11
Grausame Sonne über Rom an einem gebleichten Himmel. Das Mosaik der Farben hatte sich aufgelöst. Wände, Blätter, der Fluss - alles verblichen, verwischt von der Helligkeit. In den Gassen, wo sogar der Löwenzahn an den Hauskanten vertrocknete, in den Brunnen, die Lachen aus geschmolzenem Licht geworden waren, in den noch offenen Gräbern, die die Toten der Hitze bargen - überall war die Sonne. Nichts regte sich, noch nicht einmal die wenigen Schatten des Laubwerks. Es gab keinen Wind, keine Wolken, keinen Regen, es gab keine Bewegung. Man wünschte sich all das, doch den Menschen blieb nichts anderes übrig, als sich, wie immer, dem Unabänderlichen zu ergeben und irgendwo tief in diesem Meer aus glühendem Gestein für ein paar Stunden zu verschwinden.
Sie gingen zu dritt durch fast menschenleere Einöde, sehr langsam, irgendwohin, ohne Ziel, und rangen nach frischer Luft, die es nicht gab. Sandro, Forli, Angelo, keiner sagte etwas. Die Sprache schien abgeschafft. Am Tiber angekommen, lösten sich, kaum einen Steinwurf vor und hinter ihnen entfernt, die Konturen im Flimmern auf. Tausende Fliegen tanzten ihren letzten Tanz.
So nah am Tiber war die Luft unerträglich, war wie ein uringetränktes Tuch vor dem Gesicht, wie ein Knebel. Doch nicht nur das raubte Sandro den Atem. Der Gestank des Flusses, die Hitze, die Feuchtigkeit waren eine Sache, das Entsetzen eine andere. Das eine kam von außen, das andere entstand tief drin, im Kopf, wo die Bilder sich verhaftet hatten, und im Bauch, wo Übelkeit, Wut und Trauer herrschten. Nun verband sich alles zu einem betäubenden Gemisch. Jeder Schritt, den Sandro machte, kam ihm vor, als zöge ein Puppenspieler die Fäden. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, lief ihm die Arme hinunter, klebte das Gewand an seinem Rücken fest.
Sandro blieb stehen, die anderen taten es ihm nach. Er bemerkte, dass es ihnen schwerfiel, einander anzusehen, so als fürchteten sie sich vor dem Entsetzen in den Augen des anderen, die ein Spiegel des eigenen Entsetzens waren.
Dann brach es aus Sandro hervor. Er sagte zu Forli: »Durchsucht das Collegium. Jetzt gleich. Jedes Zimmer, jeden Winkel, auch die Kapelle. Nur das Zimmer des Ehrwürdigen nehmt Ihr aus. Alles, was auch nur annähernd verdächtig erscheint, wird beschlagnahmt. Seht die Papiere durch, die Ihr findet. Scheut Euch nicht, Personen abzutasten - außer dem Ehrwürdigen. Er soll, wenn möglich, vorerst nichts davon mitbekommen. Duré wird dafür sorgen. Wenn nötig, stellt alles auf den Kopf. Von jetzt an gehen wir verschärft vor. Wir werden diesen wahnsinnigen Mörder kriegen, koste es, was es wolle.«
Er wandte sich ab und ging, und die beiden anderen Männer wagten nicht, zu fragen, wohin.
 
Im Schatten der Linde ließ es sich aushalten. Antonia und Signora A saßen bei kühlem Wein im Hinterhof des Teatro, an einer langen Tafel aus wurmstichigem Holz, wo noch die Reste des einfachen Mittagsmahls aus Brot, Salzfleisch und Linsen herumlagen. Huren aßen nun einmal nicht sehr kultiviert. Dafür hatten sie viel gelacht - derbe Witze und skurrile Erlebnisse der letzten Nacht gehörten ebenso zu jeder Mahlzeit wie das Essen selbst.
Antonia fühlte sich keineswegs unwohl, aber sie merkte, dass sie dieses Milieus langsam überdrüssig wurde. Milo hatte ihr einmal gesagt, dass die Gemeinheiten der Männer, denen diese Frauen ausgesetzt waren, mit der Zeit auf sie abfärbten. Und das stimmte. So war Antonia nicht unglücklich, als sich eine Hure nach der anderen ins Innere des Hauses zurückzog, wo es kühler war. Nur Signora A blieb im Schatten der Linde bei ihr.
