KAPITEL 6
Drei Wochen später war der Hornriegel vollständig verblüht; trockene Blütenblätter bedeckten nun den Rasen vorm Haus meiner Eltern wie ein Teppich. Mac stützte mich am Ellbogen, während wir über den Weg vom Haus zur Straße gingen, obwohl das eigentlich nicht nötig war. Die Schmerzen in meinem Bauch waren schwächer geworden; meine Muskeln fühlten sich nicht mehr an, als würden sie gleich reißen, sobald ich mich zu schnell bewegte. Dennoch ließ ich mir von ihm helfen, weil er sich besser zu fühlen schien, wenn er etwas für mich tun konnte. Als ich mich auf dem Vordersitz seines Wagens niederließ – ein grüner Mini mit schwarz-weißem Schachbrettmuster auf dem Dach und zwei Rallyestreifen auf der Haube –, blieb er so lange neben der geöffneten Autotür stehen, bis er sicher war, dass ich es bequem hatte. Mac war noch größer als ich, trotzdem hatten wir beide genug Platz im Mini.
Es war später Nachmittag, fast schon Rushhour, deshalb fuhren wir über die Landstraßen von Montclair nach Maplewood. Ich wollte an diesem Wochenende nach New York zurückkehren und hatte mich bereit erklärt, vor meiner Abreise noch an einer Abschlussbesprechung im Revier der Sonderkommission teilzunehmen. Mir graute zwar davor, ich hielt es aber für meine Pflicht, den Kollegen so weit wie möglich zu helfen, insbesondere, da es bisher keinerlei Fortschritte in dem Fall gab. JPPs Domino-Rätsel war noch nicht entschlüsselt worden, und es gab auch keine glaubwürdigen Hinweise darauf, dass man ihn irgendwo gesehen hatte.
Wir kamen im Zentrum des Städtchens an und fuhren langsam am Kino vorbei, an dem kleinen Lebensmittelladen, einem Café, ein paar Spirituosengeschäften und einer Handvoll Restaurants. Maplewood war eine nette, freundliche und familienorientierte Stadt, in der es jährliche Paraden und gute öffentliche Schulen gab, die man von den meisten Häusern aus zu Fuß erreichen konnte. Es war die Geburtsstätte von Ultimate Frisbee und Golf-Tee. Und das allein, so meinte mein Bruder Jon, als er und Andrea sich hier ein Haus kauften und Manhattan entflohen, war schon Grund genug herzuziehen. Jackson und ich taten es ihnen gleich und kauften uns auch ein Haus hier. Als ich es nach den Morden zum Verkauf anbot, war es innerhalb eines Tages vom Markt. Das der Aldermans, ebenfalls in Maplewood, stand noch immer leer, weil das Nachlassgericht noch keine Entscheidung über seine weitere Zukunft gefällt hatte.
Das neue Revier lag zusammen mit dem Gericht kurz vor der Stadt in einem Gebäude an der Springfield Avenue. Wir hielten auf dem Parkplatz, den die Behörden sich mit der Kirche nebenan teilten.
«Hübsch», sagte ich, während wir über den Fußweg auf den Eingang des Rotklinkerbaus zugingen. Wenn ich die Polizei nicht verlassen hätte, wäre das nun mein Arbeitsplatz gewesen. Wir stiegen fünf Stufen hinauf, gingen unter einem breiten Bogen hindurch, und Mac führte mich durch eine Drehtür. Als ich den modernen Palast dahinter erblickte, den sich Polizei und Justiz errichtet hatten, musste ich erst einmal stehen bleiben. «Ist der Boden etwa aus Glas?» Durch die durchsichtigen Blöcke konnte ich unscharf Fitnessgeräte im Keller erkennen.
«Ja, so haben wir auch da unten Tageslicht. Das ganze Haus ist nach ökologischen Gesichtspunkten errichtet worden.»
Er führte mich zu einem Fahrstuhl, und wir schwebten in den zweiten Stock hinauf. Das neue Revier besaß zwei Konferenzräume, von denen einer auf Dauer unserer Sonderkommission zugeteilt worden war. Eine Glaswand trennte ihn vom Korridor; ich schaute von draußen hinein, erstaunt über das, was ich dort sah.
Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie es bei meiner Sonderkommission gewesen war: viele Überstunden, gemeinsames Brainstorming, unser unglaubliches Engagement bei der Suche nach JPP. Damals hatte ich begriffen, was der vielzitierte Spruch von Blut, Schweiß und Tränen bedeutete. Von den ursprünglichen Mitgliedern der Kommission hatte niemand sich je entspannt gefühlt oder erholt ausgesehen. Egal ob wir Hunger hatten oder erschöpft waren, wir arbeiteten weiter. Unser Raum war schmutzig. Wir waren schmutzig. Und so besessen, dass es für einen neuernannten Detective wie mich ganz ungewohnt und aufregend war.
Was ich jetzt vorfand, war etwas völlig anderes. Ich hatte mit dem neuen Raum, den neuen Möbeln und der frischen Farbe gerechnet. Und wie erwartet hingen auch die alten Tatortfotos in all ihrer tragischen Grausamkeit an den neuen Wänden. Doch anstelle der zwei Dutzend Ermittler, die der ursprünglichen Sonderkommission angehört hatten, arbeiteten hier nur drei Leute. Sie wirkten zu entspannt. Zu sauber. Zu erholt. Jeder von ihnen starrte auf einen Computer und tippte auf der Tastatur vor sich hin. Einen Augenblick lang vermutete ich, dass die Mehrheit des Teams wohl gerade mit Ermittlungen beschäftigt und deshalb nicht anwesend war. Aber Mac hatte mir gesagt, die versammelte Sonderkommission freue sich schon darauf, mich kennenzulernen, und nun ging mir auf, dass das, was ich dort durch die Glaswand sah, alles war.
«Der Typ da», Mac deutete auf einen Mann mit dunklem Teint, der wie die anderen vor einem PC saß, «das ist Alan.» Sein nicht mehr ganz neuer Partner. «Ich glaube, den hast du noch nicht kennengelernt.»
Hatte ich nicht.
Mac legte die Hand auf den Türknopf, wollte mir voran hineingehen.
«Warte mal kurz», sagte ich. «Wo steckt der ganze Rest?»
«Es gab Kürzungen, wir sind jetzt nur noch eine kleine Kerngruppe. Die anderen sind von dem Fall abgezogen worden.»
«Abgezogen worden?»
«Wir führen das Ganze jetzt eher als virtuelle Ermittlung durch, weil wir zu diesem Zeitpunkt nicht davon ausgehen, dass JPP irgendwo da draußen sein Gesicht zeigen wird. Falls er in Erscheinung tritt, dann höchstens im Netz, und dort versuchen wir ihn aufzuspüren. Er könnte sogar tot sein, Karin, falls die Scharfschützen ihn erwischt haben, was durchaus möglich ist. Auch der Chief und der Bürgermeister sind sich dessen bewusst, und das hat im Endeffekt dazu geführt, dass sie uns den Etat zusammengestrichen haben, nur für den Fall, dass wir einem Phantom hinterherjagen.»
Ich traute meinen Ohren nicht. Und das auch noch von Mac! «Aber er könnte genauso gut noch leben, und ihr solltet euch alle gewaltig ins Zeug legen, um ihn zu schnappen. Er ist ein Domino-Junkie. Sucht bei irgendwelchen Spieleturnieren nach ihm! Das liegt doch auf der Hand.»
«Du hast ja recht. Ich und Billy Staples in New York sind deiner Meinung. Aber ohne die entsprechenden Gelder …» Er verstummte, doch ich konnte mir den Rest auch so denken: können wir leider nicht viel ausrichten.
Ich trat zurück von der Glaswand, damit man mich drinnen nicht sah. Ich würde da nicht hineingehen. «Wie konnte man den Fall nur so weit aufgeben?»
«Die Kürzungen sind gerade erst vorgenommen worden, und wir versuchen irgendwie damit klarzukommen.» Das Beben in seiner Stimme verriet, wie sehr er sich bemühte, ruhig, kühl und rational zu bleiben. «Uns schwirrt noch ganz schön der Kopf, um ehrlich zu sein. Ich wusste nicht, wie ich dir beibringen soll, dass man von offizieller Seite einen Gang runtergeschaltet hat.»
