DAS FOTOALBUM
Ich hüte einen Schatz. All die schlimmen, nur aus Kalendertagen bestehenden Jahre lang habe ich ihn gehütet, versteckt, wieder hervorgezogen; während der Reise im Güterwagen drückte ich ihn mir wertvoll gegen die Brust, und wenn ich schlief, schlief Oskar auf seinem Schatz, dem Fotoalbum.
Was täte ich ohne dieses alles deutlich machende, offen zu Tage liegende Familiengrab?
Hundertundzwanzig Seiten hat es. Auf jeder Seite kleben neben-und untereinander, rechtwinklig, sorgfältig verteilt, die Symmetrie hier wahrend, dort in Frage stellend, vier oder sechs, manchmal nur zwei Fotos. Es ist in Leder gebunden und riecht, je älter es wird, um so mehr danach. Es gab Zeiten, da Wind und Wetter dem Album zusetzten. Die Fotos lösten sich, zwangen mich durch ihren hilflosen Zustand, Ruhe und Gelegenheit zu suchen, damit Klebstoff den fast verlorenen Bildchen ihren angestammten Platz sicherte.
Was auf dieser Welt, welcher Roman hätte die epische Breite eines Fotoalbums? Der liebe Gott, der uns als fleißiger Amateur jeden Sonntag von oben herab, also schrecklich verkürzt fotografiert undmehr oder weniger gut belichtet in sein Album klebt, möge mich sicher und jeden noch so genußvollen, doch unschicklich langen Aufenthalt verhindernd, durch dieses mein Album leiten und Oskars Liebe zum Labyrinthischen nicht nähren; ich möchte doch allzu gerne den Fotos die Originale nachliefern.
So obenhin bemerkt: da gibt es die verschiedensten Uniformen, da wechseln die Mode und der Haarschnitt, da wird Mama dicker, Jan schlaffer, da gibt es Leute, die kenne ich gar nicht, da darf man raten: wer machte die Aufnahme, da geht es schließlich bergab; und aus dem Kunstfoto der Jahrhundertwende degeneriert sich das Gebrauchsfoto unserer Tage. Nehmen wir jenes Denkmal meines Großvaters Koljaiczek und dieses Paßfoto meines Freundes Klepp. Ein bloßes Nebeneinanderhalten des bräunlich getönten Großvaterporträts und des glatten, nach einem Stempel schreienden Kleppschen Paßfotos macht mir immer wieder deutlich, wohin uns der Fortschritt auf dem Gebiet des Fotografierens gebracht hat. Allein schon das Drum und Dran dieser Schnellfotografiererei.
Dabei muß ich mir noch mehr Vorwürfe als Klepp machen, da ich, der Besitzer dieses Albums, verpflichtet gewesen wäre, das Niveau zu wahren. Sollte uns eines Tages die Hölle blühen, wird eine der ausgesuchtesten Qualen darin bestehen, den nackten Menschen mit den gerahmten Fotos seiner Tage in einen Raum zu sperren. Schnell etwas Pathos: Oh Mensch zwischen Momentaufnahmen, Schnappschüssen, Paßfotos! Mensch im Blitzlicht, Mensch aufrecht stehend vor Pisas schiefem Turm, Kabinenmensch, der sein rechtes Ohr belichten lassen muß, damit er paßwürdig wird! Und — Pathos weg: Vielleicht wird auch diese Hölle erträglich sein, weil ja die schlimmsten Aufnahmen nur geträumt, nicht gemacht, oder wenn gemacht, nicht entwickelt werden.
Klepp und ich ließen die Aufnahmen während unserer ersten Zeit in der Jülicher Straße, da wir Spaghetti essend Freundschaft schlössen, machen und auch entwickeln. Ich trug mich damals mit Reiseplänen. Das heißt, ich war so traurig, daß ich eine Reise machen und deshalb einen Paß beantragen wollte. Da ich aber nicht genügend Geld hatte, um eine vollwertige, also Rom, Neapel oder wenigstens Paris einschließende Reise finanzieren zu können, war ich froh über diesen Mangel an Bargeld, denn nichts wäre trauriger gewesen, als in bedrücktem Zustand verreisen zu müssen. Da wir beide aber Geld genug hatten, um ins Kino gehen zu können, besuchten Klepp und ich in jener Zeit Lichtspielhäuser, in denen, Klepps Geschmack folgend, Wildwestfilme, meinem Bedürfnis nach.
Streifen gezeigt wurden, auf denen Maria Schell als Krankenschwester weinte und der Borsche als Chefarzt kurz nach schwierigster Operation bei offener Balkontür Beethovensonaten spielte und Verantwortung zeigte.
Wir litten sehr unter der nur zweistündigen Dauer der Filmvorführungen. Manches Programm hätte man sich zweimal ansehen mögen. Oftmals erhoben wir uns auch nach Filmschluß, um an der Kasse abermals ein Billett für dieselben Darbietungen zu erstehen. Aber sobald wir den Kinosaal verlassen hatten und die längere oder kürzere Menschenreihe vor der Tageskasse sahen, schwand uns der Mut.
Nicht nur vor der Kassiererin, auch vor wildfremden Typen, die wahrhaft unverschämt unsere Physiognomie erwanderten, schämten wir uns zu sehr, als daß wir gewagt hätten, die Reihe vor der Kasse zu verlängern.
So gingen wir damals nach fast jeder Filmvorführung in ein Fotogeschäft in der Nähe des Graf-Adolf-Platzes, um Paßbildaufnahmen von uns machen zu lassen. Man kannte uns dort schon, lächelte, wenn wir eintraten, bat aber freundlich Platz zu nehmen; wir waren Kunden, mithin geachtete Leute. Sobald die Kabine frei war, schob uns nacheinander ein Fräulein, von dem ich nur noch weiß, daß es nett war, in die Kabine, rückte und zupfte erst mich, dann Klepp mit einigen Griffen zurecht, hieß uns, auf einen bestimmten Punkt zu blicken, bis zuckendes Licht und eine mit dem Licht verbundene Klingel verrieten, daß wir nun sechsmal nacheinander auf der Platte waren.
Kaum fotografiert und noch leicht starr in den Mundwinkeln, drückte uns das Fräulein in bequeme Korbstühle und bat nett, nur nett und auch nett gekleidet, um fünf Minuten Geduld. Wir warteten gerne. Schließlich hatten wir etwas zu erwarten: unsere Paßbildchen, auf die wir so neugierig waren.
Nach knappen sieben Minuten reichte das immer noch nette, sonst unbeschreibliche Fräulein zwei Tütchen, und wir zahlten.
Dieser Triumph in Klepps leicht vortretenden Augen. Sobald wir die Tüten hatten, hatten wir auch den Anlaß, in die nächste Bierschwemme zu gehen; denn niemand betrachtet seine eigenen Paßbildaufnahmen gerne auf offener, staubiger Straße, im Lärm stehend, im Strom der Passanten ein Hindernis bildend. Wie wir dem Fotogeschäft treu waren, besuchten wir auch immer wieder dieselbe Kneipe in der Friedrichstraße. Bier, Blutwurst mit Zwiebeln und Schwarzbrot bestellend, breiteten wir, noch bevor das Bestellte gebracht wurde, die etwas feuchten Aufnahmen, das ganze Rund der hölzernen Tischplatte einbeziehend, aus und vertieften uns bei prompt serviertem Bier mit Blutwurst in die eigenen angestrengten Gesichtszüge.
Immer trugen wir außerdem Aufnahmen bei uns, die anläßlich des letzten Kinotages gemacht worden waren. So bot sich Gelegenheit zum Vergleich; und wo sich Gelegenheit zum Vergleich bietet, darf man auch ein zweites, drittes, viertes Glas Bier bestellen, damit Lustigkeit aufkommt oder, wie man im Rheinland sagt: Stimmung.
Dennoch soll hier nicht behauptet werden, daß es einem traurigen Menschen möglich ist, mittels einer Paßbildaufnahme seiner selbst, die eigene Trauer ungegenständlich zu machen; denn die echte Trauer ist schon an sich ungegenständlich, zumindest meine und auch Klepps ließ sich auf nichts zurückführen und bewies gerade in ihrer nahezu freifröhlichen Ungegenständlichkeit eine durch nichts zu vergrämende Stärke. Wenn es eine Möglichkeit gab, mit unserer Trauer anzubändeln, dann nur über die Fotos, weil wir in serienmäßig hergestellten Schnellaufnahmen uns selbst zwar nicht deutlich, aber, was wichtiger war, passiv und neutralisiert fanden. Wir konnten mit uns beliebig umgehen, Bier dabei trinken, mit Blutwürsten grausam sein, Stimmung aufkommen lassen und spielen. Wir knickten, falteten, zerschnitten mit Scheren, die wir eigens zu diesem Zweck immer bei uns trugen, die Bildchen. Wir setzten ältere und neuere Konterfeie zusammen, gaben uns einäugig, dreiäugig, beehrten uns mit Nasen, sprachen oder schwiegen mit dem rechten Ohr und boten dem Kinn die Stirn.
