DESINFEKTIONSMITTEL

Hastige Träume besuchten mich in der letzten Nacht. Ähnlich wie an meinen Besuchstagen, wenn die Freunde kommen, trug es sich zu. Die Träume übergaben einander die Tür, gingen, nachdem sie mir erzählt hatten, was Träume erzählenswert finden: alberne Geschichten voller Wiederholungen, Monologe, die sich leider nicht überhören lassen, weil sie eindringlich genug mit den Gesten schlechter Schauspieler vorgetragen werden. Als ich versuchte, Bruno die Geschichten beim Frühstück zu erzählen, konnte ich sie nicht loswerden, da ich alles vergessen hatte; Oskar ist unbegabt fürs Träumen.

Während Bruno das Frühstück abräumte, fragte ich so nebenbei: »Bester Bruno, wie groß bin ich eigentlich?«

Bruno stellte das Tellerchen mit der Marmelade auf die Kaffeetasse und bekümmerte sich: »Aber Herr Matzerath, Sie haben schon wieder keine Marmelade gegessen.«

Nun, diesen Vorwurf kenne ich. Immer nach dem Frühstück wird er laut. Bringt Bruno mir doch jeden Morgen diesen Klacks Erdbeermarmelade, damit ich ihn mit einem Papier, mit der Zeitung, die ich zu einem Dach knicke, sogleich verdecke. Weder kann ich Marmelade sehen noch essen, deshalb wies ich auch Brunos Vorwurf ruhig und bestimmt zurück: »Du weißt, Bruno, wie ich über Marmelade denke — sage mir lieber, wie groß ich bin.«

Bruno hat die Augen eines ausgestorbenen Achtbeiners. Diesen prähistorischen Blick schickt er, sobald er sich besinnen muß, zur Zimmerdecke, spricht zumeist in diese Richtung, sagte also auch heute früh zur Zimmerdecke: »Aber es ist doch Erdbeermarmelade!« Erst als nach längerer Pause — denn durch mein Schweigen hielt ich meine Frage nach Oskars Körpergröße aufrecht — Brunos Blick von der Decke zurückfand und sich an die Gitterstäbe meines Bettes klammerte, bekam ich zu hören, daß ich einen Meter und einundzwanzig Zentimeter messe.

»Willst du nicht, bester Bruno, der Ordnung halber, noch einmal nachmessen?«

Ohne den Blick zu verrücken, zog Bruno einen Zollstock aus der Popotasche seiner Hose, warf mit beinahe brutaler Kraft meine Bettdecke zurück, zog mir das verrutschte Hemd über die Blöße, entfaltete das heftig gelbe, bei einsachtundsiebenzig abgebrochene Maß, hielt es mir an, verschob, kontrollierte, machte es mit den Händen gründlich, war aber mit dem Blick in Saurierzeiten und ließ endlich, so tuend, als lese er das Resultat ab, den Zollstock auf mir zur Ruhe kommen: »Immer noch ein Meter und einundzwanzig Zentimeter!«

Warum mußte er beim Zusammenraffen des Zollstockes, beim Abservieren des Frühstücks solchen Lärm machen? Gefällt ihm mein Maß nicht?

Als Bruno mit dem Frühstückstablett, mit dem dottergelben Zollstock neben empörend naturfarbener Erdbeermarmelade das Zimmer verließ, klebte er vom Korridor aus noch einmal sein Auge an das Guckloch der Tür — uralt ließ mich sein Blick werden, bevor er mich mit meinem Meter und den einundzwanzig Zentimetern endlich allein ließ.

So groß ist Oskar also! Für einen Zwerg, Gnom, Liliputaner fast zu groß. Wie hoch trug meine Roswitha, die Raguna, den Scheitel? Welche Höhe wußte sich Meister Bebra, der vom Prinzen Eugen abstammte, zu bewahren? Selbst auf Kitty und Felix könnte ich heute hinabschauen. Während doch alle, die ich da aufzähle, einst auf Oskar, der bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr vierundneunzig Zentimeter maß, neidvoll freundlich herabschauten.

Erst als mich der Stein bei Matzeraths Begräbnis auf dem Friedhof Saspe am Hinterkopf traf, begann ich zu wachsen.

Oskar sagt Stein. Ich entschließe mich also, den Bericht über die Ereignisse auf dem Friedhof zu ergänzen.

Nachdem ich ein Spielchen treibend herausgefunden hatte, daß es für mich kein »Soll ich oder soll ich nicht?« mehr gab, sondern nur noch ein »Ich soll, ich muß, ich will!« — nahm ich mir die Trommel vom Leib, warf sie mit den Stöcken in Matzeraths Grab, entschloß mich zum Wachstum, litt auch sogleich unter zunehmendem Ohrensausen und wurde erst dann von einem etwa walnußgroßen Kieselstein am Hinterkopf getroffen, den mein Sohn Kurt mit viereinhalbjähriger Kraft geschleudert hatte. Wenn mich auch dieser Treffer nicht überraschte — ahnte ich doch, daß mein Sohn etwas mit mir vorhatte — stürzte ich gleichwohl zu meiner Trommel in Matzeraths Grube. Der alte Heilandt zog mich mit trockenem Altmännergriff aus dem Loch, ließ aber Trommel und Trommelstöcke unten, legte mich, da das Nasenbluten deutlich wurde, mit dem Nacken auf das Eisen der Spitzhacke. Das Nasenbluten ließ, wie wir wissen, rasch nach, das Wachstum jedoch machte Fortschritte, die allerdings so minimal waren, daß nur Schugger Leo sie bemerkte und laut schreiend, flatternd und vogelleicht verkündete.

Soweit diese Ergänzung, die im Grunde überflüssig ist; denn das Wachstum setzte schon vor dem Steinwurf und Sturz ins Matzerath-grab ein. Für Maria und den Herrn Fajngold gab es jedoch von Anfang an nur einen Grund für mein Wachstum, das sie Krankheit nannten: der Stein an den Hinterkopf, der Sturz in die Grube. Maria prügelte das Kurtchen noch auf dem Friedhof. Kurt tat mir leid, denn es mochte ja immerhin sein, daß er den Stein mir zugedacht hatte, um zu helfen, um mein Wachstum zu beschleunigen. Vielleicht wollte er endlich einen richtigen, einen erwachsenen Vater haben oder auch nur einen Ersatz für Matzerath; denn den Vater in mir hat er nie erkannt und gewürdigt.

Es gab während meines fast ein Jahr währenden Wachstums Ärzte und Ärztinnen genug, die dem geschleuderten Stein, dem unglücklichen Sturz die Schuld bestätigten, die also sagten und in meine Krankengeschichte schrieben: Oskar Matzerath ist ein verwachsener Oskar, weil ein Stein ihn am Hinterkopf traf — und so weiter und so weiter.

Hier sollte man sich meines dritten Geburtstages erinnern. Was wußten die Erwachsenen über den Anfang meiner eigentlichen Geschichte zu berichten: Im Alter von drei Jahren stürzte Oskar Matzerath von der Kellertreppe auf den Betonfußboden. Durch diesen Sturz wurde sein Wachstum unterbrochen, und so weiter und so weiter ...

Man mag in diesen Erklärungen die verständliche Sucht des Menschen erkennen, die da jedem Wunder den Beweis liefern möchte. Oskar muß gestehen, daß auch er jedes Mirakel genauestens untersucht, bevor er es als unglaubwürdige Phantasterei zur Seite schiebt.

Vom Friedhof Saspe zurückkommend, fanden wir neue Mieter in Mutter Truczinskis Wohnung vor.