«Das ergibt alles keinen Sinn.»
Macs Stimme wurde hart. «Und ob das Sinn ergibt. Die Stadt hat sich bei den Ausgaben für das neue Gebäude übernommen und musste deshalb an weniger wichtigen Stellen sparen.»
«Seit wann ist es denn nicht mehr wichtig, einen Serienmörder zu fassen, der die Bürger in Angst und Schrecken versetzt?»
Er schüttelte den Kopf, schwieg dazu, weil es keine vernünftige Antwort auf diese Frage gab. Es war einfach nur Pech.
Ich drehte mich um und ging zurück zum Fahrstuhl. Hinter mir hörte ich Macs vom Teppich gedämpfte Schritte. In meinem Zorn hatte ich Angst, dass ich auf ihn losgehen würde, obwohl mir bewusst war, dass er nichts dafürkonnte. Mac verteilte hier nicht das Geld. Trotzdem war er Teil dieses … unglaublichen Behördenwahnsinns! Solche Gefühle oder Gedanken hatte ich mir noch nie zuvor gestattet. Dafür packte die Wut mich jetzt umso heftiger.
Während ich auf den Fahrstuhl wartete, verlor ich die Beherrschung. «Will man hier neuerdings Gewinne erwirtschaften?»
«Das ändert sich auch wieder.»
«Wer sind diese Bürohengste da drinnen?»
Er antwortete nicht. Der Fahrstuhl kam und brachte uns nach unten. Mac folgte mir aus dem megateuren Ökowunder hinaus an die frische, echte, freie Luft. Die Sonne war verschwunden, stattdessen türmten sich Wolken am Himmel. Ich war auf dem Weg zum Wagen, als Mac mich einholte und beim Arm nahm. Ich schüttelte seine Hand ab.
«Karin, jetzt warte doch mal. Bleib stehen.»
Das tat ich zwar, drehte mich aber nicht um. Er stellte sich vor mich. Zwang mich, ihn anzuhören.
«Du hast vergessen, wie es war, hier zu arbeiten. Das sind gute Leute mit einem schrecklich belastenden Job. Und Geld hat immer eine Rolle gespielt. Wir mussten vorher auch zusehen, dass wir damit klarkamen – am einen Tag wird die SOKO zusammengestrichen, am nächsten wieder aufgestockt. Dieses ewige Auf und Ab gab es doch auch früher.»
«Daran kann ich mich nicht erinnern.» Hatte er vielleicht recht? Die Arbeit bei der Polizei war für mich schon so unendlich weit weg. Hatte mein eigenes Unglück mich vergessen lassen, mit welchen alltäglichen Problemen sie zu kämpfen hatten?
«Es hat sich nichts verändert», sagte Mac. «Bis auf das Gebäude. Sonst nichts.»
«Ich weiß nicht, Mac. Es war schrecklich da drinnen.»
«Da drinnen ist es immer schrecklich, Karin, wenn nicht auf die eine, dann auf die andere Art. Wir sind hinter einem Serienmörder her und schaffen es einfach nicht, ihn zu schnappen.»
«Können wir bitte fahren?»
Wir stiegen ein. Mac steuerte den Wagen vom Parkplatz und auf die Straße. Andrea hatte mich und meine Eltern zum Essen eingeladen, und Mac sollte mich bei ihr absetzen. Ich hatte überlegt, ob ich ihn dazubitten sollte, war jetzt aber nicht mehr sicher, ob ich das noch wollte.
«Du darfst nicht vergessen, dass Martin Price’ Foto in jedem Postamt im ganzen Land hängt. Außerdem suchen wir ihn über Internet, Zeitungen, Fernsehen. America’s Most Wanted hat vor zwei Wochen den Beitrag über ihn wiederholt, mit allen neuen Informationen zu dem Fall. Weißt du, wie viele Leute sich die Sendung ansehen?»
«Keine genauen Zahlen.»
