KAPITEL 18

«Ja, bitte?» Das umwerfende Lächeln des kirschrot geschminkten Munds mit den strahlend weißen Zähnen stand im Widerspruch zu der etwas ärgerlichen Stimme der Frau. Sie war Lehrerin; das wusste ich instinktiv. Das lange schwarze Haar, die wippenden Erdbeerohrringe, das tiefausgeschnittene pinkfarbene T-Shirt über dem bequemen braunen Rock, die praktischen Sandalen, die Beuteltasche aus Baumwolle über ihrer Schulter. Und dieses Lächeln: gezwungen geduldig, als wäre sie in Gedanken schon längst einen Schritt weiter, stets darauf bedacht, dass alle anderen mitkamen. Sie sah aus wie Ende zwanzig, vielleicht gerade dreißig – war also zu jung, um Nancy Maxtor zu sein, aber genau im richtigen Alter für ihre Tochter. Ansonsten wirkte sie sportlich und durchtrainiert, als würde sie ihre Freizeit im Fitnesscenter verbringen. Sie war mittelgroß, strahlte aber ein Selbstbewusstsein aus, das sie imposant erscheinen ließ, dabei überragten Mac und ich sie um einen halben Kopf.

Mac holte seine Marke heraus und stellte sich mit den üblichen Floskeln vor. Als sie dann zu mir herübersah, hatte ich wieder eine instinktive Ahnung, nannte deshalb meinen Namen nicht, sondern stellte mich als ‹Freundin› von Mac vor.

«Das ist aber nicht sehr professionell, oder?», fragte sie Mac. Es klang halb charmant, halb nach Kritik.

«Erwischt.»

«Ich vermute, Sie sind wegen meiner Mutter hier.»

«Richtig.»

«Ich finde, Sie sollten mit den ganzen Gerüchten über sie aufräumen, die wegen des Phantombilds im Umlauf sind.»

«Deshalb sind wir hier. Wir möchten mit Ihnen sprechen, um alle Missverständnisse zu bereinigen.»

«Ich habe doch schon Ihrem Kollegen am Telefon –»

«Sie meinen Detective Tavarese.»

«Genau, so hieß er. Jedenfalls habe ich ihm gesagt, dass meine Mutter in Myanmar ist und dabei hilft, die Schulen im Irrawaddy-Delta wiederaufzubauen. Sie kann unmöglich mit der Entführung – oder Ermordung – dieses Mädchens etwas zu tun haben.»

«Seit wann ist sie denn weg?»

«Schon fast sieben Monate. Ich vermisse sie natürlich, aber sie engagiert sich für einen guten Zweck. Darauf bin ich wirklich stolz.» Christa schaute auf die Uhr. «Ich komme zu spät, in zwanzig Minuten muss ich im Feriencamp sein. Können wir die Unterhaltung bitte später fortsetzen?»

«Wie kann ich Ihre Mutter erreichen, damit wir Sie nicht wieder belästigen müssen? Wir würden ihr gern ein paar Fragen stellen über einen ihrer ehemaligen Schüler. Ist schon Jahre her, dass sie ihn unterrichtet hat. Er war in ihrer Mathe-AG. Neil Tanner.»

«Meine Mutter hatte so viele Schüler.»

«An diesen erinnert sie sich vielleicht noch. Darüber würde ich gern mit ihr sprechen.»

«Tja, es ist wirklich schwierig, sie zu erreichen, aber rufen Sie doch im Hauptbüro der Weltmission in Washington an und probieren Sie es über die. Ich warte normalerweise einfach darauf, dass sie mich von selbst anruft, wenn sie mal kurz in Rangun ist, was allerdings nicht oft vorkommt. Aber die Weltmission kann ihr vielleicht mit der wöchentlich rausgehenden Post eine Nachricht schicken.»

«Seit wann, sagten Sie doch gleich, ist Ihre Mutter weg?»

«Entschuldigen Sie bitte, aber als Lehrerin darf ich wirklich nicht zu spät kommen.»

«Ich dachte, Sie wollten zu einem Feriencamp?»