Nicht nur dem eigenen Abbild widerfuhren diese Montagen; Klepp lieh sich Details bei mir aus, ich erbat mir Charakteristisches von ihm: es gelang uns, neue und, wie wir hofften, glücklichere Geschöpfe zu erschaffen. Dann und wann verschenkten wir ein Foto.
Wir — ich beschränke mich auf Klepp und mich, lasse montierte Persönlichkeiten aus dem Spiel — wir hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, dem Kellner der Bierschwemme, den wir Rudi nannten, bei jedem Besuch, und die Schwemme sah uns wenigstens einmal in der Woche, ein Foto zu schenken. Rudi, ein Typ, der zwölf Kinder verdient hätte und die Vormundschaft für acht weitere, kannte unsere Not, besaß schon Dutzende Profilaufnahmen und noch mehr Bildchen en face, zeigte doch jedesmal ein anteilnehmendes Gesicht und sagte Dank, wenn wir nach langer Beratung und peinlich gestrenger Auswahl die Fotos überreichten.
Der Serviererin am Büfett und dem fuchsigen Mädchen mit dem Zigarettenbauchladen hat Oskar nie ein Foto geschenkt; denn Frauen soll man keine Fotos schenken — sie treiben nur Mißbrauch damit.
Klepp jedoch, der bei all seiner Behäbigkeit Frauen gegenüber sich nie genug tun konnte und mitteilsam bis zur Tollkühnheit vor jeder das Hemd gewechselt hätte, er muß eines Tages dem Zigarettenmädchen, ohne mein Wissen, ein Foto geschenkt haben, denn er hat sich mit dem grünen schnippischen Ding verlobt, hat es eines Tages geheiratet, weil er sein Foto wieder zurück haben will.
Ich habe vorgegriffen und den letzten Blättern des Fotoalbums zu viele Worte gewidmet. Die dummen Schnappschüsse verdienen es nicht oder nur im Sinne eines Vergleiches, der klarmachen sollte, wie groß und unerreichbar, ja künstlerisch das Porträt meines Großvaters Koljaiczek auf der ersten Seite des Fotoalbums heute noch auf mich wirkt.
Klein und breit steht er neben einem gedrechselten Tischchen. Leider ließ er die Aufnahme nicht als Brandstifter, sondern als freiwilliger Feuerwehrmann Wranka machen. Es fehlt ihm also der Schnauzbart. Aber die straff sitzende Feuerwehruniform mit Rettungsmedaille und dem das Tischchen zum Altar machenden Feuerwehrhelm ersetzen den Schnauz des Brandstifters beinahe. Wie ernst und um alles Leid der Jahrhundertwende wissend er dreinzublicken weiß. Jener bei aller Tragik noch stolze Blick schien in den Zeiten des zweiten Kaiserreiches beliebt und geläufig gewesen zu sein, zeigt ihn doch gleichfalls Gregor Koljaiczek, der trunkene, auf den Fotos eher nüchtern wirkende Pulvermüller. Mehr mystisch, weil in Tschenstochau aufgenommen, hält es den eine geweihte Kerze haltenden Vinzent Bronski fest. Ein Jugendbildnis des schmächtigen Jan Bronski ist ein mit den Mitteln der frühen Fotografie gewonnenes Zeugnis bewußt schwermütiger Männlichkeit.
Den Frauen jener Zeit gelang dieser Blick über entsprechender Haltung seltener. Selbst meine Großmutter Anna, die doch, bei Gott, eine Person war, ziert sich auf den Aufnahmen vor Ausbruch des ersten Weltkrieges hinter einem dümmlich draufgesetzten Lächeln und läßt nichts von der Asyl bietenden Spannweite ihrer vier übereinanderfallenden, so verschwiegenen Röcke ahnen.
Sie lächelten auch noch während der Kriegsjahre dem knipsknips machenden, unter schwarzem Tuch tänzelnden Fotografen zu. Gleich dreiundzwanzig Krankenschwestern, darunter Mama als Hilfskrankenschwester im Lazarett Silberhammer, habe ich verschüchtert, um einen Halt bietenden Stabsarzt drängend, auf festem Karton von doppelter Postkartengröße. Etwas lockerer geben sich die Lazarettdamen in der gestellten Szene eines Kostümfestes, bei dem auch fast genesene Krieger mitwirkten. Mama riskiert ein zugekniffenes Auge und einen Kußmund, der trotz ihrer Engelsflügel und Lamettahaare sagen will: Auch Engel haben ein Geschlecht. Der vor ihr knieende Matzerath hat eine Verkleidung gewählt, die er allzu gerne zur täglichen Kleidung gemacht hätte: er zeigt sich als löffelschwingender Koch unter gestärkter Kochmütze. Hingegen in Uniform, mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse behaftet, blickt auch er, den Koljaiczeks und Bronskis ähnlich, tragisch bewußt geradeaus und ist den Frauen auf allen Fotos überlegen.
Nach dem Kriege zeigte man ein anderes Gesicht. Die Männer schauen leicht abgemustert drein, und nun sind es die Frauen, die es verstehen, sich ins Bildformat zu stellen, die den Grund haben, ernst dreinzublicken, die, selbst wenn sie lächeln, die Untermalung gelernten Schmerz nicht leugnen wollen.
Sie stand ihnen gut, die Wehmut den Frauen der zwanziger Jahre. Gelingt es ihnen nicht, sitzend, stehend und halb liegend, schwarzhaarige Mondsicheln an die Schläfe klebend, zwischen Madonna und Käuflichkeit eine versöhnliche Bindung zu knüpfen?
Das Bild meiner dreiundzwanzigj ährigen Mama — es muß kurz vor Beginn ihrer Schwangerschaft aufgenommen worden sein — zeigt eine junge Frau, die den runden, ruhig geformten Kopf auf straff fleischigem Hals leicht neigt, den jeweiligen Beschauer ihres Bildes jedoch direkt anblickt, die bloß sinnlichen Konturen mit besagt wehmütigem Lächeln und einem Augenpaar auflöst, das gewohnt zu sein scheint, mehr grau als blau die Seelen der Mitmenschen wie auch die eigene Seele gleich einem festen Gegenstand — sagen wir, Kaffeetasse oder Zigarettenspitze — zu betrachten. Es dürfte das Wörtchen seelenvoll allerdings nicht reichen, setzte ich es dem Blick meiner Mama als Eigenschaftswort davor.
Nicht interessanter, aber leichter zu beurteilen und darum aufschlußreicher sind die Gruppenfotos jener Zeit. Erstaunlich, um wieviel schöner und bräutlicher die Hochzeitskleider waren, als man den Vertrag zu Rapallo unterzeichnete. Matzerath trägt auf seinem Hochzeitsfoto noch einen steifen Kragen. Er sieht gut aus, elegant, fast intellektuell. Den rechten Fuß stellt er vor, möchte vielleicht einem Filmschauspieler seiner Tage, Harry Liedtke etwa, gleichen. Man trug damals kurz. Das bräutliche Kleid meiner bräutlichen Mama, ein weißer, tausendfältiger Plisseerock reicht bis knapp unters Knie, zeigt ihre gutgeformten Beine und zierlichen Tanzfüßchen in weißen Spangenschuhen.
Auf anderen Abzügen drängt die ganze Hochzeitsgesellschaft. Zwischen städtisch Gekleideten und Posierenden fallen immer wieder die Großmutter Anna und ihr begnadeter Bruder Vinzent durch provinzielle Strenge und Vertrauen einflößende Unsicherheit auf. Jan Bronski, der ja gleich meiner Mama vom selben Kartoffelacker herstammt wie seine Tante Anna und sein der himmlischen Jungfrau ergebener Vater, weiß ländlich kaschubische Herkunft hinter der festlichen Eleganz eines polnischen Postsekretärs zu verbergen. So klein und gefährdet er auch zwischen den Gesunden und Platzeinnehmenden stehen mag, sein ungewöhnliches Auge, die fast weibische Ebenmäßigkeit seines Gesichtes bilden, selbst wenn er am Rande steht, den Mittelpunkt jedes Fotos.
