ihr wirklich, der Papst würde noch länger zu ihm halten? Ich weiß, wie die Edlen und Mächtigen denken, schließlich erlebe ich sie jeden Tag im Hurenhaus meiner Mutter. Jeder Einzelne von ihnen ist sich selbst der Nächste. Sie würden ihre eigenen Söhne einkerkern, wenn die es wagen sollten, gegen sie zu arbeiten. Julius würde Carissimi fallenlassen - und zwar sehr tief. Und damit würde sich Euer Problem, dass Ihr fürchtet, er könnte irgendwann Euren Platz als Kammerherr einnehmen, ganz von selbst lösen.«
Massa machte einen Schritt auf ihn zu. »Nun hör mir mal gut zu. Du magst exzellent darin sein, Leuten die Gurgel durchzuschneiden, und wahrscheinlich bist du auch exzellent darin, Glasmalerinnen zu besteigen. Aber fang gar nicht erst an zu denken, denn das ist nicht dein Metier. Ist auch nicht schlimm. Nirgendwo steht geschrieben, dass Todesengel intelligent sein müssen. Sie sind unbarmherzig und führen Befehle aus, und genau das erwarte ich von dir. Töte Carissimi. Soll ich es noch einmal für dich wiederholen, falls du etwas nicht verstanden hast? Es kann ja vorkommen, dass man sich zwei Worte nicht merken kann. Töte - Carissimi.«
Milo war unempfindlich gegen Beleidigungen, eine Folge seiner Kindheit. Als Hurensohn wurde er täglich gekränkt, meist von Gleichaltrigen, aber auch von deren Eltern und Großeltern, die ihren Sprösslingen den Umgang mit »so einem« verboten, ihn wegstießen, wenn er ihnen im Weg stand, und Worte für ihn fanden, die er zwar nicht kannte, deren innewohnende Abscheu er jedoch spürte. Im besten Fall wurde ihm Mitleid entgegengebracht: »Lass ihn, der Junge kann doch nichts dafür.« So oder so, er war ein Paria, ein Gemiedener. Lange Zeit hatte er sich vor der nächsten Beleidigung, dem nächsten Mitleid gefürchtet wie vor einem Schlag, von dem man weiß, dass er wehtun wird. Und er tat weh, jedes Mal, jeden Tag. Der Schmerz und die Angst davor wurden zu vertrauten Begleitern, und je mehr Zeit verging, umso schwerer waren diese beiden Begleiter auseinanderzuhalten, ja, sie wuchsen zusammen und wurden eins. Es bedurfte keiner konkreten Kränkung mehr, um den Schmerz auszulösen, er war immer da, so als atmete er ihn durch die Luft ein. Den wenigen Freunden, die er hatte - allesamt Söhne anderer Huren -, erging es nicht anders.
Und er sah sie sterben, einen nach dem anderen. Man sagte, sie starben an Krankheiten: Sie bekamen Pocken, Sumpffieber, sie schissen sich zu Tode, spuckten Blut … Doch er glaubte nicht, dass sie daran starben. Eigentlich, so dachte er, starben sie nicht, sondern sie gingen zugrunde, und das war etwas völlig anderes. Zugrunde gehen, zerfallen, vergehen. Sie vergingen, weil sie erfuhren, dass diese Welt sie nicht wollte und nicht brauchte, dass auch ihre Mütter sie nicht gewollt hatten, dass weder Gott noch die Liebe noch die wahre Leidenschaft ihre segnende Hand über den Akt ihrer Erzeugung gehalten hatten. Als Abfallprodukt einer Dienstleistung war ihr Zerfall vorhersehbar und erwünscht.
Milo hatte Glück gehabt. Hatte er Glück gehabt? Man sagte das so leichthin, aber nicht durch Glück hatte er überlebt, sondern weil er gelernt hatte zu hassen. Die Kränkungen und die Abscheu beantwortete er mit einem Hass, den er tief in seinem Innern hegte und pflegte und den er zu ansehnlicher Größe heranzog. Wie einen Krüppel, den man im Haus versteckt, offenbarte er ihn nicht, sodass die Welt nie von ihm erfuhr, obwohl er äußerst lebendig war und dafür sorgte, dass Milo nicht vereinsamte. Er überstand drei schlimme Fiebererkrankungen mit dreizehn, vierzehn und sechzehn Jahren. Der Hass gab ihm Kraft, Überlebenskraft.
So etwas war kein Glück, es war hart erarbeitet.
Massas Beleidigung führte nicht dazu, dass Milo ihn besonders hasste. Dieser ehrgeizige, hinterhältige und feige Geistliche war ihm nahezu gleichgültig. Er würde seinen Auftrag ausführen, das hatte er ohnehin vorgehabt, und er würde Sandros Tod - wie von Massa gewünscht - wie einen Unfall aussehen lassen, damit der Papst nicht seinen Kammerherrn der Tat verdächtigen konnte. Nein, der Hass bezog sich niemals auf eine einzige Person, er war allgemeiner Natur und verteilte sich wie Gestank auf alles und jeden in seiner Nähe.
Ein einziger Mensch war davon ausgenommen.