Eine polnische achtköpfige Familie bevölkerte die Küche und beide Zimmer. Die Leute waren nett, wollten uns, bis wir etwas anderes gefunden hatten, aufnehmen, doch der Herr Fajngold war gegen dieses Massenquartier, wollte uns wieder das Schlafzimmer überlassen und sich vorläufig mit dem Wohnzimmer behelfen. Das jedoch wollte hinwiederum Maria nicht. Sie fand, ihrer frischen Witwenschaft komme es nicht zu, mit einem alleinstehenden Herrn so vertraulich beisammen zu wohnen. Fajngold, dem es zeitweilig nicht bewußt war, daß es keine Frau Luba und keine Familie um ihn herum gab, der oft genug die energische Gattin im Rücken spürte, hatte Gelegenheit, Marias Gründe einzusehen. Der Schicklichkeit und der Frau Luba wegen ging es nicht, aber den Keller wollte er uns einräumen. Er half sogar bei der Einrichtung des Lagerraumes mit, duldete jedoch nicht, daß auch ich in den Keller zog. Weil ich krank war, erbärmlich krank war, wurde mir ein Notlager im Wohnzimmer neben dem Klavier meiner armen Mama errichtet.

Es war schwer, einen Arzt zu finden. Die meisten Ärzte hatten die Stadt rechtzeitig mit Truppentransporten verlassen, weil man die Westpreußische Krankenkasse schon im Januar nach dem Westen verlegt hatte und somit der Begriff Patient für viele Ärzte irreal geworden war. Nach langem Suchen trieb der Herr Fajngold in der Helene-Lange-Schule, in der Verwundete der Wehrmacht und der Roten Armee nebeneinander lagen, eine Ärztin aus Elbing auf, die dort amputierte. Sie versprach vorbeizukommen und kam auch nach vier Tagen, setzte sich an mein Krankenlager, rauchte, während sie mich untersuchte, drei oder vier Zigaretten nacheinander und schlief über der vierten Zigarette ein.

Herr Fajngold wagte es nicht, sie zu wecken. Maria stieß sie zaghaft an. Aber die Ärztin kam erst wieder zu sich, als sie mit der heruntergebrannten Zigarette ihren linken Zeigefinger ansengte. Sofort stand sie, trat den Stummel auf dem Teppich aus und sagte knapp und gereizt: »Müssen entschuldigen.

Habe letzte drei Wochen kein Auge zugemacht. War in Käsemark an der Fähre mit ostpreußischem Kleinkindertransport. Kamen aber nicht rüber. Nur die Truppen. So an die viertausend. Alle hops gegangen.« Dann tätschelte sie mir genau so knapp, wie sie von den hopsgegangenen Kleinkindern erzählt hatte, die wachsende Kleinkinderwange, steckte sich eine neue Zigarette ins Gesicht, krempelte ihren linken Ärmel hoch, holte eine Ampulle aus ihrer Aktentasche und sagte, während sie sich selbst eine Aufmunterungsspritze gab, zu Maria: »Kann ich gar nicht sagen, was mit dem Jungen ist. Müßte in eine Klinik. Aber nicht hier. Sehn Sie zu, daß Sie wegkommen, Richtung Westen. Knie-, Hand-und Schultergelenke sind geschwollen. Beim Kopf fängt es sicher auch an. Machen Sie kalte Umschläge.

Paar Tabletten laß ich Ihnen da, falls er Schmerzen hat und nicht schlafen kann.«

Mir gefiel diese knappe Ärztin, die nicht wußte, was mit mir los war, und das auch zugab. Maria und der Herr Fajngold machten mir während der folgenden Wochen mehrere hundert kalte Umschläge, die mir guttaten, aber nicht verhinderten, daß die Knie-, Hand-und Schultergelenke, auch der Kopf weiterhin anschwollen und schmerzten. Vor allem war es mein in die Breite gehender Kopf, über den sich Maria und auch Herr Fajngold entsetzten. Sie gab mir von jenen Tabletten, die allzubald ausgingen. Er begann mit Lineal und Bleistift Fieberkurven zu entwerfen, geriet aber dabei ins Experimentieren, trug in kühn erdachte Konstruktionen mein Fieber ein, das er mit einem auf dem Schwarzen Markt gegen Kunsthonig eingetauschten Thermometer fünfmal täglich maß, was sich dann auf Herrn Fajngolds Tabellen wie ein schrecklich zerklüftetes Gebirge ausnahm — ich stellte mir die Alpen, die Schneekette der Anden vor — dabei war es halb so abenteuerlich um meine Temperatur bestellt: morgens hatte ich meistens achtunddreißigeins; bis abends brachte ich es auf neununddreißig; neununddreißigvier hieß die höchste Temperatur während meiner Wachstumsperiode. Da sah und hörte ich allerlei unterm Fieber, da saß ich in einem Karussell, wollte aussteigen, durfte aber nicht. Mit vielen Kleinkindern saß ich in Feuerwehrautos, ausgehöhlten Schwänen, auf Hunden, Katzen, Säuen und Hirschen, fuhr, fuhr, fuhr, wollte aussteigen, durfte aber nicht. Da weinten alle die Kleinkinderchen, wollten gleich mir aus den Feuerwehrautos, ausgehöhlten Schwänen heraus, herunter von den Katzen, Hunden, Hirschen und Säuen, wollten nicht mehr Karussell fahren, durften aber nicht. Da stand nämlich der himmlische Vater neben dem Karussellbesitzer und bezahlte für uns immer noch eine Runde. Und wir beteten: »Ach, Vaterunser, wir wissen ja, daß Du viel Kleingeld hast, daß Du uns gerne Karussell fahren läßt, daß es Dir Spaß macht, uns das Runde dieser Welt zu beweisen. Steck bitte Deine Börse ein, sag stop, halt, fertig, Feierabend, basta, aussteigen, Ladenschluß, stoi — es schwindelt uns armen Kinderchen, man hat uns, viertausend, nach Käsemark an die Weichsel gebracht, doch wir kommen nicht rüber, weil Dein Karussell, Dein Karussell...«

Aber der liebe Gott, Vaterunser, Karussellbesitzer lächelte, wie es im Buche steht, ließ abermals eine Münze aus seiner Börse hüpfen, damit es die viertausend Kleinkinderchen, mittenmang Oskar, in Feuerwehrautos und ausgehöhlten Schwänen, auf Katzen, Hunden, Säuen und Hirschen im Kreise herumtrag, und jedesmal, wenn mich mein Hirsch — ich glaube heute noch, daß ich auf einem Hirsch saß -an unserem Vaterunser und Karussellbesitzer vorbeitrug, bot er ein anderes Gesicht: Das war Rasputin, der die Münze für die nächste Rundfahrt lachend mit seinen Gesundbeterzähnen biß; das war der Dichterfürst Goethe, der aus feinbesticktem Beutelchen Münzen lockte, die auf den Vorderseiten alle sein geprägtes Vaterunserprofil zeigten, und wieder Rasputin rauschhaft, danach Herr von Goethe, gemäßigt. Ein bißchen Wahnsinn mit Rasputin, danach aus Vernunftgründen Goethe. Die Extremisten um Rasputin, die Kräfte der Ordnung um Goethe. Die Masse, Aufruhr um Rasputin, Kalendersprüche nach Goethe ... und endlich beugte sich — nicht weil das Fieber nachließ, sondern weil sich immer jemand mildernd ins Fieber hinein-beugt — Herr Fajngold beugte sich und stoppte das Karussell. Feuerwehr, Schwan und Hirsch stellte er ab, entwertete die Münzen des Rasputin, schickte Goethe hinab zu den Müttern, ließ viertausend schwindlige Kleinkinderchen davonwehen, nach Käsemark über die Weichsel ins Himmelreich — und hob Oskar aus seinem Fieberbett, setzte ihn auf eine Lysolwolke, was heißen soll, er desinfizierte mich.

