RASPUTIN UND DAS ABC
Meinem Freund Klepp und dem mit halbem Ohr hinhörenden Pfleger Bruno, Oskars erste Begegnung mit dem Stundenplan erzählend, sagte ich soeben: Auf jener Schultafel, die dem Fotografen den traditionellen Hintergrund für postkartengroße Aufnahmen sechsjähriger Knaben mit Tornistern und Schultüten abgab, stand geschrieben: Mein erster Schultag.
Selbstverständlich war dieses Sätzchen nur den Müttern leserlich, die hinter dem Fotografen standen und aufgeregter als ihre Knaben taten. Die Knaben vor der Tafel mit Inschrift konnten allenfalls ein Jahr später, entweder bei der österlichen Einschulung der neuen Erstkläßler oder auf den ihnen gebliebenen Fotos entziffern, daß jene bildschönen Aufnahmen anläßlich ihres ersten Schultages gemacht worden waren.
Sütterlinschrift kroch bösartig spitzig und in den Rundungen falsch, weil ausgestopft, über die Schultafel, kreidete jene, den Anfang eines neuen Lebensabschnittes markierende Inschrift. In der Tat läßt sich gerade die Sütterlinschrift für Markantes, Kurzformuliertes, für Tageslosungen etwa, gebrauchen. Auch gibt es gewisse Dokumente, die ich zwar nie gesehen habe, die ich mir dennoch mit Sütterlinschrift beschrieben vorstelle. Ich denke da an Impfscheine, Sporturkunden und handgeschriebene Todesurteile. Schon damals, da ich Sütterlinschrift zwar durchschauen, aber nicht lesen konnte, wollte die Doppelschlinge des Sütterlin M, mit dem die Inschrift begann, tückisch und nach Hanf riechend, mich ans Schafott gemahnen.
Dennoch hätte ich's gerne Buchstabe für Buchstabe gelesen und nicht nur dunkel geahnt. Es soll ja niemand glauben, ich hätte meine Begegnung mit dem Fräulein Spollenhauer von so hoher Warte aus glaszersingend gestaltet und als revoltierende Protesttrommelei betrieben, weil ich des ABC mächtig gewesen wäre. O nein, ich wußte allzu gut, daß es mit dem Durchschauen der Sütterlinschrift nicht getan war, daß mir das simpelste Schulwissen fehlte. Es konnte dem Oskar leider nicht die Methode gefallen, mit der ihn ein Fräulein Spollenhauer zum Wissenden machen wollte.
Demnach beschloß ich keinesfalls beim Verlassen der Pestalozzischule: Mein erster Schultag soll auch mein letzter sein. Die Schule ist aus, jetzt gehn wir nach Haus. Nichts dergleichen! Schon während der Fotograf mich für immer ins Bild bannte, dachte ich: Du stehst hier vor einer Schultafel, stehst unter einer wahrscheinlich bedeutenden, womöglich verhängnisvollen Inschrift. Du kannst zwar dem Schriftbild nach die Inschrift beurteilen und dir Assoziationen wie Einzelhaft, Schutzhaft, Oberaufsicht und Alle-an-einem-Strick aufzählen, aber entziffern kannst du die Inschrift nicht. Dabei hast du bei all deiner zum halbbewölkten Himmel schreienden Unwissenheit vor, diese Stundenplanschule nie wieder zu betreten. Wo, Oskar, wo willst du das große und das kleine ABC lernen?
Daß es ein großes und ein kleines ABC gab, hatte ich, dem eigentlich ein kleines ABC genügt hätte, unter anderem der unübersehbaren, nicht aus der Welt zu denkenden Existenz großer Leute entnommen, die sich selbst Erwachsene nannten. Man wird schließlich nicht müde, die Existenzberechtigung eines großen und kleinen ABC durch einen großen und kleinen Katechismus, durch ein großes und kleines Einmaleins zu belegen, und bei Staatsbesuchen spricht man, je nachdem wie groß der Aufmarsch dekorierter Diplomaten und Würdenträger ist, von einem großen oder kleinen Bahnhof.
Weder Matzerath noch Mama kümmerten sich während der nächsten Monate um meine Ausbildung.
Das Elternpaar ließ es mit dem einen, für Mama so anstrengenden und beschämenden Einschulungsversuch genug sein. Sie taten es dem Onkel Jan Bronski gleich, seufzten, wenn sie mich von oben her betrachteten, kramten alte Geschichten, wie meinen dritten Geburtstag aus: »Die offene Falltür! Du hast sie offen gelassen, stimmt's! Du warst in der Küche und vorherim Keller, stimmts! Du hast eine Konservendose mit gemischtem Obst für den Nachtisch hochgeholt, stimmts! Du hast die Falltür zum Keller offen gelassen, stimmts!«
Es stimmte alles, was Mama dem Matzerath vorwarf, und stimmte dennoch nicht, wie wir wissen.
Aber er trug die Schuld und weinte sogar manchmal, weil sein Gemüt weich sein konnte. Dann mußte er von Mama und Jan Bronski getröstet werden, und sie nannten mich, Oskar, ein Kreuz, das man tragen müsse, ein Schicksal, das wohl unabänderlich sei, eine Prüfung, von der man nicht wisse, womit man sie verdiene.
Von diesen schwergeprüften, vom Schicksal geschlagenen Kreuzträgern war also keine Hilfe zu erwarten. Auch Tante Hedwig Bronski, die mich oft holen kam, damit ich mit ihrer zweijährigen Marga im Sandkasten des Steffensparkes spielte, schied als Lehrerin für mich aus: sie war zwar gutmütig, aber himmelblau dumm. Gleichfalls mußte ich mir die Schwester Inge des Dr. Hollatz, die weder himmelblau noch gutmütig war, aus dem Sinn schlagen: denn die war klug, keine gewöhnliche Sprechstundenhilfe, sondern eine unersetzliche Assistentin und hatte deshalb auch keine Zeit für mich.
Ich bewältigte mehrmals am Tage die über hundert Treppenstufen des vierstöckigen Mietshauses, trommelte Rat suchend auf jeder Etage, roch, was es bei neunzehn Mietparteien zu Mittag gab, und klopfte dennoch an keine Tür, weil ich weder im alten Heilandt, noch im Uhrmacher Laubschad, schon gar nicht in der dicken Frau Kater oder, bei aller Zuneigung, in Mutter Truczinski meinen künftigen Magister erkennen wollte.
Da gab es unter dem Dach den Musiker und Trompeter Meyn. Herr Meyn hielt sich vier Katzen und war immer betrunken. Tanzmusik spielte er auf »Zinglers Höhe«, und am Heiligen Abend stampfte er mit fünf ähnlich Betrunkenen durch Schnee und Straßen und kämpfte mit Chorälen gegen gestrengen Frost an. Ihm begegnete ich einmal auf dem Dachboden: in schwarzer Hose, weißem Extrahemd lag er auf dem Rücken, rollte mit unbeschuhten Füßen eine leere Machandelflasche und blies ganz wunderschön Trompete. Ohne sein Blech abzusetzen, nur leicht die Augen verdrehend, nach mir, der ich hinter ihm stand, schielend, respektierte er mich als ihn begleitenden Trommler. Es war ihm sein Blech nicht mehr wert als mein Blech. Unser Duo trieb seine vier Katzen aufs Dach und ließ die Dachpfannen leicht vibrieren.
Als wir die Musik beendeten, das Blech sinken ließen, holte ich unter meinem Pullover eine alte »Neueste Nachrichten« hervor, glättete das Papier, kauerte mich neben den Trompeter Meyn, hielt ihm die Lektüre hin und verlangte Unterrichtung im großen und kleinen ABC.
Aber Herr Meyn war aus seiner Trompete heraus sogleich in den Schlaf gefallen. Es gab für ihn nur drei wahre Behältnisse: die Machandelflasche, die Trompete und den Schlaf. Zwar haben wir noch oftmals, genau gesagt, bis er in die Reiter-SA als Musiker eintrat und für einige Jahre den Machandel aufgab, Duette, ohne vorher zu üben, auf dem Dachboden den Kaminen, Dachpfannen, Tauben und Katzen vorgespielt, aber zum Lehrer wollte er nicht taugen.
Ich versuchte es mit dem Gemüsehändler Greff. Ohne meine Trommel, denn Greff hörte nicht gerne das Blech, besuchte ich mehrmals den Kellerladen schräg gegenüber. Die Voraussetzungen für ein gründliches Studium schienen gegeben: lagen doch überall in der Zweizimmerwohnung, im Laden selbst, hinter und auf dem Ladentisch, sogar in dem verhältnismäßig trockenen Kartoffelkeller lagen Bücher, Abenteuerbücher, Liederbücher, der Cherubinische Wandersmann, des Walter Flex Schriften, Wiecherts einfaches Leben, Daphnis und Chloe, Künstlermonographien, Stapel Sportzeitschriften, auch Bildbände mit halbnackten Knaben, die aus unerfindlichen Gründen, zumeist zwischen Dünen am Strand, Bällen nachsprangen und geölt glänzende Muskeln dabei zeigten.
Greff hatte schon zu jener Zeit viel Ärger im Geschäft. Prüfer vom Eichamt hatten beim Kontrollieren der Waage und Gewichte einiges zu bemängeln gehabt. Das Wörtchen Betrug fiel. Greff mußte eine Buße zahlen und neue Gewichte kaufen. Sorgenvoll wie er war, konnten ihn nur noch seine Bücher und die Heimabende und Wochenendwanderungen mit seinen Pfadfindern aufheitern.
Kaum bemerkte er meinen Eintritt ins Geschäft, schrieb weiter Preisschildchen, und ich griff mir, die günstige Gelegenheit der Preisschildchenschreiberei nutzend, drei, vier weiße Pappen, dazu einen Rotstift und versuchte eifrig tuend, die schon beschrifteten Schildchen, Sütterlin imitierend, als Vorlage zu benutzen und dadurch Greffs Aufmerksamkeit zu erregen.
Oskar war ihm wohl zu klein, nicht großäugig und bleich genug. So ließ ich also vom Rotstift, wählte mir einen Schmöker voller dem Greff ins Auge springender Nackedeis, tat auffallend mit dem Buch, hielt Fotos sich bückender oder dehnender Knaben, von denen ich annehmen konnte, daß sie dem Greff etwas bedeuteten, schräg und auch ihm zur Ansicht.
Da der Gemüsehändler, wenn nicht gerade Kundschaft im Laden war und rote Rüben verlangte, allzu exakt an den Preisschildchen herumpinselte, mußte ich schon geräuschvoll mit den Buchdeckeln klappen oder die Seiten rasch und knisternd bewegen, damit er aus seinen Preisschildchen auftauchte und Anteil an mir, dem Leseunkundigen, nahm.
Um es gleich zu sagen: Greff begriff mich nicht. Wenn Pfadfinder im Laden waren — und nachmittags waren immer zwei oder drei seiner Unterführer um ihn — bemerkte er Oskar überhaupt nicht. War Greff jedoch alleine, konnte er nervös streng und der Störungen wegen verärgert aufspringen und Befehle erteilen: »Laß das Buch liegen, Oskar! Kannst ja doch nichts damit anfangen.
Biste viel zu dumm für und zu klein. Wirste noch kaputtmachen. Hat über sechs Gulden gekostet.
Wenn du spielen willst, da sind Kartoffeln und Weißkohlköppe genug!«
Dann nahm er mir den Schmöker weg, blätterte darin, ohne das Gesicht zu verziehen, und ließ mich zwischen Wirsingkohl, Rosenkohl, Rotkohl und Weißkohl, zwischen Wruken und Bulven stehen, vereinsamen; denn Oskar hatte seine Trommel nicht bei sich.
Zwar gab es noch die Frau Greff, und ich schob mich auch zumeist nach der Abfuhr durch den Gemüsehändler ins Schlafzimmer des Ehepaares. Frau Lina Greff lag zu dem Zeitpunkt schon wochenlang zu Bett, tat kränklich, roch nach faulendem Nachthemd und nahm alles mögliche in die Hand, nur kein Buch, das mich unterrichtet hätte.
Leichten Neid kauend, sah Oskar in der folgenden Zeit gleichaltrigen Knaben auf die Schultornister, an deren Seiten Schwämme und Läppchen der Schiefertafeln wippten und wichtig taten. Trotzdem kann er sich nicht erinnern, jemals Gedanken gehabt zu haben wie: du hast es dir selbst eingebrockt, Oskar. Hättest gute Miene zum Schulspiel machen sollen. Hättest es nicht mit der Spollenhauer auf alle Zeiten verderben sollen. Die Bengels überholen dich! Die haben entweder das große oder das kleine ABC intus, während du nicht einmal die »Neuesten Nachrichten« richtig zu halten weißt.
Leichter Neid, sagte ich soeben, mehr war es nicht. Bedurfte es doch nur einer flüchtigen Geruchsprobe, um von der Schule endgültig die Nase voll zu haben. Haben Sie einmal an den schlechtausgewaschenen, halbzerfressenen Schwämmen und Läppchen jener abblätternd gelbumrandeten Schiefertafeln geschnuppert, die im billigsten Leder der Schultornister die Ausdünstungen aller Schönschreiberei, den Dunst des kleinen und großen Einmaleins, den Schweiß quietschender, stockender, verrutschender, mit Spucke befeuchteter Griffel aufbewahren? Dann und wann, wenn aus der Schule heimkehrende Schüler in meiner Nähe die Tornister ablegten, um Fußball oder Völkerball zu spielen, bückte ich mich zu den in der Sonne dörrenden Schwämmen und stellte mir vor, daß ein eventuell vorhandener Satan in seinen Achselhöhlen dererlei säuerliche Wolken züchte.
Die Schule der Schiefertafeln war also kaum nach meinem Geschmack. Oskar will aber nicht behaupten, daß jenes Gretchen Scheffler, das bald darauf seine Ausbildung in die Hand nahm, ihm gemäßen Geschmack verkörperte.
