18
Was Jessie durch ihre
Sonnenbrille und den improvisierten Filter sah, war so seltsam und
ehrfurchtgebietend, dass ihr Verstand sich zuerst weigerte, es
anzuerkennen. Ein großer runder Schönheitsfleck, wie der unter Anne
Francis’ Mundwinkel, schien dort am Nachmittagshimmel zu
schweben.
»If I talk in my sleep …’cause I haven’t seen my baby all
week …«
An diesem Punkt
bemerkte sie zum ersten Mal, dass ihr Vater eine Hand auf die
Knospe ihrer rechten Brust gelegt hatte. Er drückte sie einen
Moment behutsam, glitt zur linken und kehrte wieder zur rechten
zurück, als würde er einen Größenvergleich anstellen. Er atmete
jetzt sehr schnell; sein Atem klang in ihren Ohren wie eine
Dampfmaschine, und sie bemerkte wieder das harte Ding, das gegen
ihre Kehrseite drückte.
»Can I get a witness?«, sang Marvin Gaye, die
Galionsfigur des Soul, brüllend. »Witness,
witness?«
»Daddy? Alles in Ordnung?«
Sie spürte wieder ein
feines Kribbeln in den Brüsten – Lust und Schmerz, gebratener
Truthahn mit Zuckerguss und Schokoladensoße -, aber dieses Mal
verspürte sie auch Schrecken und eine Art fassungsloser
Verblüffung.
»Ja«, sagte er fast mit der Stimme eines Fremden.
»Ja, bestens, aber dreh dich nicht um«.
Er bewegte sich. Die Hand, die auf ihrer Brust gewesen war,
wanderte anderswohin; die auf ihrem Schenkel glitt weiter nach oben
und schob den Saum des Sommerkleids vor sich her.
»Daddy, was machst du da?«
Ihre Frage war nicht
unbedingt ängstlich; sie war überwiegend neugierig. Dennoch schwang
ein Unterton der Angst darin mit, so wie ein dünner roter Faden.
Über ihr loderte ein Hochofen seltsamen Lichts um eine dunkle
Scheibe am indigofarbenen Himmel herum.
»Liebst du mich, Punkin?«
»Ja, klar …«
»Dann kümmere dich nicht darum, was ich mache. Ich würde
dir nie wehtun. Ich will nur lieb zu dir sein. Sieh dir einfach die
Sonnenfinsternis an, und lass mich lieb zu dir
sein.«
»Ich weiß nicht, ob ich das will, Daddy«. Das
Gefühl der Verwirrung wurde schlimmer, der rote Faden dicker.
»Ich habe Angst, dass ich mir die Augen
verbrenne. Die Wieheißensienochgleich.«
»But I believe« sang Marvin, »a woman’s a man’s best friend … and I’m gonna stick by
her … to the very end.«
»Keine Bange.« Jetzt keuchte er. »Du hast noch zwanzig Sekunden. Mindestens. Also mach dir
keine Sorgen. Und dreh dich nicht um.«
Sie hörte einen
Gummibund schnalzen, aber es war seiner, nicht ihrer; ihre
Unterhosen waren, wo sie sein sollten, aber sie merkte, wenn sie
nach unten blickte, würde sie sie sehen können, so weit hatte er
ihr Kleid hochgeschoben.
»Liebst du mich?«, fragte er wieder, und obwohl sie
eine schreckliche Ahnung hatte, dass die richtige Antwort auf diese
Frage die falsche war, war sie doch erst zehn Jahre alt, und es war
immer noch die einzige Antwort, die sie geben konnte. Sie bejahte
seine Frage.
»Witness, witness …«, flehte Marvin, der langsam
ausgeblendet wurde.
Ihr Vater bewegte
sich und drückte das harte Ding fester gegen ihre Kehrseite. Jessie
stellte plötzlich fest, was es war … nicht der Griff eines
Schraubenziehers oder des Tackers aus dem Werkzeugkasten in der
Vorratskammer, das stand fest – und in ihren Schrecken mischte sich
eine vorübergehende hämische Freude, die mehr mit ihrer Mutter als
mit ihrem Vater zu tun hatte.
Das hast du davon, dass du nicht zu mir gehalten
hast, dachte sie, während sie den dunklen Kreis am Himmel
durch das rußgeschwärzte Glas betrachtete, und dann: Ich glaube, das haben wir beide davon. Plötzlich
verschwamm ihr Blickfeld, und die Freude war dahin. Nur das
wachsende Gefühl des Schreckens blieb. Herrje, dachte sie. Das sind
meine Netzhäute … es müssen meine Netzhäute sein, die anfangen zu
verbrennen.
Die Hand auf ihrem
Oberschenkel glitt zwischen ihre Beine und weiter, bis sie vom
Schritt gebremst wurde, wo sie fest liegen blieb. Er sollte das
nicht machen, dachte sie. Es war die falsche Stelle für seine Hand.
Es sei denn …
Er neckt dich, meldete sich eine Stimme in ihr
plötzlich zu Wort.