Das hing anfangs noch mit den Läusen zusammen und wurde dann zur Gewohnheit. Die Läuse entdeckte er zuerst bei Kurtchen, dann bei mir, bei Maria und bei sich. Wahrscheinlich hatte uns jener Kalmücke die Läuse hinterlassen, der Maria den Matzerath genommen hatte. Wie schrie der Herr Fajngold, als er die Läuse entdeckte. Nach seiner Frau und seinen Kindern rief er, verdächtigte seine ganze Familie des Ungeziefers, handelte Pakete verschiedenartigster Desinfektionsmittel gegen Kunsthonig und Haferflocken ein und begann, sich selbst, seine ganze Familie, das Kurtchen, Maria und mich, auch mein Krankenbett tagtäglich zu desinfizieren. Er rieb uns ein, bespritzte und puderte uns. Und während er spritzte, puderte und einrieb, blühte mein Fieber, floß seine Rede, erfuhr ich von Güterwagen voller Karbol, Chlor und Lysol, die er gespritzt, gestreut und gesprenkelt hatte, als er noch Desinfektor im Lager Treblinka gewesen war und jeden Mittag um zwei die Lagerstraßen, Baracken, die Duschräume, Verbrennungsöfen, die gebündelten Kleider, die Wartenden, die noch nicht geduscht hatten, die Liegenden, die schon geduscht hatten, alles was aus den Öfen herauskam, alles was in die Öfen hineinwollte, als Desinfektor Mariusz Fajngold tagtäglich mit Lysolwasser besprenkelt hatte. Und er zählte mir die Namen auf, denn er kannte alle Namen: vom Bilauer erzählte er, der dem Desinfektor eines Tages im heißesten August geraten hatte, die Lagerstraßen von Treblinka nicht mit Lysolwasser, sondern mit Petroleum zu besprenkeln. Das tat Herr Fajngold. Und der Bilauer hatte das Streichholz. Und der alte Zew Kurland von der ZOB nahm allen den Eid. ab.

Und der Ingenieur Galewski brach die Waffenkammer auf. Und der Bilauer erschoß den Herrn Hauptsturmführer Kutner. Und der Sztulbach und der Wary ski rauf auf den Zisenis. Und die anderen gegen die Trawnikileute. Und ganz andere knipsten den Zaun auf und fielen um. Aber der Unterscharführer Schöpke, der immer Witzchen zu machen pflegte, wenn er die Leute zum Duschen führte, der stand im Lagertor und schoß. Doch das half ihm nichts, weil die anderen über ihn rüber: der Adek Kawe, der Motel Lewit und Henoch Lerer, auch Hersz Rotblat und Letek agiel und Tosias Baran mit seiner Debora. Und Lolek Begelmann schrie: »Auch der Fajngold soll kommen, bevor die Flugzeuge kommen.« Aber Herr Fajngold wartete noch auf seine Frau Luba. Doch die kam schon damals nicht, wenn er nach ihr rief. Da packten sie ihn links und rechts. Links der Jakub Gelernter und rechts der Mordechaj Szwarcbard. Und vor ihm lief der kleine Doktor Atlas, der schon im Lager Treblinka, der später noch in den Wäldern bei Wilna zum fleißigsten Lysolsprenkeln geraten hatte, der behauptete: Lysol ist wichtiger als das Leben! Und Herr Fajngold konnte das nur bestätigen; denn er hatte ja Tote,nicht einen Toten, nein Tote, was soll ich eine Zahl sagen, Tote, sag ich, gab es, die er mit Lysol besprenkelt hatte. Und Namen wußte er, daß es langweilig wurde, daß mir, der ich im Lysol schwamm, die Frage nach Leben oder Tod von hunderttausend Namen nicht so wichtig war wie die Frage, ob man das Leben, und wenn nicht das Leben, dann den Tod mit Herrn Fajngolds Desinfektionsmitteln auch rechtzeitig und ausreichend desinfiziert hatte.

Dann aber ließ mein Fieber nach und es wurde April. Dann nahm mein Fieber wieder zu, das Karussell drehte sich, und Herr Fajngold sprenkelte Lysol auf Tote und Lebende. Dann ließ mein Fieber wieder nach, und der April war zu Ende. Anfang Mai wurde mein Hals kürzer, der Brustkorb weitete sich, rutschte höher hinauf, so daß ich mit dem Kinn, ohne den Kopf senken zu müssen, Oskars Schlüsselbein reiben konnte. Es kam noch einmal etwas Fieber und etwas Lysol. Auch hörte ich Maria im Lysol schwimmende Worte flüstern: »Wenn er sich nur nich verwächst. Wenn es man nur nich zu nem Buckel mecht kommen. Wenn das man bloß kein Wasserkopp mecht werden!«

Herr Fajngold jedoch tröstete Maria, erzählte ihr von Leuten, die er gekannt habe, die es trotz Buckel und Wasserkopf zu etwas gebracht hätten. Von einem Roman Frydrydi wußte er zu berichten, der mit seinem Buckel nach Argentinien auswanderte und dort ein Geschäft für Nähmaschinen aufmachte, das dann später ganz groß wurde und einen Namen bekam.

Der Bericht über den erfolgreichen, buckligen Frydrych tröstete zwar nicht Maria, versetzte aber den Erzähler, den Herrn Fajngold, in solche Begeisterung, daß er sich entschloß, unserem Kolonialwarengeschäft ein anderes Gesicht zu geben. Mitte Mai, kurz nach Kriegsende bekam der Laden neue Artikel zu sehen. Die ersten Nähmaschinen und Nähmaschinenersatzteile tauchten auf, doch blieben, die Lebensmittel noch einige Zeit und halfen mit, den Übergang zu erleichtern.

Paradiesische Zeiten! Es kam kaum noch Bargeld zur Zahlung. Getauscht wurde, weitergetauscht, und der Kunsthonig, die Haferflocken, auch die letzten Beutelchen Dr. Oetkers Backpulver, Zucker, Mehl und Margarine verwandelten sich in Fahrräder, die Fahrräder und Fahrradersatzteile in Elektromotoren, diese in Werkzeug, das Werkzeug wurde zu Pelzwaren, und die Pelze verzauberte der Herr Fajngold in Nähmaschinen. Das Kurtchen machte sich bei diesem Tauschtauschtauschspielchen nützlich, brachte Kunden, vermittelte Geschäfte, lebte sich viel schneller als Maria in die neue Branche ein. Es war beinahe wie zu Matzeraths Zeiten. Maria stand hinter dem Ladentisch, bediente jenen Teil der alten Kundschaft, der noch im Lande war, und versuchte mit mühsamem Polnisch die Wünsche der neuzugezogenen Kunden zu erfahren. Kurtchen war sprachbegabt. Kurtchen war überall.

Herr Fajngold konnte sich auf das Kurtchen verlassen. Das Kurtchen mit seinen noch nicht ganz fünf Jahren spezialisierte sich und lockte unter hundert schlechten bis mittelmäßigen Modellen, die auf dem Schwarzen Markt in der Bahnhofstraße gezeigt wurden, die vorzüglichen Singer-und Pfaff-Nähmaschinen sofort heraus; und Herr Fajngold wußte Kurtchens Kenntnisse zu schätzen. Als Ende Mai meine Großmutter Anna Koljaiczek zu Fuß aus Bissau über Brenntau nach Langfuhr kam, uns besuchte und sich schwer atmend auf die Chaiselongue warf, lobte der Herr Fajngold das Kurtchen sehr und fand auch für Maria lobende Worte. Als er meiner Großmutter lang und breit die Geschichte meiner Krankheit erzählte, dabei immer wieder auf die Nützlichkeit seiner Desinfektionsmittel hinwies, fand er auch Oskar lobenswert, weil ich so still und brav gewesen, während der ganzen Krankheit nie geschrien habe.

