NIOBE

Im Jahre achtunddreißig wurden die Zölle erhöht, zeitweilig die Grenzen zwischen Polen und dem Freistaat geschlossen. Meine Großmutter konnte nicht mehr mit der Kleinbahn zum Langfuhrer Wochenmarkt kommen; ihren Stand mußle sie schließen. Sie blieb sozusagen auf ihren Eiern sitzen, ohne die rechte Lust zum Brüten zu haben. Im Hafen stanken die Heringe zum Himmel, die Ware stapelte sich, und die Staatsmänner trafen sich, wurden sich einig; nur mein Freund Herbert lag zwiespältig und arbeitslos auf dem Sofa und grübelte wie ein echter vergrübelter Mensch.

Dabei bot der Zoll Lohn und Brot. Grüne Uniformen bot er und eine grüne, bewachenswerte Grenze.

Herbert ging nicht zum Zoll, wollte nicht mehr kellnern, wollte nur noch auf dem Sofa liegen und grübeln.

Aber der Mensch muß eine Arbeit haben. Nicht nur Mutter Truczinski dachte so. Obgleich sie es ablehnte, auf Geheiß des Wirtes Starbusch ihren Sohn Herbert zum abermaligen Kellnern in Fahrwasser zu bereden, war sie dennoch dafür, Herbert vom Sofa zu locken. Auch er hatte die Zweizimmerwohnung bald satt, grübelte nur noch rein äußerlich und begann eines Tages, die Stellenangebote in den »Neuesten Nachrichten« und, widerwillig genug, im »Vorposten« nach einem Schauerchen durchzusehen.

Gerne hätte ich ihm geholfen. Hatte ein Mann wie Herbert es nötig, außer der ihm angemessenen Beschäftigung in der Hafenvorstadt, anderen, behelfsmäßigen Verdiensten nachzugehen?

Schauersuche, Gelegenheitsarbeit, faule Heringe vergraben. Ich konnte mir Herbert nicht auf den Mottlaubrücken vorstellen, nach Möwen spuckend, dem Kautabak verfallend. Es kam mir der Gedanke, ich könnte mit Herbert ein Kompagnongeschäft ins Leben rufen: zwei Stündchen konzentrierteste Arbeit einmal in der Woche oder gar im Monat, und wir wären gemachte Leute gewesen. Oskar hätte, durch lange Erfahrung auf diesem Gebiet gewitzt, Schaufenster vor beachtlichen Auslagen mittels seiner immer noch diamantenen Stimme aufgetrennt und gleichzeitig den Aufpasser gemacht, während Herbert, wie man so sagt, schnell bei der Hand gewesen wäre. Wir brauchten ja keine Schweißbrenner, Nachschlüssel, Werkzeugkiste. Wir kamen ohne Schlagring, Schießeisen aus. Die »Grüne Minna« und wir, das waren zwei Welten, die sich nicht zu berühren brauchten. Und Merkur, der Gott der Diebe und des Handels, segnete uns, weil ich, im Zeichen der Jungfrau geboren, seinen Stempel besaß, den gelegentlich festen Gegenständen aufdrückte.

Es wäre sinnlos, diese Episode zu übergehen. Schnell sei also berichtet, doch kein Geständnis abgelegt: Herbert und ich leisteten uns während der Zeit, da er arbeitslos war, zwei mittlere Einbrüche in Delikateßhandlungen und einen saftigen Einbruch in einer Kürschnerei: drei Blaufüchse, ein Seeaal, ein Persianermuff und ein hübscher, doch nicht übermäßig wertvoller Fohlenmantel, den meine arme Mama sicher gerne getragen hätte, waren die Beute.