In Stunden wie diesen, wo die Hitze jede körperliche Aktivität verhinderte und zu Trägheit zwang, wuchsen, ehe man sich’s versah, kleine Sorgen zu großen Sorgen heran wie Schlingpflanzen. Antonia hatte sich bisher wenig Gedanken um ihre Zukunft gemacht, denn sie war es gewöhnt, im Heute zu leben, und sie war noch nicht lange genug Waise, um sich allein zu fühlen. Sie hatte bis vor kurzem ihren Vater und Carlotta gehabt, und sie hatte Milo und Sandro.
Doch die Worte des Papstes hatten sie verunsichert. Unmöglich für sie, zu benennen, was genau sie eigentlich an seinem Besuch verunsicherte. Keines seiner Worte war auch nur annähernd einem Missfallen, geschweige denn einer Drohung nahe gekommen. Im Gegenteil, er war sehr freundlich zu ihr gewesen, hatte ihre Arbeit gelobt … Er war ihr wie ein liebenswürdiger alter Mann vorgekommen. Und wenn ihr auch klar war, dass liebenswürdige Päpste so selten waren wie Rosenblüten im Januar, und auch allerlei Gerüchte über ihn im Umlauf waren, so konnte sie doch nichts anderes über ihn sagen. Was Sandro anging - Julius schien ihn wirklich zu mögen. Ja, es war ihr sogar so vorgekommen, als wolle der Papst Sandro mit ihr verkuppeln. Wusste der Papst etwas, das sie nicht wusste? Oder besser gesagt, das sie zwar wusste, aber nicht wahrhaben wollte.
Das war es, was sie verunsicherte und wovor sie Angst hatte. Alles wieder aufzurühren. Und das jetzt, wo es mit Milo so gut lief.
Papst Julius hatte sich, nachdem er Milo entdeckt hatte, ziemlich schnell verabschiedet. Sicher, die Situation war heikel für ihn gewesen. Nach allem, was man über ihn hörte, war er zwar kein Kind von Traurigkeit, aber ein Paar in einer Kirche zu überraschen … Sie konnte froh sein, dass er so beherrscht geblieben war. Zumindest ihr gegenüber. Milo hatte er die Hand entzogen. Und genau diese Geste war es, die für sie den Anschein erweckte, als habe Julius etwas gegen Milo.
Vielleicht bildete sie sich das alles auch nur ein. Trotzdem stellte sich die Frage, wie es mit ihr und Milo weitergehen sollte, und als ahnte Signora A, woran Antonia dachte, fragte sie:
»Milo und du, ihr kennt euch jetzt schon zwei Monate. Ihr schlaft miteinander, versteht euch gut … Wann werdet ihr heiraten?«
Die herbe Stimme der Signora war wie die Stimme von Antonias Gewissen.
»Er hat mich noch nicht gefragt.«
Signora A lachte höhnisch auf. »Als wärst du eine Frau, die sich von so einer Kleinigkeit abhalten lassen würde. Wenn du ihm sagst, dass du ihn willst, wird er schon fragen. Wenn er zögert, dann nur, weil er sich deiner Antwort nicht sicher ist.«
Die Signora sprach aus, was sie dachte, so war sie schon immer gewesen.