Meine Großmutter wollte Petroleum haben, weil es in Bissau kein Licht mehr gab. Fajngold erzählte ihr von seinen Erfahrungen mit Petroleum im Lager Treblinka, auch von seinen vielseitigen Aufgaben als Lagerdesinfektor, ließ Maria zwei Literflaschen Petroleum abfüllen, gab ein Paket Kunsthonig und ein ganzes Sortiment Desinfektionsmittel dazu und lauschte nickend und abwesend zugleich, als meine Großmutter erzählte, was alles in Bissau und Bissau-Abbau während der Kampfhandlungen abgebrannt war. Auch von Schäden in Viereck, das man wieder wie einst Firoga nannte, wußte sie zu berichten. Und für Bissau sagte man wieder, wie vor dem Krieg, Bysewo. Den Ehlers aber, der doch Ortsbauernführer in Ramkau gewesen war und sehr tüchtig, der ihres Bruders Sohn Frau, also die Hedwig vom Jan, der auf der Post geblieben war, geheiratet hatte, den hatten die Landarbeiter vor seiner Dienststelle aufgehängt. Und hätten auch beinahe die Hedwig aufgehängt, weil sie als Frau von einem polnischen Helden den Ortsbauernführer genommen, auch weil der Stephan es zum Leutnant gebracht hatte, und die Marga war .doch beim BdM gewesen.

»Nu«, sagte meine Großmutter, »dem Stephan konnten se ja nu nich mähr, weil ä j ef allen is baim Eismeer, da oben. Aber de Marga wollten se ihr wegnehmen und im Lager stecken. Aber da hat der Vinzent sain Mund aufgemacht und jerädet, wie ä noch nie hat. Und nu is de Hedwig midde Marga bai uns und hilft auffem Acker. Aber dem Vinzent hat Reden so mitjenommen, dasser womöglich nich mä lange machen wird kennen. Und was die Oma anjeht, die hattes auch am Härzen und überall, och im Kopp, wo ihr son Damlack draufjetäppert hat, weil ä jemeint hat, er mißt mal.«

So klagte Anna Koljaiczek, hielt sich ihren Kopf, streichelte meinen wachsenden Kopf und kam dabei zu einiger betrachtender Einsicht: »So isses nu mal mit de Kaschuben, Oskarchen. Die trefft es immer am Kopp. Aber ihr werd ja nu wägjehn nach drieben, wo besser is, und nur de Oma wird blaiben.

Denn mit de Kaschuben kann man nich kaine Umzüge machen, die missen immer dablaibenund Koppchen hinhalten, damit de anderen drauftäppern können, weil unserains nich richtich polnisch is und nich richtich deitsch jenug, und wenn man Kaschub is, das raicht weder de Deutschen noch de Pollacken. De wollen es immer jenau haben!«

Laut lachte meine Großmutter, versteckte die Petroleumflasche, den Kunsthonig und die Desinfektionsmittel unter jenen vier Röcken, die trotz heftigster, militärischer, politischer und weltgeschichtlicher Ereignisse nicht von ihrer Kartoffelfarbe gelassen hatten.

Als sie gehen wollte und der Herr Fajngold sie noch um einen Augenblick Geduld bat, da er der Großmutter noch seine Frau Luba und den Rest der Familie vorstellen wollte, sagte Anna Koljaiczek, als Frau Luba nicht kam: »Nu lassen Se ma gut sain. Ech ruf auch immer: Agnes, maine Tochter, nu komm und half daine alte Mutter baim Wäscheauswringen. Und sie kommt jenau so nich, wie Ihre Luba nich mecht kommen. Und da Vinzent, was main Bruder is, jeht nachts wennes duster is trotz saine Krankheit vor de Tür und weckt de Nachbarn aussem Schlaf, wail ä laut ruft nach sain Sohn Jan, da auffe Post war und draufgegangen is.«

Sie stand schon in der Tür und legte sich ihr Tuch um, da rief ich vom Bett aus: »Babka, babka!« das heißt Großmutter, Großmutter. Und sie drehte sich, hob schon ein wenig ihre Röcke, als wollte sie mich drunter lassen und mitnehmen, da erinnerte sie sich wahrscheinlich der Petroleumflaschen, des Kunsthonigs und der Desinfektionsmittel, die jenen Platz schon besetzten — und ging, ging ohne mich, ging ohne Oskar davon.

Anfang Juni fuhren die ersten Transporte in Richtung Westen. Maria sagte nichts, aber ich merkte, daß auch sie von den Möbeln, vom Laden, von dem Mietshaus, von den Gräbern beiderseits der Hindenburgallee und von dem Hügel auf dem Friedhof Saspe Abschied nahm.

Bevor sie mit Kurtchen in den Keller ging, saß sie abends manchmal neben meinem Bett am Klavier meiner armen Mama, hielt links ihre Mundharmonika und versuchte rechts mit einem Finger ihr Liedchen zu begleiten.

Herr Fajngold litt unter der Musik, bat Maria, aufzuhören, und bat sie, sobald sie die Mundharmonika sinken ließ und den Klavierdeckel schließen wollte, doch noch ein bißchen zu spielen.

Dann machte er ihr den Antrag. Oskar hatte das kommen sehen. Herr Fajngold rief immer seltener nach seiner Frau Luba, und als er an einem Sommerabend voller Fliegen und Gesumm ihrer Abwesenheit gewiß war, machte er Maria den Antrag. Sie und beide Kinder, auch den kranken Oskar wollte er aufnehmen. Die Wohnung bot er ihr an und die Teilhaberschaft am Geschäft.

Maria war damals zweiundzwanzig. Ihre anfängliche, noch wie vom Zufall gefügte Schönheit zeigte sich gefestigt, wenn nicht verhärtet. Die letzten Kriegs-und Nachkriegsmonate hatten ihr jene Dauerwellen genommen, die Matzerath noch bezahlt hatte. Wenn sie auch nicht, wie zu meiner Zeit, Zöpfe trug, hing ihr das Haar doch lang auf die Schultern, erlaubte, in ihr ein etwas ernstes, womöglich verbittertes Mädchen zu sehen — und dieses Mädchen sagte nein, wies den Antrag des Herrn Fajngold zurück. Auf unserem ehemaligen Teppich stand Maria, hielt das Kurtchen links, zeigte mit dem rechten Daumen in Richtung Kachelofen, und Herr Fajngold und Oskar hörten sie sprechen:

»Das jeht nich. Das is hier futsch und vorbei. Wir jehn ins Rheinland zu meine Schwester Guste. Die is da mit ainem Oberkellner aussem Hotelfach verheiratet. Der heißt Köster und wird uns vorlaifig aufnehmen, alle drei.«

Am nächsten Tag schon stellte sie die Anträge. Drei Tage später hatten wir unsere Papiere. Der Herr Fajngold sprach nicht mehr, schloß das Geschäft, saß, während Maria packte, im dunklen Laden auf dem Ladentisch neben der Waage und mochte auch keinen Kunsthonig löffeln. Erst als Maria sich von ihm verabschieden wollte, rutschte er von seinem Sitz, holte das Fahrrad mit dem Anhänger und bot uns seine Begleitung zum Bahnhof an.

Oskar und das Gepäck — wir durften pro Person fünfzig Pfund mitnehmen — wurden in dem zweirädrigen Anhänger, der auf Gummireifen lief, verladen. Herr Fajngold schob das Rad. Maria hielt Kurtchens Hand und drehte sich Ecke Eisenstraße, als wir links einbogen, noch einmal um. Ich konnte mich nicht mehr in Richtung Labesweg drehen, da mir das Drehen Schmerzen bereitete. So blieb Oskars Kopf ruhig zwischen den Schultern. Nur mit den Augen, die sich ihre Beweglichkeit bewahrt hatten, grüßte ich die Marienstraße, den Strießbach, den Kleinhammerpark, die immer noch ekelhaft tropfende Unterführung zur Bahnhofstraße, meine unzerstörte Herz-Jesu-Kirche und den Bahnhof des Vorortes Langfuhr, den man jetzt Wrzeszcz nannte, was sich kaum aussprechen ließ.

Wir mußten warten. Als dann der Zug einrollte, war es ein Güterzug. Menschen gab es, viel zu viel Kinder. Das Gepäck wurde kontrolliert und gewogen. Soldaten warfen in jeden Güterwagen einen Strohballen. Keine Musik spielte. Es regnete aber auch nicht. Heiter bis wolkig war es, und der Ostwind wehte.