Was uns veranlaßt«, den Diebstahl aufzugeben, war weniger jenes unangebrachte, doch dann und wann drückende Schuldgefühl, als vielmehr die wachsenden Schwierigkeiten beim Flüssigmachen der Beute. Herbert mußle, um das Zeug vorteilhaft losschlagen zu können, wieder nach Neufahrwasser, denn nur in der Hafenvorstadt saßen die brauchbaren Mittelsmänner. Da ihn jedoch jene Örtlichkeit immer wieder an den schmächtig magenkranken lettischen Kapitän gemahnte, versuchte er das Zeug überall, längs der Schichaugasse, am Hakelwerk, auf Bürgerwiesen loszuschlagen, nur nicht in Fahrwasser, wo die Pelze wie Butter weggegangen wären. So zog sich der Vertrieb unserer Beute dergestalt in die Länge, daß schließlich die Waren aus Delikateßläden in Mutter Truczinskis Küche wanderten, und auch den Persianermuff schenkte er ihr, oder besser, versuchte Herbert ihr zu schenken.

Als Mutter Truczinski den Muff sah, hörte bei ihr der Spaß auf. Die Lebensmittel hatte sie zwar stillschweigend, vielleicht an gesetzlich erlaubten Mundraub denkend, hingenommen. Aber der Muff bedeutete Luxus und Luxus Leichtsinn und Leichtsinn Gefängnis. So einfach und richtig dachte Mutter Truczinski, machte Mauseaugen, zückte die Stricknadel aus ihrem Dutt, sagte mit der Nadel:

»Du endest nochmal wie dein Vater jeendet is!« und schob ihrem Herbert die »Neuesten Nachrichten« hin oder den »Vorposten«, was gleichbedeutend war mit: Jetzt suchst du dir né anständige Stellung, nicht irgendein Schauerchen, oder ich koch nicht mehr für dich.

Herbert lag noch eine Woche auf dem Grübelsofa, war unleidlich und weder für eine Narbenbefragung noch für die Heimsuchung vielversprechender Schaufenster zu haben. Ich zeigte Verständnis für den Freund, ließ ihn den letzten Rest seiner Qual auskosten, verweilte beim Uhrmacher Laubschad und seinen zeitraubenden Uhren, versuchte es noch einmal mit dem Musiker Meyn, aber der gönnte sich kein Schnippchen mehr, jagte mit seiner Trompete nur noch den Noten seiner Reiter-SA-Kapelle nach, gab sich gepflegt und forsch, während seine vier Katzen, Reliquien einer trunkenen, aber hochmusikalischen Zeit, langsam, weil miserabel ernährt, auf den Hund kamen. Dafür fand ich Matzerath, der zu Mamas Lebzeiten nur in Gesellschaft getrunken hatte, oftmals zu später Stunde mit glasigem Blick hinter den kleinen Einschluckgläschen. Im Fotoalbum blätterte er, versuchte, wie ich es jetzt tue, die arme Mama in kleinen, mehr oder weniger gut belichteten Vierecken zu beleben, weinte sich gegen Mitternacht in Stimmung, sprach dann Hitler oder den Beethoven, die sich immer noch finster gegenüberhingen, das vertrauliche Du gebrauchend, an und schien auch vom Genie, das ja taub war, Antwort zubekommen, während der abstinente Führer schwieg, weil Matzerath, ein kleiner betrunkener Zellenleiter, der Vorsehung unwürdig war.

An einem Dienstag — so genau vermag ich mich mittels meiner Trommel zu erinnern — war es dann soweit: Herbert warf sich in Schale, das heißt, er ließ sich von Mutter Truczinski die blaue, oben enge, unten weite Hose mit kaltem Kaffee ausbürsten, zwängte sich in seine Leisetreter, goß sich ins Jackett mit den Ankerknöpfen, bespritzte den weißen Seidenshawl, den er aus dem Freihafen hatte, mit Eau de Cologne, welches gleichfalls auf dem zollfreien Mist des Freihafens gewachsen war, und stand bald Vierkant und steif unter der blauen Schirmmütze.

»Geh' mal'n bißchen auf Schauerchen gucken«, sagte Herbert, gab der Prinzheinrichgedächtnismütze einen Schlag nach links, ins leicht Verwegene, und Mutter Truczinski ließ die Zeitung sinken.