«Millionen. Das heißt, dass die Straßen voller Menschen sind, die sich sein Gesicht gemerkt haben. Millionen Augen, die nach ihm Ausschau halten. Deshalb ist es wirklich nicht verkehrt, sich im Moment auf die Suche im Netz zu konzentrieren. Weshalb sollte er unter diesen Umständen auch nur einkaufen gehen, geschweige denn bei irgendwelchen Turnieren auftauchen?»
«Weil er ein kranker Kontrollfreak und von Spielen besessen ist?»
«Vielleicht, aber glaubst du nicht auch, dass er sich lieber versteckt und sich den Spielkick online holt?»
«Okay, Mac. Möglicherweise hast du da recht. Aber man kann sich ja trotzdem woanders umsehen.»
Damit waren wir wieder am Ausgangspunkt der Diskussion. Während ich neben Mac im Wagen saß, fühlte ich mich mit ihm einsamer als je zuvor. Dabei war er der Mensch, dem ich neben meinem Bruder, meiner Therapeutin und meiner Mutter mehr als jedem anderen vertraute. Ich spürte, wie mich wieder eine Welle der Verzweiflung zu erfassen drohte. Joyce’ Buch über das Glück hatte mich stetig daran gemahnt, dass Gefühle nicht die Realität widerspiegeln, dass der wahre Weg im Verborgenen liegt und man verborgene Wege immer nur durch Zufall entdeckte. Oberflächliche Wohlfühlphrasen, um von Kummer und Elend abzulenken. Sie gaukelten einem vor, dass man sich jederzeit eine Atempause gönnen konnte. Konnte man nicht. Es gab keine Atempausen und auch keine Rettung. Ich war schon gespannt, was Joyce dazu sagen würde, wenn ich ihr bei unserer nächsten Therapiestunde von dieser neuen Erkenntnis berichtete.
Damit Mac nicht bemerkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, drehte ich den Kopf weg und schaute aus dem Beifahrerfenster, während wir zum Haus meines Bruders in der Walton Avenue fuhren.
Lauter gewissenhaft gemähte Rasenflächen vor hübschen Häusern, in denen glückliche Familien lebten. Eine neben der anderen. So viele glückliche Familien, die an uns vorüberflogen wie ein Traum, der für mich unerreichbar blieb. Es war eine Welt, aus der ich auf ewig ausgeschlossen war. Ich sehnte mich danach, dorthin zurückzukehren. Doch für mich war es zu spät. Nachdem man mich nun wieder zusammengeflickt hatte und meine Wunden heilten, wollte ich einfach nur noch aufhören zu kämpfen. Aufgeben. Mich von ihm finden lassen. Ich schloss die Augen und betete, dass Mac den Wagen vor die Wand fuhr. Dann betete ich, dass er es nicht tat … denn er war gerade in die Straße gebogen, wo Jon und Andrea wohnten … und draußen vor ihrem Haus spielte Susanna. Sie trug ein gelbes Sommerkleidchen, ein ganz ähnliches hatte ich Cece einmal gekauft, schob ihren Puppenwagen hin und her und wartete auf mich.
Auf der anderen Straßenseite war wie immer der Van mit dem Überwachungsteam geparkt. Im Haus meines Bruders, genau wie in dem meiner Eltern und jetzt auch in meiner Wohnung in Brooklyn, hatte man JPP eine elektronische Falle gestellt, in die er tappen sollte, falls er sich in die Nähe wagte. Jetzt, da ich wusste, wie sehr die verkleinerte SOKO sich auf JPPs Spuren im Internet konzentrierte, bekam ich ein mulmiges Gefühl angesichts dieser Vorkehrungen. Schnurlose Kameras und Kommunikationsanlagen, die unsichtbar an ein Alarmsystem angeschlossen waren. Das reichte nicht.