Wir kamen in den viertletzten Wagen. Herr Fajngold stand mit dünnem rötlich wehendem Haar unter uns auf den Gleisen, trat, als die Lokomotive durch einen Stoß ihre Ankunft verriet, näher heran, reichte Maria drei Päckchen Margarine und zwei Päckchen Kunsthonig, fügte, als polnische Kommandos, Geschrei und Weinen die Abfahrt ankündigten, dem Reiseproviant noch ein Paket mit Desinfektionsmitteln hinzu — Lysol ist wichtiger als das Leben — und wir fuhren, ließen den Herrn Fajngold zurück, der auch richtig und ordnungsgemäß, wie es sich bei der Abfahrt von Zügen gehört, mit rötlich wehendem Haar immer kleiner wurde, nur noch aus Winken bestand, bis es ihn nicht mehr gab.

WACHSTUM IM GÜTERWAGEN

Das schmerzt mich heute noch. Das warf mir soeben den Kopf in die Kissen. Das läßt Fuß- und Kniegelenke deutlich werden, macht mich zum Knirscher — was heißen soll, Oskar muß mit den Zähnen knirschen, damit er das Knirschen seiner eigenen Knochen in den Gelenkpfannen nicht hört.

Ich betrachte meine zehn Finger und muß mir eingestehen, sie sind geschwollen. Ein letzter Versuch auf meiner Trommel beweist: Oskars Finger sind nicht nur etwas geschwollen, sie sind für diesen Beruf momentan unbrauchbar; die Trommelstöcke entfallen ihnen.

Auch der Füllfederhalter will sich meiner Führung nicht mehr unterordnen. Um kalte Umschläge werde ich Bruno bitten müssen. Dann, mit kühl umwickelten Händen, Füßen und Knien, mit dem Tuch auf der Stirn werde ich meinen Pfleger Bruno mit Papier und einem Bleistift ausrüsten; denn meinen Füllfederhalter verleihe ich ungern. Ob Bruno auch gut zuhören will und kann? Wird seine Nacherzählung auch jener Reise im Güterwagen gerecht werden, die am 12. Juni fünfundvierzig begann? Bruno sitzt an dem Tischchen unter dem Anemonenbild. Jetzt dreht er den Kopf, zeigt mir die Seite, die man Gesicht nennt, und schaut mit den Augen eines Fabeltieres links und rechts an mir vorbei. Wie er sich den Bleistift quer über den dünnen säuerlichen Mund legt, will er einen Wartenden vortäuschen. Doch angenommen, er wartet tatsächlich auf mein Wort, auf das Zeichen zum Anfang seiner Nacherzählung, — seine Gedanken kreisen um seine Knotengebilde. Bindfäden wird er knüpfen, während es Oskars Aufgabe bleibt, meine verworrene Vorgeschichte wortreich zu entwirren.

Bruno schreibt jetzt:

Ich, Bruno Münsterberg, aus Altena im Sauerland, unverheiratet und kinderlos, bin Pfleger in der Privatabteilung der hiesigen Heil-und Pflegeanstalt. Herr Matzerath, der hier seit über einem Jahr stationiert ist, ist mein Patient. Ich habe noch andere Patienten, von denen hier nicht die Rede sein kann. Herr Matzerath ist mein harmlosester Patient. Nie gerät er so außer sich, daß ich andere Pfleger rufen müßte. Er schreibt und trommelt etwas zu viel. Um seine überanstrengten Finger schonen zu können, bat er mich heute, für ihn zu schreiben und keine Knotengeburt zu machen. Ich habe mir dennoch Bindfaden in die Tasche gesteckt und werde, während er erzählt, mit den unteren Gliedmaßen einer Figur beginnen, die ich, Herrn Matzeraths Erzählung folgend, »Der Ostflüchtling« nennen werde. Dieses wird nicht die erste Figur sein, die ich den Geschichten meines Patienten entnehme.

Bisher knotete ich seine Großmutter, die ich »Apfel in vier Schlafröcken« nenne; knüpfte aus Bindfaden seinen Großvater, den Flößer, nannte den etwas gewagt »Columbus«; durch meinen Bindfaden wurde aus seiner armen Mama »Die schöne Fischesserin«; aus seinen beiden Vätern Matzerath und Jan Bronski knotete ich eine Gruppe, die »Die beiden Skatdrescher« heißt; auch schlug ich den narbenreichen Rücken seines Freundes Herbert Truczinski zu Faden, nannte das Relief »Unebene Strecke«; auch einzelne Gebäude, wie die Polnische Post, den Stockturm, das Stadttheater, die Zeughauspassage, das Schiffahrtsmuseum, Greffs Gemüsekeller, die Pestalozzischule, die Badeanstalt Brösen, die Herz-Jesu-Kirche, das Cafe Vierjahreszeiten, die Schokoladenfabrik Baltic, mehrere Bunker am Atlantikwall, den Eiffelturm zu Paris, den Stettiner Bahnhof zu Berlin, die Kathedrale zu Reims und nicht zuletzt das Mietshaus, in dem Herr Matzerath das Licht dieser Welt erblickte, bildete ich, Knoten um Knoten schlagend, nach, die Gitter und Grabsteine der Friedhöfe Saspe und Brenntau boten ihre Ornamente meinem Bindfaden an, ich ließ Fadenschlag um Fadenschlag Weichsel und Seine fließen, die Wellen der Ostsee, die Wogen des Atlantik gegen Bindfadenküsten branden, ließ Bindfaden zu kaschubischen Kartoffeläckern und dem Weideland der Normandie werden, bevölkerte die so entstandene Landschaft — die ich schlicht »Europa« nenne, mit Figurengruppen wie: Die Postverteidiger. Die Kolonialwarenhändler. Menschen auf der Tribüne.

Menschen vor der Tribüne. Volksschüler mit Schultüten. Aussterbende Museumswärter. Jugendliche Kriminelle bei den Weihnachtsvorbereitungen. Polnische Kavallerie vor Abendröte. Ameisen machen Geschichte. Fronttheater spielt für Unteroffiziere und Mannschaften. Stehende Menschen, die liegende Menschen im Lager Treblinka desinfizieren. Und jetzt beginne ich mit der Figur des Ostflüchtlings, der sich höchstwahrscheinlich in eine Gruppe von Ostflüchtlingen verwandeln wird.

Herr Matzerath fuhr am zwölften Juni fünfundvierzig, etwa um elf Uhr vormittags von Danzig, das zu jenem Zeitpunkt schon Gdansk hieß, ab. Ihn begleiteten die Witwe Maria Matzerath, die mein Patient als seine ehemalige Geliebte bezeichnet, Kurt Matzerath, meines Patienten angeblicher Sohn.

Außerdem sollen sich in dem Güterwagen noch zweiunddreißig andere Personen befunden haben, darunter vier Franziskanerinnen in Ordenstracht und ein junges Mädchen mit Kopftuch, in welchem Herr Oskar Matzerath ein gewisses Fräulein Luzie Rennwand erkannt haben will. Nach mehreren Anfragen meinerseits gibt mein Patient aber zu, daß jenes Mädchen Regina Raeck hieß, spricht aber weiterhin von einem namenlos dreieckigen Fuchsgesicht, das er dann doch immer wieder beim Namen nennt, Luzie ruft; was mich nicht hindert, jenes Mädchen hier als Fräulein Regina einzutragen. Regina Raeck reiste mit ihren Eltern, den Großeltern und einem kranken Onkel, der außer seiner Familie einen üblen Magenkrebs mit sich gen Westen führte, viel sprach und sich sofort nach der Abfahrt als ehemaliger Sozialdemokrat ausgab.

Soweit sich mein Patient erinnern kann, verlief die Fahrt bis Gdynia, das viereinhalb Jahre lang Gotenhafen hieß, ruhig. Zwei Frauen aus Oliva, mehrere Kinder und ein älterer Herr aus Langfuhr sollen bis kurz hinter Zoppot geweint haben, während sich die Nonnen aufs Beten verlegten.