Am nächsten Tag hatte Herbert die Stellung und Uniform. Dunkelgrau trug er sich und nicht zollgrün; er war Museumswärter im Schifffahrtsmuseum.

Wie alles Aufbewahrenswerte dieser insgesamt aufbewahrenswerten Stadt füllten die Schätze des Schiffahrtsmuseums ein altes, gleichfalls museales Patrizierhaus, das sich außen den steinernen Beischlag und eine verspielte, dennoch satte Fassadenornamentik bewahrte, das innen in dunkler Eiche geschnitzt und gewendeltreppt war. Man zeigte die sorgfältig katalogisierte Geschichte der Hafenstadt, deren Ruhm es immer gewesen war, zwischen mehreren mächtigen, aber meistens armen Nachbarn stinkreich zu werden und zu bleiben. Diese den Ordensherren, Polenkönigen abgekauften und umständlich verbrieften Privilegien! Diese farbigen Stiche verschiedenster Belagerungen der Seefestung Weichselmündung! Da weilt der unglückliche Stanislaus Leszczy ski, vor dem sächsischen Gegenkönig fliehend, in den Mauern der Stadt. Man sieht auf dem Ölbild genau, wie er sich ängstigt. Auch Primas Potocki und der französische Gesandte de Monti fürchten sich sehr, weil die Russen unter General Lascy die Stadt belagern. Das ist alles genau beschriftet, und auch die Namen der französischen Schiffe unter dem Lilienbanner auf der Reede sind leserlich. Ein Pfeil deutet an: auf diesem Schiff floh der König Stanislaus Leszczy ski nach Lothringen, als die Stadt an den dritten August übergeben werden mußte. Den Großteil der ausgestellten Sehenswürdigkeiten bildeten jedoch Beutestücke aus gewonnenen Kriegen, weil ja verlorene Kriege selten oder nie Beutestücke den Museen überliefern.

So war der Stolz der Sammlung die Galionsfigur einer großen florentinischen Galleide, die zwar in Brügge ihren Heimathafen hatte, jedoch den aus Florenz stammenden Kaufleuten Portinari und Tani gehörte. Den Danziger Seeräubern und Stadtkapitänen Paul Beneke und Martin Bardewiek gelang es im April vierzehnhundertdreiundsiebzig an der seeländischen Küste, vor dem Hafen Sluys kreuzend, die Galleide aufzubringen. Gleich nach der Kaperei ließen sie die zahlreiche Mannschaft nebst Offizieren und Kapitän über die Klinge springen. Schiff und Inhalt des Schiffes wurden nach Danzig gebracht. Ein zusammenklappbares Jüngstes Gericht des Malers Memling und ein goldenes Taufbecken — beides im Auftrag des Florentiners Tani für eine Kirche in Florenz angefertigt — fanden Aufstellung in der Marienkirche; das Jüngste Gericht erfreut, soviel ich weiß, heutzutage das katholische Auge Polens. Was aus der Galionsfigur nach dem Kriege wurde, blieb ungeklärt. Zu meiner Zeit bewahrte das Schifffahrtsmuseum sie auf.

