KAPITEL 13
Miami/Reddick, Florida
Der Ferrari F 12 Berlinetta war einfach unglaublich. Jennifer Wesley hatte mit ihren achtundzwanzig Jahren noch nie das Vergnügen gehabt, einen derartigen Wagen zu fahren. Es war ein erhabenes Gefühl, knapp tausend Pferdestärken unter dem Hintern zu haben und zu sehen, wie die anderen Fahrzeuge zur Seite auswichen, wenn die Lichter des roten Flitzers im Rückspiegel auftauchten.
Jenny brauste mit hundertdreißig Meilen die Stunde über die Interstate und befand sich bereits auf halber Strecke zwischen dem Flughafen in Tampa und ihrem Ziel. Wenn es nach mir ginge, dürfte die Fahrt ruhig länger dauern, dachte sie. Zwischendurch trat sie das Gaspedal bis aufs Bodenblech durch, dann stürmte der Wagen nach vorn wie ein wilder Mustang, begleitet vom wütenden Aufheulen eines Hornissenschwarms unter der Motorhaube. Aber der Verkehr und die Sorge, von einer Polizeistreife erwischt zu werden, brachten sie regelmäßig zur Vernunft. Außerdem hatte sie einen lukrativen Auftrag zu erledigen.
Im CD-Player steckte Bruce Springsteens Album Working On a Dream. Jenny mochte den Oscar-Preisträger und zwanzigfachen Grammy-Gewinner, der wie sie aus New Jersey stammte. My Lucky Day! Die Surroundanlage war der Hammer! Yeah, Bruce, dies ist definitiv mein Tag. Seit dem Anruf am Morgen schwebte sie auf Wolke sieben, und dazu noch der rote Flitzer mit dem cavallino rampante auf dem Lenkrad, das Logo des legendärsten Automobilherstellers auf diesem Planeten.
„Du kennst dich doch mit Pferden aus?“, hatte sich Jacqueline, die Geschäftsführerin der Agentur, erkundigt. Natürlich tat sie das. Ihr Vater züchtete sein ganzes Leben lang Araberhengste auf einer Farm in Medford. Bis sie als Zweiundzwanzigjährige nach dem Highschool-Abschluss und ein paar langweiligen Jobs von zu Hause ausgezogen war, hatten die liebenswerten Vierbeiner und der dazugehörige Jetset ihren Lebensalltag bestimmt.
„Kann sein, dass du den Jackpot geknackt hast, meine Liebe“, meinte Jacqueline und gab ihr eine Telefonnummer.
Der Mann, den sie daraufhin angerufen hatte, war freundlich und zuvorkommend gewesen. Seine Stimme klang so sexy wie die von Keanu Reeves.
Ob die Anspielung in ihrer Sedcard, man könne mit ihr Pferde stehlen, nur symbolisch gemeint sei und sie sich einen speziellen Auftrag vorstellen könne, hatte er gefragt.
„Ich bin mit Pferden aufgewachsen, und meine Aufträge sind immer speziell, Mister.“
Jennifer fand nichts Außergewöhnliches an seinen Wünschen. Vermutlich arbeitete er als Privatdetektiv für die Ehefrau dieses McDermot. So hatte es jedenfalls geklungen. Ihr war das egal, spätestens nachdem ihr der unbekannte Anrufer die Höhe des Honorars genannt hatte: achtzigtausend Dollar plus Spesen. Dazu der Luxus mit dem Ferrari. So viel kostete ein entsprechender Escort-Service für einen ganzen Monat, was seit Beginn der Bankenkrise vor ein paar Jahren höchst selten geworden war.