In Gdynia hatte der Zug fünf Stunden Aufenthalt. Zwei Frauen mit sechs Kindern wurden noch in den Waggon eingewiesen. Der Sozialdemokrat soll dagegen protestiert haben, weil er krank war und als Sozialdemokrat von vor dem Kriege her Sonderbehandlung verlangte. Aber der polnische Offizier, der den Transport leitete, ohrfeigte ihn, als er nicht Platz machen wollte, und gab in recht fließendem Deutsch zu verstehen, daß er nicht wisse, was das bedeute, Sozialdemokrat. Er habe sich während des Krieges an verschiedenen Orten Deutschlands aufhalten müssen, während der Zeit sei ihm das Wörtchen Sozialdemokrat nie zu Gehör gekommen. — Der magenkranke Sozialdemokrat kam nicht mehr dazu, dem polnischen Offizier Sinn, Wesen und Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu erklären, weil der Offizier den Waggon verließ, die Türen zuschob und von außen verriegelte.

Ich habe vergessen, zu schreiben, daß alle Leute auf Stroh saßen oder lagen. Als der Zug am späten Nachmittag abfuhr, riefen einige Frauen: »Wir fahren wieder zurück nach Danzig.« Aber das war ein Irrtum. Der Zug wurde nur rangiert und fuhr dann westwärts in Richtung Stolp. Die Reise bis Stolp soll vier Tage gedauert haben, weil der Zug auf freier Strecke ständig von ehemaligen Partisanen und polnischen Jugendbanden aufgehalten wurde. Die Jugendlichen öffneten die Schiebetüren der Waggons, ließen etwas frische Luft hinein und entführten mit der verbrauchten Luft auch einen Teil des Reisegepäcks aus den Waggons. Immer wenn die Jugendlichen den Waggon des Herrn Matzerath besetzten, erhoben sich die vier Nonnen und hielten ihre an den Kutten hängenden Kreuze hoch. Die vier Kruzifixe beeindruckten die jungen Burschen sehr. Sie bekreuzigten sich, bevor sie die Rucksäcke und Koffer der Reisenden auf den Bahndamm warfen.

Als der Sozialdemokrat den Burschen ein Papier hinhielt, auf welchem ihm noch in Danzig oder Gdansk polnische Behörden bescheinigt hatten, daß er zahlendes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei von einunddreißig bis siebenunddreißig gewesen war, bekreuzigten sich die Burschen nicht, sondern schlugen ihm das Papier aus den Fingern, schnappten sich seine zwei Koffer und den Rucksack seiner Frau; auch jenen feinen großkarierten Wintermantel, auf dem der Sozialdemokrat lag, trug man an die frische pommersche Luft.

Dennoch behauptet Herr Oskar Matzerath, die Burschen hätten auf ihn einen vorteilhaften und disziplinierten Eindruck gemacht. Er führt das auf den Einfluß ihres Anführers zurück, der trotz seiner jungen Jahre mit knapp sechzehn Lenzen schon eine Persönlichkeit dargestellt haben soll, die den Herrn Matzerath auf schmerzliche und erfreuliche Weise zugleich an den Anführer der Stäuberbande, an jenen Störtebeker, erinnerte.

Als jener dem Störtebeker so ähnliche junge Mann Frau Maria Matzerath den Rucksack aus den Fingern ziehen wollte und schließlich auch zog, griff sich Herr Matzerath im letzten Augenblick das glücklicherweise obenliegende Fotoalbum der Familie aus dem Sack. Zuerst wollte der Bandenführer zornig werden. Als aber mein Patient das Album aufschlug und dem Burschen ein Foto seiner Großmutter Koljaiczek zeigte, ließ er, wohl an seine eigene Großmutter denkend, den Rucksack der Frau Maria fallen, legte grüßend zwei Finger an seine eckig polnische Mütze, sagte in Richtung Familie Matzerath: »Do widzenia!« und verließ, an Stelle des Matzerathschen Rucksackes den Koffer anderer Mitreisender greifend, mit seinen Leuten den Waggon.

In dem Rucksack, der dank des Familienfotoalbums im Besitz der Familie blieb, befanden sich außer einigen Wäschestücken die Geschäftsbücher und Umsatzsteuerbelege des Kolonialwarengeschäftes, die Sparbücher und ein Rubinencollier, das einst Herrn Matzeraths Mutter gehörte, das mein Patient in einem Paket Desinfektionsmittel versteckt hatte; auch machte jenes Bildungsbuch, das zur Hälfte aus Rasputinauszügen, zur anderen Hälfte aus Goethes Schriften bestand, die Reise gen Westen mit.

Mein Patient behauptet, er habe während der ganzen Reise zumeist das Fotoalbum und ab und zu das Bildungsbuch auf den Knien gehabt, habe darin geblättert, und beide Bücher sollen ihm, trotz heftigster Gliederschmerzen, viele vergnügliche, aber auch nachdenkliche Stunden beschert haben.

Weiterhin möchte mein Patient sagen: Das Rütteln und Schütteln, Überfahren von Weichen und Kreuzungen, das gestreckte Liegen auf der ständig vibrierenden Vorderachse eines Güterwagens hätten sein Wachstum gefördert. Er sei nicht mehr wie zuvor in die Breite gegangen, sondern habe an Länge gewonnen. Die geschwollenen, doch nicht entzündeten Gelenke durften sich auflockern. Selbst seine Ohren, die Nase und das Geschlechtsorgan sollen, wie ich höre, unter den Schienenstößen des Güterwagens Wachstum bezeugt haben. Solange der Transport freie Fahrt hatte, verspürte Herr Matzerath offenbar keine Schmerzen. Nur wenn der Zug hielt, weil wieder einmal Partisanen oder Jugendbanden eine Visite machen wollten, will er wieder den stechenden, ziehenden Schmerz erlitten haben, dem er, wie gesagt, mit dem schmerzstillenden Fotoalbum begegnete.

Es sollen sich außer dem polnischen Störtebeker noch mehrere andere jugendliche Räuber und gleichfalls ein älterer Partisan für die Familienfotos interessiert haben. Der alte Krieger nahm sogar Platz, versorgte sich mit einer Zigarette, blätterte bedächtig, kein Viereck auslassend, das Album durch, begann mit dem Bildnis des Großvaters Koljaiczek, verfolgte den bilderreichen Aufstieg derFamilie bis zu jenen Schnappschüssen, die Frau Maria Matzerath mit dem einjährigen, zweijährigen, dreiund vierjährigen Sohn Kurt zeigen. Mein Patient sah ihn sogar beim Betrachten mancher Familienidylle lächeln. Nur an einigen allzu deutlich erkennbaren Parteiabzeichen auf den Anzügen des verstorbenen Herrn Matzerath, auf den Rockaufschlägen des Herrn Ehlers, der Ortsbauernführer_ in Ramkau war und die Witwe des Postverteidigers Jan Bronski geheiratet hatte, nahm der Partisan Anstoß. Mit der Spitze eines Frühstücksmessers will der Patient vor den Augen des kritischen Mannes und zu dessen Zufriedenheit die fotografierten Parteiabzeichen weggekratzt haben.

Dieser Partisan soll — wie mich Herr Matzerath gerade belehren will — im Gegensatz zu vielen unechten Partisanen ein echter Partisan gewesen sein. Denn hier wird behauptet: Partisane sind nie zeitweilig Partisane, sondern sind immer und andauernd Partisane, die gestürzte Regierungen in den Sattel heben, und gerade mit Hilfe der Partisane in den Sattel gehobene Regierungen stürzen.

Unverbesserlich, sich selbst unterwandernde Partisane sind, nach Herrn Matzeraths These — was mir eigentlich einleuchten sollte — unter allen der Politik verschriebenen Menschen die künstlerisch begabtesten, weil sie sofort verwerfen, was sie gerade geschaffen haben.