Ein üppig hölzernes, grün nacktes Weib, das unter erhobenen Armen, die sich lässig und alle Finger zeigend verschränkten, überzielstrebigen Brüsten hinweg aus eingelassenen Bernsteinaugen geradeaussah. Dieses Weib, die Galionsfigur brachte Unglück. Der Kaufmann Portinari gab die Skulptur in Auftrag, ließ sie nach den Maßen eines flämischen Mädchens, das ihm nahe lag, von einem Holzbildhauer anfertigen, der im Schnitzen von Galionsfiguren einen Namen hatte. Kaum hing die grüne Figur unter dem Bugspriet der Galleide, wurde dem Mädchen, wie damals üblich, wegen Hexerei der Prozeß gemacht. Bevor sie lichterloh brannte, beschuldigte sie, peinlich befragt/ noch ihren Gönner, den Kaufmann aus Florenz und gleichfalls den Bildhauer, der ihr so gut Maß genommen hatte. Portinari, so hieß es, erhängte sich, weil er das Feuer fürchtete. Dem Bildhauer hackten sie beide begabten Hände ab, damit er in Zukunft nicht weiterhin Hexen zu Galionsfiguren machte. Noch während die Prozesse in Brügge liefen und Aufsehen erregten, denn Portinari war ein reicher Mann, geriet das Schiff mit der Galionsfigur in Paul Benekes Seeräuberhände. Signore Tani, der zweite Kaufmann, fiel unter einem Enterbeil, Paul Beneke war der nächste: wenige Jahre später fand er bei den Patriziern seiner Vaterstadt keine Gnade mehr und wurde im Hof des Stockturmes ersäuft. Schiffe, denen man nach Benekes Tod die Galionsfigur an den Bug montierte, brannten schon im Hafen, kurz nach der Montage, andere Schiffe in Brand steckend, ab; bis auf die Galionsfigur selbstverständlich, die war feuerfest und fand wegen ihren ausgewogenen Formen immer wieder Liebhaber unter den Schiffseignern. Kaum nahm jedoch das Weib ihren angestammten Platz ein, dezimierten sich hinter ihrem Rücken in Meuterei ausbrechend die vormals friedfertigsten Schiffsmannschaften. Die erfolglose Fahrt der Danziger Flotte unter der Leitung des hochbegabten Eberhard Ferber gegen Dänemark im Jahre fünfzehnhundertzweiundzwanzig führte zum Sturz Ferbers, zu blutigen Aufständen in der Stadt. Zwar spricht die Geschichte von religiösen Streitigkeiten — dreiundzwanzig führte der protestantische Pastor Hegge die Menge zum Bildersturm auf die sieben Pfarrkirchen der Stadt an — wir aber wollen der Galionsfigur die Schuld an diesem noch lange nachwirkenden Unglück geben: sie schmückte den Bug des Ferberschen Schiffes. Als fünfzig Jahre später Stephan Bathory die Stadt vergeblich belagerte, gab Kaspar Jeschke, der Abt des Klosters Oliva, Bußpredigten haltend, der Galionsfigur, dem sündhaften Weib die Schuld. Der Polenkönig hatte sie von der Stadt zum Geschenk erhalten, führte sie mit sich in seinem Feldlager, ließ sich von ihr schlecht beraten. Inwieweit die hölzerne Dame die Schwedenfeldzüge gegen die Stadt beeinflußte, die jahrelange Kerkerhaft des religiösen Eiferers Dr. Ägidius Strauch, der mit den Schweden konspirierte, auch die Verbrennung des grünen Weibes, das wieder in die Stadt zurückgefunden hatte, forderte, wissen wir nicht. Eine etwas dunkle Nachricht will besagen, daß ein aus Schlesien geflohener Poet mit Namen Opitz einige Jahre Aufnahme in der Stadt fand, jedoch allzufrüh verstarb, weil er die verderbliche Schnitzerei in einem Speicher aufspürte und mit Versen zu besingen versuchte.

Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, zur Zeit der polnischen Teilungen, erließen die Preußen, die sich gewaltsam der Stadt bemächtigen mußten, ein königlich-preußisches Verbot gegen die »hölzern Figur Niobe«. Zum erstenmal wurde sie urkundlich beim Namen genannt und sogleich in jenem Stockturm, in dessen Hof der Paul Beneke ersäuft worden war, von dessen Galerie aus ich meinen fernwirkenden Gesang erstmals erfolgreich probiert hatte, evakuiert oder besser eingekerkert, damit sie sich angesichts der ausgesuchtesten Produkte menschlicher Phantasie, den Folterinstrumenten gegenüber, das ganze neunzehnte Jahrhundert lang ruhig verhielt.