Einmal hatte sie sich auf einen dreiwöchigen Auftrag mit einem Ölscheich eingelassen. Zuerst hieß es, sie solle ihn auf Geschäftsreisen begleiten, mit ihm essen gehen und kulturelle Veranstaltungen besuchen, mehr nicht. Auf seinem Landsitz in Saudi-Arabien angekommen, stellte sich heraus, dass er darauf aus war, sie beim Sex mit anderen Männern zu beobachten. Angewidert erinnerte sie sich an jene beiden Abende, an denen sie gefürchtet hatte, nie mehr nach Hause zu kommen, und den brutalen Praktiken der Männer hilflos ausgeliefert gewesen war. Dieses Erlebnis hatte dazu geführt, dass sie sich auf amerikanische Männer spezialisiert hatte, am liebsten sogar ältere, die häufig gar keine Körperlichkeiten verlangten. Und gepflegt mussten sie sein. Jennifer betrachtete zuerst die Fingernägel eines Mannes und, wenn er nackt war, seine Füße. Wer nachlässig mit seinem Körper umging, hatte keine Chance bei ihr, nicht einmal für ein Dinner oder einen Theaterbesuch, egal, welches Honorar dafür vereinbart worden war. Es war mehr als einmal vorgekommen, dass sie auf der Stelle kehrtgemacht hatte und ein Date platzen ließ. Diese Konsequenz, gepaart mit einer außergewöhnlichen Empathie gegenüber ihren Kunden, ihre (nach amerikanischen Vorstellungen) Traummaße von 95-62-85 bei einer Körpergröße von eins vierundsiebzig und ihr kindliches Aussehen bescherten ihr seit Jahren einen exklusiven Kundenkreis samt gutem Einkommen. Dass sie ab und an einfach nur die Beine breit machen musste, gehörte zum Geschäft. In zwei Jahren würde sie damit Schluss machen und irgendetwas anderes tun.
Jenny trat das Gaspedal durch und überholte einen Truck. Die
Beschleunigung presste sie mit einem Vielfachen ihres
Körpergewichts in den Fahrersitz. Mann,
ist das geil! Der Wagen und der bevorstehende Auftrag
verliehen ihr das Gefühl, in geheimer Mission unterwegs zu sein,
ein weiblicher James Bond. Bei dem Gedanken lächelte sie. Hatte sie
nicht immer davon geträumt, in einer Kinoproduktion mitzuwirken? Am
Steuer des Ferraris fühlte sich die Realität besser an wie jeder
Traum. Working On a Dream.
Yeah, Bruce – ich lebe gerade meinen
Traum!
***
Nach der soundsovielten Entschuldigung war McDermot endlich eingeschlafen. Jennifer Wesley löste sich vorsichtig aus seiner Umarmung und setzte sich gerade auf die Bettkante. Jetzt kam der spannende Teil des Abends.
Bislang war alles nach Plan verlaufen. Bereits auf der Zufahrt zur Ranch war es ihr ohne großes Zutun gelungen, den Securitys den Kopf zu verdrehen. Sie sei zu Besuch bei einer Freundin in Orlando und interessiere sich für ein Pferd. Der zuständige Wachmann verlangte nicht einmal ihren Ausweis. Wenige Minuten später öffnete ihr der Milliardär höchstpersönlich die Wagentür. McDermot hofierte sie den gesamten Nachmittag und führte sie über das Gelände. Schließlich lud er sie zum Abendessen in sein Clubhaus ein. Jenny kannte die Gepflogenheiten solcher Gesellschaften, zeigte sich selbstbewusst und tischte ihrem Gastgeber eine Geschichte auf, die er nicht ein einziges Mal kritisch hinterfragte. Es war leicht, ihn nach dem After-Dinner-Drink zu verführen, und glücklicherweise klappte es bei ihm nicht. So blieb ihr dieser Teil des Abends erspart. Sie musste nicht einmal den Slip ausziehen. Braden streichelte über eine Stunde ihre Brüste und machte ihr Komplimente. Er kam ihr wie ein Baby vor, das viel zu früh von der Brust der Mutter entwöhnt worden war. Einfach lächerlich, diese Superreichen, dachte sie mit einem Anflug von Verachtung.