Schon längere Zeit betrachte ich eine Gruppe, die kurz nach der Hochzeit aufgenommen wurde. Ich muß zur Trommel greifen und mit meinen Stöcken vor dem matten, bräunlichen Viereck versuchen, das auf dem Karton erkennbare Dreigestirn auf gelacktem Blech zu beschwören.
Die Gelegenheit für dieses Bild wird sich Ecke Magdeburger Straße — Heeresanger neben dem polnischen Studentenheim, also in der Wohnung der Bronskis ergeben haben, denn es zeigt den Hintergrund eines sonnenbeschienenen, mit Kletterbohnen halb zugerankten Balkons solcher Machart, wie sie nur den Wohnungen der Polensiedlung vorklebten. Mama sitzt, Matzerath und Jan Bronski stehen. Aber wie sie sitzt und wie die beiden stehen! Eine Zeitlang war ich dumm genug, mit einem Schulzirkel, den Bruno mir kaufen mußte, mit Lineal und Dreieck die Konstellation dieses Triumvirates — denn Mama ersetzte vollwertig einen Mann — ausmessen zu wollen.
Halsneigungswinkel, ein Dreieck mit ungleichen Schenkeln, es kam zu Parallelverschiebungen, zur gewaltsam herbeigeführten Deckungsgleichheit, zu Zirkelschlägen, die sich bedeutungsvoll außerhalb, also im Grünzeug der Kletterbohnen trafen und einen Punkt ergaben, weil ich einen Punkt suchte, punktgläubig, punktsüchtig, Anhaltspunkt, Ausgangspunkt, wenn nicht sogar den Standpunkt erstrebte.
Nichts ist bei dieser dilettantischen Messerei herausgekommen, als winzige und dennoch störende Löcher, die ich mit der Zirkelspitze den wichtigsten Stellen dieses kostbaren Fotos grub. Was ist besonderes an dem Abzug? Was hieß mich, mathematische und, lächerlich genug, kosmische Bezüge auf diesem Viereck suchen und, wenn man will, sogar finden? Drei Menschen: eine sitzende Frau, zwei stehende Männer. Sie mit dunkler Wasserwelle, Matzeraths krauses Blond, Jans anliegendes, zurückgekämmtes Kastanienbraun. Alle drei lächeln: Matzerath mehr als Jan Bronski, beide die oberen Zähne zeigend, zusammen fünfmal so stark wie Mama, der es nur eine Spur in den Mundwinkeln und überhaupt nicht in den Augen sitzt. Matzerath läßt seine linke Hand auf Mamas rechter Schulter ruhen; Jan begnügt sich mit einer flüchtigen rechtshändigen Belastung der Stuhllehne.
Sie, mit den Knien nach rechts, von den Hüften ab frontal, hält ein Heft auf dem Schoß, das ich längere Zeit für eines der Bronskischen Briefmarkenalben, dann für eine Modezeitschrift, schließlich für die Zigarettenbildchensammlung berühmter Filmschauspieler hielt. Mamas Hände tun so, als wollten sie blättern, sobald die Platte belichtet, die Aufnahme gemacht ist. Alle drei scheinen glücklich, einander gutheißend gegen Überraschungen der Art gefeit zu sein, zu denen es nur kommt, wenn ein Partner des Dreibundes Geheimfächer anlegt oder von Anfang an birgt. Zusammengehörend sind sie auf die vierte Person, nämlich auf Jans Frau, Hedwig Bronski, geborene Lemke, die zu dem Zeitpunkt womöglich schon mit dem späteren Stephan schwanger ging, nur insofern angewiesen, als diese den Fotoapparat auf die drei und das Glück dieser drei Menschen richten muß, damit sich dreifaches Glück wenigstens mit den Mitteln der Fotografie festhalten läßt.
Ich habe andere Vierecke aus dem Album gelöst und neben dieses Viereck gehalten. Ansichten, auf denen entweder Mama mit Matzerath oder Mama mit Jan Bronski zu erkennen sind. Auf keinem dieser Bilder wird das Unabänderliche, die letztmögliche Lösung so deutlich wie auf dem Balkonbild.
Jan und Mama auf einer Platte: da riecht es nach Tragik, Goldgräberei und Verstiegenheit, die zum Überdruß wird, Überdruß der Verstiegenheit mit sich führt. Matzerath neben Mama: da tröpfelt Wochenendpotenz, da brutzeln die Wiener Schnitzel, da nörgelt es ein bißchen vor dem Essen und gähnt nach der Mahlzeit, da muß man sich vor dem Schlafengehen Witze erzählen oder die Steuerabrechnung an die Wand malen, damit die Ehe einen geistigen Hintergrund bekommt. Dennoch ziehe ich diese fotografierte Langeweile dem anstößigen Schnappschuß späterer Jahre vor, der Mama auf dem Schoß des Jan Bronski vor den Kulissen des Olivaer Waldes nahe Freudental zeigt. Erfaßt diese Unfläterei — Jan läßt eine Hand unter Mamas Kleid verschwinden — doch nur die blindwütige Leidenschaftdes unglücklichen, vom ersten Tage der Matzerath-Ehe an ehebrecherischen Paares, dem hier, wie ich vermute, Matzerath den abgestumpften Fotografen lieferte. Nichts wird von jener Gelassenheit, von den behutsam wissenden Gesten des Balkonbildes sichtbar, die sich wahrscheinlich nur dann ermöglichen ließen, wenn beide Männer sich hinter, neben Mama stellten oder ihr zu Füßen lagen, wie im Seesand der Badeanstalt Heubude; siehe Foto.
Da gibt es noch ein Viereck, das die drei wichtigsten Menschen meiner ersten Jahre, ein Dreieck bildend, aufzeigt. Wenn es auch nicht so konzentriert wie das Balkonbild ist, strahlt es dennoch denselben spannungsreichen Frieden aus, der sich wohl nur zwischen drei Menschen schließen und womöglich unterschreiben läßt. Man mag noch soviel über die beliebte Dreiecksthematik des Theaters schimpfen; zwei Personen alleine auf der Bühne, was sollen sie tun, als sich totdiskutieren oder insgeheim nach dem Dritten sehnen. Auf meinem Bildchen sind sie zu dritt. Sie spielen Skat. Das heißt, sie halten die Karten wie wohlorganisierte Fächer, blicken aber nicht, ein Spiel ausreizen wollend, auf ihre Trümpfe, sondern in den Fotoapparat. Jans Hand liegt flach, bis auf den sich richtenden Zeigefinger, neben dem Kleingeld, Matzerath drückt die Fingernägel ins Tischtuch, Mama erlaubt sich einen kleinen und, wie ich glauben möchte, gelungenen Scherz: sie hat eine Karte gezogen, zeigt sie der Linse des Fotoapparates, aber nicht ihren Mitspielern. Wie leicht durch eine einzige Geste, durch das bloße Aufzeigen der Skatkarte Herz Dame, ein gerade noch unaufdringliches Symbol beschworen werden kann; denn wer schwüre nicht auf Herz Dame!
Das Skatspiel — man kann es, wie bekannt sein dürfte, nur zu dritt spielen — war für Mama und die beiden Männer nicht nur das angemessenste Spiel; es war ihre Zuflucht, ihr Hafen, in den sie immer dann fanden, wenn das Leben sie verführen wollte, in dieser oder jener Zusammenstellung zu zweit existierend, dumme Spiele wie Sechsundsechzig oder Mühle zu spielen.
Schluß mit den Drein jetzt, die mich in die Welt setzten, obgleich es ihnen an nichts fehlte. Bevor ich zu mir komme, ein Wort über Gretchen Scheffler, Mamas Freundin, und deren Bäckermeister wie Ehemann, Alexander Scheffler. Er kahlköpfig, sie mit einem zur guten Hälfte aus Goldzähnen bestehenden Pferdegebiß lachend. Er kurzbeinig und auf Stühlen sitzend, nie den Teppich erreichend, sie in selbstgestrickten Kleidern, die sich in Mustern nie genug tun konnten. Später Fotos der beiden Schefflers in Liegestühlen oder vor Rettungsbooten des KdF-Schiffes »Wilhelm Gustloff«, auch auf dem Promenadendeck der »Tannenberg« vom Seedienst Ostpreußen. Jahr für Jahr machten sie Reisen und brachten Andenken aus Pillau, Norwegen, von den Azoren, aus Italien unbeschädigt nach Hause in den Kleinhammerweg, wo er Semmeln buk und sie Kissenbezüge mit Mausezähnchen versah.