«Ja, ich unterrichte Darstellendes Spiel in einem Feriencamp für Kinder aus sozial schwachen Familien.» Sie öffnete ihre Brieftasche und zog ein kleines Blatt Papier heraus, kritzelte etwas darauf und gab es Mac. «Das ist meine Handynummer. Können wir uns heute Nachmittag weiter unterhalten? Ich muss jetzt echt los.» Ihr Lächeln verschwand, und plötzlich wirkte sie gar nicht mehr hübsch. Ihr Gesicht war sogar ausgesprochen unattraktiv.

«Klar», sagte Mac. «Ich will Sie nicht aufhalten.»

Sie zog die Tür hinter sich zu, bückte sich auf dem Weg, um die Zeitung aufzuheben, und klemmte sie sich unter den Arm, bevor sie schnell zu ihrem Auto ging, ohne auch nur noch ein Mal zu uns herüberzusehen. Wir gingen zu Macs Wagen, während sie in ihren stieg: ein älteres Nissan-Modell, blau, mit zwei Aufklebern hinten. Ich bremse auch für Einhörner, stand auf dem einen, Christliche Demokratin – und stolz darauf auf dem anderen.

«Sie hat mit keiner Wimper gezuckt, als ich seinen Namen erwähnt habe.» Mac öffnete die Beifahrertür für mich, ich stieg ein, und er ging zur Fahrerseite.

«Man sollte doch wohl annehmen, dass sie weiß, wer er ist, wenn ihre Mutter näher mit ihm zu tun hatte.»

«Stimmt.» Mac ließ das Auto an. «Und die ganze Myanmar-Geschichte … tja, vielleicht ist Nancy Maxtor doch nicht seine Komplizin.»

«Trotzdem, ich habe irgendwie ein komisches Gefühl bei der Sache.»

«Ich auch. Aber ich bin so durch nach der letzten Nacht, dass ich meinen Eingebungen im Moment nicht traue. War eine lange Nacht. Eine schöne Nacht …» Er lächelte mich liebevoll an, und ich spürte dieselbe beruhigende Wirkung, die auch ein langer tiefer Atemzug hat. «… aber eben auch lang.»

Während er fuhr, legte ich ihm eine Hand auf die Schulter. Als er das Steuer drehte, spürte ich, wie sich die harten Muskeln unter seinem Hemd bewegten; fühlte ihn, mit meinen Fingerspitzen, als ob er Teil meines eigenen Körpers wäre. In diesem Moment begriff ich, dass ich ihn nicht nur mochte, ihm nicht nur vertraute, für ihn da sein wollte – sondern dass ich ihn auch liebte. Ich wusste, dass eine Beziehung mit Mac nie mehr so sein könnte wie die mit Jackson – aber Jackson war tot. Mac war ein neuer Anfang für mich, ein anderer Mensch, dessen Liebe noch ganz neue Erfahrungen für mich bereithielt.

«Ich muss zurück zur Arbeit», sagte er. «Und dich bringe ich zu deinen Eltern.»

«Bitte, Mac …»

«Tut mir leid, aber sie hatte eben recht. Es war unprofessionell, dich mitzubringen.» Er deutete ein Lächeln an. «Schlaf ein bisschen für uns beide.»

«Als ob ich schlafen könnte

«Sobald ich irgendetwas herausfinde, rufe ich dich an.»

«Versprochen?»

«Versprochen.»

«Ich will unbedingt über alles Bescheid wissen.»

«Habe ich verstanden. Aber Karin, vergiss nicht –»

«Nicht schon wieder.» Ich war nicht mehr bei der Polizei. Wie oft hatte ich das nun schon gehört?

«Du bist bei allem dabei, was für dich ungefährlich ist und wovon du wissen darfst. Sozusagen als unbeteiligter Zuschauer.»

Das war ich ja nun wirklich nicht. «Was ist das Gegenteil eines unbeteiligten Zuschauers?», fragte ich und überlegte, wie man meine Rolle in diesem Fall wohl am besten definierte.

«Täter», versuchte er es. «Opfer.»

«Gut, vielleicht nicht das genaue Gegenteil. Vielleicht meinte ich eher …» Ja, was meinte ich eigentlich genau? Und was machte es so schwierig, nicht in den üblichen Kategorien zu denken? Keine Schubladen aufzumachen?