Als ich im Jahre zweiunddreißig auf den Stockturm kletterte und mit meiner Stimme die Foyerfenster des Stadttheaters heimsuchte, hatte man Niobe — vom Volksmund »Dat griehne Marjellchen« oder »De griehne Marjell« genannt — schon seit Jahren und Gottseidank aus der Folterkammer des Turmes entfernt. Wer weiß, ob mir sonst der Anschlag auf das klassizistische Bauwerk geglückt wäre?

Es muß ein unwissender, ein zugereister Museumsdirektor gewesen sein,der Niobe aus der sie im Zaume haltenden Folterkammer holte und kurz nach der Gründung des Freistaates im neueingerichteten Schiffahrtsmuseum ansiedelte. Bald darauf starb er an einer Blutvergiftung, die sich der übereifrige Mann beim Befestigen eines Schildchens zugezogen hatte, auf dem zu lesen stand, daß oberhalb der Beschriftung eine Galionsfigur, auf den Namen Niobe hörend, ausgestellt sei. Sein Nachfolger, ein vorsichtiger Kenner der Geschichte der Stadt, wollte Niobe wieder, entfernen. Der Stadt Lübeck gedachte er das gefährliche hölzerne Mädchen zu schenken, und nur weil die Lübecker dieses Geschenk nicht annahmen, hat das Städtchen an der Trave, bis auf seine Backsteinkirchen, den Bombenkrieg verhältnismäßig heil überstanden.

Niobe oder »De griehne Marjell« blieb also im Schiffahrtsmuseum und bewirkte während des Zeitraumes von knapp vierzehn Jahren Museumsgeschichte den Tod zweier Direktoren — nicht den des vorsichtigen Direktors, der hatte sich versetzen lassen — den Hingang eines älteren Priesters zu ihren Füßen, die gewaltsamen Abschiede eines Studenten der Technischen Hochschule, zweier Primaner der Petri-Oberschule, die das Abitur gerade glücklich bestanden hatten, und das Ende von vier zuverlässigen, zumeist verheirateten Museumswärtern.

Man fand alle, auch den technischen Studenten, verklärten Gesichtes mit scharfen Gegenständen jener Machart in der Brust vor, wie man sie nur im Schiffahrtsmuseum finden konnte: Segelmesser, Enterhaken, Harpunen, die feinzisilierten Speerspitzen von der Goldküste, Nähnadeln für Segeltuchmacher; und nur der letzte Primaner hatte zuerst zu seinem Taschenmesser und dann zum Schulzirkel greifennen, und Fünfmännerweiber, die gleich einem verschlafenen Binnenwasser kaum Strömung verraten. Wir vereinfachten absichtlich, brachten alles auf zwei Nenner und beleidigten Niobe vorsätzlich und immer unverzeihlicher. So nahm mich Herbert auf den Arm, damit ich dem Weib mit beiden Trommelstöcken auf den Brüsten klöppelte, bis lächerliche Wölkchen Holzmehl aus ihren zwar gespritzten und deshalb unbewohnten, dennoch zahlreichen Holzwurmlöchern stäubten.

Während ich trommelte, blickten wir ihr in jenen, die Augen vortäuschenden Bernstein. Nichts zuckte, zwinkerte, tränte, lief über. Nichts verengte sich bedrohlich zu Haß streuenden Sehschlitzen.

Vollständig, wenn auch konvex verzerrt, gaben die beiden geschliffenen, eher gelblichen als rötlichen Tropfen das Inventar des Ausstellungsraumes und einen Teil der besonnten Fenster wieder. Bernstein trügt, wer weiß das nicht! Auch wir wußten um die heimtückische Manier dieses zum Schmuck erhobenen Harzproduktes. Dennoch und immer noch auf beschränkte Männerart alles Weibliche in Aktiv und Passiv einteilend, werteten wir die offensichtliche Teilnahmslosigkeit der Niobe zu unseren Gunsten. Wir fühlten uns sicher. Herbert klopfte ihr hämisch glucksend einen Nagel in die Kniescheibe: mich schmerzte mein Knie bei jedem Schlag, sie hob nicht einmal die Augenbraue.

