13
Es war zehn Uhr dreißig am selben Abend. Der Polizei-Dienstwagen war auf der oberen Landstraße geparkt, die an den Crossford-Hügeln entlanglief, und von dort aus konnten Kerr und Judy über das erleuchtete Crossford und die Dunkelheit dahinter hinweg in der Ferne die Lichter von Fortrow sehen. Jenseits von Fortrow kreiste der weiße Strahl des Leuchtfeuers, das von dem Leuchtturm auf der Landspitze kam.
«Hast du eine Zigarette, John?» fragte sie.
Er gab ihr eine und riß ein Streichholz an. In dem kurzen Lichtschein sah er ihr Gesicht, schön und vielversprechend. Es mochte viel versprechen, aber es war ein Lügner.
Sie schmiegte sich an ihn. «Es war schön heut abend.»
Er fragte sich, ob sie sich insgeheim über ihn lustig machte. Das Essen war gut gewesen, die Rechnung nicht zu astronomisch, und er hatte voller Hoffnung das Restaurant verlassen. Als sie seinem Vorschlag, noch etwas zu den Crossford-Hügeln zu fahren, sofort zugestimmt hatte, waren seine Hoffnungen noch höher gestiegen. Aber sobald sie angelangt waren und außer Sichtweite der Landstraße geparkt hatten, hatte sie ihm keinen Zweifel darüber gelassen, wie trügerisch seine Hoffnungen waren.
Ein Wagen fuhr hinter ihnen vorbei; seine Scheinwerfer durchschnitten die Nacht, als er die Kurve auf dem Bergrücken nahm. Sie gähnte. «Ich glaube, wir sollten zurückfahren, John. Ich habe morgen einen sehr schweren Tag.»
Sie küßte ihn rasch – ein Trostschmatz, dachte er mißmutig –, dann rückte sie weg und setzte sich auf ihre Seite des Vordersitzes.
Er ließ den Motor an und fuhr aus dem natürlichen Versteck. Wenn er nur sicher wäre, ob sie ein Luder war oder nicht. Aber zweifellos konnte ein so hübsches Mädchen nicht einfach ein Luder sein. Und hatte sie nicht durchblicken lassen, daß sie beim nächsten Mal etwas freigebiger mit ihren natürlichen Reizen sein würde? Wenn die Nacht trocken und nicht zu kühl sei, und wenn er eine Decke habe … Sie hat sich nur deshalb gegen ihn gewehrt, weil sie die Unbedingtheit seines Verlangens erkannt hat. Die Macht ihrer gebändigten Leidenschaft erschreckt sie, aber jeder Widerstand hat sein Ende, und sie weiß, daß sie es erreicht hat. Mit gebrochener Stimme gesteht sie ihm, daß sie ihn in irrsinniger Raserei liebe, die stärker sei als alle höllischen Feuer …
«Habe ich dir erzählt, daß Norton Edwards neulich im Atelier war?» fragte sie.
Sie hatte es ihm schon wenigstens ein halbes dutzendmal erzählt. Edwards verdiente, wenn man der Presse glauben durfte, über dreißigtausend Pfund im Jahr.
«Er ist wirklich reizend.»
«Ja?»
«Er ist so natürlich. Er hat sich ganz natürlich mit mir unterhalten.»
«Wie großzügig von ihm.»
«Er könnte auch ganz hochgestochen sein. Viele sind es. Ein Sänger zum Beispiel, dessen Frau …»
Er hörte nicht mehr zu. Er durchquerte das Randgebiet von Crossford und bog in die Hauptstraße ein, die von dieser Stelle ab für eine Dreiviertelmeile parallel zum Fluß verlief. Am Ende dieser Strecke war eine Kreuzung, von der die Hauptstraße in einer Kurve über den Fluß führte. Die Verkehrsampeln standen auf Rot. Er bremste, hielt und sah zum Seitenfenster hinaus. Wenn er ein Fernsehstar mit einem Jahreseinkommen von dreißigtausend wäre, würde er sich vielleicht überhaupt nicht bemühen, sie auszuführen, denn dann hätte er ein Dutzend doppelt so schöner und doppelt so aufregender Frauen.
Der Querverkehr stockte eine Weile, und als er müßig die Wagenreihe entlang blickte, sah er Captain Leery in einem Austin. Leery schaute hastig weg. Da er allein im Wagen saß, fragte sich Kerr, weshalb er so nervös war.
«Findest du nicht, daß das fabelhaft von ihm war?» fragte Judy.
«Was?»
«John, hast du mir überhaupt zugehört?»
«Natürlich habe ich.» Er drehte sich hastig und sah sie an.
«Dann glaubst du also nicht, daß das fabelhaft von ihm war?»
«Ein wirklich großer Mann», gab er zur Antwort.
Der Querverkehr kam in Bewegung, und der Austin kreuzte vor ihnen. Leery schien zu zögern, sah Kerr aber dann direkt an, lächelte und winkte kurz mit der Rechten.
Die Lichter der Ampeln sprangen auf Grün. Kerr fuhr an und schaltete das rechte Blinklicht ein.
«Er meint, ich soll Probeaufnahmen fürs Fernsehen machen.»
Wie originell, dachte Kerr.
Nachdem der Polizeiarzt am folgenden Morgen Evans’ Tod festgestellt hatte – wohl kaum das, was man eine schwierige Diagnose nennen würde –, wurde die Leiche untersucht und dann von verschiedenen Sichtwinkeln aus fotografiert. Anschließend wurde sie auf eine Ladeplanke gelegt und von einem Kran aus dem Laderaum gehoben.