»Ich kenne die Männer, Antonia, und ich kenne auch meinen Sohn. Ich habe ihm lange Zeit nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die ein Kind braucht, das gebe ich zu, aber ich habe ihn nie aus den Augen verloren. Er ist klüger als die meisten seines Standes. Er kann lesen und rechnen. Weder sucht er den Streit, noch meidet er ihn. Er wird in diesem Viertel und im Trastevere respektiert. Er trinkt nicht, behält in jeder Lebenslage einen klaren Kopf …« Sie hob die Hand, als Antonia sie unterbrechen wollte. »Ich weiß, ich weiß, du brauchst mir nichts zu sagen. Mir geht es nicht darum, ihn dir schmackhaft zu machen. Ich wollte dir nur klarmachen, dass er in seinem jungen Leben schon vielem begegnet ist. Er kennt sich aus. Aber einer Sache ist er noch nicht begegnet, bis vor zwei Monaten, und zwar der Liebe. Sie ist ein fremder Ort für ihn, darum bewegt er sich darin nicht mit der gewohnten Sicherheit. Und du, du machst es ihm nicht leichter.«
Antonia fühlte sich kritisiert. »Was meinst du damit?«
»Oh, bitte, Antonia, ich will nicht mit dir streiten. Ich kann dich ja verstehen. Du bist eine Glasmalerin, für die es fast unmöglich ist, ihr Handwerk auszuüben, weil alle Gilden der Welt aus Männern bestehen und weil Aufträge nur an Mitglieder der Gilden vergeben werden. Nur Sandro Carissimis Fürsprache und einem entgegenkommenden Papst, der sich mit der römischen Glasmalergilde angelegt hat, hast du es zu verdanken, dass du arbeiten darfst.«
Antonia fegte ein paar Krümel vom Tisch. »Signora A, ich kann dir nicht folgen. Was hat denn das mit Milo und mir zu tun?«
»Liegt das nicht auf der Hand?«
»Zumindest nicht auf meiner.«
»Als Milos Gattin wärst du die Schwiegertochter einer Hurenhausbesitzerin, und die Gilde würde Sturm laufen, wenn eine solche Frau in Gotteshäusern arbeitet. Julius würde es sich dreimal überlegen, dir weitere Aufträge zu geben. Und nicht zu vergessen: Sandro Carissimi hätte keinen Grund mehr, dich zu protegieren.«
»Das ist … das hört sich furchtbar berechnend an.«
»Ich mag ihn, er hat den Tod meiner Freundin Maddalena aufgeklärt. Aber der Mann tut das, was er für dich tut, doch nicht, weil er gerne mit dir plaudert, Antonia.«
»Erstens schätzt du Sandro falsch ein, und zweitens habe ich nicht von ihm gesprochen, sondern von mir. Du glaubst, ich würde Milo nicht haben wollen, weil ich um meine Zukunft als Glasmalerin fürchte?«
»Haben willst du ihn schon, nur heiraten eben nicht.«
»Also wirklich, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Signora A zuckte mit den Schultern und füllte ihren und Antonias Becher mit dem restlichen Wein. »Genau darum dreht sich unser Gespräch doch: Du weißt nicht, was du sagen sollst.«
Antonia öffnete den Mund, als würde sie einen lauten Schrei ausstoßen wollen. Aber alles, was sie herausbrachte, waren halbe Silben.
»Siehst du«, setzte Signora A nach. »Du kannst dich nicht entscheiden, und da stellt sich die Frage, warum das so ist.«
»Das ist nicht wahr. Ich kann mich sehr wohl entscheiden - wenn eine Entscheidung ansteht.«
»Heißt das, wenn Milo dich fragt, nimmst du ihn?«
Antonia kam es vor, als rase ein Brauereiwagen auf sie zu. Einen Augenblick lang war sie sprach- und regungslos.
»Selbstverständlich«, antwortete sie schließlich.
Signora A lächelte, was selten vorkam. »Mehr wollte ich nicht wissen.« Sie stand auf. »Ich muss wieder an die Arbeit. Mal sehen, wie Milo vorangekommen ist. Er sollte mir das Ungeziefer aus den Zimmern jagen. Es nimmt überhand.«
Antonia drehte den Becher in ihren Händen. Sie hatte sich soeben verheiratet - zumindest irgendwie -, und nun wusste sie nicht, wie sie sich fühlen sollte. Glücklich - Milo war ein fabelhafter Mann. Gefangen - das wilde Spiel auf der Wiese war vorüber, der Bräutigam hatte die Braut am Saum erwischt. Traurig - es hieß wohl, über kurz oder lang, Abschied zu nehmen von der Glasmalerei. Nervös - es war, als sitze sie in der Kutsche, mit dem Gefühl, dass sie etwas zu Hause vergessen hatte.
»Bruder Sandro!« Signora A hatte den Hof verlassen wollen, als sie jemanden an der Tür stehen sah.