«Zufällig betroffener Dritter», versuchte Mac es weiter. «In Mitleidenschaft gezogener Unbeteiligter?»

«Ja, schon eher.»

Er parkte vor dem Haus meiner Eltern und schaute mich an. «Eigentlich ist es auch nicht wichtig, darauf eine genaue Antwort zu finden. Am besten kreuzen wir D an: Nichts von alledem. Und dann machen wir einfach weiter mit unserem Leben, ohne immer wieder mit dem Kopf gegen dieselbe Wand zu rennen.»

Dagegen fiel mir kein Argument ein. Unser Ziel war es, Susanna zu finden und JPPs Komplizen auszuschalten, nicht unser Karma neu zu ordnen. Ich wusste längst, dass meine Dämonen mich immer verfolgen würden; dass ich lernen musste, mit ihnen umzugehen, während ich noch einmal ganz neu leben lernte.

Ich lächelte Mac an, er erwiderte mein Lächeln, und da saßen wir nun im Auto wie zwei Teenager, schwiegen betreten, wagten es erst allmählich, einander näher zu rücken.

«Die können uns sehen», sagte ich und meinte die Beamten im wie immer vor dem Haus stehenden Überwachungswagen. «Und meine Eltern sind bestimmt schon wach.»

«Ich bin einundvierzig Jahre alt, Karin, lebe offiziell getrennt und lasse mich gerade scheiden. Und du?»

«Dreiunddreißig, verwitwet.» Das waren die nackten Tatsachen.

«Was hätten wir also zu verstecken?»

Er hatte recht. Es gab wirklich nichts, wovor wir uns hätten fürchten müssen, was unsere Beziehung anging. Wir küssten uns langsam, zärtlich, intensiv. Sein Mund war mir bereits vertraut, genauso wie seine Lippen und seine Zunge, und mein brennendes Verlangen verwandelte sich in ein stetiges Begehren. Ich spürte, wie weich seine Haut war, sog seinen Duft ein: von Pinienseife und Sex, weil wir beide noch nicht zum Duschen gekommen waren.

«Ich ruf dich nachher an», flüsterte er mir ins Ohr.

«Schalt dein Handy ein.»

Er lachte. «Es ist an, und ich habe es hier in der Hose, wie immer, Karin. Warte mal …» Er lehnte sich zurück, um das Telefon aus der Tasche zu ziehen, klappte es auf und speicherte einen Klingelton für mich ab: Er klang wie ein altmodisches Telefon, ein volltönendes Klingeln mit regelmäßigen Pausen dazwischen. Wir küssten uns noch ein Mal, und ich stieg aus. Erst als ich im Haus war, hörte ich, wie Macs Wagen davonfuhr.

Ich wusste, dass meine Eltern da waren, weil das Auto meiner Mutter draußen stand; es war früh, und ich vermutete, dass sie noch im Bett lagen. Ich ging in mein Zimmer und legte mich hin. Zwar hatten mir all die Ereignisse der letzten Nacht einen Energieschub gegeben, aber ich war dennoch restlos erschöpft. Obwohl ich ja steif und fest behauptet hatte nicht schlafen zu können, war ich in den letzten drei Tagen kaum im Bett gewesen, und so sank ich sofort in Schlaf.

 

Ich erwachte mit dem Gesicht in den Kissen, vollständig bekleidet und völlig desorientiert. Weder wusste ich im ersten Moment, welchen Tag wir hatten, noch wo ich war. Dann bemerkte ich, dass ich mich in meinem alten Kinderzimmer befand, und schaute auf die Uhr: sieben Minuten vor fünf. Es musste Nachmittag sein, denn durch die Vorhänge fiel helles Sonnenlicht. Ich erinnerte mich noch, dass ich sie am Morgen bei meiner Rückkehr zugezogen hatte, um mich ein wenig auszuruhen. Stattdessen war daraus ein stundenlanger Tiefschlaf geworden.