Jetzt streifte sie sich einen Morgenmantel über und ging zur Toilette. McDermot hatte sein Smartphone in die oberste Schublade eines antiken Sekretärs aus Mahagoni gesteckt. Das Problem war, dass er ein zweites Mobiltelefon besaß, das ihr Auftraggeber nicht erwähnt hatte. Egal, dachte sie. Jetzt kümmere ich mich erst mal um das iPhone. Jennifer trat auf leisen Sohlen in den Flur, öffnete die betreffende Schublade und ging zurück ins Bad. Dann wählte sie mit ihrem eigenen Gerät die angegebene Mobiltelefonnummer. Nach dem dritten Klingeln legte sie rasch auf. Wenige Sekunden später leuchtete das Display des Apple-Geräts. Sie kümmerte sich nicht um den Text der Einverständniserklärung und bestätigte die Anfrage. Entgegen ihrer Anweisung, erneut einen Rückruf zu tätigen, tippte sie eilig eine SMS an ihren Auftraggeber: JOB ERLEDIGT, MCDERMOT BESITZT EIN WEITERES HANDY: MODELL NOKIA 8800 – WAS SOLL ICH TUN?
Die Antwort erfolgte prompt: RUFEN SIE MICH, WENN ES GEHT, MIT DIESEM GERÄT AN – ANSCHLIESSEND DIESELBE PROZEDUR.
Jenny schlich zurück in den Flur, verstaute das iPhone wieder an seinem Platz und durchsuchte Bradens Manteltaschen. In diesem Moment drang ein lautes Schnaufen aus dem Schlafzimmer. Jennifer erstarrte vor Schreck. Eine Bettfeder knarrte. Der Alte drehte sich auf die Seite.
Was mache ich, wenn er aufwacht?
Gespannt hielt sie den Atem an. Endlose Minuten später gingen die Atemgeräusche wieder in ein regelmäßiges Schnarchen über. Jennifer fasste sich an die Brust. Gott sei Dank! Endlich fand sie das gesuchte Luxus-Handy und ging zurück zur Toilette. Verdammt!
SORRY – DIE TASTATURSPERRE IST AKTIVIERT!
Dieses Mal dauerte die Antwort länger: 4-1-7-8.
Jennifer gab die Ziffern ein. Es funktionierte. Wie konnte ihr Auftraggeber das wissen? Sie wählte die Rufnummer, die sie inzwischen auswendig kannte. Kurz danach erschien eine ähnliche Meldung wie zuvor auf dem iPhone. Jennifer drückte OK, wählte mit ihrem eigenen Gerät abermals den Anschluss des Unbekannten und legte wieder auf. Sie hatte das Nokia bereits wieder in McDermots Mantel verstaut, als sie erneut eine SMS auf ihrem eigenen Gerät erhielt: GROSSARTIG! SIE KÖNNEN DEN WAGEN BIS SONNTAG BEHALTEN UND BEI JEDER SUNNYCARS FILIALE – Z.B. IN MIAMI – ABGEBEN.
Jennifer schmunzelte. Das war ein Wort.
Sie schrieb eine kurze Antwort und drückte auf Senden. Postwendend erhielt sie die Nachricht, dass der Versand missglückt sei. Sie probierte es ein zweites Mal, mit demselben Ergebnis. Merkwürdig. Sie ging zurück ins Bad und wählte die Nummer. Anstelle des Freizeichens erklang eine Computerstimme: „Die von Ihnen angewählte Rufnummer ist leider nicht vergeben – Die von Ihnen …“
Jenny drückte die Austaste. Seltsam, dachte sie. Dann ging sie zurück ins Schlafzimmer, schnappte Decke und Kissen und machte es sich auf einer Chaiselongue bequem. Nach dem Frühstück würde sie verschwinden, so lautete die Abmachung mit dem Unbekannten. McDermot würde sie nie wiedersehen.
Aber wer war nur dieser Keanu-Reeves-Typ?