Antonia, aufgeschreckt, sah Sandro an, dass etwas nicht stimmte. »Komm her, Sandro, setz dich.«
»Er ist nicht ganz bei sich«, sagte Signora A. »Ihr wart zu lange in der Sonne, Bruder Sandro. Sieh nur, Antonia, sein Kopf ist ganz rot.«
»Kannst du bitte einen kalten Umschlag bringen?«
»Mach ich. Und kühlen Wein aus dem Keller hole ich auch.« Sie eilte davon, und Antonia setzte sich neben Sandro auf die Bank an der Tafel.
»Was ist passiert?«
Er schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass er nicht darüber sprechen wolle. Dann stützte er sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch auf, fuhr sich durch die Haare, fuhr sich übers Gesicht, kniff die Augen zusammen, als täten sie ihm weh, atmete tief durch und lehnte sich wieder zurück.
Zuerst starrte er vor sich hin, dann sah er sie an. Lange, sehr lange. Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
»Hier bitte, möchtest du Wein?« Sie hielt ihm ihren Becher hin, doch er lehnte mit einer kleinen Geste ab. Sie merkte, was vorging. Er hatte sie unbedingt sehen müssen. Deswegen war er gekommen. Weil er sie brauchte. Weil er Schutz suchte. So war es. Oder?
»Wo ist Milo?«, fragte er.
»Er jagt Ungeziefer.«
»Dann haben wir dieselbe Arbeit.«
»Sandro«, flüsterte sie und legte ihre Hand auf seine Stirn. »Was ist nur mit dir passiert?«
Er schwieg. Sie schwieg. Sie ließen einander nicht aus den Augen. Dann, sehr langsam, als sei es eine natürliche Bewegung, neigte er sich zu ihr vor und küsste sie.
Zuerst dachte sie: nein. Dann dachte sie: Warum jetzt, warum gerade jetzt? Und dann dachte sie gar nichts mehr.
Antonias Lippen zitterten. Ihre Hand zitterte, als sie sich auf Sandros Nacken legte und seinen Hinterkopf umfasste. Ihr Körper zitterte, als Sandros Hand ihn berührte. Alles ging so langsam vor sich und war zugleich so erregend, dass Antonia abwechselnd lächelte und wie unter Schmerzen das Gesicht verzog.
Es waren Schritte zu hören. Langsam lösten sich ihre Lippen voneinander, trennten sich ihre Körper, ohne zu wissen, ob sie jemals wieder zusammenkämen.
Signora A betrat den Hof. »So, hier kommt die Abkühlung.«
 
Julius schreckte schweißgebadet aus seinem Mittagsschlaf auf. Der Krähentraum. Hastig griff er nach dem bereitgestellten Krug, schenkte sich dunkelroten Wein ein, leerte den Kelch in einem Zug und wiederholte den Vorgang noch zweimal, ehe er seufzend auf die Kissen zurücksank und sich die Tropfen vom Kinn wischte.
Dieses Gesicht … Es ging ihm nicht aus dem Sinn, das Gesicht des Mannes in der Kirche Santo Spirito. Milo. Auftragsmörder. Todesengel, wie Massa ihn nannte. Inbegriff einer gewaltigen Verirrung, eines Sündenfalls. Was für eine unmögliche, mit allen Grundsätzen des Glaubens unverträgliche Idee!
Er stand auf, benebelt vom Wein. Auf nüchternen Magen getrunken, rief er Schwindel hervor und eine Übelkeit, die nicht nur unangenehm war. Trinken war für Julius wie Weinen: Es machte alles leichter. Natürlich, er würde eines Tages daran sterben, am Weinen, am Wein, aber bis dahin würde er dem Trinken treu bleiben.
Mit beiden Händen hielt Julius den Kelch umklammert, während sein Blick vom Fenster seines Privatgemachs aus über die Dächer der Ewigen Stadt schweifte. In der Scheibe sah er den Umriss seiner selbst und trat einen Schritt näher. Da war er. Da war Julius III., Diener der Diener Christi. Aber war da nicht auch noch ein anderer? Er suchte nach ihm, suchte in den Augen seines Spiegelbilds nach Giovanni Maria del Monte, nach dem jungen Mann, dem Fünfzehnjährigen, dem der Vater und der Onkel eine Kirchenkarriere zudachten. Die Augen, so hieß es, waren der Spiegel der Seele, und Giovanni-Julius forschte in diesem Spiegel nach der Jugend, der Unschuld auch, der Leichtigkeit. Waren sie denn völlig verschwunden? Alles, was er sah, waren Augen wie Asche.