Mein Handy lag auf dem Nachttisch, wo ich es abgelegt hatte. Keine neuen Nachrichten. Nach dem Duschen ging ich nach unten in die Küche, wo mir sofort zwei Dinge ins Auge fielen: eine Packung Hühnerfilets, die zum Auftauen auf der Anrichte lag, und ein Umschlag aus dem Briefpapier-Set meiner Mutter, auf dem in Macs Handschrift mein Name stand. Er musste hier gewesen sein, während ich schlief, und meine Mutter hatte ihm den Umschlag gegeben. Er hatte mich wohl nicht wecken wollen – dann war es bestimmt auch nichts allzu Dringendes gewesen. Ich zog das zusammengefaltete weiße Blatt heraus und öffnete es. Ein zweites Stück Papier fiel herunter auf den Boden. Ich bückte mich, um es aufzuheben. Es handelte sich um den alten Zeitungsartikel über die Mathe-AG, die Nancy Maxtor geleitet hatte. Darauf war auch das Foto, das Mac und ich in der Nacht zuvor so eingehend studiert hatten.

Sieh dir das Bild noch einmal an – aber ganz genau, hatte er auf das dabeiliegende Blatt gekritzelt. Siehst du, was ich sehe? Ruf mich an, wenn du wach bist.

Ich hielt den Artikel ans Fenster, aber das helle Sonnenlicht ließ die Rückseite des Zeitungspapiers hindurchschimmern, sodass ich das Bild nicht richtig erkennen konnte. Also legte ich den Artikel auf die Anrichte, strich ihn glatt und beugte mich darüber. Da stand die lächelnde Nancy Maxtor mit ihrer ovalen Brille und dem goldenen Kreuz um den Hals. Und der junge Neil Tanner in der zweiten Reihe. Ich betrachtete die anderen Gesichter, schaute mir den Raum an, in dem man das Foto geschossen hatte – ein Klassenzimmer, so schien es jedenfalls, denn ein Teil der Tafel war zu erkennen –, dann betrachtete ich die Gesichter der anderen Kinder noch einmal, eins nach dem anderen.

Und da bemerkte ich sie, in der ersten Reihe ganz rechts: Christa Maxtor. Oder besser gesagt: ihr Lächeln. Nur lächelte mir hier jemand anders so überschwänglich und strahlend entgegen. Ich sah genauer hin, wie Mac mich in seinem Brief gebeten hatte. Starrte das pummelige Gesicht des Mädchens mit den kleinen Augen an, das mit seinen kurzgeschnittenen schwarzen Haaren wie ein Junge aussah, wenn es nicht ein Rüschenkleid angehabt hätte. Das saß schlecht und war grellbunt, sodass die Kleine darin fast dick aussah. Tatsächlich war sie aber höchstens ein bisschen mollig. Solche Kleidungsstücke wurden Kindern meist von besorgten Eltern angezogen, damit sie nicht auffielen, was dann zum genauen Gegenteil führte. So wirkte das Mädchen gedrungen und verschüchtert … einmal abgesehen von diesem Lächeln. Und das war ohne Zweifel das Lächeln von Christa.

Ich beugte mich noch etwas weiter zum Artikel hinunter, las die winzige Unterschrift des Bildes und zählte dann von rechts bis vier: Christa Castillo. Ja, das war definitiv Christa, wenn sie auch einen anderen Nachnamen hatte.

Ich sah von der kleinen Christa zum kleinen Neil und wieder zurück. Insgesamt waren nur elf Kinder auf dem Bild. Die mussten einander auf jeden Fall gekannt haben. Weshalb hatte Christa dann also nicht einmal aufgemerkt, als Mac gestern Neil Tanner erwähnt hatte? Der Name schien ihr nicht das Geringste zu sagen. Sollte sie ihn wirklich komplett vergessen haben?

Nein. Den Namen eines Klassenkameraden, der seine Eltern ermordet hatte, vergaß man nicht. Und schon gar nicht, wenn die eigene Mutter ihn nach seiner Jugendstrafe bei sich aufgenommen hatte. Christa kannte seinen Namen, und zwar ganz genau – warum also hatte sie gelogen?