Allerlei dummes Zeug trieben wir im Blickfeld des grün schwellenden Holzes: Herbert warf sich in den Mantel eines englischen Admirals, bewaffnete sich mit einem Fernrohr, stellte sich unter den dazupassenden Admiralshut. Ich machte mich mit einem roten Westchen und einer Allongeperücke zum Pagen des Admirals. Wir spielten Trafalgar, beschossen Kopenhagen, zerstreuten Napoleons Flotte bei Abukir, umsegelten dieses und jenes Kap, posierten historisch, dann wieder zeitgenössisch vor der, wie wir glaubten, alles gutheißenden oder nicht einmal bemerkenden Galionsfigur nach den Maßen einer holländischen Hexe.

Heute weiß ich, daß alles zuguckt, daß nichts unbesehen bleibt, daß selbst Tapeten ein besseres Gedächtnis als die Menschen haben. Es ist nicht etwa der liebe Gott, der alles sieht! Ein Küchenstuhl, Kleiderbügel, halbvoller Aschenbecher oder das hölzerne Abbild einer Frau, genannt Niobe, reichen aus, um jeder Tat den unvergeßlichen Zeugen liefern zu können.

Vierzehn Tage lang oder noch länger taten wir Dienst im Schifffahrtsmuseum. Herbert schenkte mir eine Trommel und brachte Mutter Truczinski zum zweitenmal den durch eine Gefahrenzulage erhöhten Wochenlohn nach Hause. An einem Dienstag, da montags das Museum geschlossen blieb, verweigerte man mir an der Kasse das Kinderbillett und den Eintritt. Herbert wollte wissen warum.

Der Mann an der Kasse, zwar mürrisch, aber nicht ohne Wohlwollen, sprach von einer Eingabe, die gemacht worden sei, das gehe jetzt nicht mehr, daß Kinder da rein dürften. Der Vater von dem Jungen sei dagegen, er habe zwar nichts einzuwenden, wenn ich unten bei der Kasse bleibe, da er als Geschäftsmann und Witwer keine Zeit finde zum Aufpassen, aber in den Saal, in Marjellchens gute Stube, dürfe ich nicht mehr, weil unverantwortlich.

Herbert wollte schon nachgeben, ich stieß ihn, stachelte ihn, und er gab dem Kassenmann einerseits recht, nannte mich andererseits seinen Talismann, Schutzengel, sprach von kindlicher Unschuld, die ihn schützen würde, kurz: Herbert befreundete sich beinahe mit dem Kassierer und erwirkte meinen Einlaß für jenen, wie der Kassierer sagte, letzten Tag im Schiffahrtsmuseum.

So stieg ich noch einmal an der Hand meines großen Freundes die verschnörkelte, immer frisch geölte Wendeltreppe hinauf in den zweiten Stock, wo Niobe wohnte. Es wurde ein stiller Vormittag und ein noch stillerer Nachmittag. Er saß mit halbgeschlossenen Augen auf dem Lederstuhl mit den gelben Nägelköpfen. Ich hockte zu seinen Füßen. Die Trommel blieb stimmlos. Wir blinzelten zu den Koggen hinauf, zu den Fregatten, Korvetten, zu den Fünfmastern, zu Galeeren und Schaluppen, zu Küstenseglern und Klippern, die alle unter der Eichentäfelung hingen und auf günstigen Segelwind warteten. Wir musterten die Modellflotte, lauerten mit ihr auf die frische Brise, fürchteten die Windstille der guten Stube und taten das alles, um nicht Niobe mustern und fürchten zu müssen. Was hätten wir für die Arbeitsgeräusche eines Holzwurmes gegeben, die uns bewiesen hätten, daß das Innere des grünen Holzes zwar langsam, aber unbeirrbar zu durchdringen und auszuhöhlen, daß Niobe vergänglich sei. Aber es tickte kein Wurm. Der Konservator hatte den Holzleib gegen Würmer gefeit und unsterblich gemacht. So blieb uns alleine die Modellflotte, die törichte Hoffnung auf Segelwind, ein verstiegenes Spiel mit der Furcht vor Niobe, die wir aussparten, angestrengt übersahen, die wir womöglich doch noch vergessen hätten, wenn nicht die Nachmittagssonne jäh und voll treffend ihr linkes Bernsteinauge beschossen und entflammt hätte.