Wenn Alexander Scheffler nicht sprach, befeuchtete er unermüdlich mit der Zungenspitze seine Oberlippe, was ihm Matzeraths Freund, der uns schräg gegenüber wohnende Gemüsehändler Greif, als unanständige Geschmacklosigkeit übelnahm.
Obgleich Greff verheiratet war, war er mehr ein Pfadfinderführer denn ein Ehemann. Ein Foto zeigt ihn breit, trocken, gesund in kurz-hosiger Uniform, mit Führerschnüren und dem Pfadfinderhut. Neben ihm steht in gleicher Montur ein blonder, etwas zu großäugiger, vielleicht dreizehnjähriger Junge, den Greff mit linker Hand an der Schulter hält und Zuneigung bezeugend an sich drückt. Den Jungen kannte ich nicht, aber Greff sollte ich durch seine Frau Lina später kennen und begreifen lernen.
Ich verliere mich zwischen Schnappschüssen von KdF-Reisenden und Zeugnissen zarter Pfadfindererotik. Schnell will ich einige Seiten überblättern und zu mir, zu meiner ersten fotografischen Abbildung kommen.
Ich war ein schönes Kind. Die Aufnahme wurde Pfingsten fünfundzwanzig gemacht. Acht Monate war ich alt und zwei Monate jünger als Stephan Bronski, der auf der nächsten Seite im gleichen Format abgebildet ist und unbeschreibliche Gewöhnlichkeit ausstrahlt. Einen gewellten, kunstvoll gerissenen Rand hat die Postkarte, deren Rückseite fürs Adressieren liniert, wahrscheinlich in größerer Auflage abgezogen wurde und für den Familiengebrauch bestimmt war. Der fotografische Ausschnitt zeigt auf dem breitgezogenen Viereck die Form eines allzu symmetrisch geratenen Eies. Nackt und den Dotter versinnbildlichend liege ich bäuchlings auf weißem Fell, das irgendein arktischer Eisbär für einen auf Kinderfotos spezialisierten osteuropäischen Berufsfotografen gestiftet haben muß. Wie für viele Fotos jener Zeit hat man auch für mein erstes Konterfei jenen unverwechselbaren bräunlich warmen Farbton gewählt, den ich menschlich im Gegensatz zum unmenschlich glatten Schwarzweißfoto unserer Tage nennen möchte. Matt verschwommenes, wahrscheinlich gemaltes Blattwerk erstellt den dunklen, mit wenigen Lichtflecken aufgelockerten Hintergrund. Während mein glatter, gesunder Körper in platter Ruhe leicht diagonal auf dem Fell ruht und die polarische Heimat des Eisbars auf sich wirken läßt, halte ich den platzrunden Kinderkopf angestrengt hoch, blicke den jeweiligen Beschauer meiner Nacktheit mit Glanzlichtaugen an.
Man mag sagen, ein Kinderfoto wie alle Kinderfotos. Betrachten Sie bitte die Hände: Sie werden zugeben müssen, daß sich mein frühestes Konterfei von den ungezählten, immer die gleich niedliche Existenz aufweisenden Blüten diverser Fotoalben einprägsam unterscheidet. Mit geballten Fäusten sieht man mich. Keine Wurstfinger, die selbstvergessen, einem noch dunklen haptischen Trieb gehorchend, mit den Zotteln des Eisbärfells spielen. Ernst gesammelt schweben die kleinen Griffe zu seilen des Kopfes, immer bereit, niederzufallen, den Ton anzugeben. Welchen Ton? Den Trommelton!Noch fehlt sie, die man mir anläßlich meiner Geburt unter den Glühbirnen zum dritten Geburtstag versprach; doch wäre es einem geübten Fotomonteur mehr als leicht, das entsprechende, also verkleinerte Klischee einer Kindertrommel einzurücken, ohne die geringsten Retuschen an meiner Körperlage vornehmen zu müssen. Nur das dumme, von mir nicht beachtete Stofftier müßte fort. Es ist ein Fremdkörper in dieser sonst gelungenen Komposition, der man jenes scharfsinnige, hellsichtige Alter, da die ersten Milchzähne durchbrechen wollen, zum Thema stellte.
Später hat man mich nicht mehr auf Eisbärfelle gelegt. Eineinhalb Jahre alt mag ich gewesen sein, da man mich in einem hochrädrigen Kinderwagen vor einen Bretterzaun schob, dessen Zacken und Querverbindungen von einer Schneeschicht dergestalt deutlich nachgezeichnet sind, daß ich annehmen muß, die Aufnahme wurde im Januar sechsundzwanzig gemacht. Die klobige, nach geteertem Holz riechende Machart des Zaunes verbindet sich mir bei längerer Betrachtung mit dem Vorort Hochstrieß, dessen weitläufige Kasernenanlagen vormals den Mackensen-Husaren, zu meiner Zeit der Schutzpolizei des Freistaates, als Unterkunft dienten. Da ich mich jedoch an keine Person erinnern kann, die in dem so benannten Vorort wohnte, wird die Aufnahme anläßlich eines einmaligen Besuches meiner Eltern bei Leuten, die man später nie wieder oder nur flüchtig sah, gemacht worden sein.
Mama und Matzerath, die den Kinderwagen zwischen sich halten, tragen trotz der kalten Jahreszeit keine Wintermäntel. Vielmehr kleidet Mama eine langärmelige Russenbluse, deren draufgestickte Ornamente sich dem winterlichen Bild den Eindruck erweckend mitteilen: im tiefsten Rußland wird eine Aufnahme der Zarenfamilie gemacht, Rasputin hält den Apparat, ich bin der Zarewitsch und hinter dem Zaun hocken Menschewiki und Bolschewiki, beschließen, Bomben bastelnd, den Untergang meiner selbstherrscherlichen Familie. Matzeraths korrektes, mitteleuropäisches, wie man sehen wird, zukunftträchtiges Kleinbürgertum bricht der im Foto schlummernden Moritat die gewaltsame Spitze ab. Man war im friedlichen Hochstrieß, verließ für einen Augenblick, ohne die Wintermäntel anzulegen, die Wohnung der Gastgeber, ließ sich mit dem kleinen, wunschgemäß drollig blickenden Oskar in der Mitte vom Hausherrn fotografieren, um es gleich darauf bei Kaffee, Kuchen und Schlagsahne warm, süß und vergnügt zu haben.
Es gibt noch ein gutes Dutzend Schnappschüsse des liegenden, sitzenden, kriechenden, laufenden, einjährigen, zweijährigen, zweieinhalbjährigen Oskar. Die Aufnahmen sind mehr oder weniger gut, bilden insgesamt nur die Vorstufe zu jenem ganzfigürlichen Porträt, das man anläßlich meines dritten Geburtstages machen ließ.
Da habe ich sie, die Trommel. Da hängt sie mir gerade, neu und weißrot gezackt vor dem Bauch. Da kreuze ich selbstbewußt und unter ernst entschlossenem Gesicht hölzerne Trommelstöcke auf dem Blech. Da habe ich einen gestreiften Pullover an. Da stecke ich in glänzenden Lackschuhen. Da stehen mir die Haare wie eine putzsüchtige Bürste auf dem Kopf, da spiegelt sich in jedem meiner blauen Augen der Wille zu einer Macht, die ohne Gefolgschaft auskommen sollte. Da gelang mir damals eine Position, die aufzugeben ich keine Veranlassung hatte. Da sagte, da entschloß ich mich, da beschloß ich, auf keinen Fall Politiker und schon gar nicht Kolonialwarenhändler zu werden, vielmehr einen Punkt zu machen, so zu verbleiben — und ich blieb so, hielt mich in dieser Größe, in dieser Ausstattung viele Jahre lang.