Wie hatte er jemals an diesen Punkt kommen können? Das Leben war für ihn zum Kalvarienberg geworden, zu einer unsagbaren Mühsal. Andere, die diesen Weg gingen - Schwerkranke, Arme, leidende Witwen und Witwer -, hatten wenigstens den Trost und die Gewissheit, bergauf zu gehen bis zum Himmelstor. Sein Weg der Mühsal führte nach unten. Wo befand er sich gerade, im siebten Kreis der Hölle oder im achten? Im inneren Ring? Sein Register der Sünden war lang genug, um ihn damit erdrosseln zu können.
Ein Krähenschwarm flog am Fenster vorbei, so nah, dass Julius erschrocken zurückwich. Der Kelch entglitt ihm, und der Wein tränkte sein weißes Schlafhemd.
Eine Weile war er unfähig, sich zu bewegen, doch dann hob er als Erstes den Kelch auf, füllte ihn erneut, trank und sagte: »Krähen, überall Krähen. Damit muss Schluss sein.«
So konnte es nicht weitergehen. Sandro hatte recht, wenn er Julius drängte, den Schwachen zu helfen und auch denen, die für die Schwachen da waren.
Julius trank. Der Wein, so schien es ihm, spülte die Sehnsucht an die Oberfläche, jenen Teil von Giovanni zu tilgen, der zum Verbrecher geworden war, und den Drang, sich zu bestrafen und auch jene, die wie er gesündigt hatten.
Was ihn betraf, so würde er sich zur Buße auferlegen, Sandro die Wahrheit zu sagen, rücksichtslos, und nichts zu verschweigen. Sandro war sein Beichtvater, sein Freund, sein Favorit … Dennoch hatte Julius panische Angst vor diesem Geständnis. Es galt, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.
Er trank, trank.
Was die anderen Verbrecher betraf … Julius läutete. Einen Schluck aus dem Kelch, später trat ein Diener ein.
»Den Kammerherrn zu mir, sofort.«
Der Diener verneigte sich und ging.
Julius füllte erneut den Kelch und durchquerte ruhelos sein Gemach. Die rechte Faust trommelte auf sein Kinn, der linke Arm führte unablässig den Kelch an die Lippen, senkte sich, hob sich wieder, senkte sich …
Tat er das Richtige?
Ja. Es musste sein.
Oder?
Doch, es wäre ein Abschluss. Und Sandro wäre auch geholfen. Man musste es ihm ja nicht erzählen - alles, doch dieses eine nicht.
Julius trank.
Die Krähen zogen ihre Bahn über den halb fertigen Petersdom.
Endlich klopfte es.
»Ja.« Julius’ Stimme war fest, aber sie war im Lauf der Jahre auch vom Alkohol verätzt, vom Verbrechen zerfetzt worden.
Massa trat ein und sagte: »Eure Heiligkeit haben mich rufen lassen. Ich hoffe, Eure Heiligkeit befinden sich wohl und …«
»Lass das Geschwafel. Ich habe vorhin die Kirche Santo Spirito besucht«, sagte Julius.