Als er tief in der Nacht in sein Zimmer im Teatro zurückkehrte, fand er dort Antonia vor. Sie schlief reglos in seinem Bett. Vom Mondlicht angestrahlt, leuchtete ihr Gesicht in der Finsternis. Er ging langsam durch das Zimmer, so leise, als würde er schweben, und betrachtete sie von allen Seiten. Sie gab ihm Frieden. Sie zu hassen war unvorstellbar. Die Liebe zu ihr hatte ihn damals wirklich überrascht, denn er hatte nicht geglaubt, dass er je Liebe empfinden würde. Seither entdeckte er Seiten an sich, die er nicht kannte, gleichsam blühende Inseln in einem eisengrauen Meer. Die Zärtlichkeit trat in sein Leben, der Wunsch, glücklich zu machen, das Verlangen nach Zukunft. Das war Antonias Werk, das Werk der wachen, klugen, lachenden und sanft schlafenden Frau, der Künstlerin, die aus einer anderen Zeit zu stammen schien, so anders war sie, so erfrischend. Ihre Frivolität hatte nichts Obszönes, ihre Schönheit war unaufdringlich heiter. Was sie sagte und tat, schien aus ihrem tiefsten Innern zu kommen, jede Oberflächlichkeit war ihr fremd. Er hatte es ihr noch nicht gesagt, aber ihre Glasfenster versetzten ihn in eine ungewohnte Stimmung: Ergriffenheit - auch eine blühende Insel, die er neu an sich entdeckte.
Nun saß er dicht bei ihr. Antonias Kopf berührte fast seinen Schoß. Er sah sie lange an, und er wünschte sich, dieser Augenblick möge nie enden, wünschte sich, er und sie wären Figuren eines Gemäldes, denn dann dürfte er sie für immer anschauen. Er bräuchte nicht die Welt zu sehen. Es gäbe nur sie und ihn und dieses Zimmer, das in das Licht der blauen Nacht getaucht war.
 
Giovanna wäre beinahe an dem Haus, in dem sie wohnte, vorbeigegangen. Es sah aus wie jedes andere, ohne Gesicht und Charakter und in der Nacht nichts weiter als eine Felswand zwischen anderen. Als sie nun davorstand, war sie fast zu müde, um den Hof zu betreten. Sie lief seit Stunden durch die Stadt, hatte Tausende von Schritten getan. Jetzt sehnte sie sich nach ihrem Bett, nach Schlaf, nach Vergessen, doch gleichzeitig wehrte sich etwas in ihr dagegen, diesen Tag abzuschließen.
Deswegen war sie vorhin, nachdem sie das Collegium verlassen hatte, nicht sofort hierhergegangen, sondern war dem Impuls gefolgt, ihre beiden seit langem toten Kinder zu besuchen. Sie lagen allerdings außerhalb der Stadtmauer, weit hinter dem Esquilinischen Hügel, was einen beschwerlichen Weg bedeutete. Giovanna hatte ihn auf sich genommen. Normalerweise gönnte sie sich keine Sentimentalitäten, denn die Arbeit, die täglich getan werden musste, hielt sie davon ab. Doch durch den Tod und die Tränen des Abends hatte sie sich nach den verstorbenen Liebsten gesehnt.
Mit der Stadtwache an der Porta San Lorenzo hatte es Ärger gegeben, weil es schon Nacht war, aber da in Rom nichts so genau genommen wird, durfte Giovanna passieren. Nach einem weiten Weg war sie bei Dunkelheit über den Friedhof gegangen und hatte sich zweimal auf die warme Erde gesetzt, zu jedem der beiden Kinder. Die Söhne lagen in Armengräbern, Massengräbern, und es tat Giovanna noch heute weh, wenn sie daran dachte, dass sie ihnen keine würdigere Bestattung hatte ermöglichen können, als letztes Geschenk einer Mutter.
Sie hatte nicht viel getan auf dem Friedhof, nur dagesessen, ohne Angst vor der Nacht und ihren Geräuschen. Und dann war sie denselben Weg wieder zurückgegangen.
Jetzt war sie erschöpft und zugleich immer noch unwillig, den vergangenen Tag loszulassen. Etwas ging ihr im Kopf herum, etwas, das mit Johannes zu tun hatte, dem jungen, toten Schüler. Doch sie wusste nicht, was es zu bedeuten hatte.
Sie schlurfte durch den Hof auf ihren Eingang zu, wobei sie mehrmals fast über herumliegende Gegenstände gestolpert wäre. Offenbar hatte es am Abend eine Feier im Hof gegeben. Das Mädchen von gegenüber, Rosina, hatte wohl wieder einmal getanzt. Ein Wildfang, diese Rosina. Giovanna sah ihr gerne vom Balkon aus zu, wenn sie tanzte. Vor dreißig Jahren hatte sie auch getanzt, nicht so gut wie Rosina, aber immerhin. Heute war sie einundfünfzig oder zweiundfünfzig, das hatte sie vergessen. Sie hatte ihr Leben gelebt. Eine Witwe. Von ihren sieben noch lebenden Kindern waren sechs aus dem Haus, die Töchter waren verheiratet, die Söhne zur See gefahren oder mit Söldnerheeren unterwegs. Nur ein Kind war noch da.
Sie öffnete die Tür zu jenem Zimmer, in dem das Mädchen schlief. Elf Jahre war es alt. Giovanna wäre fast bei der Geburt gestorben.
Clelia. Kleine Clelia. Hoffentlich ist es mir vergönnt, dich großzukriegen, gut zu verheiraten …
Giovanna schloss die Tür wieder, sehr sacht, damit Clelia nicht aufwachte. Dann wischte sie die Tränen ab. Genug der Tränen. Genug. Morgen würde Giovanna wieder die Gestrenge sein, die Vernünftige, die Antreiberin, die Lustige, die Direkte, die kein Blatt vor den Mund nahm. Mama Giovanna.
Sie zog sich aus, löste den Haarknoten und legte sich nieder. Kurz bevor sie einschlief, fiel ihr plötzlich etwas ein. Sie richtete sich im Bett auf.
»O Gott«, flüsterte sie. »Dio mio.«
Der Schwarze Papst
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