Kleine und große Leut', kleiner und großer Belt, kleines und großes ABC, Hänschenklein und Karl der Große, David und Goliath, Mann im Ohr und Gardemaß; ich blieb der Dreijährige, der Gnom, der Däumling, der nicht aufzustockende Dreikäsehoch blieb ich, um Unterscheidungen wie kleiner und großer Katechismus enthoben zu sein, um nicht als einszweiundsiebzig großer, sogenannter Erwachsener, einem Mann, der sich selbst vor dem Spiegel beim Rasieren mein Vater nannte, ausgeliefert und einem Geschäft verpflichtet zu sein, das, nach Matzeraths Wunsch, als Kolonialwarengeschäft einem einundzwanzigjährigen Oskar die Welt der Erwachsenen bedeuten sollte. Um nicht mit einer Kasse klappern zu müssen, hielt ich mich an die Trommel und wuchs seit meinem dritten Geburtstag keinen Fingerbreit mehr, blieb der Dreijährige, aber auch Dreimalkluge, den die Erwachsenen alle überragten, der den Erwachsenen so überlegen sein sollte, der seinen Schatten nicht mit ihrem Schatten messen wollte, der innerlich und äußerlich vollkommen fertig war, während jene noch bis ins Greisenalter von Entwicklung faseln mußten, der sich bestätigen ließ, was jene mühsam genug und oftmals unter Schmerzen in Erfahrung brachten, der es nicht nötig hatte, von Jahr zu Jahr größere Schuhe und Hosen zu tragen, nur um beweisen zu können, daß etwas im Wachsen sei.
Dabei, und hier muß auch Oskar Entwicklung zugeben, wuchs etwas — und nicht immer zu meinem Besten — und gewann schließlich messianische Größe; aber welcher Erwachsene hatte zu meiner Zeit den Blick und das Ohr für den anhaltend dreijährigen Blechtrommler Oskar?
GLAS, GLAS, GLÄSCHEN
Beschrieb ich soeben ein Foto, das Oskars ganze Figur mit Trommel, Trommelstöcken zeigt, und gab gleichzeitig kund, was für längstgereifte Entschlüsse Oskar während der Fotografiererei und angesichts der Geburtstagsgesellschaft um den Kuchen mit den drei Kerzen faßte, muß ich jetzt, da das Fotoalbum verschlossen neben mir schweigt,jene Dinge zur Sprache bringen, die zwar meine anhaltende Dreijährigkeit nicht erklären, sich aber dennoch — und von mir herbeigeführt — ereigneten.
Von Anfang an war mir klar: die Erwachsenen werden dich nicht begreifen, werden dich, wenn du für sie nicht mehr sichtbar wächst, zurückgeblieben nennen, werden dich und ihr Geld zu hundert Ärzten schleppen, und wenn nicht deine Genesung, dann die Erklärung für deine Krankheit suchen. Ich mußte also, um die Konsultationen auf ein erträgliches Maß beschränken zu können, noch bevor der Arzt seine Erklärung abgab, meinerseits den plausiblen Grund fürs ausbleibende Wachstum liefern.
Ein sonniger Septembertag, mein dritter Geburtstag. Zarte, nachsommerliche Glasbläserei, selbst Gretchen Schefflers Gelächter gedämpft. Mama am Klavier aus dem Zigeunerbaron intonierend, Jan hinter ihr und dem Schemelchen stehend, ihre Schulter berührend, die Noten studieren wollend.
Matzerath schon das Abendbrot vorbereitend in der Küche. Großmutter Anna mit Hedwig Bronski und Alexander Scheffler zum Gemüsehändler Greff hinüberrückend, weil Greff immer Geschichten wußte, Pfadfindergeschichten, in deren Verlauf sich Treue und Mut zu beweisen hatten; dazu eine Standuhr, die keine Viertelstunde des feingesponnenen Septembertages ausließ; und da alle gleich der Uhr so beschäftigt waren und sich vom Ungarnland des Zigeunerbarons, über Greff s Vogesen durchwandernde Pfadfinder eine Linie an Matzeraths Küche vorbei, wo kaschubische Pfifferlinge mit Rührei und Bauchfleisch in der Pfanne erschraken, zum Laden hin durch den Korridor zog, folgte ich, leichthin auf meiner Trommel dröselnd, der Flucht, stand schon im Laden hinter dem Ladentisch : fern das Klavier, die Pfifferlinge und Vogesen, und bemerkte, daß die Falltür zum Keller offen stand; Matzerath, der eine Konservendose mit gemischtem Obst für den Nachtisch hochgeholt hatte, mochte vergessen haben, sie zu schließen.
Es bedurfte doch immerhin einer Minute, bis ich begriff, was die Falltür zu unserem Lagerkeller von mir verlangte. Bei Gott, keinen Selbstmord! Das wäre wirklich zu einfach gewesen. Das andere jedoch war schwierig, schmerzhaft, verlangte ein Opfer und trieb mir schon damals, wie immer, wenn mir ein Opfer abverlangt wird, den Schweiß auf die Stirn. Vor allen Dingen durfte meine Trommel keinen Schaden nehmen, wohlbehalten galt es, sie die sechzehn ausgetretenen Stufen hinab zu tragen und zwischen den Mehlsäcken, ihren unbeschädigten Zustand motivierend, zu placieren. Dann wieder hinauf bis zur achten Stufe, nein, eine tiefer, oder die fünfte täte es auch. Aber Sicherheit und glaubwürdiger Schaden ließen sich von dort herab nicht verbinden. Wieder hinauf, zu hoch hinauf auf die zehnte Stufe, und endlich von der neunten Stufe hinab stürzte ich mich, ein Regal voller Flaschen mit Himbeersirup mitreißend, kopfvoran auf den Zementboden unseres Lagerkellers.
Noch bevor sich meinem Bewußtsein die Gardine vorzog, bestätigte ich mir den Erfolg des Experimentes: die mit Absicht herabgerissenen Himbeersirupflaschen lärmten genug, um Matzerath aus der Küche, Mama vom Klavier, den Rest der Geburtstagsgesellschaft aus den Vogesen in den Laden zur offenen Falltür und die Treppe hinunter zu locken.
Bevor sie kamen, ließ ich noch den Geruch des fließenden Himbeersirups auf mich wirken, nahm auch wahr, daß mein Kopf blutete, und überlegte mir noch, während sie schon auf der Treppe waren, ob wohl Oskars Blut oder die Himbeeren so süß und müde machend rochen, war aber heilfroh, daß alles geklappt und die Trommel dank meiner Vorsicht keinen Schaden genommen hatte.
Ich glaube, Greff trug mich hoch. Im Wohnzimmer erst tauchte Oskar wieder aus jener Wolke auf, die wohl zur Hälfte aus Himbeersirup und zur anderen Hälfte aus seinem jungen Blut bestand. Der Arzt war noch nicht da, Mama schrie und schlug Matzerath, der sie beruhigen wollte, mehrmals und nicht nur mit der Handfläche, auch mit dem Handrücken, ihn einen Mörder nennend, ins Gesicht.
Da hatte ich also — und die Ärzte haben es immer wieder bestätigt — mit einem einzigen, zwar nicht harmlosen, aber doch von mir wohldosierten Sturz nicht nur den für die Erwachsenen so wichtigen Grund des ausbleibenden Wachstums geliefert, sondern als Zugabe und ohne es eigentlich zu wollen, den guten harmlosen Matzerath zu einem schuldigen Matzerath gemacht. Er hatte die Falltür offen gelassen, ihm wurde von Mama alle Schuld aufgebürdet, und er hatte Gelegenheit, Jahre an dieser Schuld, die ihm Mama zwar nicht oft, aber dann unerbittlich vorwarf, zu tragen.
Mir brachte der Sturz vier Wochen Krankenhausaufenthalt ein und danach, bis auf die späteren Mittwochbesuche bei Dr. Hollatz, verhältnismäßige Ruhe vor den Ärzten; schon anläßlich meines ersten Trommlertages war es mir gelungen, der Welt ein Zeichen zu geben, mein Fall war geklärt, bevor die Erwachsenen ihn dem wahren, von mir bestimmten Sachverhalt nach begriffen hatten.
Fortan hieß es: an seinem dritten Geburtstag stürzte unser kleiner Oskar die Kellertreppe hinunter, blieb zwar sonst beieinander, nur wachsen wollte er nicht mehr.