»Ich hörte davon, Eure Heiligkeit.«
»Ist mir klar, du hörst ja alles, weißt alles … Zählst du die Weinkrüge, die ich mir bringen lasse? Schweig, darum geht es mir gar nicht. Ich habe die Glasmalerin Antonia Bender getroffen. Ist sie dir bekannt?«
»Bender … Bender … Antonia Bender …«
»Tu nicht so, als müsstest du nachdenken. Kennst du sie nun oder nicht?«
»Ich bin nicht sicher. Ich glaube nicht, dass ich sie kenne. Sie ist dem Umfeld Eures Sekretärs Carissimi zuzurechnen.«
Dem Umfeld zuzurechnen. Dieser Massa hatte eine Art zu sprechen … »Jemand war bei ihr«, sagte Julius. »Ihr Gefährte, ihr Liebhaber, keine Ahnung, wie ich ihn nennen soll. Wir beide kennen ihn unter einem anderen Namen. Es ist der Todesengel - wobei ich festhalten will, dass du ihm diesen hirnrissigen Namen gegeben hast.«
»Die Begegnung war Euch unangenehm, Eure Heiligkeit? Ich werde Milo anweisen, dass er …«
»Die Begegnung war mir nicht nur unangenehm. Dadurch habe ich Einblicke bekommen, die mir sonst nicht vergönnt gewesen wären. Ich will, dass er beseitigt wird.«
»Dass er … Eure Heiligkeit! Er - er ist - er war uns sehr nützlich.«
»Das sind Lumpen auch, und trotzdem wirft man sie irgendwann weg.«
»Es würde doch genügen, ihn aus unseren Diensten zu entlassen.«
»Ich wiederhole mich ungern, Massa.«
»Aber - verzeiht, Eure Heiligkeit. Vielleicht überschlaft Ihr die Entscheidung. Es wäre doch möglich, das Ihr morgen ganz anders darüber denkt.«
Julius setzte sich. »Willst du damit andeuten, ich sei betrunken?«
»Nein, ich …«
»Oder nicht bei Verstand?«
»Um Himmels willen, Eure Heiligkeit.«
»Also was?«
»Wenn Ihr mir nur den Grund nennen würdet.«
Julius schlug mit der flachen Hand auf den kleinen Tisch neben ihm und schrie: »Seit wann bin ich dir Rechenschaft schuldig? Als wir den Bankier oder die Zigeunerin oder diesen Botschafter … Ich will sagen, dass du nie einen Grund gebraucht hast, Massa. Wieso jetzt? Dieser Todesengel - dieser Milo ist im Weg. Mir im Weg, Sandro im Weg …«
Julius unterbrach sich. Er umklammerte den Kelch und trank. Und auch, als er den Kelch von den Lippen absetzte, sah er nur den Wein; Massas Augen mied er.
»Tu es«, sagte er nach einer Weile, nun in einem bekümmerten, schwermütigen Tonfall. »Es war ein Fehler, jemals diesen Weg zu gehen, Massa. Ich hätte nie auf dich hören dürfen.« Er flüsterte. »Wir haben uns geirrt. Verirrt.«
Julius atmete schwer. Der Wein machte ihm zu schaffen.
»Also gut, Eure Heiligkeit«, sagte Massa. »Dann lasse ich Milo verhaften und in den Kerker bringen. Dort wird sich dann schon eine Möglichkeit finden, ihn zu … Euren Befehl in die Tat umzusetzen.«
»Nein.« Julius blickte noch immer in den Kelch, den er gemächlich in den Händen drehte. »Dieser Milo ist in seinem Milieu zu bekannt, um ihn einfach so zu verhaften. Ich möchte nicht, dass sein Tod mit mir in Verbindung gebracht wird.«
Vor dreihundert, zweihundert, noch vor einhundert Jahren hätte ein Papst jeden x-Beliebigen einfach so verhaften lassen können. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Daran waren Luther und Kopernikus mit ihren ungeheuerlichen Behauptungen schuld sowie einige andere, die ein Wort im Munde führten, das ein riesiges Loch in die päpstliche Herrlichkeit gerissen hatte: Freiheit. Heutzutage musste man sich vorsehen.
Massa benötigte eine Weile für seinen nächsten Vorschlag. »Dann bliebe nur noch die Option, jemanden zu beauftragen … Sozusagen ein Todesengel, der den anderen beseitigt.«
»Nein, ich habe alle Engel satt.«
»Tja, also, Eure Heiligkeit, dann weiß ich nicht, wie … Milo wird uns kaum den Gefallen tun, sich selbst zu richten.«
»Wohl nicht. Aber ich habe eine hervorragende Idee.« Julius’ Blick wanderte langsam zu Massa, und dann neigte er den Kopf auf eine Weise zur Seite, die zu verstehen gab, woran er dachte.
Massa fiel es wie Schuppen von den Augen. »Nein.«
»Doch.«
»O nein, bitte, Euer Heiligkeit. Alles, nur das nicht.«
»Todesengel für einen Tag. Das«, sagte Julius, »wird deine Buße sein.«
 
Der Schatten der Linde tat Sandro gut, und die Ruhe des Hofes vermittelte ihm das Gefühl, dass es doch noch friedliche Orte auf der Erde gab. Ein paar Vögel hüpften auf der Tafel herum und pickten nach Krumen, Bienen labten sich am Lindensaft, und ein süßer Duft lag in der Luft. Was ihm aber am besten tat, war, dass er von Zeit zu Zeit Antonias Blick auf sich spürte. Er war viel zu müde, um erregt zu sein. Antonia war Balsam und Trost für ihn. Auch wenn er sie nicht geküsst hätte, hätte er nicht anders empfunden.