Lauter Fragen schwirrten mir durch den Kopf, als ich zum Telefon in der Küche ging und Macs Nummer wählte. Seine Mailbox ging ran, und ich hinterließ ihm eine Nachricht. Danach versuchte ich, Alan über Festnetz bei der Arbeit zu erreichen. Es klingelte und klingelte. Ich ging nach oben zu meinem Handy und wählte Alans Mobilnummer, die ich darin gespeichert hatte. Als sich wieder nur die Mailbox meldete, sprach ich auch Alan eine Nachricht auf. Mir war es fast egal, wer von beiden mich zurückrief. Ich wollte Antworten.

Hatten die beiden Nancy Maxtor in Myanmar erreicht, falls sie denn wirklich dort war?

Hatte noch einmal jemand mit Christa gesprochen? Und nachgefragt, weshalb sie behauptete, Neil nicht zu kennen? Um herauszufinden, wie viel sie über die Beziehung ihrer Mutter zu Neil Tanner wusste? Martin Price? JPP?

Wieso war Christas Nachname mit Castillo angegeben und lautete nun Maxtor?

«Du hast die Filets entdeckt», sagte meine Mutter direkt hinter mir. Ich fuhr hoch. Weil ich der Tür den Rücken zuwandte, hatte ich sie nicht hereinkommen sehen. «Entschuldigung, Schätzchen, ich wollte dich nicht erschrecken.»

«Kein Problem.» Ich faltete die Blätter von Mac wieder zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag. Das geschah ganz instinktiv. Ich wollte nicht, dass meine Mutter sich noch mehr Sorgen machte. Dann überlegte ich es mir allerdings anders, holte beide wieder heraus und faltete sie auseinander. Ich reichte meiner Mutter den Zeitungsartikel. «Hast du diese Frau schon mal gesehen?»

Mom holte ihre Lesebrille aus der Hosentasche, setzte sie auf und hielt sich das Papier dicht vors Gesicht. «Das ist doch die Frau aus dem Fernsehen, die wir gestern Morgen gesehen haben.» Überrascht schaute sie mich an. «Was ist das denn hier?»

«Ein alter Artikel über sie. Hat Mac gesagt, woher er gerade kam?»

«Nur, dass sie alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um Susanna zu finden. Als ich heute aufgewacht bin, warst du nicht in deinem Bett, Karin. Ich hatte schon fast Angst, aber dann …» Sie unterbrach sich. «War das Macs Auto, das ich heute früh wegfahren gehört habe? Hat er dich hier abgesetzt?»

«Ja. Um wie viel Uhr war er heute nochmal hier?»

«Ungefähr um ein Uhr Mittag, nachdem wir von Jon zurückgekommen waren. Ich musste deinen Vater nach Hause bringen …»

«Wie geht es Jon und Andrea?»

Sie seufzte, antwortete darauf aber nicht. «Also warst du letzte Nacht bei Mac?»

«Ja.»

«Ich weiß natürlich, dass mich das nichts angeht, aber ich freue mich für dich. Und er hat übrigens vorhin nichts weiter gesagt. Ist kaum eine Minute geblieben. Ich mag ihn, Karin. Er ist ein guter Mensch. Und sehr kompetent

Mir kamen die Tränen, weil sie so recht hatte: Mit Mac an dem Fall oder auch in meinem Leben musste ich mir um nichts Sorgen machen. Sofort quälten meine Fragen mich nicht mehr. Wenn sie mir so ohne weiteres eingefallen waren, hatte Mac das alles längst bedacht und wahrscheinlich noch einiges andere. Bestimmt hatte er auch schon die Antworten entdeckt.

«Wenn du das Hühnchen machst, kümmere ich mich um den Salat», sagte ich.

«Abgemacht. Ich koche dazu noch Reis.»

Meine Mutter war eindeutig die bessere Köchin von uns beiden, und einen Salat konnte man nur schwerlich ruinieren. Als wir fertig waren, gab es ein einfaches Abendessen, das wir zusammen mit meinem Vater am Küchentisch aßen. Ich erbot mich, den Abwasch zu erledigen, und ging danach zu meinen Eltern ins Wohnzimmer, wo wir zusammen fernsahen. Eine Sitcom über das Leben in der Großstadt … Ich spürte, dass meine Mutter sich nicht darauf konzentrieren konnte, und mir ging es genauso. Nachdem wir gegessen hatten und ich hier nun ruhig saß, begannen meine Gedanken wieder zu kreisen.