Ähnliches kann ich von mir behaupten. Kommt es nicht oft genug vor, daß meine Knotengeburten, kaum daß sie im Gips einen Halt bekommen haben, mit der Faust zertrümmert werden? Ich denke da besonders an jenen Auftrag, den mir mein Patient vor Monaten gab, der da hieß, ich möchte aus schlichtem Bindfaden den russischen Gesundbeter Rasputin und den deutschen Dichterfürsten Goethe zu einer einzigen Person knüpfen, die dann auf Verlangen meines Patienten eine übersteigerte Ähnlichkeit mit ihm, dem Auftraggeber haben sollte. Ich weiß nicht, wieviel Kilometer Bindfaden ich schon geknüpft habe, damit diese beiden Extreme endlich zu einer gültigen Verknotung kommen.

Doch ähnlich jenem Partisanen, den mir Herr Matzerath als Muster preist, bleibe ich rastlos und unzufrieden; was ich rechts knüpfe, löse ich links auf, was meine Linke bildet, zertrümmert meine geballte Rechte.

Doch auch Herr Matzerath kann seine Erzählung nicht gradlinig in Bewegung halten. Abgesehen von den vier Nonnen, die er einmal Franziskanerinnen, dann Vinzentinerinnen nennt, ist es besonders jenes junge Ding, das mit seinen zwei Namen und einem einzigen, angeblich dreieckigen Fuchsgesicht seinen Bericht immer wieder auflöst und mich, den Nacherzähler, eigentlich nötigen sollte, zwei oder noch mehr Versionen jener Reise aus dem Osten nach dem Westen zu notieren. Das jedoch ist nicht mein Beruf, und so halte ich mich an den Sozialdemokraten, der während der ganzen Fahrt nicht das Gesicht wechselte, ja, nach Aussage meines Patienten, bis kurz vor Stolp allen Mitreisenden immer wieder erklärt haben soll, daß auch er bis zum Jahre siebenunddreißig als eine Art Partisan Plakate klebend seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt, seine Freizeit geopfert habe, denn er sei einer der wenigen Sozialdemokraten gewesen, die auch bei Regenwetter Plakate klebten.

So soll er auch gesprochen haben, als kurz vor Stolp der Transport zum soundsovielten Male aufgehalten wurde, weil eine größere Jugendbande ihren Besuch anmeldete. Da kaum noch Gepäck vorhanden war, gingen die Burschen dazu über, den Reisenden ihre Kleidung auszuziehen.

Vernünftigerweise beschränkten sich die jungen Leute auf Herren-Oberbekleidung. Das konnte hingegen der Sozialdemokrat nicht verstehen, weil er meinte, ein geschickter Schneider könne aus den weitläufigen Kutten der Nonnen mehrere und vorzügliche Anzüge schneidern. Der Sozialdemokrat war, wie er gläubig verkündete, ein Atheist. Die jungen Räuber jedoch hingen, ohne das gläubig zu verkünden, der alleinseligmachenden Kirche an und wollten nicht die ergiebigen Wollstoffe der Nonnen, sondern den einreihigen, leicht holzhaltigen Anzug des Atheisten. Der aber wollte Jacke, Weste und Hose nicht ausziehen, erzählte vielmehr von seiner kurzen, aber erfolgreichen Laufbahn als sozialdemokratischer Plakatkleber und wurde, als er vom Erzählen nicht lassen, sich beim Anzugausziehen widerspenstig zeigen wollte, von einem ehemaligen Wehrmachtsknobelbecher in den Magen getreten.

Der Sozialdemokrat übergab sich heftig, anhaltend und schließlich Blut auswerfend. Dabei trug er seinem Anzug keine Sorge, und die Burschen verloren jedes Interesse an dem zwar beschmutzten, doch durch eine gründliche chemische Reinigung wieder zu rettenden Stoff. Auf Herren-Oberbekleidung verzichteten sie, zogen aber Frau Maria Matzerath eine hellblaue Kunstseidenbluse und dem jungen Mädchen, das nicht Luzie Rennwand, sondern Regina Raeck hieß, das Berchtesgadener Strickjäckchen aus. Dann schoben sie die Tür des Waggons zu, aber nicht ganz zu, und der Zug fuhr ab, während das Sterben des Sozialdemokraten begann.

Zwei, drei Kilometer vor Stolp wurde der Transport auf ein Abstellgleis geschoben und blieb dort während der Nacht, die sternenklar, aber für den Monat Juni kühl gewesen sein soll.

In jener Nacht starb — wie Herr Matzerath sagt — unanständig und laut Gott lästernd, die Arbeiterklasse zum Kampf aufrufend, mit letzten Worten — wie man es in Filmen zu hören bekommt — die Freiheit hochleben lassend, schließlich einem Brechanfall verfallend, der den Waggon mit Entsetzen füllte, jener Sozialdemokrat, der allzusehr an seinem einreihigen Anzug hing.

Kein Geschrei hinterher, sagt mein Patient. Es wurde und blieb still in dem Waggon. Nur Frau Maria klapperte mit den Zähnen, weil sie ohne Bluse fror und die letzte übriggebliebene Wäsche dem Sohn Kurt und dem Herrn Oskar draufgelegt hatte. Gegen Morgen nahmen zwei beherzte Nonnen die Gelegenheit der offengebliebenenWaggontür wahr, reinigten den Waggon und warfen durchnäßtes Stroh, den Kot der Kinder und Erwachsenen, auch den Auswurf des Sozialdemokraten auf den Bahndamm.

In Stolp wurde der Zug von polnischen Offizieren inspiziert. Gleichzeitig wurden warme Suppe und ein dem Malzkaffee ähnliches Getränk ausgeteilt. Die Leiche im Waggon des Herrn Matzerath beschlagnahmte man wegen Seuchengefahr> ließ sie von Sanitätern auf einem Gerüstbrett forttragen.

Nach Fürsprache der Nonnen erlaubte ein höherer Offizier noch den Angehörigen ein kurzes Gebet.

Auch durften dem toten Mann die Schuhe, Strümpfe und der Anzug ausgezogen werden. Mein Patient beobachtete während der Entkleidungsszene — später wurde die Leiche auf dem Brett mit leeren Zementsäcken zugedeckt — die Nichte des Entkleideten. Abermals erinnerte ihn das junge Mädchen, obgleich es Raeck hieß, heftig abstoßend und faszinierend zugleich, an jene Luzie Rennwand, die ich in Bindfaden nachbildete, als Knotengeburt, die Wurstbrotfresserin nenne. Jenes Mädchen im Waggon griff zwar nicht angesichts ihres ausgeplünderten Onkels zu einem wurstbelegten Brot und vertilgte das samt den Pellen, sie beteiligte sich vielmehr bei der Plünderei, erbte von des Onkels Anzug die Weste, zog die an Stelle ihrer entführten Strickjacke an und prüfte ihre neue, nicht einmal unkleidsame Aufmachung in einem Taschenspiegel, soll mit dem Spiegel — und hier begründet sich die heute noch nachwirkende Panik meines Patienten — ihn und seinen Liegeplatz eingefangen, gespiegelt und glatt, kühl mit Strichaugen aus einem Dreieck heraus beobachtet haben.

Die Fahrt von Stolp nach Stettin dauerte zwei Tage. Zwar gab es noch oft genug unfreiwilligen Aufenthalt und die langsam schon zur Gewohnheit werdenden Besuche jener mit Fallschirmjägermessern und Maschinenpistolen bewaffneten Halbwüchsigen, doch die Besuche wurden kürzer und kürzer, weil bei den Reisenden kaum noch etwas zu holen war.