Er hatte es nicht geplant gehabt. Hierherzukommen zu ihr, das schon, aber nicht, um sie zu küssen. Er hatte sich nur nach Frieden gesehnt, nach einer Stunde des Vergessens, nach ihrer Stimme, nach ein bisschen Zuneigung. Und dann war es einfach passiert. Das, was er schon immer hatte tun wollen, was er hätte längst tun sollen, wovor ihn alles Mögliche zurückgehalten hatte, angefangen vom Zölibat, dann gekränkte Eitelkeit, weil sie einen anderen bevorzugte, dann das Warten auf den richtigen Augenblick … Er hatte erst vor dem Schlimmsten stehen müssen, was er je gesehen hatte, hatte erst sein Denkvermögen verlieren müssen, um endlich seiner Liebe freien Lauf lassen zu können. Es war grausame Ironie, dass er im Augenblick größten Schmerzes das seit langem Ersehnte zu tun imstande gewesen war.
Antonia saß neben ihm. Und doch war sie schon wieder ein Stück entfernt, denn Signora A war da und auch ihr Sohn Milo. Er saß gegenüber von Antonia und hielt auf der Tischmitte mit seinen beiden Händen die ihren umfangen. Sandro bemühte sich, nicht hinzusehen.
Was ging in Antonia vor? Er hatte nach dem Kuss keine Gelegenheit gehabt, mit ihr zu sprechen. Fühlte sie wie er? War sie einfach nur von ihm überrumpelt worden?
»Das ist ja furchtbar«, sagte die Signora, nachdem Sandro in wenigen Sätzen berichtet hatte, was im Collegium geschehen war. Langes Schweigen trat ein.
Sandro hatte Antonia sehen wollen, aber nun, da er schon einmal hier war, konnte er der Signora auch einige Fragen stellen, die mit dem Fall zusammenhingen. Den Mörder kriegen, wiederholte er sich wieder und immer wieder. Den Mörder kriegen.
»Magister Duré«, sagte er, »erzählte mir von seinem und des ehrwürdigen Ignatius’ gestrigen Besuch bei Euch, Signora A.«
Sie war überrascht und drehte dann verlegen den Kelch in der Hand. »So, hat er das? Und erwähnte er - auch - den Grund - des Kommens?«, fragte sie stammelnd.
»Es blieb ihm nichts anderes übrig, wollte er falsche Vermutungen verhindern. Es stimmt also?«
Sie presste die Lippen zusammen und nickte. »Ich habe dem ehrwürdigen Ignatius eine Spende in beträchtlichem Umfang angeboten. Natürlich war ich nicht sicher, ob er sie annehmen würde - von mir, einer Hurenhausbesitzerin. Darüber sprachen wir gestern. Ich hatte vorgeschlagen, ihn aufzusuchen, doch es war ihm lieber, zu mir zu kommen. Nachmittags ist das Teatro fast leer. Die erste Kundschaft kommt nicht vor Sonnenuntergang, und die Huren erledigen ihre privaten Angelegenheiten.«
»Du willst den Jesuiten spenden?«, fragte Milo, bevor Sandro nachhaken konnte. In seiner Stimme lagen Verwunderung und ein leichter Vorwurf. »Wie viel?«
»Viel.«
»Was verstehst du darunter?«
»Alles, was ich geerbt habe. Alles, außer das Teatro und das Barvermögen.«
»Du meinst …?«
»Den Weinberg, die Manufaktur - das Erbe Maddalenas. Mehr als das Teatro habe ich nie besitzen wollen. Maddalena war meine Schülerin, meine Freundin und neben dir die wichtigste Person in meinem Leben, und ich bin Bruder Sandro dankbar, dass er ihren Tod aufgeklärt hat. Bruder Sandro ist Jesuit - also spende ich den Jesuiten. Sie unterhalten in Rom Schulen für Arme und Hospitäler für Kranke. Das Geld ist dort gut aufgehoben. Maddalena wäre einverstanden.«
»Maddalena … Auf die Idee, dass ich künftig vielleicht lieber einen Weinberg bewirtschaften als ein Hurenhaus leiten möchte, kommst du wohl nicht?«
»Für das Teatro erzielst du, wenn ich einmal nicht mehr bin, einen hübschen Preis.«
»Du verschenkst ein Vermögen.«
»Maddalenas Vermögen. Mein Vermögen.«
Milo stand auf. »Ich habe genug gehört.« Er ging fort, und Antonia ging ihm - allerdings erst nach einigem Zögern - nach.