Der Inspektor kletterte vom unteren Laderaum zum oberen Zwischendeck, das Kerr auf Händen und Knien Zoll für Zoll absuchte. «Noch etwas?» fragte Fusil.
«Nichts, Sir, nur diese eine Stelle.»
Fusil rückte den tragbaren Scheinwerfer neben ihm etwas nach rechts, hockte sich auf seine Fersen und betrachtete den leichten Kratzer auf dem Stahldeck. Er war drei Zoll lang und stammte vermutlich von der Eisenkante von Evans’ rechter Schuhsohle. Es war eine Spur, die zu erwarten war, wenn es sich um einen Unfall handelte, wie es offensichtlich der Fall war. «Wissen Sie, ob sie mit den Fingerabdrücken auf der Taschenlampe fertig sind?»
«Alle Fingerabdrücke stammen von dem Toten, Sir.»
Der Inspektor stand auf und massierte sein rechtes Knie. «War die Whiskyflasche im Rauchsalon frisch geöffnet?»
«Ich glaube, Rowan hat das noch nicht klären können.»
«Sie haben gestern wegen eines entfernten Verdachts im Zusammenhang mit der Fahrerflucht mit Evans gesprochen?»
«Jawohl, Sir. Aber leider konnte ich der Sache nicht bis zu Ende nachgehen.»
Der Inspektor dachte resigniert, daß nie genug Zeit da war, um die Hälfte von dem zu tun, was getan werden mußte. «Wie war Evans, als Sie sich mit ihm unterhielten? Nüchtern?»
«Vollkommen.»
«Nichts Ungewöhnliches an ihm, außer daß Sie ziemlich sicher sind, daß er irgendwelche dunkle Geschäfte mit alten Tauen gemacht hat?»
«Richtig, Sir.»
Der Inspektor zuckte die Schultern. «Wer macht heutzutage nicht irgendein dunkles Geschäft?»
«Wenn dieser Lieferwagen in die Fahrerfluchtsache verwickelt ist, dann würde das immerhin erklären, warum der Fahrer nicht angehalten hat, nicht? Wenn irgend jemand die Anzahl der Taue nachkontrolliert hätte, wäre die Sache herausgekommen.»
Der Inspektor nickte. Er starrte in den Laderaum. Nach einer Weile sagte er: «Suchen Sie Captain Leery und fragen Sie ihn, was er dazu zu sagen hat, daß Evans unten im Laderaum war. Anschließend machen Sie mit der Fahrerfluchtsache weiter.»
Kerr kletterte nach oben, ging achtern zum Fallreep und hinab auf den Kai. Er fragte den Vierten Offizier, der beim Postsortieren war, wo er Leery finden könne, verließ die Docks und ging über die Straße zu einer Bushaltestelle. Er dachte, wie merkwürdig die Welt ist, wenn man sich an einem Tag mit einem Mann unterhält und sich am nächsten mit seiner zerschmetterten Leiche befassen muß.
Leery begrüßte ihn freundlich in seinem Kontor, und Kerr dachte, daß der Captain im Gegensatz zu Leuten auf weit weniger wichtigen Posten, nicht tat, als sei er Lord Muck, wenn er sich mit einem einfachen Detective Constable unterhielt. Kerr fragte ihn, ob er sich einen Grund vorstellen könne, aus dem Evans am späten Abend in den Laderaum Nummer 5 hinuntergestiegen sei.
«Ich sehe keinen. Die Luken werden geschlossen, wenn das Laden für den Tag beendet wird, und sie sollen geschlossen bleiben, bis die Arbeit wieder beginnt.»
«Könnte er die Ladung angezapft haben?»
«Bis jetzt ist die Ladung von Nummer 5 für Diebe kaum interessant. Es sind in der Hauptsache in Kisten verpackte Maschinen und Säcke mit Chemikalien.»
Als er mit seinen Notizen fertig war, sah er auf. «Wie viele Taue wurden gestern von der Sandacre an Land gebracht?»
«Taue? Was haben die mit Evans’ Tod zu tun?» Leerys Ton wurde scharf.
«Nichts, Sir. Sie haben was mit einer anderen Untersuchung zu tun. Wissen Sie, wie viele Taue ausgeladen wurden?»
«Zwei.»
«Wären Sie überrascht zu hören, daß es drei waren?»
«Ich … ich weiß nicht.» Leery bemühte sich, seine Verwirrung zu verbergen. «Die Ersten Offiziere betrachten alte Taue gewöhnlich als ihr Eigentum, auch wenn das Reglement etwas anderes vorschreibt. Aber selbst wenn er ein bißchen Gesellschaftseigentum verkauft hat, was hat das jetzt zu sagen, wo er tot ist?»
Kerr überhörte die Frage. «Wer kauft die Taue?»
«Irgendein Altwarenhändler.»
«Wollen Sie mir bitte Namen und Adresse dieses Altwarenhändlers geben?»
«Ich kenne sie nicht.»
«Aber Sie können sie doch sicher ausfindig machen?»
Leery wurde nervös. «Es war ein ganz formloses Übereinkommen, ich bin durchaus nicht sicher, ob ich den Namen erfahren kann.»
«So ganz formlos kann das Übereinkommen aber nicht gewesen sein, denn derselbe Lieferwagen hat die alten Taue der Sandstream abgeholt. Vielleicht erinnern Sie sich, Sie haben mit dem Fahrer gesprochen.»
«Hab ich … hab ich das getan?»
Kerr stand auf. «Vielen Dank für Ihre Hilfe, Sir.»
Leery gab keine Antwort.