Meine Eltern saßen im Vorgarten auf weißen Plastikstühlen und sahen Susanna beim Spielen zu, als Mac und ich in die Einfahrt fuhren. Sie sah wirklich hinreißend aus in dem gelben Kleid, wie sie mit dem Puppenwagen über den unebenen Rasen flitzte. Ein unerwarteter Ruck, und ihre Puppe fiel ins Gras. Susanna hob sie an einem Arm hoch und beförderte sie zurück in den Wagen. Dann bemerkte sie, dass wir da waren, und schaute herüber. Bei meinem Anblick lächelte sie fröhlich. Meine Eltern winkten zur Begrüßung. Mac und ich winkten zurück, machten aber beide keine Anstalten auszusteigen.
«Versuch die Sache mit der SOKO zu vergessen», sagte er. «Lass das meine Sorge sein.»
Der Himmel verfinsterte sich plötzlich. «Es fängt an zu regnen», sagte ich und öffnete den Gurt.
Meine Mutter lief quer über den Rasen hinter Susanna her und schnappte sie sich samt Puppe und Wagen. «Komm rein!», hörte ich sie meinem Vater zurufen, der noch immer auf seinem Plastikstuhl saß, als die ersten Tropfen fielen. Während die drei sich ins Haus zurückzogen, hörten wir den ersten Donnerschlag.
«Ich hätte dich nicht dorthin bringen dürfen», sagte Mac. «Mir hätte klar sein müssen, dass es dich aufregt.»
Ich drehte mich zu ihm und schaute ihn an. «Ich bin nicht sauer auf dich, Mac.» Jedenfalls nicht mehr, sollte das heißen. Er saß noch immer angeschnallt da und starrte geradeaus zur Windschutzscheibe, auf die der Regen jetzt heftig niederprasselte. Etwas berührte mich daran, wie versteinert und einsam er wirkte. Auf der einen Seite hatte sein Kragen sich hochgewölbt, und ich klappte ihn herunter. Ich wollte, dass Mac mich ansah.
«Auf dem Rücksitz liegt ein Schirm», sagte er und schaute zu mir. Seine Augen wirkten jetzt dunkler, weil die Gewitterwolken die Sonne vertrieben hatten. Einen Augenblick lang saßen wir da und schauten einander an. Dieser Mann war so gut zu mir gewesen und dabei weit über seine Pflichten als Polizist hinausgegangen.
«Und was hast du jetzt gleich noch vor?», fragte ich.
«Ich fahre heim.»
«Von wegen.» Ich griff nach dem langen Schirm auf dem Rücksitz. «Du isst mit uns zu Abend.»
«Das ist nett von dir, Karin, aber ich bin müde und …»
«Das war kein Angebot.»
Dank seiner feinen Lachfältchen um die Augen schien sich Macs ganzes Gesicht zu erhellen. Ich fragte mich, wie er das anstellte: zu lächeln, ohne zu lächeln. Wie konnte seine bald geschiedene Frau Val diesen wunderbaren Mann verlassen? Aber man wusste eben nie, was in einer fremden Ehe wirklich vorging.
«Macht das deiner Familie denn nichts aus?»
«Die haben dich praktisch eingeladen.» Alle in meiner Familie mochten Mac. Ich wusste, dass sie sich über seinen Besuch freuen würden.
«Praktisch?»
«Komm schon.» Ich öffnete die Wagentür auf meiner Seite und hielt erst einmal den Schirm nach draußen. Dann stieg ich aus und ging mit ihm zur Fahrertür. Mac und ich drängten uns gemeinsam unter den Schirm und liefen über den Rasen zur Haustür, die für uns einen Spaltbreit offen geblieben war.
Ich gab mir Mühe meine düstere Stimmung vor meiner Familie zu verbergen, weil ich wusste, dass sie sich sonst Sorgen machen würde, aber der Besuch im Revier hatte mich erschüttert. Während des gesamten Abendessens wich diese Trostlosigkeit nicht von mir. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken. Meine Mutter hatte Andrea geholfen, das Essen zu machen, und es war köstlich: zwei perfekte Brathähnchen; in Scheiben geschnittene Kartoffeln, Karotten und Zwiebeln aus der Pfanne; Birnentarte mit Vanilleeis zum Nachtisch. Da musste eigentlich jeder Appetit bekommen. Nur ich nicht. Ich musste mich bei jedem Gang zum Essen zwingen. Seit Jackson und Cece gestorben waren, hatte ich fast zehn Kilo abgenommen. Obwohl ich Joyce versprochen hatte, wieder zuzunehmen, schaffte ich es nicht. Meine Mutter hatte in den letzten Wochen mit ihren exzellenten Kochkünsten versucht, mich zum Essen zu verführen. Und ich hatte versucht, mehr zu essen, als ich eigentlich wollte. Manchmal hatte ich sogar etwas Hunger. Aber wie üblich ließ mein Appetit mich nun im Stich.