Alles Inventar der Schefflerschen Bäckerwohnung im Kleinhammerweg beleidigte mich. Diese Zierdeckchen, wappenbestickten Kissen, in Sofaecken lauernden Käthe-Kruse-Puppen, Stofftiere, wohin man auch trat, Porzellan, das nach einem Elefanten verlangte, Reiseandenken in jeder Blickrichtung, angefangenes Gehäkeltes, Gestricktes, Besticktes, Geflochtenes, Geknotetes, Geklöppeltes und mit Mausezähnchen Umrandetes. Zu dieser süßniedlichen, entzückend gemütlichen, erstickend winzigen, im Winter überheizten, im Sommer mit Blumen vergifteten Behausung fällt mir nur eine Erklärung ein: Gretchen Scheffler hatte keine Kinder, hätte so gerne Kinderchen zum Bestricken gehabt, hätte, ach lag es am Scheffler, lag es an ihr, so zum Auffressen gerne ein Kindchen behäkelt, beperlt, umrandet und mit Kreuzstichküßchen besetzt.
Hier trat ich ein, um das kleine und große ABC zu lernen. Mühe gab ich mir, daß kein Porzellan oder Reiseandenken zu Schanden wurde. Meine glastötende Stimme ließ ich sozusagen zu Hause, drückte ein Auge zu, wenn das Gretchen befand, es sei nun genug getrommelt worden, und mir mit Gold-und Pferdezähnen lächelnd die Trommel von den Knien zog, das Blech zwischen Teddybären legte.
Ich befreundete mich mit zwei Käthe-Kruse-Puppen, drückte die Bälge an mich, klimperte wie verliebt mit den Wimpern der immer erstaunt blickenden Damen, damit diese falsche, doch deshalb um so echter wirkende Freundschaft mit Puppen das zwei glatt, zwei kraus gestrickte Herz des Gretchens bestricke.
Mein Plan war nicht schlecht. Schon beim zweiten Besuch öffnete Gretchen ihr Herz, das heißt, sie ribbelte es auf, wie man Strümpfe aufribbelt, zeigte mir den ganzen langen, an einigen Stellen schon Knötchen zeigenden fadenscheinigen Faden, indem sie alle Schränke, Kisten und Schächtelchen vor mir aufschloß, den mit Perlen besetzten Plunder vor mir ausbreitete, Stapel Kinderjäckchen, Kinderlätzchen, Kinderhöschen, die für Fünflinge gereicht hätten, mir anhielt, anzog und wieder abnahm.
Dann zeigte sie Schefflers im Kriegerverein erworbene Schützenabzeichen, Fotos danach, die sich zum Teil mit unseren Fotos deckten, und endlich, da sie den Babykram noch einmal anfaßte und irgend etwas Strampeliges suchte, da endlich kamen Bücher zum Vorschein; hatte Oskar doch fest damit gerechnet, Bücher hinter dem Babykram zu finden; hatte Oskar sie doch mit Mama über Bücher sprechen hören; wußte er doch, wie eifrig die beiden, da sie noch verlobt und schließlich fast gleichzeitig jung verheiratet waren, Bücher getauscht, Bücher aus der Leihbücherei am Filmpalast entliehen hatten, um mit Lesestoff vollgepumpt der Kolonialwarenhändlerehe und Bäckerehe mehr Welt, Weite und Glanz vermitteln zu können.
Viel war es nicht, was Gretchen mir zu bieten hatte. Sie, die nicht mehr las, seitdem sie nur noch strickte, mochte wohl wie Mama, die wegen Jan Bronski nicht mehr zum Lesen kam, die stattlichen Bände der Buchgemeinschaft, deren Mitglieder beide längere Zeit waren, an Leute verschenkt haben, die noch lasen, weil sie nicht strickten und auch keinen Jan Bronski hatten.
Auch schlechte Bücher sind Bücher und deshalb heilig. Was ich da fand, stellte Kraut und Rüben dar, stammte wohl zum guten Teil aus der Bücherkiste ihres Bruders Theo, der auf der Doggerbank den Seemannstod gefunden hatte. Sieben oder acht Bände Köhlers Flottenkalender voller Schiffe, die längst gesunken waren, die Dienstgrade der kaiserlichen Marine, Paul Benecke, der Seeheld — das durfte wohl kaum die Speise gewesen sein, nach der Gretchens Herz verlangte. Erich Keysers Geschichte der Stadt Danzig und jener Kampf um Rom, den ein Mann namens Felix Dahn mit Hilfe von Totila und Teja, Belisar und Narses geführt haben mußte, hatten wohl gleichfalls unter den Händen des zur See gefahrenen Bruders an Glanz und Buchrückenhalt verloren. Gretchens Büchergestell sprach ich ein Buch zu, das über Soll und Haben abrechnete, und etwas über Wahlverwandtschaften von Goethe sowie den reichbebilderten dicken Band: Rasputin und die Frauen.
* Nach längerem Zögern — die Auswahl war zu klein, als daß ich mich hätte schnell entscheiden mögen — griff ich, ohne zu wissen, was ich griff, nur dem bekannten inneren Stimmchen gehorchend, zuerst den Rasputin und dann den Goethe.
Dieser Doppelgriff sollte mein Leben, zumindest jenes Leben, welches abseits meiner Trommel zu führen ich mir anmaßte, festlegen und beeinflussen. Bis zum heutigen Tage — da Oskar die Bücherei der Heil-und Pflegeanstalt bildungsbeflissen nach und nach in sein Zimmer lockt — schwanke ich, auf Schiller und Konsorten pfeifend, zwischen Goethe und Rasputin, zwischen dem Gesundbeter und dem Alleswisser, zwischen dem Düsteren, der die Frauen bannte, und dem lichten Dichterfürsten, der sich so gern von den Frauen bannen ließ. Wenn ich mich zeitweilig mehr dem Rasputin zugehörig betrachtete und Goethes Unduldsamkeit fürchtete, lag das an dem leisen Verdacht: der Goethe hätte, hättest du, Oskar, zu seiner Zeit getrommelt, in dir nur Unnatur erkannt, dich als leibhaftige Unnatur verurteilt und seine Natur — die du schließlich' immer, selbst wenn sie sich noch so unnatürlich spreizte, bewundert und angestrebt hast — sein Naturell hätte er mit übersüßem Konfekt gefüttert und dich armen Tropf wenn nicht mit dem Faust dann mit einem dicken Band seiner Farbenlehre erschlagen.
Doch zurück zu Rasputin. Er hat mir mit Gretchen Schefflers Hilfe das kleine und große ABC beigebracht, hat mich gelehrt, die Frauen aufmerksam zu behandeln, und hat mich getröstet, wenn Goethe mich kränkte.
Es war gar nicht so einfach, das Lesen zu lernen und dabei den Unwissenden zu spielen. Das sollte mir schwerer fallen als das jahrelange Vortäuschen eines kindlichen Bettnässens. Galt es beim Bettnässen doch, allmorgendlich einen Mangel zu demonstrieren, der mir im Grunde entbehrlich gewesen wäre.
Den Unwissenden spielen, hieß jedoch für mich, mit meinen rapiden Fortschritten hinter dem Berg zu halten, einen ständigen Kampf mit beginnender intellektueller Eitelkeit zu führen. Daß die Erwachsenen in mir einen Bettnässer sahen, nahm ich innerlich achselzuckend hin, daß ich ihnen aber jahraus, jahrein als Dummerjan herhalten mußte, kränkte Oskar und auch seine Lehrerin.
Gretchen begriff, sobald ich. die Bücher aus der Babywäsche gerettet hatte, auf der Stelle und heiter jauchzend ihren Lehrberuf. Es gelang mir, die gänzlich verstrickte Kinderlose aus ihrer Wolle zu locken und beinahe glücklich zu machen. Eigentlich hätte sie es lieber gesehen, wenn ich Soll und Haben zu meinem Schulbuch gemacht hätte; aber ich bestand auf Rasputin und wollte Rasputin, als sie zur zweiten Unterrichtsstunde ein richtiges Büchlein für ABC-Schüt-zen gekauft hatte, und entschloß mich endlich zum Sprechen, als sie mir immer wieder mit Bergbauerromanen, Märchen wie Zwerg Nase und Däumeling kam. »Rapupin!« schrie ich oder auch: »Rasdvuschin!« Zeitweilig tat ich ganz und gar albern: »Raschu, Raschu!« hörte man Oskar plappern, damit das Gretchen einerseits begriff, welche Lektüre mir angenehm war, andererseits aber im unklaren blieb über sein erwachendes, Buchstaben pickendes Genie.
Ich lernte rasch, regelmäßig, ohne mir viel dabei zu denken. Nach einem Jahr fühlte ich mich in Petersburg, in den Privatgemächern des Selbstherrschers aller Russen, im Kinderzimmer des immer kränklichen Zarewitsch, zwischen Verschwörern und Popen und nicht zuletzt als Augenzeuge Rasputinscher Orgien wie zu Hause. Das hatte ein mir zusagendes Kolorit, da ging es um eine zentrale Figur. Das sagten auch die im Buch verstreuten zeitgenössischen Stiche, die den bärtigen Rasputin mit den Kohleaugen inmitten schwarze Strümpfe tragender, sonst nackter Damen zeigte. Rasputins Tod ging mir nach: man hat ihn mit vergifteter Torte, vergiftetem Wein vergiftet, dann, als er mehr von der Torte wollte, mit Pistolen erschossen, und als ihn das Blei in der Brust tanzlustig stimmte, gefesselt und in einem Eisloch der Newa versenkt. Das taten alles männliche Offiziere. Die Damen der Metropole Petersburg hätten ihrem Väterchen Rasputin niemals giftige Torte, sonst aber alles gegeben, was er von ihnen verlangte. Die Frauen glaubten an ihn, während die Offiziere ihn erst aus dem Weg räumen mußten, um wieder an sich selbst glauben zu können.
War es ein Wunder, daß nicht nur ich Gefallen am Leben und Ende des athletischen Gesundbeters fand? Das Gretchen tastete sich wieder zur Lektüre ihrer ersten Ehejahre zurück, löste sich während des lauten Vorlesens gelegentlich auf, zitterte, wenn das Wörtchen Orgie fiel, hauchte das Zauberwort Orgie besonders, war, wenn sie Orgie sagte, zur Orgie bereit und konnte sich dennoch unter einer Orgie keine Orgie vorstellen.
Schlimm wurde es, wenn Mama in den Kleinhammerweg mitkam und in der Wohnung über der Bäckerei meinem Unterricht beiwohnte. Das artete manchmal zur Orgie aus, das wurde Selbstzweck und kein Unterricht für Klein-Oskar mehr, das gab bei jedem dritten Satz zweistimmiges Gekicher, das ließ die Lippen trocken und rissig werden, das rückte die beiden verheirateten Frauen, wenn Rasputin es nur wollte, immer näher zusammen, das machte sie unruhig auf Sofakissen, das brachte sie auf den Gedanken, die Schenkel zusammenzupressen, da wurde aus anfänglichem Gekalber schlußendliches Seufzen, da hatte man nach zwölf Seiten Rasputinlektüre, was man vielleicht gar nicht gewollt, kaum erwartet hatte, aber am hellen Nachmittag gerne mitnahm, wogegen Rasputin sicher nichts einzuwenden gehabt hätte, was er vielmehr gratis und bis in alle Ewigkeit austeilen wird.
Schließlich, wenn beide Frauen achgottachgott gesagt hatten und sich verlegen in den verrutschten Frisuren nestelten, gab Mama zu bedenken: »Ob Oskarchen auch wirklich nichts davon versteht?«
»Aber wo doch«, beschwichtigte dann das Gretchen, »ich geb' mir ja soviel Mühe, aber er lernt und lernt nich', und Lesen wird er wohl nie lernen.«
Um von meiner durch nichts zu erschütternden Unwissenheit Zeugnis abzulegen, fügte sie noch dazu:
»Stell dir nur vor, Agnes, die Seiten reißt er aus unserem Rasputin raus, zerknüllt sie und nachher sind sie weg. Manchmal möcht' ich es aufgeben. Aber wenn ich dann seh', wie glücklich er ist überm Buch, laß ich ihn reißen und kaputtmachen. Ich hab Alex schon gesagt, er soll uns'n neuen Rasputin auf Weihnachten schenken.«
Es gelang mir also — Sie werden es bemerkt haben — nach und nach, im Verlauf von drei oder vier Jahren — so lange und noch länger unterrichtete mich das Gretchen Scheffler — über die Hälfte der Buchseiten aus dem Rasputin herauszutrennen, vorsichtig, dabei Mutwillen vortäuschend, zu zerknüllen, um dann hinterher, zu Hause, in meiner Trommlerecke, die Blätter unter dem Pullover hervorzuziehen, sie geglättet und gestapelt zur heimlichen, von Frauen ungestörten Lektüre zu verwenden. Ähnlich verfuhr ich mit dem Goethe, den ich anläßlich jeder vierten Unterrichtsstunde, »Döte« rufend, dem Gretchen abforderte. Allein auf Rasputin wollte ich mich nicht verlassen, denn allzubald wurde mir klar, daß auf dieser Welt jedem Rasputin ein Goethe gegenübersteht, daß Rasputin Goethe oder der Goethe einen Rasputin nach sich zieht, sogar erschafft, wenn es sein muß, um ihn hinterher verurteilen zu können.
Wenn Oskar mit seinem ungebundenen Buch auf dem Dachboden oder im Schuppen des alten Herrn Heilandt hinter Fahrradgestellen hockte und die losen Blätter der Wahlverwandtschaften mit einem Bündel Rasputin mischte, wie man Karten mischt, las er das neu entstandene Buch mit wachsendem, aber gleichwohl lächelndem Erstaunen, sah Ottilie züchtig an Rasputins Arm durch mitteldeutsche Gärten wandeln und Goethe mit einer ausschweifend adligen Olga im Schlitten sitzend durchs winterliche Petersburg von Orgie zu Orgie schlittern.