Und ich begann zu trommeln. Unser Mietshaus zählte vier Etagen. Vom Parterre bis zu den Bodenverschlägen trommelte ich mich hoch und wieder treppab. Vom Labesweg zum Max-Halbe-Platz, von dort nach Neuschottland, Anton-Möller-Weg, Marienstraße, Kleinhammerpark, Aktienbierbrauerei, Aktienteich, Fröbelwiese, Pestalozzischule, Neuer Markt und wieder hinein in den Labesweg. Meine Trommel hielt das aus, die Erwachsenen weniger, wollten meiner Trommel ins Wort fallen, wollten meinem Blech im Wege sein, wollten meinen Trommelstöcken ein Bein stellen — aber die Natur sorgte für mich.Die Fähigkeit, mittels einer Kinderblechtrommel zwischen mir und den Erwachsenen eine notwendige Distanz ertrommeln zu können, zeitigte sich kurz nach dem Sturz von der Kellertreppe fast gleichzeitig mit dem Lautwerden einer Stimme, die es mir ermöglichte, in derart hoher Lage anhaltend und vibrierend zu singen, zu schreien oder schreiend zu singen, daß niemand es wagte, mir meine Trommel, die ihm die Ohren welk werden ließ, wegzunehmen; denn wenn mir die Trommel genommen wurde, schrie ich, und wenn ich schrie, zersprang Kostbarstes: ich war in der Lage, Glas zu zersingen; mein Schrei tötete Blumenvasen; mein Gesang ließ Fensterscheiben ins Knie brechen und Zugluft regieren; meine Stimme schnitt gleich einem keuschen und deshalb unerbittlichen Diamanten Vitrinen auf und verging sich im Inneren der Vitrinen, ohne dabei die Unschuld zu verlieren, an harmonischen, edel gewachsenen, von lieber Hand geschenkten, leicht verstaubten Likörgläsern.
Es dauerte nicht lange, und meine Fähigkeiten wurden in unserer Straße, vom Brösener Weg bis zur Siedlung am Flugplatz, also im ganzen Quartier bekannt. Sahen mich die Kinder der Nachbarschaft, deren Spiele wie »Saurer Hering, eins, zwei drei« oder »Ist die Schwarze Köchin da« oder »Ich sehe was, was du nicht siehst« —meine Anteilnahme nicht fanden, plärrte auch schon ein ganzer ungewaschener Chor:
Glas, Glas, Gläschen, Zucker ohne Bier, Frau Holle macht das Fenster auf und spielt Klavier.
Gewiß, ein dummer und nichtssagender Kindervers. Mich störte das Liedchen kaum, wenn ich hinter meiner Trommel mitten hindurch, durch Gläschen und Frau Holle stampfte, dabei den einfältigen Rhythmus, der ja nicht ohne Reiz ist, aufnahm und Glas, Glas, Gläschen trommelnd, ohne ein Rattenfänger zu sein, die Kinder nachzog.
Auch heute noch, etwa wenn Bruno die Scheiben meines Zimmerfensters putzt, räume ich diesem Vers und Rhythmus auf meiner Trommel ein Plätzchen ein.
Störender als das Spottlied der Nachbarskinder und ärgerlicher, besonders für meine Eltern, war die kostspielige Tatsache, daß mir oder vielmehr meiner Stimme jede in unserem Viertel von mutwilligen, unerzogenen Rowdys zerworfene Fensterscheibe zur Last gelegt wurde. Anfangs bezahlte Mama auch treu und brav die zumeist mit Katapultschleudern zertrümmerten Küchenfensterscheiben, dann endlich begriff auch sie mein Stimmphänomen, forderte bei Schadenansprüchen Beweise und machte dabei sachlich kühlgraue Augen. Die Leute der Nachbarschaft taten mir wirklich Unrecht. Nichts war zu dem Zeitpunkt verfehlter, als anzunehmen, es besäße mich kindliche Zerstörungswut, ich fände das Glas oder Glasprodukte auf jene unerklärliche Art hassenswert, wie eben Kinder manchmal ihre dunklen und planlosen Abneigungen in wütigen Amokläufen demonstrieren. Nur wer spielt, zerstört mutwillig. Ich spielte nie, ich arbeitete auf meiner Trommel, und was meine Stimme anging, gehorchte diese vorerst nur der Notwehr. Allein Sorge um den Fortbestand meiner Arbeit auf der Trommel hieß mich, meine Stimmbänder so zielstrebig zu gebrauchen. Wenn es mir möglich gewesen wäre, mit den gleichen Tönen und Mitteln etwa langweilige, kreuz und quer bestickte, Gretchen Schefflers Musterphantasie entsprungene Tischtücher zu zerschneiden oder die düstere Politur vom Klavier zu lösen, hätte ich alles Gläserne mit Freude heil und klangvoll belassen. Doch meiner Stimme blieben Tischdecken und Polituren gleichgültig. Weder gelang es mir, mit unermüdlichem Schrei das Tapetenmuster zu löschen, noch mit zwei langgezogenen, auf und ab schwellenden, sich steinzeitlich mühsam aneinander reibenden Tönen Wärme bis Hitze zu erzeugen, endlich den Funken springen zu lassen, der nötig gewesen wäre, die zundertrockenen, tabakrauchgewürzten Gardinen vor den beiden Fenstern des Wohnzimmers zu dekorativen Flammen werden zu lassen. Keinem Stuhl, auf dem etwa Matzerath oder Alexander Scheffler saßen, sang ich das Bein ab. Gerne hätte ich mich harmloser und weniger wunderbar gewehrt, aber nichts Harmloses wollte mir dienen, einzig das Glas hörte auf mich und mußte dafür bezahlen.
Die erste erfolgreiche Darbietung dieser Art bot ich kurz nach meinem dritten Geburtstag. Ich besaß die Trommel damals vielleicht reichliche vier Wochen und hatte sie während dieser Zeit, fleißig wie ich war, kaputtgeschlagen. Zwar hielt die weißrot geflammte Einfassung noch Trommelboden und Trommelfläche zusammen, aber das Loch in der Mitte der tonangebenden Seite ließ sich nicht mehr übersehen, wurde, da ich den Trommelboden verschmähte, auch immer größer, franste aus, bekam zackige, scharfe Ränder, dünngetrommelte Blechteilchen splitterten ab, fielen ins Innere der Trommel, klapperten mißgelaunt bei jedem Schlag mit, und überall auf dem Teppich des Wohnzimmers und auf den rotbraunen Dielen des Schlafzimmers schimmerten weiße Lackpartikel, die es auf meinem gemarterten Trommelblech nicht mehr hatten aushallen wollen.
Man befürchtete, ich würde mich an den gefährlich scharfen Blechkanten reißen. Besonders Matzerath, der nach meinem Sturz von der Kellertreppe Vorsicht mit Vorsicht überbot, riet mir Vorsicht beim Trommeln an. Da ich mit den Pulsadern tatsächlich immer und in heftigster Bewegung dem gezackten Kraterrand nahe war, muß ich zugeben, daß Matzeraths Befürchtungen zwar übertrieben, doch nicht ganz grundlos waren. Nun hätte man mit einer neuen Trommel alle Gefahr aus dem Wege räumen können; sie aber dachten gar nicht an eine neue Trommel, wollten mir mein gutes altes Blech, das mit mir stürzte, ins Krankenhaus kam und mit mir gleichzeitig entlassen wurde, das mit mir treppauf treppab, das mit mir auf Kopfsteinpflaster und Bürgersteigen, durch »Saurer Hering, eins, zwei, drei« hindurch und an »Ich sehe was, was nu nicht siehst«, an der »Schwarzen Köchin« vorbei, dieses Blech wollten sie mir wegnehmen und keinen Ersatz heranschaffen. Dumme Schokolade sollte mich ködern. Mama hielt sie und machte einen spitzen Mund dabei. Matzerath war es, der mit gemachter Strenge nach meinem invaliden Instrument griff. Ich klammerte mich an das Wrack. Er zog. Schon ließen meine gerade fürs Trommeln bemessenen Kräfte nach. Langsam entglitt mir eine rote Flamme nach der anderen, schon wollte mir das Rund der Einfassung entschlüpfen, da gelang Oskar, der bis zu jenem Tage als ein ruhiges, fast zu braves Kind gegolten hatte, jener erste zerstörerische und wirksame Schrei: die runde geschliffene Scheibe, die das honiggelbe Zifferblatt unserer Standuhr vor Staub und sterbenden Fliegen schützte, zersprang, fiel, teilweise nochmals zerscherbend, auf die braunroten Dielen — denn der Teppich reichte nicht ganz bis zur Standfläche der Uhr hin. Das Innere des kostbaren Werkes nahm jedoch keinen Schaden: ruhig setzte das Pendel — wenn man so von einem Pendel sagen kann — seinen Weg fort, desgleichen die Zeiger. Nicht einmal das Läutwerk, das sonst empfindlich, ja fast hysterisch auf den geringsten Stoß, auf draußen vorbeirollende Bierwagen reagierte, zeigte sich durch meinen Schrei beeindruckt; allein die Scheibe sprang, jedoch zersprang sie gründlich.