Mein Patient behauptet, er habe während der Reise von Danzig-Gdansk nach Stettin, also innerhalb einer Woche, neun, wenn nicht zehn Zentimeter Körperlänge gewonnen. Vor allem sollen sich Ober-und Unterschenkel gestreckt, Brustkorb und Kopf jedoch kaum gedehnt haben. Dafür ließ sich, obgleich der Patient während der Reise auf dem Rücken lag, das Wachstum eines leicht nach links oben verlagerten Buckels nicht verhindern. Auch gibt Herr Matzerath zu, daß sich die Schmerzen hinter Stettin — inzwischen hatte deutsches Eisenbahnpersonal den Transport übernommen — steigerten und durch bloßes Blättern im Fotoalbum der Familie nicht in Vergessenheit zu bringen waren. Er hat mehrmals und anhaltend schreien müssen, bewirkte mit dem Geschrei zwar keine Schäden in irgendeiner Bahnhofsverglasung — Matzerath: meiner Stimme war jede glaszersingende Potenz abhanden gekommen — versammelte aber die vier Nonnen mit seinem Geschrei vor seinem Lager und ließ die aus dem Gebet nicht mehr herauskommen.

Die gute Hälfte der Mitreisenden, darunter die Angehörigen des verstorbenen Sozialdemokraten mit dem Fräulein Regina, verließen in Schwerin den Transport. Herr Matzerath bedauerte das sehr, da ihm der Anblick des jungen Mädchens so vertraut und notwendig geworden war, daß ihn nach ihrem Fortgang heftige, krampfartige Anfälle, von hohem Fieber begleitet, überfielen und schüttelten. Er soll, nach Aussagen von Frau Maria Matzerath, verzweifelt nach einer Luzie geschrien, sich selbst Fabeltier und Einhorn genannt und Angst vor dem Sturz, Lust zum Sturz von einem Zehnmetersprungbrett gezeigt haben.

In Lüneburg wurde Herr Oskar Matzerath in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort lernte er im Fieber einige Krankenschwestern kennen, wurde aber bald darauf in die Universitätsklinik Hannover überwiesen. Dort gelang es, sein Fieber zu drücken. Frau Maria und ihren Sohn Kurt sah Herr Matzerath nur selten und erst wieder dann täglich, als sie eine Stellung als Putzfrau in der Klinik fand.

Da es jedoch keinen Wohnraum für Frau Maria und den kleinen Kurt in der Klinik oder in der Nähe der Klinik gab, auch weil das Leben im Flüchtlingslager immer unerträglicher wurde — Frau Maria mußte tagtäglich drei Stunden in überfüllten Zügen, oft auf dem Trittbrett fahren; so weit lagen Klinik und Lager auseinander — willigten die Ärzte trotz starker Bedenken in eine Überweisung des Patienten nach Düsseldorf in die dortigen Städtischen Krankenanstalten ein, zumal Frau Maria eine Zuzugsgenehmigung vorweisen konnte: ihre Schwester Guste, die während des Krieges einen dort wohnhaften Oberkellner geheiratet hatte, stellte Frau Matzerath ein Zimmer ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung zur Verfügung, da der Oberkellner keinen Platz beanspruchte; er befand sich in russischer Gefangenschaft.

Die Wohnung lag günstig. Mit allen Straßenbahnen, die vom Bilker Bahnhof in Richtung Wersten und Benrath fuhren, konnte man bequem, ohne umsteigen zu müssen, die Städtischen Krankenanstalten erreichen.

Herr Matzerath lag dort vom August fünfundvierzig bis zum Mai sechsundvierzig. Seit über einer Stunde erzählt er mir von mehreren Krankenschwestern gleichzeitig. Die heißen: Schwester Monika, Schwester Helmtrud, Schwester Walburga, Schwester Ilse und Schwester Gertrud. Er erinnert sich an den ausgedehntesten Krankenhausklatsch, mißt dem Drum und Dran des Krankenschwesterlebens, der Berufskleidung eine übertriebene Bedeutung bei. Kein Wort fällt von der, wie ich mich erinnere, in jener Zeit miserablen Krankenhauskost, von schlechtgeheizten Krankenzimmern. Nur Krankenschwestern, Krankenschwesterngeschichten und langweiligstes Krankenschwesternmilieu. Da wurde geflüstert und vertraulich berichtet, da hieß es, daß Schwester Ilse zur Oberschwester gesagt haben soll,da hatte es die Oberschwester gewagt, die Unterkünfte der Lehrschwestern kurz nach der Mittagspause zu kontrollieren, da wurde auch etwas gestohlen, und eine Schwester aus Dortmund — ich glaube, er sagte Gertrud — zu Unrecht verdächtigt. Auch Geschichten mit jungen Ärzten, die von den Schwestern nur Zigarettenmarken haben wollten, erzählt er umständlich. Die Untersuchung einer Abtreibung wegen, die eine Laborantin, nicht eine Krankenschwester, an sich selbst oder mit Hilfe eines Assistenzarztes vorgenommen hatte, findet er erzählenswert. Ich verstehe meinen Patienten nicht, der seinen Geist an diese Banalitäten verschwendet.

Herr Matzerath bittet mich nun, ihn zu beschreiben. Froh komme ich diesem Wunsch nach und überspringe einen Teil jener Geschichten, die er, weil sie von Krankenschwestern handeln, breit ausmalt und mit gewichtigen Worten behängt.

Mein Patient mißt einen Meter und einundzwanzig Zentimeter. Er trägt seinen Kopf, der selbst für normal gewachsene Personen zu groß wäre, zwischen den Schultern auf nahezu verkümmertem Hals.

Brustkorb und der als Buckel zu bezeichnende Rücken treten hervor. Er blickt aus starkleuchtenden, klug beweglichen, manchmal schwärmerisch geweiteten blauen Augen. Dicht wächst sein leicht gewelltes dunkelbraunes Haar. Gerne zeigt er seine im Verhältnis zum übrigen Körper kräftigen Arme mit den — wie er selbst sagt — schönen Händen. Besonders wenn Herr Oskar trommelt — was ihm die Anstaltsleitung drei bis allenfalls vier Stunden täglich erlaubt — wirken seine Finger wie selbständig und zu einem anderen, gelungeneren Körper gehörend. Herr Matzerath ist durch-Schallplatten sehr reich geworden und verdient heute noch an den Platten. Interessante Leute suchen ihn an den Besuchstagen auf. Noch bevor sein Prozeß lief, bevor er bei uns eingeliefert wurde, kannte ich seinen Namen, denn Herr Oskar Matzerath ist ein prominenter Künstler. Ich persönlich glaube an seine Unschuld und bin deshalb nicht sicher, ob er bei uns bleiben oder ob er noch einmal herauskommen und wieder wie früher erfolgreich auftreten wird. Jetzt soll ich ihn messen, obgleich ich das vor zwei Tagen getan habe. — Ohne die Nacherzählung meines Pflegers Bruno überprüfen zu wollen, greife ich, Oskar, wieder zur Feder.

Bruno hat mich soeben mit seinem Zollstock gemessen. Das Maß ließ er auf mir liegen und verließ, das Ergebnis laut verkündend, mein Zimmer. Sogar sein Knotengebilde, an dem er heimlich, während ich erzählte, arbeitete, hat er fallen lassen. Ich nehme an, er will Fräulein Doktor Hornstetter rufen.

Doch bevor die Ärztin kommt und mir bestätigt, was Bruno gemessen hat, spricht Oskar zu Ihnen: Während der drei Tage, da ich meinem Pfleger die Geschichte meines Wachstums erzählte, gewann ich — wenn das ein Gewinn ist? — reichliche zwei Zentimeter Körpergröße.

So mißt Oskar also von heute an einen Meter und dreiundzwanzig Zentimeter. Er wird nun berichten, wie es ihm nach dem Krieg erging, als man ihn, einen sprechenden, zögernd schreibenden, fließend lesenden, zwar verwachsenen, ansonsten ziemlich gesunden jungen Mann aus den Städtischen Krankenanstalten Düsseldorf entließ, damit ich ein — wie man bei Entlassungen aus Krankenanstalten immer annimmt — neues, nunmehr erwachsenes Leben beginnen konnte.