Als Susanna zu quengeln begann, bot ich mich an, sie ins Bett zu bringen, und so entflohen wir zusammen nach oben. Ich war lange nicht mehr in ihrem Zimmer gewesen und erschreckte mich, als ich dort auch Spielzeug und Kleidungsstücke von Cece entdeckte. Überrascht war ich allerdings nicht, weil ich regelmäßig Sachen an Susanna weitergereicht hatte, die Cece nicht mehr gebrauchen konnte. Als sie noch am Leben war, war das ganz selbstverständlich gewesen. Ein Kinderauto mit dicken roten Reifen. Ein pink-orange gestreiftes Babykissen. Ein Paar rote Gummistiefel mit gelben Enten darauf. Es erstaunte mich immer noch, wie leicht solche Kleinigkeiten eine Lawine von Gefühlen und Erinnerungen in mir lostraten, als ich mit meiner Nichte in ihrem Zimmer stand und gleichzeitig mein eigenes Kind in einem anderen Zimmer und einem anderen Haus zu einer anderen Zeit genau vor mir sah.
Während ich Susanna in ihren Pyjama half, half ich eigentlich Cece. Während ich Susanna half, ihr Gesicht zu waschen und sich die Zähne zu putzen, wusch ich Ceces Gesicht, wurden Ceces Zähne geputzt. Ich setzte Susanna auf meinen Schoß und bürstete ihr das lange weiche Haar, fuhr nach jedem Bürstenstrich mit der Hand glättend darüber. Für ein paar Minuten hatte ich meine Tochter wieder, oder doch wenigstens einen Geist von ihr. Als Susanna aber ihr Lieblingsbuch holte – wie viele Kinder in diesem Alter wollte sie wochenlang immer wieder die gleiche Geschichte hören, im Moment Das Samtkaninchen –, da war Susanna wieder Susanna. Ceces Lieblingsbuch zu der Zeit, als ich sie verloren hatte, war Gute Nacht, Mond gewesen.
Wir setzten uns auf ihr Bett, und ich las ihr vor, nach jeder Seite machte ich eine Pause, damit sie sich das Bild ansehen konnte. Dann kuschelten wir uns für ungefähr zwanzig Minuten zusammen unter die Decke, Nase an Nase, bis sie eingeschlafen war. Andrea hatte mich gebeten, nicht zu lange oben zu bleiben; sie versuchten Susanna beizubringen, dass sie allein einschlief, damit das Zubettgehen einfacher vonstattenging, wenn das Baby erst einmal da war. Aber ich konnte schlicht nicht widerstehen, genoss es, Susannas süßen Atem auf meinem Gesicht zu spüren. Also blieb ich noch ein paar Minuten liegen, während sie schon schlief, und schaute sie nur an, sog ihr Bild in mich auf. Als ich schließlich wieder nach unten kam, gab Andrea keinen Kommentar dazu ab, obwohl ihr klar sein musste, dass ich länger als notwendig bei Susanna geblieben war.
Alle waren müde. Wir halfen, den Tisch abzuräumen, und dann fuhr Mac mich zurück zum Haus meiner Eltern. Meine Mutter und mein Vater nahmen ihr eigenes Auto.
Es war Freitagabend, und mein letztes Wochenende in Montclair stand bevor. Während der Sonntagnachmittag immer näher rückte, beschlichen mich, was meine Abreise anging, ähnlich gemischte Gefühle wie beim Wiedereinzug in mein Elternhaus auf längere Zeit. Körperlich war ich nun so weit, dass ich wieder allein leben konnte. Was meinen Geist betraf, so irrten meine Gedanken hin und her. Und seelisch war ich vollkommen verloren.