KAPITEL 10
Offenburg, Deutschland

Linda trainierte gerade Liegestütze, als das Telefon klingelte. Keuchend nahm sie das Gespräch entgegen.

„Frau Pieroth, wie geht es Ihnen?“

„Gut, danke. Und Ihnen?“

„Ausgezeichnet. Abgesehen davon, dass ich zu viel arbeite, dafür zu wenig verdiene und es bislang bei meinem guten Vorsatz, mehr Sport zu treiben, geblieben ist.“ Dr. Benninger lachte lauthals ins Telefon. „Aber ich kenne keinen Naturwissenschaftler, dem es anders geht. Ich gebe Ihnen heute mein Dossier in die Post und dachte, Sie würden sich freuen, wenn ich Ihnen am Telefon eine Zusammenfassung gebe.“

Linda lächelte überrascht. „Natürlich. Das ist sehr nett von Ihnen. Ich hatte ehrlich gesagt noch nicht damit gerechnet. Mein Besuch liegt ja keine zwei Wochen zurück.“

„Ich habe ein paar langweiligere Projekte hintangestellt. Außerdem muss ich mich bei Ihnen bedanken. Schließlich haben Sie mir das Vergnügen beschert, mit einem außerordentlichen Gewehr ein paar Schüsse abzugeben. Das war eine willkommene Abwechslung. Mit Ausnahme des Blutergusses an meiner Schulter möchte ich diese Erfahrung nicht missen.“

„Sie haben sich verletzt?“

„Vor lauter Aufregung habe ich die Anweisung überhört, die Schulterstütze ordentlich gegen den Körper zu pressen. Ich dachte, mich tritt ein Pferd.“

„Das tut mir leid.“

„Halb so schlimm. Allein deshalb werde ich Sie nie mehr vergessen.“

Na, das war ja mal ein Kompliment, dachte Linda. „Was haben Sie herausgefunden?“

„Etwas sehr Interessantes. Sie hatten großes Glück, Frau Pieroth.“

Linda platzte beinahe vor Neugier. „Aus welchem Grund?“

„Die Legierung des Projektils verändert ihr Kolorit innerhalb von dreißig Stunden, wenn es zu einem Kontakt mit Wasser kommt. Das Holz wies einen Feuchtigkeitsgrad von vierundzwanzig Prozent auf. Wir haben Tests durchgeführt und festgestellt, dass man nach dem genannten Zeitraum kaum mehr einen zeitlichen Rückschluss anhand des Fortschritts der Korrosion gewinnen kann.“

Warum mussten sich Wissenschaftler immer so kompliziert ausdrücken? „Ich befürchte, dass ich Sie nicht ganz verstehe.“

„Es hätte keine Rolle gespielt, ob Sie das Geschoss drei oder dreißig Tage nachdem es abgefeuert wurde, gefunden hätten.“

„Sie meinen also, dass das Projektil weniger als einen Tag dort gesteckt hat?“

„Um es genau zu sagen, zwischen acht und maximal vierzehn Stunden.“

Linda lief es kalt den Rücken herunter. Also Freitag oder Samstag, dachte sie, während Benninger fortfuhr: „Ich nehme an, in der Nacht zuvor, weil ich nicht glaube, dass jemand am helllichten Tag mit so einem Ding in der freien Wildbahn herumballert.“

„Was meinen Sie mit freier Wildbahn, Dr. Benninger?“

„Frau Pieroth, in der Beschreibung Ihrer Schießanlage haben Sie doch von einer Hundertmeterbahn für den betreffenden Gewehrstand gesprochen?“

„Das ist richtig.“

„Das Geschoss wurde aus knapp zwei Kilometern Entfernung abgefeuert.“

„Wie bitte?“

„Genauer gesagt zwischen 1850 und 1980 Metern. Wir hatten keine Informationen über die Windverhältnisse bei Schussabgabe, daher die Ungenauigkeit, wenn Sie verzeihen.“

Linda dachte bereits darüber nach, wo sich der unbekannte Schütze aufgehalten haben könnte, und murmelte gedankenverloren: „Das ist schon in Ordnung.“

„Noch was, Frau Pieroth.“

„Ja.“

„Ich weiß zwar nicht genau, nach was oder wem Sie suchen, aber das Projektil hatte beim Eintritt ins Holz immer noch eine Energie von 980 Kilojoule.“

Linda wusste, was das hieß: Das Geschoss hätte trotz der Entfernung mit Leichtigkeit eine Kevlarweste der höchsten Schutzklasse durchschlagen. Unvorstellbar.

„Diese Waffe ist ein Teufelsding. Ich hoffe, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte. Alle Details finden Sie in meinem Bericht.“

„Vielen Dank.“

„Nichts zu danken. Sie können jederzeit auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen, wenn Sie in der Nähe sind. Ich würde mich freuen.“

Bloß nicht, dachte Linda und erinnerte sich an das scheußliche Gebräu in seinem Büro. „Darauf komme ich bei Gelegenheit gerne zurück“, schwindelte sie. „Ich wünsche Ihnen alles Gute, Dr. Benninger.“

„Viel Glück bei Ihren Ermittlungen. Ich glaube, Sie werden es brauchen.“

Das ist gut möglich, ging es ihr durch den Kopf, nachdem sie das Telefon beiseitegelegt hatte. Zweitausend Meter! Ich muss unbedingt herausfinden, von wo aus dieser Mistkerl geschossen hat. Wenn ich nur wüsste, wie.