Doch noch einmal zurück in meine Schulstube am Kleinhammerweg. Das Gretchen hatte, auch wenn ich keine Fortschritte zu machen schien, die mädchenhafteste Freude an mir. Sie blühte in meiner Nähe, auch unter der segnenden, zwar unsichtbaren, aber dennoch behaarten Hand des russischen Gesundbeters mächtig, selbst ihre Zimmerlinden und Kakteen mitreißend, auf. Hätte der Scheffler nur in jenen Jahren dann und wann die Finger aus dem Mehl gezogen und die Semmeln der Backstube gegen ein anderes Semmelchen vertauscht. Das Gretchen hätte sich gerne von ihm kneten, walken, einpinseln und backen lassen. Wer weiß, was aus dem Ofen herausgekommen wäre? Am Ende etwa doch noch ein Kindchen. Es wäre dem Gretchen diese Backfreude zu gönnen gewesen.
So aber saß sie nach angeregtester Rasputinlektüre mit feurigem Auge und leicht wirrem Haar da, bewegte ihre Gold-und Pferdezähne, hatte aber nichts zu beißen, sagte achgottachgott und meinte den uralten Sauerteig. Da Mama, die ja ihren Jan hatte, dem Gretchen nicht helfen konnte, hätten die Minuten nach diesem Teil meines Unterrichtes leicht unglücklich enden können, wenn das Gretchen nicht ein so fröhliches Herz gehabt hätte.
Schnell sprang sie dann in die Küche, kam mit der Kaffeemühle wieder, nahm die wie einen Liebhaber, sang, während der Kaffee zu Schrot wurde, wehmütig leidenschaftlich und von Mama unterstützt »Schwarze Augen« oder »Der rote Sarafan«, nahm die schwarzen Augen in die Küche mit, setzte dort Wasser auf, lief, während sich das Wasser auf der Gasflamme erhitzte, hinunter in die Bäckerei, holte dort, oft gegen Schefflers Einspruch, Frisch-und Altgebackenes, deckte das Tischchen mit geblümten Sammeltassen, Sahnekännchen, Zuckerdöschen, Kuchengabeln und streute Stiefmütterchen dazwischen, goß dann den Kaffee ein, lenkte zu Melodien aus dem »Zarewitsch« über, reichte Liebesknochen, Bienenstiche, Es steht ein Soldat am Wolgastrand, und mit Mandelsplittern gespickten Frankfurter Kranz, Hast du dort droben viel Englein bei dir," auch Baiser mit Schlagsahne so süß, so süß; und kauend kam man wieder, doch jetzt mit dem nötigen Abstand, auf Rasputin zu sprechen, konnte sich alsbald, nach kurzer, kuchengesättigter Zeit ehrlich über die so schlimme und abgrundtiefverdorbene Zarenzeit entrüsten.
Ich aß in jenen Jahren entschieden zuviel Kuchen. Wie man auf Fotos nachprüfen kann, wurde Oskar davon zwar nicht größer, aber dicker und unförmig. Oft wußte ich mir nach allzu süßen Unterrichtsstunden im Kleinhammerweg nicht anders zu helfen, als daß ich im Labesweg hinter dem Ladentisch, sobald Matzerath außer Sicht war, ein Stück trockenes Brot an einen Bindfaden band, in das norwegische Fäßchen mit eingelegten Heringen tunkte und erst herauszog, wenn das Brot von der Salzlauge bis zum Überdruß durchtränkt war. Sie können sich nicht vorstellen, wie nach dem unmäßigen Kuchengenuß dieser Imbiß als Brechmittel wirkte. Oftmals gab Oskar, um abzunehmen, auf unserem Klosett für über einen Danziger Gulden Kuchen aus der Bäckerei Scheffler von sich; das war damals viel Geld.Mit noch etwas anderem mußte ich dem Gretchen die Unterrichtsstunden bezahlen. Sie, die so gerne Kindersachen nähte und strickte, machte mich zur Ankleidepuppe.
Kittelchen, Mützchen, Höschen, Mäntelchen mit und ohne Kapuzen mußte ich mir in jeder Machart, in allen Farben, aus wechselnden Stoffen anpassen und gefallen lassen.
Ich weiß nicht, ob es Mama, ob es Gretchen war, die mich anläßlich meines achten Geburtstages in einen kleinen, erschießenswerten Zarewitsch verwandelte. Damals erreichte der Rasputinkult der beiden Frauen seinen Höhepunkt. Ein Foto jenes Tages zeigt mich neben dem Geburtstagskuchen, den acht nicht tropfende Kerzen umzäunten, in besticktem Russenkittel, unter keß schief sitzender Kosakenmütze, hinter gekreuzten Patronengurten, in gepluderten weißen Hosen und kurzen Stiefeln stehend.
Ein Glück, daß meine Trommel mit ins Bild durfte. Welch weiteres Glück, daß Gretchen Scheffler, womöglich auf mein Drängen hin, mir ein Kostüm zuschnitt, nähte, schließlich verpaßte, das biedermeierlich und wahlverwandt genug, heute noch in meinem Fotoalbum den Geist Goethes beschwört, von meinen zwei Seelen zeugt, mich also mit einer einzigen Trommel in Petersburg und Weimar gleichzeitig zu den Müttern hinabsteigen, mit Damen Orgien feiern läßt.
FERNWIRKENDER GESANG VOM STOCKTURM AUS GESUNGEN
Fräulein Dr. Hornstetter, die fast jeden Tag auf eine Zigarettenlänge in mein Zimmer kommt, als Ärztin mich behandeln sollte, doch jedesmal von mir behandelt weniger nervös das Zimmer verläßt, sie, die so scheu ist und eigentlich nur mit ihren Zigaretten näheren Umgang pflegt, behauptet immer wieder: ich sei in meiner Jugend kontaktarm gewesen, habe zu wenig mit anderen Kindern gespielt.
Nun, was die anderen Kinder betrifft, mag sie nicht ganz unrecht haben. War ich doch so durch Gretchen Schefflers Lehrbetrieb beansprucht, so zwischen Goethe und Rasputin hin und her gerissen, daß ich selbst beim besten Willen keine Zeit für Ringelreihn und Abzählspiele fand. Sooft ich aber gleich einem Gelehrten die Bücher mied, sogar als Buchstabengräber verfluchte und auf Kontakt mit dem einfachen Volk aus war, stieß ich auf die Gören unseres Mietshauses, durfte froh sein, wenn es mir nach einiger Berührung mit jenen Kannibalen gelang, heil zu meiner Lektüre wieder zurückzufinden.
Oskar konnte die Wohnung seiner Eltern entweder durch den Laden verlassen, dann stand er auf dem Labesweg, oder er schlug die Wohnungstür hinter sich zu, befand sich im Treppenhaus, hatte links die Möglichkeit zur Straße geradeaus, die vier Treppen hoch zum Dachboden, wo der Musiker Meyn die Trompete blies, und als letzte Wahl bot sich der Hof des Mietshauses. Die Straße, das war Kopfsteinpflaster. Auf dem gestampften Sand des Hofes vermehrten sich Kaninchen und wurden Teppiche geklopft. Der Dachboden bot, außer gelegentlichen Duetten mit dem betrunkenen Herrn Meyn, Ausblick, Fernsicht und jenes hübsche, aber trügerische Freiheitsgefühl, das alle Turmbesteiger suchen, das Mansardenbewohner zu Schwärmern macht.
Während der Hof für Oskar voller Gefahren war, bot ihm der Dachboden Sicherheit, bis Axel Mischke und sein Volk ihn auch dort vertrieben. Der Hof hatte die Breite des Mietshauses, maß aber nur sieben Schritte in die Tiefe und stieß mit einem geteerten, oben Stacheldraht treibenden Bretterzaun an drei andere Höfe. Vom Dachboden aus ließ sich dieses Labyrinth gut überschauen: die Häuser des Labesweges, der beiden Querstraßen Hertastraße und Luisenstraße und der entfernt gegenüberliegenden Marienstraße schlössen ein aus Höfen bestehendes beträchtliches Viereck ein, in dem sich auch eine Hustenbonbonfabrik und mehrere Krauterwerkstätten befanden. Hier und da drängten Bäume und Büsche aus den Höfen und zeigten die Jahreszeit an. Sonst waren die Höfe zwar in der Größe unterschiedlich, was aber die Kaninchen und Teppichklopfstangen anging, von einem Wurf. Während es die Kaninchen das ganze Jahr über gab, wurden die Teppiche, laut Hausordnung, nur am Dienstag und Freitag geklopft. An solchen Tagen bestätigte sich die Größe des Hofkomplexes.
Vom Dachboden herab hörte und sah Oskar es: über hundert Teppiche, Läufer, Bettvorleger wurden mit Sauerkohl eingerieben, gebürstet, geklopft und zum endlichen Vorzeigen der eingewebten Muster gezwungen. Hundert Hausfrauen trugen Teppichleichen aus den Häusern, hoben dabei nackte runde Arme, bewahrten ihr Kopfhaar und dessen Frisuren in kurz geknoteten Kopftüchern, warfen die Teppiche über die Klopfstangen, griffen zu geflochtenen Teppichklopfern und sprengten mit trockenen Schlägen die Enge der Höfe.
Oskar haßte diese einmütige Hymne an die Sauberkeit. Auf seiner Trommel kämpfte er gegen den Lärm an und mußte sich dennoch, auch auf dem Dachboden, der ja Distanz bot, seine Ohnmacht den Hausfrauen gegenüber eingestehen. Hundert teppichklopfende Weiber können einen Himmel erstürmen, können jungen Schwalben die Flügelspitzen stumpf machen und brachten Oskars in die Aprilluft getrommeltes Tempelchen mit wenigen Schlägen zum Einsturz.
An Tagen, da keine Teppiche geklopft wurden, turnten die Gören unseres Mietshauses an der hölzernen Teppichklopfstange. Selten war ich auf dem Hof. Nur der Schuppen des alten Herrn Heilandt bot mir dort einige Sicherheit, denn der Alte ließ nur mich in seine Rumpelkammer und erlaubte den Gören kaum einen Blick auf die verrotteten Nähmaschinen, unvollständigen Fahrräder, Schraubstöcke, Flaschenzüge und in Zigarrenschachteln aufbewahrten krummen und wieder gerade geklopften Nägel. Das war so eine Beschäftigung: wenn er nicht Nägel aus Kistenbrettern zog, klopfte er am Vortag gezogene Nägel auf einem Amboß gerade. Abgesehen davon, daß erkeinen Nagel verkommen ließ, war er auch der Mann, der bei Umzügen half, der vor Festtagen die Kaninchen schlachtete, der überall auf dem Hof, im Treppenhaus und auf dem Dachboden seinen Kautabaksaft hinspuckte.
Als die Gören eines Tages, wie Kinder es tun, neben seinem Schuppen eine Suppe kochten, bat Nuchi Eyke den alten Heilandt, dreimal in den Sud zu spucken. Der Alte tat es von weit herholend, verschwand dann in seinem Kabuff und klopfte schon wieder Nägel, als Axel Mischke der Suppe eine weitere Zutat, einen zerstoßenen Ziegelstein, beimengte. Oskar sah diesen Kochversuchen neugierig zu, stand aber abseits. Aus Decken und Lumpen hatten Axel Mischke und Harry Schlager so etwas wie ein Zelt errichtet, damit ihnen kein Erwachsener in die Suppe gucken konnte. Als das Ziegelsteinmehl aufkochte, entleerte Hänschen Kollin seine Taschen und stiftete zwei lebende Frösche für die Suppe, die er am Aktienteich gefangen hatte. Susi Kater, das einzige Mädchen in dem Zelt, zeigte sich um den Mund herum enttäuscht und bitter, als die Frösche so sang-und klanglos, auch ohne jeden letzten Sprungversuch in der Suppe untergingen. Zuerst machte Nuchi Eyke seine Hose auf und pinkelte, ohne auf Susi Rücksicht zu nehmen, in das Eintopfgericht. Axel, Harry und Hänschen Kollin taten es ihm nach. Als Klein-Käschen es den Zehnjährigen zeigen wollte, gab sein Schnibbel nichts her. Alle blickten nun Susi an, und Axel Mischke reichte ihr einen persilblau emaillierten, an den Rändern bestoßenen Kochtopf. Eigentlich wollte Oskar sofort gehen. Aber er wartete noch, bis sich Susi, die wohl keine Höschen unter dem Kleid trug, niederhockte, dabei die Knie umklammerte, sich zuvor den Topf unterschob, mit glatten Augen vor sich hinsah, dann die Nase krauste, als der Topf blechern klingelnd verriet, daß Susi etwas für die Suppe übrig hatte.
Ich lief damals davon. Ich hätte nicht laufen, sondern ruhig gehen sollen. Weil ich aber lief, blickten mir alle nach, die zuvor mit den Augen noch in dem Kochtopf gefischt hatten. Ich hörte Susi Katers Stimme, »Da will uns väpetzen, was scheest ä so!« in meinem Rücken, das stach mich noch, als ich schon die vier Treppen hochstolperte und erst auf dem Dachboden wieder zu Atem kam.
Siebeneinhalb war ich. Susi zählte vielleicht neun. Klein-Käschen war knapp acht. Axel, Nuchi, Hänschen und Harry zehn oder elf. Es gab noch Maria Truczinski. Die war etwas älter als ich, spielte jedoch nie im Hof, sondern mit Puppen in Mutter Truczinskis Küche oder mit ihrer erwachsenen Schwester Guste, die im evangelischen Kindergarten aushalf.
Was Wunder, wenn ich es heute noch nicht anhören kann, wenn Frauen auf Nachttöpfen urinieren. Als Oskar damals die Trommel rührend sein Ohr besänftigt hatte, sich auf dem Dachboden der unten brodelnden Suppe entrückt fühlte, kamen sie alle, barfuß und in Schnürschuhen, die da zur Suppe beigesteuert hatten, und Nuchi brachte die Suppe mit. Sie lagerten sich um Oskar, als Nachzügler kam Klein-Käschen. Sie stießen einander an, zischten: »Nu mach!« bis Axel den Oskar von hinten packte, ihn, seine Arme zwängend, gefügig werden ließ und Susi, mit feuchten, regelmäßigen Zähnen, mit der Zunge dazwischen lachend, nichts dabei fand, wenn man es tue. Nuchi nahm sie den Löffel ab, wischte das Blechding an ihren Schenkeln silbrig, tauchte das Löffelchen in den dampfenden Topf, rührte langsam, den Widerstand des Breies auskostend, einer guten Hausfrau gleich, darin herum, pustete kühlend in den gefüllten Löffel und fütterte endlich Oskar, mich fütterte sie, ich habe so etwas nie wieder gegessen, der Geschmack wird mir bleiben.