Mac hatte bis jetzt noch nicht zurückgerufen. Diesmal fiel mir dafür keine vernünftige Erklärung ein; ich war ganz sicher, dass er meinen Anrufen nicht absichtlich auswich. Alan hatte sich ebenfalls nicht gemeldet. Allerdings bereitete der ausbleibende Anruf von Mac mir mehr Kopfzerbrechen.

Ich ging nach oben, fuhr meinen Laptop hoch und fütterte das Internet mit meinen Fragezeichen. Das Stichwort Neil Tanner brachte nur alte Zeitungsartikel über den Mord an seinen Eltern und sonst nichts weiter. Zu Martin Price erhielt ich zahlreiche Einträge und Blogs, in denen es um die Domino-Morde ging. Viel Geschreibsel, aber keinerlei neue Informationen, keine Antworten auf meine Fragen. Um bei der Weltmission in Washington anzurufen, war es mittlerweile schon zu spät, also sah ich mich auf ihrer Website um. Nancy Maxtors Name tauchte auf einer Liste von Freiwilligen auf, die Flüchtlingen im Kosovo geholfen hatten, ein Datum dazu gab es nicht, aber das musste jetzt ungefähr zehn Jahre her sein. Das zumindest passte zu Christas Aussage, dass ihre Mutter für die Organisation arbeitete. Als ich die Aktivitäten der Weltmission in Myanmar recherchierte, fand ich heraus, dass sie sich vor allem auf einen Ort in der Nähe von Rangun konzentrierten, so wie Christa es beschrieben hatte.

Als Nächstes googelte ich Christa Castillo, den Namen aus dem Zeitungsausschnitt. Es war ein häufig vorkommender Name, aber in Verbindung mit Essex County gab es nur einen Treffer, einen Artikel aus dem Archiv der New York Times, der achtzehn Jahre alt war.

 

In East Orange, New Jersey, hat ein Feuer in einem zweistöckigen Wohnhaus das Leben von vier Mitgliedern der Familie Castillo gekostet, die ursprünglich aus dem spanischen Galizien stammte. Nach ersten Ermittlungen wurde das Feuer durch ein fehlerhaftes Stromkabel an einem elektrischen Heizkörper im Schlafzimmer der Eltern verursacht. Überlebt hat nur die zehnjährige Tochter Christa. Ihr älterer Bruder und die jüngere Schwester kamen gemeinsam mit den Eltern in den Flammen um. Verwandte des Kindes in Galizien konnten nicht ermittelt werden.

 

Das erklärte den Namenswechsel: Christa war über Nacht zur Waise geworden, und Nancy Maxtor musste sich ihrer angenommen und sie adoptiert haben. Und aus ähnlichen Gründen hatte sie auch Neil Tanner ‹adoptiert›. So ergab alles einen Sinn; Nancy Maxtor war genau der Typ Mensch, der aus seinen Überzeugungen heraus zu etwas Derartigem bereit war. Oberflächlich betrachtet ein Akt des Mitgefühls. In Wirklichkeit aber konnte es riskant werden, jedes Straßenkind bei sich aufzunehmen, wenn es nicht sogar vollkommen verrückt war. Ich verstand ja, dass sie das Mädchen adoptiert hatte. Aber wieso hatte sie auch die Verantwortung für einen Jungen übernommen, der seine Eltern ermordet hatte? Das konnte ich einfach nicht nachvollziehen. Deshalb zweifelte ich nun auch an Nancys Motiven für ihre anderen guten Werke. Angesichts all dieser Tatsachen schien es mir jetzt ziemlich abwegig, dass Christa und Neil sich nicht gekannt haben sollten. Das Gegenteil musste der Fall sein.

Was verheimlichte Christa uns sonst noch?

Ich versuchte es wieder bei Mac, weil ich unbedingt wissen wollte, ob er zu denselben Schlüssen gelangt war wie ich und sich die gleichen Fragen stellte – hatte aber noch immer keinen Erfolg.