»Die Uhr ist kaputt!« rief Matzerath und ließ die Trommel los. Mit knappem Blick überzeugte ich mich, daß mein Schrei der eigentlichen Uhr keinen Schaden angetan hatte, daß nur das Glas hinüber war. Für Matzerath jedoch, auch für Mama und Onkel Jan Bronski, der an jenem Sonntagnachmittag seine Visite machte, schien mehr als das Glas vorm Zifferblatt kaputt zu sein. Bleich und mit hilflos verrutschenden Blicken äugten sie einander an, tasteten nach dem Kachelofen, hielten sich am Klavier und Büfett, wagten sich nicht vom Fleck, und Jan Bronski bewegte trockene Lippen unter flehentlich verdrehtem Auge, daß ich noch heute glaube, des Onkels Bemühungen galten dem Wortlaut eines Hilfe und Erbarmen fordernden Gebetes, wie etwa: Oh, du Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt — Miserere nobis. Und diesen Text dreimal und hernach noch ein: O Herr, ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort.,.
Natürlich sprach der Herr kein Wort. Es war ja auch nicht die Uhr kaputt, nur das Glas. Es ist aber das Verhältnis der Erwachsenen zu ihren Uhren höchst sonderbar und kindisch in jenem Sinne, in welchem ich nie ein Kind gewesen bin. Dabei ist die Uhr vielleicht die großartigste Leistung der Erwachsenen. Aber wie es nun einmal ist: im selben Maß, wie die Erwachsenen Schöpfer sein können und bei Fleiß, Ehrgeiz und einigem Glück auch sind, werden sie gleich nach der Schöpfung Geschöpfe ihrer eigenen epochemachenden Erfindungen.
Dabei ist die Uhr nach wie vor nichts ohne den Erwachsenen. Er zieht sie auf, er stellt sie vor oder zurück, er bringt sie zum Uhrmacher, damit der sie kontrolliere, reinige und notfalls repariere. Ähnlich wie beim Kuckucksruf, der zu früh ermüdet, beim umgestürzten Salzfäßchen, beim Spinnen am Morgen, schwarzen Katzen von links, beim Ölbild des Onkels, das von der Wand fällt, weil sich der Haken im Putz lockerte, ähnlich wie beim Spiegel sehen die Erwachsenen hinter und in der Uhr mehr, als eine Uhr darzustellen vermag.
Mama, die trotz einiger schwärmerisch phantastischer Züge den nüchternsten Blick hatte, auch leichtsinnig, wie sie sein konnte, jedes vermeintliche Zeichen stets zu ihrem Besten wertete, fand damals das erlösende Wort.
»Scherben bringen Glück! «rief sie fingerschnalzend, holte Kehrblech und Handfeger und kehrte die Scherben oder das Glück zusammen.
Ich habe, wenn ich mich auf Mamas Worte berufen will, meinen Eltern, den Verwandten, bekannten und auch unbekannten Leuten viel Glück gebracht, indem ich jedem, der mir meine Trommel wegnehmen wollte, Fensterscheiben, volle Biergläser, leere Bierflaschen, den Frühling freigebende Parfümflakons, Kristallschalen mit Zierobst, kurz, alles was gläsern aus Glashütten dank Glasbläsers Atem hervorgebracht wurde, teils nur mit Glases Wert, teils als künstlerische Gläschen auf den Markt kam, zerschrie, zersang, zerscherbte.
Um nicht allzuviel Schaden anzurichten, denn ich liebte und liebe heute noch schöngeformte Glasprodukte, zermürbte ich, wenn man mir abends meine Blechtrommel nehmen wollte, die ja zu mir ins Bettchen gehörte, eine oder mehrere Glühbirnen unserer viermal sich Mühe gebenden Wohnzimmerhängelampe. So versetzte ich an meinem vierten Geburtstag, Anfang September achtundzwanzig, die versammelte Geburtstagsgesellschaft, die Eltern, die Bronskis, die Großmutter Koljaiczek, Schefflers und Greffs, die mir alles mögliche geschenkt hatten, Bleisoldaten, ein Segelschiff, ein Feuerwehrauto — nur keine Blechtrommel; sie alle, die da haben wollten, daß ich mich mit Bleisoldaten abgäbe, daß ich den Irrsinn einer Feuerwehr spielenswert fände, die mir meine zerschlagene, aber brave Trommel nicht gönnten, die mir das Blech nehmen und dafür das alberne, obendrein unsachgemäß mit Segeln besetzte Schiffchen in die Hände drücken wollten, alle die da Augen hatten, um mich und meine Wünsche zu übersehen, versetzte ich mit einem rundlaufenden, alle vier Glühbirnen unserer Hängelampe tötenden Schrei in vorweltliche Finsternis.
Wie nun Erwachsene einmal sind: nach den ersten Schreckensrufen, fast inbrünstigem Verlangen nach Wiederkehr des Lichtes, gewöhnten sie sich an die Dunkelheit, und als meine Großmutter Koljaiczek, die als einzige außer dem kleinen Stephan Bronski der Finsternis nichts abgewinnen konnte, mit dem plärrenden Stephan am Rock Talgkerzen aus dem Laden holte und mit brennenden Kerzen, das Zimmer aufhellend, zurückkam, zeigte sich die restliche, stark angetrunkene Geburtstagsgesellschaft in merkwürdiger Paarung.Wie zu erwarten war, hockte Mama mit verrutschter Bluse auf Jan Bronskis Schoß. Unappetitlich war es, den kurzbeinigen Bäckermeister Alexander Scheffler fast in der Greffschen verschwinden zu sehen, Matzerath leckte an Gretchen Schefflers Gold-und Pferdezähnen.
Nur Hedwig Bronski saß mit im Kerzenlicht frommen Kuhaugen, die Hände im Schoß haltend, nahe aber nicht zu nahe dem Gemüsehändler Greff, der nichts getrunken hatte und dennoch sang, süß sang, melancholisch, Wehmut mitschleppend sang, Hedwig Bronski zum Mitsingen auffordernd sang. Ein zweistimmig Pfadfinderlied sangen sie, nach dessen Text ein gewisser Rübezahl durchs Riesengebirge zu geistern hatte.
Mich hatte man vergessen. Unter dem Tisch saß Oskar mit dem Fragment seiner Trommel, holte noch etwas Rhythmus aus dem Blech heraus, und es mochte sich ergeben haben, daß die sparsamen, aber gleichmäßigen Trommelgeräusche jenen, die da vertauscht und verzückt im Zimmer lagen oder saßen, nur angenehm sein konnten. Denn wie Firnis verdeckte die Trommelei Schmatz-und Saugtöne, die jenen bei all den fieberhaften und angestrengten Beweisen ihres Fleißes unterliefen.
Ich blieb auch unter dem Tisch, als meine Großmutter kam, mit den Kerzen einem zornigen Erzengel glich, im Kerzenschein Sodom besichtigte, Gomorrha erkannte, mit zitternden Kerzen Krach schlug, das alles eine Sauerei nannte und die Idylle wie Rübezahls Spaziergänge durch das Riesengebirge beendete, indem sie die Kerzen auf Untertassen stellte, Skatkarten vom Büfett langte, auf den Tisch warf und, den immer noch greinenden Stephan tröstend, den zweiten Teil der Geburtstagsfeier ankündigte. Bald darauf schraubte Matzerath neue Glühbirnen in die alten Fassungen unserer Hängelampe, Stühle wurden gerückt, Bierflaschen schnalzten aufspringend; man begann über mir einen Zehntelpfennigskat zu kloppen. Mama schlug gleich zu Anfang einen Viertelpfennigskat vor, aber das war dem Onkel Jan zu riskant, und wenn nicht Bockrunden und ein gelegentlicher Grand mit Viern den Einsatz dann und wann beträchtlich erhöht hätten, wäre es bei der Zehntelpfennigfuchserei geblieben.
Ich fühlte mich wohl unter der Tischplatte, im Windschatten des herabhängenden Tischtuches.