Erst als mich jenes um mein Leibeswohl so übermäßig besorgte Volk verlassen hatte, weil es Nuchi in den Topf hinein übel wurde, kroch auch ich in eine Ecke des Trockenbodens, auf dem damals nur einige Bettlaken hingen, und gab die paar Löffel rötlichen Sud von mir, ohne im Ausgespieenen Froschreste entdecken zu können. Auf eine Kiste unter der offenen Bodenluke kletterte ich, schaute auf entlegene Höfe, ließ Ziegelsteinrückstände zwischen den Zähnen knirschen, verspürte den Drang nach einer Tat, musterte die fernen Fenster der Häuser an der Marienstraße, blinkendes Glas, schrie, sang fernwirkend in jene Richtung, konnte zwar keinen Erfolg beobachten und war dennoch von den Möglichkeiten des fernwirkenden Gesanges so überzeugt, daß mir der Hof und die Höfe fortan zu eng wurden, daß ich nach Ferne, Entfernung und Fernblick hungernd jede Gelegenheit wahrnahm, die mich alleine oder an Mamas Hand aus dem Labesweg, dem Vorort führte und den Nachstellungen aller Suppenköche auf unserem engen Hof enthob.
Am Donnerstag jeder Woche machte Mama Einkäufe in der Stadt. Meistens nahm sie mich mit.
Immer nahm sie mich mit, wenn es galt, beim Sigismund Markus in der Zeughauspassage am Kohlenmarkt eine neue Trommel zu kaufen. In jener Zeit, etwa von meinem siebenten bis zum zehnten Lebensjahr schaffte ich eine Trommel in glatt vierzehn Tagen. Vom zehnten bis vierzehnten Jahr bedurfte es keiner Woche, um ein Blech durchzuschlagen. Später sollte es mir gelingen, einerseits eine neue Trommel an einem einzigen Trommlertag zu Schrott zu machen, andererseits, bei ausgeglichenem Gemüt, drei oder vier Monate lang achtsam und dennoch kräftig zu schlagen, ohne daß meinem Blech, bis auf einige Sprünge im Lack, ein Schaden anzusehen gewesen wäre.
Doch hier soll die Rede von jener Zeit sein, da ich unseren Hof mit der Teppichklopfstange, mit dem Nägel klopfenden alten Heilandt, den Suppen erfindenden Gören verließ und mit meiner Mama alle vierzehn Tage beim Sigismund Markus eintreten, im Sortiment seiner Kinderblechtrommeln ein neues Blech aussuchen durfte. Manchmal nahm mich Mama auch mit, .wenn die Trommel noch halbwegs heil war, und ich genoß diese Nachmittage in der farbigen, immer etwas musealen, ständig mit diesen oder jenen Kirchenglocken lärmenden Altstadt.
Zumeist verliefen die Besuche in angenehmer Gleichmäßigkeit. Einige Einkäufe bei Leiser, Sternfeld oder Machwitz, dann wurde der Markus aufgesucht, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, meiner Mama aussortierte und schmeichelhafteste Artigkeiten zu sagen. Ohne Zweifel machte er ihr den Hof, ließ sich aber, soviel ich weiß, zu größeren Ovationen, als die heiß ergriffene, goldeswert genannte Hand meiner Mama lautlos zu küssen, nie hinreißen — den Kniefall jenes Besuches ausgenommen, von dem hier die Rede sein soll.
Mama, die von der Großmutter Koljaiczek die stattliche, füllig stramme Figur, auch liebenswerte Eitelkeit, gepaart mit Gutmütigkeit, mitbekommen hatte, ließ sich den Dienst des Sigismund Markus um so eher gefallen, als er sie hier und da mit spottbilligen Nähseidesortimenten, im Ramschhandel erworbenen, doch tadellosen Damenstrümpfen eher beschenkte als belieferte. Ganz zu schweigen von meinen, für einen lächerlichen Preis in vierzehntägigen Abständen über den Ladentisch gereichten Blechtrommeln.
Während jedes Besuches bat Mama den Sigismund pünktlich um halb fünf am Nachmittag, mich, den Oskar, bei ihm im Geschäft seiner Obhut überlassen zu dürfen, da sie noch wichtige eilige Besorgungen zu machen habe. Merkwürdig lächelnd verbeugte sich dann der Markus und versprach Mama mit floskelreicher Rede, mich, den Oskar, wie seinen Augapfel zu hüten, während sie ihren so wichtigen Besorgungen nachgehe. Ein ganz leichter, doch nicht verletzender Spott, der seinen Sätzen eine auffallende Betonung gab, ließ Mama gelegentlich erröten und ahnen, daß der Markus Bescheid wußte.
Aber auch ich wußte um die Art der Besorgungen, die Mama wichtig nannte, denen sie allzu eifrig nachkam. Hatte ich sie doch eine Zeitlang in eine billige Pension der Tischlergasse begleiten dürfen, wo sie im Treppenhaus verschwand, um eine knappe Dreiviertelstunde wegzubleiben, während ich bei der meist Mampe schlürfenden Wirtin hinter einer mir wortlos servierten, immer gleich scheußlichen Limonade ausharren mußte, bis Mama, kaum verändert, wiederkam, der Wirtin, die von ihrem Halb und Halb nicht aufblickte, einen Gruß sagte, mich bei der Hand nahm und vergaß, daß die Temperatur ihrer Hand sie verriet. Heiß Hand in Hand suchten wir dann das Cafe Weitzke in der Wollwebergasse auf. Mama bestellte sich einen Mokka, Oskar ein Zitroneneis und wartete, bis prompt und wie zufällig Jan Bronski vorbeikam, der sich zu uns an den Tisch setzte, sich gleichfalls einen Mokka auf die beruhigend kühle Marmorplatte stellen ließ.
Sie sprachen vor mir ganz ungeniert und ihre Reden bestätigten, was ich schon lange wußte: Mama und Onkel Jan trafen sich fast jeden Donnerstag in einem auf Jans Kosten gemieteten Zimmer der Pension in der Tischlergasse, um es eine Dreiviertelstunde lang miteinander zu treiben.
Wahrscheinlich war es Jan, der den Wunsch äußerte, mich nicht mehr in die Tischlergasse und anschließend ins Cafe Weitzke mitzunehmen. Er war mitunter sehr schamhaft und schamhafter als Mama, die nichts dabei fand, wenn ich Zeuge einer ausklingenden Liebesstunde war, von deren Rechtmäßigkeit sie immer, auch hinterher, überzeugt zu sein schien.
So blieb ich, auf Jans Wunsch, fast jeden Donnerstag nachmittag von halb fünf bis kurz vor sechs beim Sigismund Markus, durfte das Sortiment seiner Blechtrommeln betrachten, benutzen, durfte — wo wäre das Oskar sonst möglich gewesen — auf mehreren Trommeln gleichzeitig laut werden und dem Markus ins traurige Hundegesicht blicken. Wenn ich auch nicht wußte, wo seine Gedanken herkamen, ahnte ich, wo sie hingingen, daß sie in der Tischlergasse weilten, dort an numerierten Zimmertüren schabten oder sie hockten gleich dem armen Lazarus unter dem Marmortischchen des Cafe Weitzke, worauf wartend? Auf Krümel?
Mama und Jan Bronski ließen kein Krümelchen übrig. Die aßen alles selbst auf. Die hatten den großen Appetit, der nie aufhört, der sich selbst in den Schwanz beißt. Die waren so beschäftigt, daß sie die Gedanken des Markus unter dem Tisch allenfalls für die aufdringliche Zärtlichkeit eines Luftzuges genommen hätten.
An einem jener Nachmittage — es wird im September gewesen sein, denn Mama verließ den Laden des Markus im rostbraunen Herbstkomplet — trieb es mich, da ich den Markus versunken, vergraben und wohl auch verloren hinter dem Ladentisch wußte, mit meiner gerade neuerstandenen Trommel hinaus in die Zeughauspassage, den kühldunklen Tunnel, an dessen Seiten sich ausgesuchteste Geschäfte, wie Juwelierläden, Feinkosthandlungen und Büchereien, Schaufenster an Schaufenster reihten. Mich hielt es jedoch nicht vor den sicher preiswerten, mir dennoch unerschwinglichen Auslagen; vielmehr trieb es mich aus dem Tunnel hinaus auf den Kohlenmarkt. Mitten hinein in staubiges Licht stellte ich mich vor die Fassade des Zeughauses, deren basaltfarbenes Grau mit verschieden großen Kanonenkugeln, verschiedenen Belagerungszeiten entstammend, gespickt war, damit jene Eisenbuckel die Historie der Stadt jedem Passanten in Erinnerung riefen. Mir sagten die Kugeln nichts, zumal ich wußte, daß sie nicht von alleine stecken geblieben waren, daß es einen Maurer in dieser Stadt gab, den das Hochbauamt in Verbindung mit dem Amt für Denkmalschutz beschäftigte und bezahlte, damit er die Munition vergangener Jahrhunderte in den Fassaden diverser Kirchen, Rathäuser, so auch in der Front-wie Rückseite des Zeughauses einmauerte.
Ich wollte ins Stadttheater, das zur rechten Hand, nur durch eine schmale, lichtlose Gasse vom Zeughaus getrennt, sein Säulenportal zeigte. Da ich das Stadttheater, wie ich es mir gedacht hatte, um diese Zeit verschlossen fand — die Abendkasse machte erst um sieben auf — trommelte ich mich unentschlossen, schon einen Rückzug erwägend, nach links, bis Oskar zwischen dem Stockturm und dem Langsamer Tor stand. Durch das Tor in die Langgasse und dann links einbiegend in die Große Wollwebergasse wagte ich mich nicht, denn da saßen Mama und Jan Bronski, und wenn sie noch nicht saßen, so waren sie in der Tischlergasse vielleicht gerade fertig oder schon unterwegs zu ihrem erfrischenden Mokka am Marmortischchen.
Ich weiß nicht, wie ich über die Fahrbahn des Kohlenmarktes kam, auf der ständig Straßenbahnen entweder durchs Tor wollten oder sich aus dem Tor klingelnd und in der Kurve kreischend zum Kohlenmarkt, Holzmarkt, Richtung Hauptbahnhof wanden. Vielleicht nahm mich ein Erwachsener, ein Polizist womöglich bei der Hand und leitete mich fürsorglich durch die Gefahren des Verkehrs.
Ich stand vor dem steil gegen den Himmel gestützten Backstein des Stockturms und klemmte eigentlich nur zufällig, aus aufkommender Langeweile meine Trommelstöcke zwischen das Mauerwerk und den eisenbeschlagenen Anschlag der Turmtür. Sobald ich den Blick am Backstein hochschickte, war es schwierig, ihn an der Fassade entlanglaufen zu lassen, weil sich ständig Tauben aus Mauernischen und Turmfenstern abstießen, um gleich darauf auf Wasserspeiern und Erkern für kurze, taubenbemessene Zeit zu ruhen, dann wieder abfallend vom Gemäuer meinen Blick mitzureißen.
Mich ärgerte das Geschäft der Tauben. Mein Blick war mir zu schade, ich nahm ihn zurück und benutzte ernsthaft, auch um meinen Ärger loszuwerden, beide Trommelstöcke als Hebel: die Tür gab nach und Oskar war, ehe er sie ganz aufgestoßen hatte, schon drinnen im Turm, schon auf der Wendeltreppe, stieg schon, immer das rechte Bein vorsetzend, das linke nachziehend, erreichte die ersten vergitterten Verliese, schraubte sich höher, ließ die Folterkammer mit ihren sorgfältig gepflegten und unterweisend beschrifteten Instrumenten hinter sich, warf beim weiteren Aufstieg — er setzte jetzt das linke Bein vor, zog das rechte nach — einen Blick durch ein schmalvergittertes Fenster, schätzte die Höhe ab, begriff die Dicke des Mauerwerkes, scheuchte Tauben auf, traf dieselben Tauben eine Drehung der Wendeltreppe höher wieder an, setzte abermals rechts vor, um links nachzuziehen, und als Oskar nach weiterem Wechsel der Beine oben war, hätte er noch lange so weiter steigen mögen, obgleich ihm das rechte wie linke Bein schwer waren. Aber die Treppe hatte es vorzeitig aufgegeben. Er erfaßte den Unsinn und die Ohnmacht des Turmbaues.
Ich weiß nicht, wie hoch der Stockturm war und noch ist, denn er überdauerte den Krieg. Auch habe ich keine Lust, meinen Pfleger Bruno um ein Nachschlagewerk über ostdeutsche Backsteingotik zu bitten. Ich schätze, er wird bis zur Turmspitze gut und gerne seine fünfundvierzig Meter gehabt haben.
Ich, und das lag an der zu schnell ermüdenden Wendeltreppe, hatte auf einer Galerie haltmachen müssen, die den Turmhelm umlief. Ich setzte mich, schob die Beine zwischen die Säulchen der Balustrade, beugte mich vor und blickte an einer Säule, die ich mit dem rechten Arm umklammert hielt, vorbei und hinunter auf den Kohlenmarkt, während ich mich links meiner Trommel vergewisserte, die den ganzen Aufstieg mitgemacht hatte.
Ich will Sie nicht mit der Beschreibung eines vieltürmigen, mit Glocken läutenden, altehrwürdigen, angeblich noch immer vom Atem des Mittelalters durchwehten, auf tausend guten Stichen abgebildeten Panoramas, mit der Vogelschau der Stadt Danzig langweilen. Gleichfalls lasse ich mich nicht auf die Tauben ein, auch wenn es zehnmal heißt, über Tauben könne man gut schreiben. Mir sagt eine Taube so gut wie gar nichts, eine Möwe schon etwas mehr. Der Ausdruck Friedenstaube will mir nur als Paradox stimmen. Eher würde ich einem Habicht oder gar Aasgeier eine Friedensbotschaft anvertrauen als der Taube, der streitsüchtigsten Mieterin unter dem Himmel. Kurz und gut: auf dem Stockturm gab es Tauben. Aber Tauben gibt es schließlich auf jedem anständigen Turm, der mit Hilfe seiner ihm zustehenden Denkmalpfleger auf sich hält.