Meine Eltern sahen immer noch fern, als ich wieder in die Küche hinunterging und mir einen Tee machte. Ich stand beim offenen Fenster, atmete die klare, kalte Abendluft ein. Es war jetzt dunkel draußen. Ruhig, abgesehen vom Zirpen unsichtbarer Grashüpfer. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, dann war sein Motorengeräusch nicht mehr zu hören, und alles wurde wieder still. Die dritte Nacht seit Susannas Verschwinden: eine Ewigkeit. Nach ein paar Minuten nahm ich meinen Tee mit auf die Veranda vor dem Haus, das Handy in der Hosentasche, damit ich es hörte, falls Mac oder Alan zurückrief. Saß dann dort draußen, ganz allein, dachte nach. An den Überwachungswagen auf der anderen Straßenseite hatte ich mich schon so gewöhnt, dass ich ihn kaum noch wahrnahm. Da stand er: hellblau in der dunkelblauen Nacht, regungslos, der Fahrer hatte den Kopf gegen die Stütze seines Sitzes gelehnt und schlief. Einen Moment später hörte ich, dass sich die Seitentür auf der mir abgewandten Seite des Vans öffnete und wieder schloss. Ich beobachtete, wie der zweite Polizist sich vom Wagen entfernte. Ungefähr fünfzig Meter weiter befanden sich ein paar Bäume, und ich hatte schon lange vermutet, dass unsere Bewacher sich gelegentlich dort erleichterten – das war immer so eine Sache bei langen Überwachungsschichten.

Ich trank meinen Tee aus und überlegte, ob ich mir noch einen Becher voll holen sollte, blieb aber sitzen. In diesem Augenblick war mir bewusst, dass ich möglicherweise gleich aufstehen und verschwinden würde. Weil ich jetzt die Chance dazu hatte, ohne dass jemand mich eskortierte oder Erklärungen verlangte. Ich saß da, den leeren Becher auf meinen Knien, und dachte daran, dass man seine Möglichkeiten entweder auf aktive oder auch auf passive Art nutzen konnte: Manches ließ man einfach bewusst zu, bei anderem half man nach. Ich dachte an Paul Maher, der die Wendepunkte in seinem Leben einfach passiv auf sich zukommen lassen hatte, zumindest die, von denen ich wusste: Nancy Maxtor war er begegnet, als sie vor seiner Tür stand und ihm saubere Spritzen brachte; dann war sie zurückgekommen, um ihm Geld für seinen Namen zu bieten. Auch bei uns hatte er einfach darauf gewartet, dass wir noch einmal zu ihm kamen, bevor er uns in einer Frage von Leben und Tod erzählte, was er wusste. Hatte einfach gewartet. Bis jemand an seine Tür klopfte. Genauso wie ich jetzt hier saß, gerade in diesem Augenblick, und darauf wartete, dass mein Handy klingelte.

Ich schaute auf die Uhr: Es war Viertel vor zehn. Seit ich Mac und Alan das erste Mal eine Nachricht hinterlassen hatte, waren fast fünf Stunden vergangen. Ich stellte meinen Becher weg. Rief erst bei Mac an, dann bei Alan. Hinterließ noch einmal zwei Nachrichten. Kehrte zurück ins Haus und sagte meinen Eltern gute Nacht. Als ich ging, nahm ich leise den Autoschlüssel meiner Mutter vom Haken neben der Tür, griff meine Handtasche und lief zum Auto, das wie üblich vor dem Haus geparkt war. Weder der anspringende Motor noch sein leises Brummen während der Abfahrt ließen den schlafenden Polizisten oder dessen anderweitig verhinderten Kollegen aufmerken. Ich erwartete fast, dass einer von ihnen alarmiert im Rückspiegel auftauchte, aber nichts geschah. Und schließlich war ich ganz allein auf der Straße.

Ich fuhr zu Mac. Da würde ich es zuerst versuchen. Er hatte seit drei Tagen nicht geschlafen, also konnte es durchaus sein, dass er im Laufe des Tages heimgefahren war und einfach tief und fest schlief, genauso wie ich vorhin. Falls er da war, würde ich endlich Antworten auf meine Fragen erhalten und dann zu ihm unter die Decke kriechen. Falls er nicht da war … ja, was dann?

Der Domino-Killer
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