Dabei mußte uns diese Entzündung gar nicht überraschen. Wir kannten ja die sonnigen Nachmittage im zweiten Stockwerk des Schiffahrtsmuseums, wußten wieviel Uhr es geschlagen hatte oder schlagen würde, wenn das Licht vom Gesims fiel und die Koggen besetzte. Auch taten die Kirchen der Rechtstadt, Altstadt, Pfefferstadt das ihre, den Ablauf des staubaufwirbelnden Sonnenlichtes mit Uhrzeiten zu versehen und mit historischem Glockengetön unserer Historiensammlung aufzuwarten.

Was Wunder, wenn uns die Sonne historisch wurde, ausstellungsreif und des Komplottes mit Niobes Bernsteinaugen verdächtig.

An jenem Nachmittag jedoch, da wir zu keinem Spiel und provozierendem Unsinn Lust und Mut hatten, traf uns der aufleuchtende Blick des sonst stumpfen Holzes doppelt. Bedrückt warteten wir die halbe Stunde ab, die wir noch ausharren mußten. Punkt fünf Uhr wurde das Museum geschlossen.Am nächsten Tag trat Herbert seinen Dienst alleine an. Ich begleitete ihn bis zum Museum, wollte nicht bei der Kasse warten, suchte mir einen Platz gegenüber dem Patrizierhaus. Mit meiner Trommel saß ich auf einer Granitkugel, der hinten ein von den Erwachsenen als Geländer benutzter Schwanz wuchs.

Müßig zu sagen, daß die andere Flanke der Treppe von gleicher Kugel mit gleich gußeisernem Schwanz bewacht wurde. Ich trommelte nur selten, doch dann gräßlich laut und gegen meist weibliche Passanten protestierend, denen es Spaß machte, bei mir zu verweilen, meinen Namen zu erfragen, mein damals schon schönes, zwar kurzes, aber leicht gelocktes Haar mit schweißigen Händen zu streicheln. Der Vormittag verging. Am Ende der Heiligen-Geist-Gasse brütete rotschwarz, grün kleingetürmt, unter dickem, geschwollenem Turm die Backsteinhenne Sankt Marien. Tauben stießen sich immer wieder aus den klaffenden Turmmauern, fielen in meiner Nähe nieder, redeten dummes Zeug und wußten auch nicht, wie lange die Brutzeit noch dauern sollte, was es da auszubrüten gelte, ob dieses jahrhundertelange Brüten nicht endlich doch zum Selbstzweck würde.

Mittags kam Herbert auf die Gasse. Aus seiner Frühstücksschachtel, die ihm Mutter Truczinski füllte, bis sie nicht mehr zu schließen war, reichte er mir ein Schmalzbrot mit fingerdicker Blutwurst dazwischen. Aufmunternd und mechanisch nickte er mir zu, weil ich nicht essen wollte. Am Ende aß ich, und Herbert, der nichts aß, rauchte eine Zigarette. Bevor ihn das Museum zurückbekam, verschwand er in einer Kneipe der Brotbänkengasse für zwei oder drei Machandel. Ich schaute ihm, während er die Gläser kippte, auf den Adamsapfel. Das wollte mir nicht gefallen, wie er die Gläser in sich hineinschüttete. Als er schon längst die Wendeltreppe des Museums bewältigte, und ich wieder auf meiner Granitkugel saß, hatte Oskar noch immer den ruckenden Adamsapfel seines Freundes Herbert im Auge.