Auf etwas ganz anderes hatte es mein Blick abgesehen: auf das Gebäude des Stadttheaters, das ich, aus der Zeughauspassage kommend, verschlossen gefunden hatte. Der Kasten zeigte mit seiner Kuppel eine verteufelte Ähnlichkeit mit einer unvernünftig vergrößerten, klassizistischen Kaffeemühle, wenn ihm auch am Kuppelknopf jener Schwengel fehlte, der nötig gewesen wäre, in einem allabendlich vollbesetzten Musen-und Bildungstempel ein fünfaktiges Drama samt Mimen, Kulissen, Souffleuse, Requisiten und allen Vorhängen zu schaurigem Schrot zu mahlen. Mich ärgerte dieser Bau, von dessen säulenflankierten Foyerfenstern eine absackende und immer mehr Rot auftragende Nachmittagssonne nicht lassen wollte.
Zu jener Stunde, etwa dreißig Meter über dem Kohlenmarkt, über Straßenbahnen und Büroschluß feiernden Angestellten, hoch überm süßriechenden Ramschladen des Markus, über den kühlen Marmortischchen des Cafe Weitzke, zwei Tassen Mokka, Mama und Jan Bronski überragend, auch unser Mietshaus, den Hof, die Höfe, verbogene und gerade Nägel, die Kinder der Nachbarschaft und deren Ziegelsuppe unter mir lassend, wurde ich, der ich bislang nur aus zwingenden Gründen geschrien hatte, zu einem Schreier ohne Grund und Zwang. Hatte ich bis zur Besteigung des Stockturmes meine dringlichen Töne nur dann ins Gefüge eines Glases, ins Innere der Glühbirnen, in eine abgestandene Bierflasche geschickt, wenn man mir meine Trommel nehmen wollte, schrie ich vom Turm herab, ohne daß meine Trommel im Spiel war.
Niemand wollte Oskar die Trommel nehmen, trotzdem schrie er. Nicht etwa, daß ihm eine Taube ihren Dreck auf die Trommel geworfen hätte, um ihm einen Schrei abzukaufen. In der Nähe gab es zwar Grünspan auf Kupferplatten, aber kein Glas; Oskar schrie trotzdem. Die Tauben hatten rötlich blanke Augen, aber kein Glasauge äugte ihn an; dennoch schrie er. Wohin schrie er, welche Distanz lockte ihn? Sollte, was auf dem Dachboden, nach dem Genuß der Ziegelmehlsuppe planlos über Höfe hinweg versucht wurde, hier zielstrebig demonstriert werden? Welches Glas meinte Oskar? Mit welchem Glas — und es kam ja nur Glas in Frage — wollte Oskar Experimente anstellen?
Es war das Theater der Stadt, die dramatische Kaffeemühle, die meine neuartigen, erstmals auf unserem Dachboden ausprobierten, ich möchte sagen, ans Manierierte grenzenden Töne in ihre Abendsonnenfensterscheiben lockte. Nach wenigen Minuten verschieden geladenen Geschreis, das jedoch nichts ausrichtete, gelang mir ein nahezu lautloser Ton, und mit Freude und verräterischem Stolz durfte Oskar sich melden: zwei mittlere Scheiben im linken Foyerfenster hatten den Abendsonnenschein aufgeben müssen, lasen sich als zwei schwarze, schleunigst neu zu verglasende Vierecke ab.
Es galt, den Erfolg zu bestätigen. Gleich einem modernen Kunstmaler produzierte ich mich, der seinen einmal gefundenen, seit Jahren gesuchten Stil zeitigt, indem er eine ganze Serie gleichgroßartiger, gleichkühner, gleichwertiger, oftmals gleichformatiger Fingerübungen seiner Manier der verblüfften Welt schenkt.
Es gelang mir, innerhalb einer knappen Viertelstunde alle Fenster des Foyers und einen Teil der Türen zu entglasen. Vor dem Theater sammelte sich eine, wie es von oben aussah, aufgeregte Menschenmenge. Es gibt immer Schaulustige. Mich beeindruckten die Bewunderer meiner Kunst nicht besonders. Allenfalls veranlaßten sie Oskar, noch strenger, noch formaler zu arbeiten. Gerade wollte ich mich anschicken, mit einem noch kühneren Experiment das Innere aller Dinge freizulegen, nämlich durchs offene Foyer hindurch, durchs Schlüsselloch einer Logentür in den noch dunklen Theaterraum hinein einen speziellen Schrei schicken, der den Stolz aller Abonnenten, den Kronleuchter des Theaters mit all seinem geschliffenen, spiegelnden, lichtbrechend facettierten Klimborium treffen sollte, da erblickte ich einen rostbraunen Stoff in der Menge vor dem Theater: Mama hatte vom Cafe Weitzke zurückgefunden, hatte den Mokka genossen, Jan Bronski verlassen.
Es sei aber zugegeben, daß Oskar dennoch einen Schrei auf den Protzlüster losschickte. Er schien jedoch keinen Erfolg gehabt zu haben, denn die Zeitungen berichteten am nächsten Tage nur von den aus rätselhaften Gründen zersprungenen Foyer-und Türscheiben. Halbwissenschaftliche und auch wissenschaftliche Untersuchungen im feuilletonistischen Teil der Tagespresse breiteten noch wochenlang spaltenreichen phantastischen Unsinn aus. Die »Neuesten Nachrichten« wußten von kosmischen Strahlen zu erzählen. Leute von der Sternwarte, also hochqualifizierte Geistesarbeiter, sprachen von Sonnenflecken.
Ich fand damals, so schnell es meine kurzen Beine erlaubten, die Wendeltreppe des Stockturmes hinunter und erreichte einigermaßen atemlos die Menge vor dem Theaterportal. Mamas rostbraunes Herbstkomplet leuchtete nicht mehr, sie mußte im Laden des Markus sein, berichtete vielleicht über Schäden, die meine Stimme verursacht haben mußte. Und der Markus, der meinen sogenannten zurückgebliebenen Zustand, auch meine diamantene Stimme wie das natürlichste Geschehen hinnahm, würde mit der Zungenspitze wedeln, so dachte Oskar, und die weißgelblichen Hände reiben.
Im Ladeneingang bot sich mir ein Bild, das sofort alle Erfolge des scheibenvernichtenden Ferngesanges vergessen ließ. Sigismund Markus kniete vor meiner Mama, und all die Stofftiere, Bären, Affen, Hunde, sogar Puppen mit Klappaugen, desgleichen Feuerwehrautos, Schaukelpferde, auch alle seinen Laden hütenden Hampelmänner schienen mit ihm aufs Knie fallen zu wollen. Er aber hielt mit zwei Händen Mamas beide Hände verdeckt, zeigte hellbeflaumte, bräunliche Flecken auf den Handrücken und weinte.
Auch Mama blickte ernst und der Situation entsprechend beteiligt. »Nicht Markus«, sagte sie, »bitte nicht hier im Laden.«
Doch Markus fand kein Ende, und seine Rede hatte einen mir unvergeßlichen, beschwörenden und zugleich übertriebenen Tonfall: »Machen Se das nich mä middem Bronski, wo er doch bei de Post is, die polnisch is und das nich gut geht, sag ich, weil er is midde Polen. Setzen Se nicht auf de Polen, setzen Se, wenn Se setzen wollen, auf de Deutschen, weil se hochkommen, wenn nich heil dann morgen; und sind se nich schon wieder bißchen hoch und machen sich, und de Frau Agnes setzt immer noch auffen Bronski. Wenn Se doch würd setzen auffen Matzerath, den Se hat, wenn schon. Oder wenn Se mechten setzen gefälligst auffen Markus und kommen Se middem Markus, wo er getauft is seit neilich. Gehn wä nach London, Frau Agnes, wo ich Lait hab drieben und Papiere genug, wenn Se nur wollten kommen oder wolln Se nich middem Markus, weil Se ihn verachten, nu denn verachten Se ihn. Aber er bittet Ihnen von Herzen, wenn Se doch nur nicht mehr setzen wollen auffen meschuggenen Bronski, da bei de polnische Post bleibt, wo doch bald färtich is midde Polen, wenn se kommen de Deitschen ! «
Gerade als auch Mama, von soviel Möglichkeiten und Unmöglichkeiten verwirrt, zu Tränen kommen wollte, erblickte mich Markus in der Ladentür und wies, Mamas eine Hand freilassend, mit fünf sprechenden Fingern auf mich: »No bittschen, den werden wä auch mitnehmen nach London. Wie Prinzchen soll er es haben, wie Prinzchen!«
Nun blickte mich auch Mama an und kam zu einigem Lachern. Vielleicht dachte sie an die scheibenlosen Foyerfenster des Stadttheaters,oder die in Aussicht gestellte Metropole London stimmte sie heiter. Zu meiner Überraschung schüttelte sie dennoch den Kopf und sagte leichthin, als würde sie einen Tanz ausschlagen: »Ich danke Ihnen, Markus, aber es geht nicht, wirklich nicht — wegen Bronski.«
Des Onkels Namen wie ein Stichwort wertend, erhob sich Markus sogleich, klappmesserte eine Verbeugung und ließ hören: »Verzeihn Se dem Markus, hattä sich doch gleich gedacht, daß es wegen dem nich mecht sein.«
Als wir den Laden in der Zeughauspassage verließen, schloß der Händler, obgleich noch nicht Geschäftsschluß war, von außen ab und begleitete uns zur Haltestelle der Linie Fünf. Vor der Fassade des Stadttheaters standen noch immer Passanten und einige Polizisten. Ich fürchtete mich aber nicht und hatte meine Erfolge dem Glas gegenüber kaum noch gegenwärtig. Markus beugte sich zu mir, flüsterte mehr zu sich als zu uns: »Was er nich alles kann, der Oskar. De Trommel schlägt er und macht Skandal vorm Theater.«
Mamas angesichts der Scherben aufkommende Unsicherheit beschwichtigte er mit Handbewegungen, und als die Bahn kam und wir in den Anhänger einstiegen, beschwor er noch einmal leise, eventuelle Zuhörer fürchtend: »No, denn bleiben Se gefälligst bei dem Matzerath, den Se haben und setzen Se nich merr auf Polen.« — Wenn Oskar heute in seinem Metallbett liegend oder sitzend, in jeder Lage aber trommelnd, die Zeughauspassage, die Kritzeleien auf den Kerkerwänden des Stockturmes, den Stockturm selber und seine geölten Folterinstumente, die drei Foyerfenster des Stadttheaters hinter den Säulen und wieder die Zeughauspassage und den Laden des Sigismund Markus aufsucht, um Einzelheiten eines Septembertages nachzeichnen zu können, muß er auch gleichzeitig das Land der Polen suchen. Sucht es womit? Er sucht es mit seinen Trommelstöcken. Sucht er das Land der Polen auch mit seiner Seele?
Mit allen Organen sucht er, aber die Seele ist kein Organ.
Und ich suche das Land der Polen, das verloren ist, das noch nicht verloren ist. Andere sagen: bald verloren, schon verloren, wieder verloren. Hierzulande sucht man das Land der Polen neuerdings mit Krediten, mit der Leica, mit dem Kompaß, mit Radar, Wünschelruten und Delegierten, mit Humanismus, Oppositionsführern und Trachten einmottenden Landsmannschaften. Während man hierzulande das Land der Polen mit der Seele sucht — halb mit Chopin, halb mit Revanche im Herzen — während sie hier die erste bis zur vierten Teilung verwerfen und die fünfte Teilung Polens schon planen, während sie mit Air France nach Warschau fliegen, und an jener Stelle bedauernd ein Kränzchen hinterlegen, wo einst das Getto stand, während man von hier aus das Land der Polen mit Raketen suchen wird, suche ich Polen auf meiner Trommel und trommle: Verloren, noch nicht verloren, schon wieder verloren, an wen verloren, bald verloren, bereits verloren, Polen verloren, alles verloren, noch ist Polen nicht verloren.
DIE TRIBÜNE
Indem ich die Foyerfenster unseres Stadttheaters zersang, suchte und fand ich zum erstenmal Kontakt mit der Bühnenkunst. Mama muß trotz starker Beanspruchung durch den Spielzeughändler Markus an jenem Nachmittag mein direktes Verhältnis zum Theater bemerkt haben, denn während der folgenden Weihnachtszeit kaufte sie vier Theaterkarten, für sich, für Stephan und Marga Bronski, auch für Oskar, und nahm uns drei am letzten Adventssonntag zum Weihnachtsmärchen mit. Zweiter Rang Seite, erste Reihe saßen wir. Der Protzlüster, über dem Parkett hängend, tat, was er konnte. So war ich froh, daß ich ihn vom Stockturm herab nicht zersungen hatte.
Es gab damals schon viel zu viel Kinder. Mehr Kinder als Mütter gab es auf den Rängen, während sich das Verhältnis von Kind zu Mutter im Parkett, wo die Begüterten und im Zeugen Vorsichtigeren saßen, ungefähr die Waage hielt. Daß Kinder nicht ruhig sitzen können! Marga Bronski, die zwischen mir und dem verhältnismäßig sittsamen Stephan saß, rutschte vom Klappolster, wollte wieder hinauf, fand es sogleich schöner, vor der Rangbrüstung zu-turnen, klemmte sich fast im Klappmechanismus, schrie aber im Vergleich zu den anderen Schreihälsen um uns herum noch erträglich und kurzfristig, weil ihr Mama den törichten Kindermund mit Bonbons stopfte. Lutschend und durch die Rutscherei auf dem Polster vorzeitig ermüdet, schlief Stephans kleine Schwester kurz nach Vorstellungsbeginn ein, mußte nach den Aktschlüssen fürs Klatschen, was sie auch fleißig besorgte, geweckt werden.