Leichthin trommelnd begegnete ich den über mir Karten dreschenden Fäusten, ordnete mich dem Verlauf der Spiele unter und meldete mir nach einer knappen Stunde Skat: Jan Bronski verlor. Er hatte gute Karten, verlor aber trotzdem. Kein Wunder, da er nicht aufpaßte. Hatte ganz andere Dinge im Kopf als seinen Karo ohne Zweien. Hatte sich gleich zu Anfang des Spiels, noch mit seiner Tante redend, die kleine Orgie von vorher banalisierend, den schwarzen Halbschuh vom linken Fuß gestreift und mit graubesocktem linken Fuß am meinem Kopf vorbei das Knie meiner Mama, die ihm gegenüber saß, gesucht und auch gefunden. Kaum berührt, rückte Mama näher an den Tisch heran, so daß Jan, der gerade von Matzerath gereizt wurde und bei dreiunddreißig paßte, den Saum ihres Kleides lüpfend erst mit der Fußspitze, dann mit dem ganzen gefüllten Socken, der allerdings vom selben Tage und beinah frisch war, zwischen ihren Schenkeln wandern konnte. Alle Bewunderung für meine Mama, die trotz dieser wollenen Belästigung unter der Tischplatte oben auf strammem Tischtuch die gewagtesten Spiele, darunter einen Kreuz ohne Viern, sicher und von humorigster Rede begleitet, gewann, während Jan mehrere Spiele, die selbst Oskar mit schlafwandlerischer Sicherheit nach Hause gebracht hätte, unten immer forscher werdend, oben verlor.
Später kroch noch das müde Stephanchen unter den Tisch, schlief dort bald ein und begriff vorm Einschlafen nicht, was seines Vaters Hosenbein unterm Kleid meiner Mama suchte.
Heiter bis wolkig. Leichte Schauer am Nachmittag. Am nächsten Tag schon kam Jan Bronski, holte sein für mich bestimmtes Geburtstagsgeschenk, das Segelschiff ab, tauschte das dürftige Spielzeug beim Sigismund Markus in der Zeughauspassage gegen eine Blechtrommel ein, kam leicht verregnet am späten Nachmittag mit jener mir so vertraut weißrot geflammten Trommel zu uns, hielt sie mir hin, faßte gleichzeitig das gute alte Blechwrack, dem nur Fragmente weißroten Lackes geblieben waren.
Und während Jan das müde Blech, ich das frische faßten, blieben Jans, Mamas, Matzeraths Augen auf Oskar gerichtet — fast mußte ich lächeln — ja dachten die denn, ich klebte am Althergebrachten, nährte Prinzipien in meiner Brust?
Ohne den von allen erwarteten Schrei, ohne den glastötenden Gesang laut werden zu lassen, gab ich die Schrotttrommel ab und widmete mich sogleich mit beiden Händen dem neuen Instrument. Nach zwei Stunden aufmerksamster Trommelei hatte ich mich eingespielt.
Doch nicht alle Erwachsenen meiner Umgebung zeigten sich so einsichtig wie Jan Bronski. Kurz nach meinem fünften Geburtstag im Jahre neunundzwanzig — man erzählte sich damals viel von einem New Yorker Börsenkrach, und ich überlegte, ob auch mein mit Holz handelnder Großvater Koljaiczek im fernen Buffalo Verluste zu erleiden hatte — begann Mama, durch mein nun nicht mehr zu übersehendes, ausbleibendes Wachstum beunruhigt, mich bei der Hand nehmend, mit den Mittwochbesuchen in der Praxis des Dr. Hollatz im Brunshöferweg. Ich ließ mir die überaus lästigen und endlos währenden Untersuchungen gefallen, weil mir die weiße, dem Auge wohltuende Schwesterntracht der Schwester Inge, die dem Hollatz helfend zur Seite stand, schon damals gefiel, an Mamas im Foto festgehaltene Krankenschwesternzeit während des Krieges erinnerte, und es mir durch intensive Beschäftigung mit dem immer neuen Faltenwurf der Pflegerinnentracht gelang, den röhrenden, betont kraftvollen, dann wieder unangenehm onkelhaften Wortschwall des Arztes zu überhören.
Mit den Brillengläsern das Inventar der Praxis spiegelnd — es gab da viel Chrom, Nickel und Schleiflack; dazu Regale, Vitrinen, in denen sauber beschriftete Gläser mit Schlangen, Molchen, Kröten, Schweine-, Menschen-und Affenembryonen standen — diese Früchte im Spiritus mit dem Brillenglas einfangend, schüttelte Hollatz nach den Untersuchungen bedenklich und in meiner Krankengeschichte blätternd den Kopf, ließ sich immer wieder von Mama meinen Sturz von der Kellertreppe erzählen und beruhigte sie, wenn sie Matzerath, der die Falltür offen gelassen hatte, hemmungslos beschimpfte und für alle Zeiten schuldig sprach.
Als er mir nach Monaten anläßlich eines Mittwochbesuches, wahrscheinlich um sich, vielleicht auch der Schwester Inge den Erfolg seiner bisherigen Behandlung zu beweisen, meine Trommel nehmen wollte, zerstörte ich ihm den größten Teil seiner Schlangen-und Krötensammlung, auch alles was er an Embryonen verschiedenster Herkunft zusammengetragen hatte.
Von gefüllten, aber nicht abgedeckten Biergläsern abgesehen und Mamas Parfümflakons ausgenommen, war es das erste Mal, daß Oskar sich an einer Menge gefüllter und peinlich verschlossener Gläser versuchte. Der Erfolg war einzigartig und für alle Beteiligten, selbst für Mama, die ja mein Verhältnis zum Glas kannte, überwältigend, überraschend. Gleich mit dem ersten noch sparsam beschnittenen Ton schnitt ich die Vitrine, in der Hollatz all seine ekelhaften Merkwürdigkeiten verwahrte, der Länge und Breite nach auf, ließ sodann eine nahezu quadratische Scheibe aus der Ansichtsseite der Vitrine vornüber klappen und auf den Linoleumfußboden fallen, wo sie platt auf dem Boden, die quadratische Form bewahrend, tausendmal zersprang, gab dann dem Schrei etwas mehr Profil und eine geradezu verschwenderische Dringlichkeit, besuchte mit diesem so reich ausgerüsteten Ton ein Reagenzglas nach dem anderen.
Die Gläser sprangen knallend. Der grünliche, teilweise eingedickte Alkohol spritzte, floß, seine präparierten, blassen, etwas vergrämt dreinschauenden Einschlüsse mit sich führend über den roten Linoleumboden der Praxis und füllte mit, möchte sagen, greifbarem Geruch den Raum dergestalt, daß Mama übel wurde und Schwester Inge die Fenster zum Brunshöferweg hin öffnen mußte. Dr. Hollatz verstand es, den Verlust seiner Sammlung in einen Erfolg umzubiegen. Wenige Wochen nach meinem Attentat erschien von seiner Hand in der Fachzeitschrift »Arzt und Welt« ein Aufsatz über mich, das glaszersingende Stimmphänomen Oskar M. Die dort auf über zwanzig Seiten vertretene These des Dr. Hollatz soll in Fachkreisen des In- und Auslandes Aufsehen erregt, Widerspruch, aber auch Zuspruch aus berufenem Munde gefunden haben. Mama, der mehrere Exemplare der Zeitschrift zugeschickt wurden, war auf eine mich nachdenklich stimmende Art über den Aufsatz stolz und konnte es nicht lassen, den Greffs, Schefflers, ihrem Jan und immer wieder nach Tisch ihrem Gatten Matzerath daraus vorzulesen. Selbst die Kunden des Kolonialwarengeschäftes mußten sich Lesungen aus dem Artikel gefallen lassen und bewunderten auch Mama, die die Fachausdrücke zwar falsch, aber phantasievoll betonte, nach Gebühr. Mir selbst sagte die Tatsache, daß da mein Vorname zum erstenmal in einer Zeitung Platz fand, so viel wie gar nichts. Meine schon damals hellwache Skepsis ließ mich das Werkchen des Dr. Hollatz als das werten, was es, genau besehen, darstellte: als das seitenlange, nicht ungeschickt formulierte Vorbeireden eines Arztes, der auf einen Lehrstuhl spekulierte.
Heute, in seiner Heil-und Pflegeanstalt, da seine Stimme nicht mal sein Zahnputzglas zu rühren vermag, da ähnliche Ärzte wie jener Hollatz bei ihm ein und aus gehen, sogenannte Rorschachversuche, Assoziationsversuche und sonstige Tests mit ihm anstellen, damit seine Zwangseinweisung endlich einen klingenden Vornamen bekommt, heute denkt Oskar gerne an die archaische Frühzeit seiner Stimme zurück. Wenn er in jener ersten Periode nur notfalls, dann allerdings gründlich Quarzsandprodukte zersang, machte er später, während der Blüte-und Verfallszeit seiner Kunst, Gebrauch von seinen Fähigkeiten, ohne äußeren Zwang zu verspüren. Aus bloßem Spieltrieb, dem Manierismus einer Spätepoche verfallend, dem l'art pour l'art ergeben, sang Oskar sich dem Glas ins Gefüge und wurde älter dabei.