Sandro und die Signora saßen eine Weile beieinander, ohne zu sprechen. Er sah ihr an, dass sie kurz davor war, mit ihm über Antonia zu reden. Die Signora war eine äußerst erfahrene Frau und trotz ihres herben Wesens und eines Berufs, bei dem man abstumpfte, hatte sie großes Einfühlungsvermögen. Sie begriff, was vor sich ging, da war er sich sicher. Doch genau dieses Einfühlungsvermögen ließ sie wohl auch spüren, dass er jetzt nicht willens und in der Lage war, über Antonia und Milo zu sprechen, und so fing sie nicht davon an.
»Tut mir leid, wenn ich einen Streit ausgelöst habe«, entschuldigte Sandro sich.
»Früher oder später hätte er’s doch erfahren. Ich habe ihn dazu erzogen, niemals den Kopf in den Sand zu stecken, und das wird er auch jetzt nicht tun. Er kommt zurecht, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Man muss hart sein in dieser Welt. Er ist es. Und ich bin’s auch. Deswegen will ich auch keinen Dank von Euch, Bruder Sandro. Es gibt nichts zu danken.«
Er nickte. Sie verstanden sich.
»Was den gestrigen Besuch angeht …«, begann er.
»Der ehrwürdige Ignatius kam zwischen der vierten und der fünften Stunde«, sagte sie knapp.
»Allein?«
»Nein, der Mann mit dem Bart, der Arzt, war bei ihm, sagte aber fast nichts.«
»Duré.«
»Ja. Sie blieben eine Stunde. Der ehrwürdige Ignatius ließ sich von mir überzeugen, meine Spende anzunehmen. Dann gingen sie wieder. Mehr weiß ich nicht.« Über ihre harten Lippen zog ein kurzes Schmunzeln. »Ihr seid erleichtert, dass es bei diesem Besuch nicht um anderes ging, habe ich recht, Bruder Sandro?«
Er lächelte, sah aber wohl reichlich gequält aus, denn sie machte ihm ein unerwartetes Angebot.
»Wollt Ihr Euch eine Stunde aufs Ohr legen? Betten gibt’s hier bekanntlich genug. Auch saubere.«
Er nahm das Angebot an und folgte ihr ins Haus. Eine Stunde Schlaf würde ihm guttun. Giovannas Tod hatte ihn erschüttert, und er musste jetzt einfach neue Kräfte sammeln. In diesem Zustand jetzt nutzte er niemandem. Außerdem - bevor die Durchsuchung nicht abgeschlossen war, würde man ohnehin nichts unternehmen.
Das Zimmer im Erdgeschoss war dunkel und erfreulich kühl. Hier konnte er ausruhen. Die Signora stellte ihm auch einen Becher Wein neben das Bett, doch er war entschlossen, diesen nicht anzurühren.
Als er allein war, legte er sich nieder und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Noch einmal zogen die Ereignisse an ihm vorüber, noch einmal hörte er diesen Namen: Clelia. Wer war Clelia? Und vor allem: Hatte sie etwas mit diesem Verbrechen zu tun? Forli hatte Sandro auch berichtet, was Giovanna gesagt hatte, bevor er hinzugekommen war: Johannes. Und: Nicht geholfen. Er war nicht in der Lage, sich einen Reim darauf zu machen.
Sandro legte sich zur Seite, entschlossen, eine Stunde zu schlafen. Es hämmerte in seinem Kopf. Den Mörder kriegen. Koste es, was es wolle. Den Mörder kriegen …
Der Schwarze Papst
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