Es wurde das Märchen vom Däumeling gegeben, was mich von der ersten Szene an fesselte und verständlicherweise persönlich ansprach. Man machte es geschickt, zeigte den Däumeling gar nicht, ließ nur seine Stimme hören und die erwachsenen Personen hinter dem unsichtbaren, aber recht aktiven Titelhelden des Stücks herspringen. Da saß er dem Pferd im Ohr, da ließ er sich vom Vater für schweres Geld an zwei Strolche verkaufen, da erging er sich auf des einen Strolches Hutkrempe, sprach von dort oben herab, kroch später in ein Mauseloch, dann in ein Schneckenhaus, machte mit Dieben gemeinsame Sache, geriet ins Heu und mit dem Heu in den Magen der Kuh. Die Kuh aber wurde geschlachtet, weil sie mit Däumelings Stimme sprach. Der Magen der Kuh aber wanderte mit dem gefangenen Kerlchen auf den Mist und wurde von einem Wolf verschluckt. Den Wolf aber lenkte Däumeling mit klugen Worten in seines Vaters Haus und Vorratskammer und schlug dort Lärm, als der Wolf zu rauben gerade beginnen wollte. Der Schluß war, wie's im Märchen zugeht: der Vater erschlug den bösen Wolf, die Mutter öffnete mit einer Schere Leib und Magen des Freßsacks, heraus kam Däumeling, das heißt, man hörte ihn nur rufen: »Ach, Vater, ich war in einem Mauseloch, in einer Kuh Bauch und in eines Wolfes Wanst: nun bleib ich bei Euch.«Mich rührte dieser Schluß, und als ich zu Mama hinaufblinzelte, bemerkte ich, daß sie die Nase hinter dem Taschentuch barg, weil sie gleich mir die Handlung auf der Bühne zum eigensten Erlebnis gemacht hatte. Mama ließ sich gerne rühren, drückte mich während der folgenden Wochen, vor allen Dingen, solange das Weihnachtsfest dauerte, immer wieder an sich, küßte mich und nannte Oskar bald scherzhaft, bald wehmütig:
Däumling. Oder: Mein kleiner Däumling. Oder: Mein armer, armer Däumling.
Erst im Sommer dreiunddreißig sollte ich wieder Theater geboten bekommen. Durch ein Mißverständnis meinerseits ging die Sache zwar schief, beeindruckte mich aber nachwirkend. So tönt und wogt es noch heute in mir, denn es ereignete sich in der Waldoper Zoppot, wo unter freiem Nachthimmel Sommer für Sommer Wagnermusik der Natur anvertraut wurde.
An sich hatte nur Mama etwas für Opern übrig. Für Matzerath waren selbst Operetten zu viel. Jan richtete sich nach Mama", schwärmte für Arien, obgleich er trotz seines musikalischen Aussehens vollkommen harthörig für schöne Klänge war. Dafür kannte er aber die Brüder Formella, ehemalige Mitschüler aus der Mittelschule Karthaus, die in Zoppot wohnten, die Beleuchtung des Seesteges, des Springbrunnens vor dem Kurhaus und Kasino unter sich hatten und gleichfalls als Beleuchter bei den Festspielen in der Waldoper wirkten.
-Der Weg nach Zoppot führte über Oliva. Ein Vormittag im Schloßpark. Goldfische, Schwäne, Mama und Jan Bronski in der berühmten Flüstergrotte. Dann wieder Goldfische und Schwäne, die Hand in Hand mit einem Fotografen arbeiteten. Matzerath ließ mich, während die Aufnahme gemacht wurde, auf den Schultern reiten. Ich stützte die Trommel auf seinen Scheitel, was allgemein, auch später, als das Bildchen schon im Fotoalbum klebte, Gelächter hervorrief. Abschied von Goldfischen, Schwänen, von der Flüstergrotte. Nicht nur im Schloßpark war Sonntag, auch vor dem Eisengitter und in der Straßenbahn nach Glettkau und im Kurhaus Glettkau, wo wir zu Mittag aßen, während die Ostsee unentwegt, als hätte sie nichts anderes zu tun, zum Baden einlud, überall war Sonntag. Als uns die Strandpromenade nach Zoppot führte, kam uns der Sonntag entgegen, und Matzerath mußte für alle Kurtaxe zahlen.
Wir badeten im Südbad, weil es dort angeblich leerer als im Nordbad war. Die Herren zogen sich im Herrenbad um, Mama führte mich in eine Zelle des Damenbades, verlangte von mir, daß ich mich nackt im Familienbad zeigte, während sie, die damals schon üppig über die Ufer trat, ihr Fleisch in ein strohgelbes Badekostüm goß. Um dem tausendäugigen Familienbad nicht allzu bloß zu begegnen, hielt ich mir meine Trommel vors Geschlecht und legte mich später bäuchlings in den Seesand, wollte auch nicht ins einladende Ostseewasser, sondern meine Scham im Sand aufbewahren und Vogelstraußpolitik betreiben. Matzerath, auch Jan Bronski sahen mit ihren beginnenden Schmerbäuchen so lächerlich und beinahe bedauernswert armselig aus, daß ich froh war, als am späten Nachmittag die Badekabinen aufgesucht wurden, wo jeder seinen Sonnenbrand eincremte und nivea-gesalbt wieder in die sonntägliche Zivilkleidung schlüpfte.
Kaffee und Kuchen im Seestern. Mama wollte ein drittes Stückchen von der fünfstöckigen Torte.
Matzerath war dagegen, Jan dafür und dagegen zugleich, Mama bestellte, gab Matzerath einen Happen ab, fütterte Jan, stellte ihre beiden Männer zufrieden, bevor sie sich den übersüßen Keil Löffelchen für Löffelchen in den Magen rammte.
Oh, heilige Buttercreme, du mit Puderzucker bestäubter, heiter bis wolkiger Sonntagnachmittag!
Polnische Adlige saßen hinter blauen Sonnenbrillen und intensiven Limonaden, die sie nicht berührten. Mit violetten Fingernägeln spielten die Damen und ließen uns den Mottenpulvergeruch ihrer Pelzcapes, die sie jeweils für die Saison ausliehen, mit dem Seewind zukommen. Matzerath fand das affig. Mama hätte sich gerne gleichfalls und wenn nur für einen Nachmittag solch ein Pelzcape ausgeliehen. Jan behauptete, die Langeweile des polnischen Adels stehe momentan so in Blüte, daß man trotz wachsender Schulden nicht mehr Französisch spreche, sondern aus lauter Snobismus gewöhnlichstes Polnisch.
Man konnte nicht im Seestern sitzen bleiben und unentwegt polnischen Adligen auf blaue Sonnenbrillen und violette Fingernägel schauen. Meine mit Torte gefüllte Mama verlangte nach Bewegung, Es nahm uns der Kurpark auf, ich mußte auf einem Esel reiten und abermals für ein Foto stillhalten. Goldfische, Schwäne — was der Natur nicht alles einfällt — und abermals Goldfische und Schwäne, Süßwasser wertvoll machend.
Zwischen frisiertem Taxus, der aber nicht flüsterte, wie man immer behauptet, trafen wir die Brüder Formella, die Kasinobeleuchter Formella, die Beleuchter der Waldoper, Formella. Der jüngere Formelle mußte erst immer alle Witze loswerden, die ihm bei seinem Beruf als Beleuchter zu Ohren kamen. Der ältere Bruder Formella kannte die Witze und lachte dennoch aus brüderlicher Liebe ansteckend an den richtigen Stellen und zeigte dabei einen Goldzahn mehr als sein jüngerer Bruder, der nur drei hatte. Man ging bei Springer ein Machandelchen trinken. Mama war mehr für Kurfürsten.
Dann, immer noch Witze vom Vorrat verschenkend, lud der spendable jüngere Formella zum Abendessen im »Papagei« ein. Dort traf man Tuschel, und Tuschel gehörte halb Zoppot, dazu ein Stück Waldoper und fünf Kinos. Auch war er der Chef der Formellabrüder und freute sich, wie wir uns freuten, uns kennengelernt, ihn kennengelernt zu haben. Tuschel drehte unermüdlich einen Ring an seinem Finger, der aber dennoch kein Wunschring oder Zauberring sein konnte, denn es passierte rein gar nichts, außer daß Tuschel seinerseits anfing, Witze zu erzählen, und zwar dieselben Formellawitze von vorher, nur umständlicher, weil über weniger Goldzähne verfügend. Dennoch lachte der ganze Tisch, weil Tuschel die Witze erzählte. Nur ich hielt mich ernst und versuchte mit starrer Miene Pointen zu töten. Ach, wie die Lachsalven, wenn auch nicht echt, doch ähnlich den Butzenscheiben an der Fensterfront unserer Freßecke, Gemütlichkeit verbreiteten. Der Tuschel zeigte sich dankbar, erzählte immer noch einen Witz, ließ Goldwasser kommen, drehte glücklich, in Gelächter und Goldwasser schwimmend, plötzlich den Ring anders herum, und es passierte wirklich etwas. Tuschel lud uns alle in die Waldoper ein, da ihm ja ein Stückchen der Waldoper gehöre, er könne leider nicht, Verabredung und so, aber wir möchten doch mit seinen Plätzen vorlieb nehmen, wäre Loge, gepolstert, Kindchen könnte schlafen, wenn müde; und er schrieb mit silbernem Drehbleistift Tuschelworte auf Tuscheis Visitenkärtchen, das würde Tür und Tor öffnen, sagte er — und so war es dann auch.
Was sich ereignete, wird mit wenigen Worten zu sagen sein: Ein lauer Sommerabend, die Waldoper voll und ganz ausländisch. Schon bevor es losging, waren die Mücken da. Aber erst als die letzte Mücke, die immer ein wenig zu spät kommt, das vornehm findet, ihre Ankunft blutrünstig sirrend verkündete, ging es wirklich und gleichzeitig los. Es wurde der Fliegende Holländer gegeben. Ein Schiff schob sich mehr waldfrevelnd als seeräubernd aus jenem Wald, welcher der Waldoper den Namen gegeben hatte. Matrosen sangen die Bäume an. Ich schlief ein auf Tuscheis Polster, und als ich erwachte, sangen noch immer Matrosen oder schon wieder Matrosen: Steuermann halt die Wacht...
aber Oskar entschlief abermals, freute sich im Entschlummern, daß seine Mama solchen Anteil an dem Holländer nahm, wie auf Wogen glitt und wagnerisch ein-und ausatmete. Sie merkte nicht, daß Matzerath und ihr Jan hinter vorgehaltenen Händen verschieden starke Bäume ansägten, daß auch ich immer wieder dem Wagner aus den Fingern rutschte, bis Oskar endgültig erwachte, weil mitten im Wald ganz einsam eine schreiende Frau stand. Gelbhaarig war die und schrie, weil ein Beleuchter, wahrscheinlich der jüngere Formella, sie mit einem Scheinwerfer blendete und belästigte. »Nein!« schrie sie, »Weh mir!« und: »Wer tut mir das an?« Aber der Formella, der ihr das antat, stellte den Scheinwerfer nicht ab, und das Geschrei der einsamen Frau, die Mama hinterher als Solistin betitelte, ging in ein dann und wann silbern aufschäumendes Gewimmer über, das zwar die Blätter an den Bäumen des Zoppoter Waldes vorzeitig welken ließ, aber Formellas Scheinwerfer nicht traf und erledigte. Ihre Stimme, obgleich begabt, versagte. Oskar mußte einspringen, die unerzogene Lichtquelle ausfindig machen und mit einem einzigen, fernwirkenden Schrei, die leise Dringlichkeit der Mücken noch unterbietend, jenen Scheinwerfer töten.
Daß es Kurzschluß, Finsternis, springende Funken und einen Waldbrand gab, der zwar eingedämmt werden konnte, dennoch Panik hervorrief, war nicht von mir beabsichtigt, verlor ich doch im Gedränge nicht nur Mama und die beiden unsanft geweckten Herren; auch meine Trommel ging in dem Durcheinander verloren.
Diese, meine dritte Begegnung mit dem Theater brachte Mama, die nach dem Waldopernabend Wagner, leicht gesetzt, in unserem Klavier beheimatete, auf den Gedanken, mich im Frühjahr vierunddreißig mit der Zirkusluft bekanntzumachen.
Oskar will hier nicht von silbernen Damen am Trapez, von den Tigern des Zirkus Busch, von geschickten Seehunden plaudern. Es stürzte niemand aus der Zirkuskuppel. Keinem Dompteur wurde etwas abgebissen. Auch taten die Seehunde, was sie gelernt hatten: jonglierten Bälle und bekamen lebendige Heringe als Belohnung zugeworfen. Ich verdanke dem Zirkus vergnügliche Kindervorstellungen und jene für mich so wichtige Bekanntschaft mit Bebra, dem Musikalclown, der »Jimmy the Tiger« auf Flaschen spielte und eine Liliputanergruppe leitete.
Wir begegneten einander in der Menagerie. Mama und ihre beiden Herren ließen sich vor dem Affenkäfig beleidigen. Hedwig Bronski, die ausnahmsweise mit von der Partie war, zeigte ihren Kindern die Ponys. Nachdem mich ein Löwe angegähnt hatte, ließ ich mich leichtsinnigerweise mit einer Eule ein. Ich versuchte den Vogel zu fixieren, doch der fixierte mich: und Oskar schlich betroffen, mit heißen Ohren, im Zentrum verletzt davon, verkrümelte sich zwischen den blauweißen Wohnwagen, weil es dort außer einigen angebundenen Zwergziegen keine Tiere gab.
Er ging in Hosenträgern und Pantoffeln an mir vorbei und trug einen Wassereimer. Flüchtig nur kreuzten sich die Blicke. Dennoch erkannten wir uns sofort. Er stellte den Eimer ab, legte den großen Kopf schief, kam auf mich zu, und ich taxierte, daß er etwa neun Zentimeter größer war als ich.