Der Nachmittag kroch über die blaßbunte Museumsfassade. Von Kringel zu Kringel turnte er, ritt Nymphen und Füllhörner, fraß dicke, nach Blumen greifende Engel, ließ reifgemalte Weintrauben überreif werden, platzte mitten hinein in ein ländliches Fest, spielte Blindekuh, schwang sich auf eine Rosenschaukel, adelte Bürger, die in Pluderhosen Handel trieben, fing einen Hirsch, den Hunde verfolgten, und erreichte endlich jenes Fenster des zweiten Stockwerkes, das der Sonne erlaubte, kurz und dennoch für immer ein Bernsteinauge zu belichten.

Langsam rutschte ich von meiner Granitkugel. Die Trommel schlug hart gegen den gestockten Stein.

Lack der weißen Trommeleinfassung und einige Partikel der gelackten Flammen sprangen ab und lagen weiß und rot auf der Treppe zum Beischlag.

Vielleicht sagte ich etwas auf, betete etwas herunter, zählte etwas ab: kurz danach stand der Unfallwagen vor dem Museumsportal. Passanten flankierten den Eingang. Es gelang Oskar, mit den Unfallmännern ins Haus zu schlüpfen. Schneller fand ich die Treppe hoch als jene, die ja von früheren Unfällen her die Räumlichkeiten des Museums hätten kennen müssen.

Daß ich nicht lachte, als ich Herbert sah! Er hing der Niobe vorne drauf, hatte das Holz bespringen wollen. Sein Kopf verdeckte ihren Kopf. Seine Arme klammerten ihre erhobenen und verschränkten Arme. Er hatte kein Hemd an. Sauber zusammengelegt fand es sich später auf dem Lederstuhl neben der Tür. Sein Rücken breitete alle Narben aus. Ich las diese Schrift, zählte die Lettern. Es fehlte keine.

Es ließ sich aber auch nicht der Ansatz einer neuen Zeichnung erkennen.

Die kurz hinter mir in den Saal stürmenden Unfallmänner hatten Mühe, Herbert von der Niobe zu lösen. Ein kurzes, auf beiden Seiten geschärftes Schiffsbeil hatte sich der Brünstige von der Sicherheitskette gerissen, die eine Scheide der Niobe ins Holz geschlagen, den anderen Keil sich selbst, das Weib erstürmend, ins Fleisch gestoßen. So vollkommen ihm oben die Verbindung gelungen war, unten, wo ihm die Hose offen stand, wo es immer noch steif und ohne Verstand herausragte, hatte er keinen Grund für seinen Anker finden können.

Als sie die Decke mit der Aufschrift »Städtischer Unfalldienst« über Herbert breiteten, fand Oskar, wie immer wenn ihm etwas verlorenging, zu seiner Trommel zurück. Er schlug das Blech noch mit den Fäusten, als Männer des Museums ihn aus »Marjellchens guter Stube« die Treppe hinunter und schließlich mit einem Polizeiwagen nach Hause führten.

Auch jetzt, in der Anstalt, da er sich diesen Versuch einer Liebe zwischen Holz und Fleisch zurückruft, muß er mit Fäusten arbeiten, um noch einmal Herbert Truczinskis Rücken wulstig, farbig, das harte und empfindliche, alles vorbedeutende, alles vorwegnehmende, alles an Härte und Empfindlichkeit überbietende Narbenlabyrinth zu durchirren. Einem Blinden gleich liest er die Schrift dieses Rückens.

Erst jetzt, da sie Herbert von seinem lieblosen Schnitzwerk abgenommen haben, kommt Bruno, mein Pfleger, mit dem verzweifelten Birnenkopf. Behutsam nimmt er meine Fäuste von der Trommel, hängt das Blech an den linken Bettpfosten am Fußende meines Metallbettes und zieht mir die Decke glatt.

»Aber Herr Matzerath«, ermahnt er mich, »wenn Sie weiterhin so laut trommeln, wird man woanders hören, daß da viel zu laut getrommelt wird. Wollen Sie nicht pausieren oder etwas leiser trommeln?«

Ja, Bruno, ich will versuchen, ein nächstes, leiseres Kapitel meinem Blech zu diktieren, obgleich gerade jenes Thema nach einem brüllenden, ausgehungerten Orchester schreit.