»Schau, schau!« knarrte es neidisch zu mir herunter. »Heutzutage wollen die Dreijährigen schon nicht mehr wachsen.« Da ich nicht antwortete, kam er mir nochmals: »Bebra, mein Name, stamme in direkter Linie vom Prinzen Eugen ab, dessen Vater der vierzehnte Ludwig war und nicht irgendein Savoyarde, wie man behauptet.« Da ich immer noch schwieg, nahm er neuen Anlauf: »Unterbrach an meinem zehnten Geburtstag das Wachstum. Etwas spät, aber immerhin!«
Da er so offen sprach, stellte ich mich meinerseits vor, flunkerte aber keinen Stammbaum zusammen, nannte mich schlicht Oskar. »Sagen Sie, bester Oskar, Sie dürfen jetzt vierzehn, fünfzehn oder gar schon sechzehn Jährchen zählen. Nicht möglich, was Sie sagen, erst neuneinhalb?«
Jetzt sollte ich ihn schätzen und tippte vorsätzlich zu niedrig.
»Sie sind ein Schmeichler, junger Freund. Fünfunddreißig, das war einmal. Im August feiere ich mein Dreiundfünfzigstes, ich könnte Ihr Großvater sein!«Oskar sagte ihm einige nette Dinge über seine akrobatischen Leistungen als Clown, nannte ihn hochmusikalisch und führte, leicht vom Ehrgeiz gepackt, ein Kunststückchen vor. Drei Glühbirnen der Zirkusplatzbeleuchtung mußten dran glauben, und Herr Bebra rief bravo, bravissimo und wollte Oskar sofort engagieren.
Manchmal tut es mir heute noch leid, daß ich ablehnte. Ich redete mich heraus und sagte: »Wissen Sie, Herr Bebra, ich rechne mich lieber zu den Zuschauern, laß meine kleine Kunst im verborgenen, abseits von allem Beifall blühen, bin jedoch der letzte, der Ihren Darbietungen keinen Applaus spendet.« Herr Bebra hob seinen zerknitterten Zeigefinger und ermahnte mich: »Bester Oskar, glauben Sie einem erfahrenen Kollegen. Unsereins darf nie zu den Zuschauern gehören. Unsereins muß auf die Bühne, in die Arena. Unsereins muß vorspielen und die Handlung bestimmen, sonst wird unsereins von jenen da behandelt. Und jene da spielen uns all zu gerne übel mit!«
Mir fast ins Ohr kriechend, flüsterte er und machte uralte Augen: »Sie kommen! Sie werden die Festplätze besetzen! Sie werden Fackelzüge veranstalten! Sie werden Tribünen bauen, Tribünen bevölkern und von Tribünen herunter unseren Untergang predigen. Geben Sie acht, junger Freund, was sich auf den Tribünen ereignen wird! Versuchen Sie, immer auf der Tribüne zu sitzen und niemals vor der Tribüne zu stehen!«
Dann griff Herr Bebra, da mein Name gerufen wurde, seinen Eimer. »Man sucht Sie, bester Freund.
Wir werden uns wiedersehen. Wir sind zu klein, als daß wir uns verlieren könnten. Zudem sagt Bebra immer wieder: Kleine Leute wie wir finden selbst auf überfülltesten Tribünen noch ein Plätzchen. Und wenn nicht auf der Tribüne, dann unter der Tribüne, aber niemals vor der Tribüne. Das sagt Bebra, der in direkter Linie vom Prinzen Eugen abstammt.«
Mama, die Oskar rufend hinter einem Wohnwagen hervortrat, sah gerade noch, wie mich Herr Bebra auf die Stirn küßte, dann seinen Wassereimer ergriff und mit den Schultern rudernd auf einen Wohnwagen zusteuerte.
»Stellt euch nur vor«, empörte sich Mama später Matzerath und den Bronskis gegenüber, »bei den Liliputanern war er. Und ein Gnom hat ihn auf die Stirn geküßt. Hoffentlich hat das nichts zu bedeuten!«
Bebras Stirnkuß sollte mir noch viel bedeuten. Die politischen Ereignisse der nächsten Jahre gaben ihm recht: die Zeit der Fackelzüge und Aufmärsche vor Tribünen begann.
Wie ich den Ratschlägen des Herrn Bebra Folge leistete, beherzigte Mama einen Teil der Ermahnungen, die ihr Sigismund Markus in der Zeughauspassage gegeben hatte und anläßlich der Donnerstagbesuche immer wieder hören ließ. Wenn sie auch nicht mit dem Markus nach London ging — ich hätte nicht viel gegen den Umzug einzuwenden gehabt —, blieb sie dennoch bei Matzerath und sah Jan Bronski maßvoll gelegentlich, das heißt, in der Tischlergasse auf Jans Kosten und beim Familienskat, der Jan immer teurer wurde, weil er ständig verlor. Matzerath aber, auf den Mama gesetzt hatte, auf dem sie, des Markus Rat befolgend, ihren Einsatz, ohne ihn zu verdoppeln, liegen ließ, trat im Jahre vierunddreißig, also verhältnismäßig früh die Kräfte der Ordnung erkennend, in die Partei ein und brachte es dennoch nur bis zum Zellenleiter. Anläßlich dieser Beförderung, die wie alles Außergewöhnliche Grund zum Familienskat bot, gab Matzerath erstmals seinen Ermahnungen, die er Jan Bronski wegen der Beamtentätigkeit auf der polnischen Post schon immer erteilt hatte, einen etwas strengeren, doch auch besorgteren Ton.
Sonst änderte sich nicht viel. Über dem Piano wurde das Bild des finsteren Beethoven, ein Geschenk Greffs, vom Nagel genommen und am selben Nagel der ähnlich finster blickende Hitler zur Ansicht gebracht. Matzerath, der für ernste Musik nichts übrig hatte, wollte den fast tauben Musiker ganz und gar verbannen. Mama jedoch, die die langsamen Sätze der Beethovensonaten sehr liebte, zwei oder drei noch langsamer als angegeben auf unserem Klavier eingeübt hatte und dann und wann dahintropfen ließ, bestand darauf, daß der Beethoven, wenn nicht über die Chaiselongue, dann übers Büfett käme. So kam es zu jener finstersten aller Konfrontationen: Hitler und das Genie hingen sich gegenüber, blickten sich an, durchschauten sich und konnten dennoch aneinander nicht froh werden.
Nach und nach kaufte sich Matzerath die Uniform zusammen. Wenn ich mich recht erinnere, begann er mit der Parteimütze, die er gerne, auch bei sonnigem Wetter mit unterm Kinn scheuerndem Sturmriemen trug. Eine Zeitlang zog er weiße Oberhemden mit schwarzer Krawatte zu dieser Mütze an oder eine Windjacke mit Armbinde. Als er das erste braune Hemd kaufte, wollte er eine Woche später auch die kackbraunen Reithosen und Stiefel erstehen. Mama war dagegen, und es dauerte abermals Wochen, bis Matzerath endgültig in Kluft war.
Es ergab sich mehrmals in der Woche Gelegenheit, diese Uniform zu tragen, aber Matzerath ließ es mit der Teilnahme an sonntäglichen Kundgebungen auf der Maiwiese neben der Sporthalle genug sein. Hier erwies er sich jedoch selbst dem schlechtesten Wetter gegenüber unerbittlich, lehnte auch ab, einen Regenschirm zur Uniform zu tragen, und wir hörten oft genug eine Redewendung, die bald zur stehenden Redensart wurde. »Dienst ist Dienst«, sagte Matzerath, »und Schnaps ist Schnaps!« verließ, nachdem er den Mittagsbraten vorbereitet hatte, jeden Sonntagmorgen Mama und brachte mich in eine peinliche Situation, weil Jan Bronski, der ja den Sinn für die neue sonntägliche politische Lage besaß, auf seine zivil eindeutige Art meine verlassene Mama besuchte, während Matzerath in Reih und Glied stand.
Was hätte ich anderes tun können, als mich verdrücken. Es lag weder in meiner Absicht, die beiden auf der Chaiselongue zu stören,noch zu beobachten. So trommelte ich mich, sobald mein uniformierter Vater außer Sicht war und die Ankunft des Zivilisten, den ich damals schon meinen mutmaßlichen Vater nannte, bevorstand, aus dem Haus in Richtung Maiwiese.
Sie werden sagen, mußte es unbedingt die Maiwiese sein? Glauben Sie mir bitte, daß an Sonntagen im Hafen nichts los war, daß ich mich zu Waldspaziergängen nicht entschließen konnte, daß mir das Innere der Herz-Jesu-Kirche damals noch nichts sagte. Zwar gab es noch die Pfadfinder des Herrn Greff, aber jener verklemmten Erotik zog ich, es sei hier zugegeben, den Rummel auf der Maiwiese vor; auch wenn Sie mich jetzt einen Mitläufer heißen.
Es sprachen entweder Greiser oder der Gauschulungsleiter Löbsack. Der Greiser fiel mir nie besonders auf. Er war zu gemäßigt und wurde später durch den forscheren Mann aus Bayern, der Forster hieß und Gauleiter wurde, ersetzt. Der Löbsack jedoch wäre der Mann gewesen, einen Forster zu ersetzen.
Ja hätte der Löbsack nicht einen Buckel gehabt, wäre es für den Mann aus Fürth schwer gewesen, in der Hafenstadt ein Bein aufs Pflaster zu bekommen. Den Löbsack richtig einschätzend, in seinem Buckel ein Zeichen hoher Intelligenz sehend, machte ihn die Partei zum Gauschulungsleiter. Der Mann verstand sein Handwerk. Während der Forster mit übler bayrischer Aussprache immer wieder »Heim ins Reich« schrie, ging Löbsack mehr ins Detail, sprach alle Sorten Danziger Platt, erzählte Witze von Bollermann und Wullsutzki, verstand es, die Hafenarbeiter bei Schichau, das Volk in Ohra, die Bürger von Emmaus, Schidlitz, Bürgerwiesen und Praust anzusprechen. Hatte er es mit bierernsten Kommunisten und den lahmen Zwischenrufen einiger Sozis zu tun, war es eine Wonne, dem kleinen Mann, dessen Buckel durch das Uniformbraun besonders betont und gehoben wurde, zuzuhören.
Löbsack hatte Witz, zog all seinen Witz aus dem Buckel, nannte seinen Buckel beim Namen, denn so etwas gefällt den Leuten immer. Eher werde er seinen Buckel verlieren, behauptete Löbsack, als daß die Kommune hochkomme. Es war vorauszusehen, daß er den Buckel nicht verlor, daß an dem Buckel nicht zu rütteln war, folglich behielt der Buckel recht, mit ihm die Partei — woraus man schließen kann, daß ein Buckel die ideale Grundlage einer Idee bildet.
Wenn Greiser, Löbsack oder später Forster sprachen, sprachen sie von der Tribüne aus. Es handelte sich um jene Tribüne, die mir der kleine Herr Bebra angepriesen hatte. Deshalb hielt ich längere Zeit den Tribünenredner Löbsack, bucklig und begabt, wie ersieh auf der Tribüne zeigte, für einen Abgesandten Bebras, der in brauner Verkleidung seine und im Grunde auch meine Sache auf der Tribüne verfocht.
Was ist das, eine Tribüne? Ganz gleich für wen und vor wem eine Tribüne errichtet wird, in jedem Falle muß sie symmetrisch sein. So war auch die Tribüne auf unserer Maiwiese neben der Sporthalle eine betont symmetrisch angeordnete Tribüne. Von oben nach unten: sechs Hakenkreuzbanner nebeneinander. Dann Fahnen, Wimpel und Standarten. Dann eine Reihe schwarze SS mit Sturmriemen unterm Kinn. Dann zwei Reihen SA, die während der Singerei und Rederei die Hände am Koppelschloß hielten. Dann sitzend mehrere Reihen uniformierte Parteigenossen, hinter dem Rednerpult gleichfalls Pg's, Frauenschaftsführerinnen mit Müttergesichtern, Vertreter des Senates in Zivil, Gäste aus dem Reich und der Polizeipräsident oder sein Stellvertreter.
Den Sockel der Tribüne verjüngte die Hitlerjugend oder, genauer gesagt, der Gebietsfanfarenzug des Jungvolkes und der Gebietsspielmannszug der HJ. Bei manchen Kundgebungen durfte auch ein links und rechts, immer wieder symmetrisch angeordneter gemischter Chor entweder Sprüche hersagen oder den so beliebten Ostwind besingen, der sich, laut Text, besser als alle anderen Winde fürs Entfalten von Fahnenstoffen eignete.
Bebra, der mich auf die Stirn küßte, sagte auch: »Oskar, stelle dich niemals vor eine Tribüne.
Unsereins gehört auf die Tribüne!«
Zumeist gelang es mir, zwischen irgendwelchen Frauenschaftsführerinnen Platz zu finden. Leider unterließen es diese Damen nicht, mich während der Kundgebung aus Propagandazwecken zu Streichern. Zwischen die Pauken, Fanfaren und Trommeln am Tribünenfuß konnte ich mich meiner Blechtrommel wegen nicht mischen; denn die lehnte die Landsknechtpaukerei ab. Leider ging auch ein Versuch mit dem Gauschulungsleiter Löbsack schief. Ich täuschte mich schwer in dem Mann.
Weder war er, wie ich gehofft hatte, ein Abgesandter Bebras, noch hatte er, trotz seines vielversprechenden Buckels, das geringste Verständnis für meine wahre Größe.
Als ich ihm anläßlich eines Tribünensonntages kurz vor dem Rednerpult entgegentrat, den Parteigruß bot, ihn zuerst blank anblickte, dann mit dem Auge zwinkernd zuflüsterte: »Bebra ist unser Führer!« ging dem Löbsack nicht etwa ein Licht auf, sondern er streichelte mich genau wie die NS— Frauenschaft und ließ schließlich Oskar — weil er ja seine Rede halten mußte — von der Tribüne weisen, wo ihn zwei BdM-Führerinnen in die Mitte nahmen und während der ganzen Kundgebung nach »Vati und Mutti« ausfragten.
So kann es nicht verwundern, wenn mich die Partei schon im Sommer vierunddreißig, doch nicht vom Röhmputsch beeinflußt, zu enttäuschen begann. Je länger ich mir die Tribüne, vor der Tribüne stehend, ansah, um so verdächtiger wurde mir jene Symmetrie, die durch Löbsacks Buckel nur ungenügend gemildert wurde. Es liegt nahe, daß meine Kritik sich vor allen Dingen an den Trommlern und Fanfarenbläsern rieb; und im August fünfunddreißig ließ ich mich an einem schwülen Kundgebungssonntag mit dem Spielmanns-und Fanfarenzugvolk am Fuß der Tribüne ein.
Matzerath verließ schon um neun Uhr die Wohnung. Ich hatte ihm noch beim Wichsen der braunen Ledergamaschen geholfen, damit er rechtzeitig aus dem Haus kam. Selbst zu dieser frühen Tagesstunde war es schon unerträglich heiß, und er schwitzte sich dunkle, wachsende Flecken unter die Ärmel seines Parteihemdes, bevor er im Freien war. Punkt halb zehn stellte sich in luftig hellem Sommeranzug mit durchbrochenen, feingrauen Halbschuhen, einen Strohhut tragend, Jan Bronski ein.
Jan spielte ein bißchen mit mir, konnte aber beim Spiel die Augen nicht von Mama lassen, die sich am Vorabend die Haare gewaschen hatte. Recht bald bemerkte ich, daß meine Anwesenheit das Gespräch der beiden hemmte, ihr Handeln steif und Jans Bewegungen behindert wirken ließ. Offensichtlich wurde ihm seine leichte Sommerhose zu eng, und ich trollte mich davon, folgte den Spuren Matzeraths, ohne in ihm ein Vorbild zu sehen. Vorsichtig vermied ich Straßen, die voller in Richtung Maiwiese strebender Uniformierter waren, und näherte mich erstmals dem Kundgebungsfeld von den Tennisplätzen her, die neben der Sporthalle lagen. Diesem Umweg verdankte ich die Hinteransicht der Tribüne.
Haben Sie schon einmal eine Tribüne von hinten gesehen? Alle Menschen sollte man — nur um einen Vorschlag zu machen — mit der Hinteransicht einer Tribüne vertraut machen, bevor man sie vor Tribünen versammelt. Weir jemals eine Tribüne von hinten anschaute, recht anschaute, wird von Stund an gezeichnet und somit gegen jegliche Zauberei, die in dieser oder jener Form auf Tribünen zelebriert wird, gefeit sein. Ähnliches kann man von den Hinteransichten kirchlicher Altäre sagen; doch das steht auf einem anderen Blatt.
Oskar jedoch, der immer schon einen Zug zur Gründlichkeit hatte, ließ es mit dem Anblick des nackten, in seiner Häßlichkeit tatsächlichen Gerüstes nicht genug sein, er erinnerte sich der Worte seines Magisters Bebra, ging das nur für die Vorderansicht bestimmte Podest von der groben Kehrseite an, schob sich und seine Trommel, ohne die er nie ausging, zwischen Verstrebungen hindurch, stieß sich an einer überstehenden Dachlatte, riß sich an einem bös aus dem Holz ragenden Nagel das Knie auf, hörte über sich die Stiefel der Parteigenossen scharren, dann die Schühchen der Frauenschaft und kam endlich dorthin, wo es am drückendsten und dem Monat August am meisten gemäß war: vor dem inwendigen Tribünenfuß fand er hinter einem Stück Sperrholz Platz und Schutz genug, um den akustischen Reiz einer politischen Kundgebung in aller Ruhe auskosten zu können, ohne durch Fahnen abgelenkt, durch Uniformen im Auge beleidigt zu werden.
Unter dem Rednerpult hockte ich. Links und rechts von mir und über mir standen breitbeinig und, wie ich wußte, mit verkniffenen, vom Sonnenlicht geblendeten Augen die jüngeren Trommler des Jungvolkes und die älteren der Hitlerjugend. Und dann die Menge. Ich roch sie durch die Ritzen der Tribünenverschalung. Das stand und berührte sich mit Ellenbogen und Sonntagskleidung, das war zu Fuß gekommen oder mit der Straßenbahn, das hatte zum Teil die Frühmesse besucht und war dort nicht zufriedengestellt worden, das war gekommen, um seiner Braut am Arm etwas zu bieten, das wollte mit dabeisein, wenn Geschichte gemacht wird, und wenn auch der Vormittag dabei draufging.
Nein, sprach sich Oskar zu, sie sollen den Weg nicht umsonst gemacht haben. Und er legte ein Auge an ein Astloch der Verschalung, bemerkte die Unruhe von der Hindenburgallee her. Sie kamen!
Kommandos wurden über ihm laut, der Führer des Spielmannszuges fuchtelte mit seinem Tambourstab, die hauchten ihre Fanfaren an, die paßten sich das Mundstück auf, und schon stießen sie in übelster Landsknechtmanier in ihr sidolgeputztes Blech, daß es Oskar weh tat und »Armer SA-Mann Brand«, sagte er sich, »armer Hitlerjunge Quex, ihr seid umsonst gefallen!«
Als wollte man ihm diesen Nachruf auf die Opfer der Bewegung bestätigen, mischte sich gleich darauf massives Gebumse auf kalbsfellbespannten Trommeln in die Trompeterei. Jene Gasse, die mitten durch die Menge zur Tribüne führte, ließ von weit her heranrückende Umformen ahnen, und Oskar stieß hervor: »Jetzt mein Volk, paß auf, mein Volk!«
Die Trommel lag mir schon maßgerecht. Himmlisch locker ließ ich die Knüppel in meinen Händen spielen und legte mit Zärtlichkeit in den Handgelenken einen kunstreichen, heiteren Walzertakt auf mein Blech, den ich immer eindringlicher, Wien und die Donau beschwörend, laut werden ließ, bis oben die erste und zweite Landsknechttrommel an meinem Walzer Gefallen fand, auch Flachtrommeln der älteren Burschen mehr oder weniger geschickt mein Vorspiel aufnahmen. Dazwischen gab es zwar Unerbittliche, die kein Gehör hatten, die weiterhin Bumbum machten, und Bumbumbum, während ich doch den Dreivierteltakt meinte, der so beliebt ist beim Volk. Schon wollte Oskar verzweifeln, da ging den Fanfaren ein Licht auf, und die Querpfeifen, oh Donau, pfiffen so blau. Nur der Fanfarenzugführer und auch der Spielmannszugführer, die glaubten nicht an den Walzerkönig und schrien ihre lästigen Kommandos, aber ich hatte die abgesetzt, das war jetzt meine Musik. Und das Volk dankte es mir.
Lacher wurden laut vor der Tribüne, da sangen schon welche mit, oh Donau, und über den ganzen Platz, so blau, bis zur Hindenburgallee, so blau und zum Steffenspark, so blau, hüpfte mein Rhythmus, verstärkt durch das über mir vollaufgedrehte Mikrophon. Und als ich durch mein Astloch hindurch ins Freie spähte, doch dabei fleißig weitertrommelte, bemerkte ich, daß das Volk an meinem Walzer Spaß fand, aufgeregt hüpfte, es in den Beinen hatte: schon neun Pärchen und noch ein Pärchen tanzten, wurden vom Walzerkönig gekuppelt. Nur dem Löbsack, der mit Kreisleitern und Sturmbannführern, mit Forster, Greiser und Rauschning, mit einem langen braunen Führungsstabschwanz mitten in der Menge kochte, vor dem sich die Gasse zur Tribüne schließen wollte, lag erstaunlicherweise der Walzertakt nicht. Der war gewohnt, mit gradliniger Marschmusik zur Tribünegeschleust zu werden.
Dem nahmen nun diese leichtlebigen Klänge den Glauben ans Volk. Durchs Astloch sah ich seine Leiden. Es zog durch das Loch. Wenn ich mir auch fast das Auge entzündete, tat er mir dennoch leid, und ich wechselte in einen Charleston, »Jimmy the Tiger«, über, brachte jenen Rhythmus, den der Clown Bebra im Zirkus auf leeren Selterwasserflaschen getrommelt hatte; doch die Jungs vor der Tribüne kapierten den Charleston nicht. Das war eben eine andere Generation. Die hatten natürlich keine Ahnung von Charleston und »Jimmy the Tiger«. Die schlugen — oh guter Freund Bebra — nicht Jimmy und Tiger, die hämmerten Kraut und Rüben, die bliesen mit Fanfaren Sodom und Gomorrha. Da dachten die Querpfeifen sich, gehupft wie gesprungen. Da schimpfte der Fanfarenzugführer auf Krethi und Plethi. Aber dennoch trommelten, pfiffen, trompeteten die Jungs vom Fanfarenzug und Spielmannszug auf Teufel komm raus, daß es Jimmy eine Wonne war, mitten im heißesten Tigeraugust, daß es die Volksgenossen, die da zu Tausenden und Abertausenden vor der Tribüne drängelten, endlich begriffen: es ist Jimmy the Tiger, der das Volk zum Charleston aufruft!
Und wer auf der Maiwiese noch nicht tanzte, der griff sich, bevor es zu spät war, die letzten noch zu habenden Damen. Nur Löbsack mußte mit seinem Buckel tanzen, weil in seiner Nähe alles, was einen Rock trug, schon besetzt war, und jene Damen von der Frauenschaft, die ihm hätten helfen können, rutschten, weit weg vom einsamen Löbsack, auf den harten Holzbänken der Tribüne. Er aber — und das riet ihm sein Buckel — tanzte dennoch, wollte gute Miene zur bösen Jimmymusik machen und retten, was noch zu retten war.
Es war aber nichts mehr zu retten. Das Volk tanzte sich von der Maiwiese, bis die zwar arg zertreten, aber immerhin grün und leer war. Es verlor sich das Volk mit »Jimmy the Tiger« in den weiten Anlagen des angrenzenden Steffensparkes. Dort bot sich Dschungel, den Jimmy versprochen hatte, Tiger gingen auf Sammetpfötchen, ersatzweise Urwald fürs Volk, das eben noch auf der Wiese drängte. Gesetz ging flöten und Ordnungssinn. Wer aber mehr die Kultur liebte, konnte auf den breiten gepflegten Promenaden jener Hindenburgallee, die während des achtzehnten Jahrhunderts erstmals angepflanzt, bei der Belagerung durch Napoleons Truppen achtzehnhundertsieben abgeholzt und achtzehnhundertzehn zu Ehren Napoleons wieder angepflanzt wurde, auf historischem Boden also konnten die Tänzer auf der Hindenburgallee meine Musik haben, weil über mir das Mikrophon nicht abgestellt wurde, weil man mich bis zum Olivaer Tor hörte, weil ich nicht locker ließ, bis es mir und den braven Burschen am Tribünenfuß gelang, mit Jimmys entfesseltem Tiger die Maiwiese bis auf die Gänseblümchen zu räumen. Selbst als ich meinem Blech schon die langverdiente Ruhe gönnte, wollten die Trommelbuben noch immer kein Ende finden. Es brauchte seine Zeit, bis mein musikalischer Einfluß nachzuwirken aufhörte.
Dann bleibt noch zu sagen, daß Oskar das Innere der Tribüne nicht sogleich verlassen konnte, da Abordnungen der SA und SS über eine Stunde lang mit Stiefeln gegen Bretter knallten, sich Ecklöcher ins braune und schwarze Zeug rissen, etwas im Tribünengehäuse zu suchen schienen: einen Sozi womöglich oder einen Störtrupp der Kommune. Ohne die Finten und Täuschungsmanöver Oskars aufzählen zu wollen, sei hier kurz festgestellt: sie fanden Oskar nicht, weil sie Oskar nicht gewachsen waren.
Endlich war Ruhe im Holzlabyrinth, das etwa die Größe jenes Walfisches hatte, in welchem Jonas saß und tranig wurde. Nein nein, Oskar war kein Prophet, Hunger verspürte er! Es war da kein Herr, der sagte: »Mache dich auf und gehe in die große Stadt Ninive und predige wider sie!« Mir brauchte auch kein Herr einen Rizinusbaum wachsen lassen, den hinterher, auf des Herren Geheiß, ein Wurm zu tilgen hatte. Ich jammerte weder um jenen biblischen Rizinus noch um Ninive, selbst wenn es Danzig hieß. Meine Trommel, die nicht biblisch war, steckte ich unter den Pullover, hatte genug mit mir zu tun, fand, ohne mich zu stoßen oder an Nägeln zu reißen, aus den Eingeweiden einer Tribüne für Kundgebungen aller Art, die nur zufällig die Proportionen des prophetenschlingenden Walfisches hatte.
Wer achtete schon auf den kleinen Jungen, der da pfeifend und dreijährig langsam am Rand der Maiwiese in Richtung Sporthalle stiefelte? Hinter den Tennisplätzen hüpften meine Burschen vom Tribünenfuß mit vorgehaltenen Landsknechttrommeln, Flachtrommeln, Querpfeifen und Fanfaren.
Strafexerzieren, stellte ich fest und bedauerte die nach der Pfeife ihres Gebietsführers Hüpfenden nur mäßig. Abseits von seinem gehäuften Führungsstab ging Löbsack mit einsamem Buckel auf und ab.
An den Wendemarken seiner zielbewußten Laufbahn war es ihm, der auf den Stiefelabsätzen kehrtmachte, gelungen, alles Gras und die Gänseblümchen auszumerzen.
Als Oskar nach Hause kam, stand das Mittagessen schon auf dem Tisch: Falschen Hasen gab es mit Salzkartoffeln, Rotkohl und zum Nachtisch Schokoladenpudding mit Vanillesoße. Matzerath ließ kein Wörtchen hören. Oskars Mama war während des Essens mit den Gedanken woanders. Dafür gab es am Nachmittag einen Familienkrach wegen Eifersucht und polnischer Post. Gegen Abend bot ein erfrischendes Gewitter mit Wolkenbruch und wunderschön trommelndem Hagel eine längere Vorstellung. Oskars erschöpftes Blech durfte ruhen und zuhören.