In späteren Jahren
erfüllte diese Stimme, die sie mit der Zeit als die von Goodwife
betrachtete, sie manchmal mit Verzweiflung; es war manchmal die
Stimme der Vorsicht, häufig eine vorwurfsvolle Stimme, und fast
immer die Stimme des Leugnens. Unangenehme Dinge, würdelose Dinge,
schmerzliche Dinge … sie alle verschwanden schließlich, wenn man
sie nur nachdrücklich genug ignorierte, das war die Ansicht von
Goodwife. Es war eine Stimme, die mehr als verstockt darauf
beharren konnte, dass das größte Unrecht Recht war, Teil eines
barmherzigen Plans, so kompliziert, dass gewöhnliche Sterbliche ihn
nicht durchschauen konnten. Es gab Zeiten (am häufigsten während
ihres elften und zwölften Lebensjahrs, als sie die Stimme Miss
Petrie genannt hatte, nach ihrer Lehrerin aus der zweiten Klasse),
da drückte sie tatsächlich die Hände auf die Ohren, um dieser
zänkischen Stimme der Vernunft zu entfliehen – selbstverständlich
vergebens, da diese ihren Ursprung in Jessies Kopf hatte -, aber in
diesem Augenblick wachsenden Unbehagens, während die
Sonnenfinsternis den Himmel über dem westlichen Maine verdunkelte
und gespiegelte Sterne in den Tiefen des Dark Score Lake brannten,
in dem Augenblick, als ihr klarwurde (gewissermaßen), was die Hand
zwischen ihren Beinen vorhatte, hörte sie nur Freundlichkeit und
einen Sinn fürs Praktische aus dieser Stimme und beherzigte das,
was sie ihr sagte, voll panischer Erleichterung.
Es ist nur eine Neckerei, das ist alles,
Jessie.
Bist du dir sicher?, rief sie zurück.
Ja, antwortete die Stimme nachdrücklich – im Lauf
der Jahre sollte Jessie herausfinden, dass diese Stimme immer
nachdrücklich sprach, ob sie nun Recht oder Unrecht hatte.
Es soll ein Witz sein, mehr nicht. Er weiß
nicht, dass er dir Angst macht, also halt den Mund, und verdirb den
schönen Tag nicht. Es ist nichts Besonderes.
Glaub kein Wort, Süße!, antwortete die andere
Stimme – die hartgesottene Stimme. Manchmal
benimmt er sich, als wärst du seine verdammte Freundin
und nicht seine Tochter, und genau das macht
er im Augenblick! Er neckt dich nicht,
Jessie! Er fickt dich!
Sie war fast
überzeugt, dass das eine Lüge war, fast überzeugt, dass dieses
seltsame und verbotene Schulhofwort einen Akt beschrieb, den man
nicht nur mit der Hand ausführen konnte, aber Zweifel blieben. Sie
erinnerte sich voll plötzlichem Ekel, wie Karen Aucoin ihr einmal
gesagt hatte, sie dürfe sich auf gar keinen Fall von einem Jungen
die Zunge in den Mund stecken lassen, weil das ein Baby in ihrem
Hals machte.
Karen sagte, dass das
manchmal passierte, aber eine Frau, die ihr Baby kotzen musste,
damit es herauskam, starb fast immer, und das Baby meistens auch.
»Ich lass mir nie von einem Jungen einen
Zungenkuss geben«, sagte Karen. »Ich
lass mich vielleicht obenrum von einem anfassen, wenn ich ihn
wirklich liebe, aber ich will nie ein Baby im Hals. Wie soll man
denn da ESSEN?«
Damals war Jessie die
Vorstellung so einer Schwangerschaft derart verrückt vorgekommen,
dass sie fast etwas Bezauberndes hatte – und wer außer Karen
Aucoin, die sich Gedanken machte, ob das Licht ausging oder nicht,
wenn man die Kühlschranktür zumachte, hätte sich so etwas überhaupt
ausdenken können? Aber jetzt schien diese Vorstellung eine ureigene
verschrobene Logik zu besitzen. Angenommen – nur angenommen – es
stimmte? Wenn man ein Baby von der Zunge eines Jungen bekommen
konnte, wenn das passieren konnte, dann …
Und dann war da
dieses harte Dinge, das gegen ihre Kehrseite drückte. Dieses Ding,
das nicht der Griff eines Schraubenziehers oder des Tackers ihrer
Mutter war.
Jessie versuchte, die
Beine zusammenzukneifen, eine Geste, die für sie eindeutig war, für
ihn aber offensichtlich nicht. Er keuchte – ein gequälter,
furchteinflößender Laut – und drückte die Finger fester auf den
empfindlichen Hügel unter dem Schritt ihrer Unterhose. Es tat ein
bisschen weh. Sie drückte sich starr an ihn und
stöhnte.
Erst viel später
überlegte sie sich, dass ihr Vater diesen Laut wahrscheinlich als
Leidenschaft fehlinterpretiert hatte, was möglicherweise auch ganz
gut war. Wie auch immer seine Interpretation aussah, sie
signalisierte den Höhepunkt dieses merkwürdigen Zwischenfalls. Er
krümmte sich plötzlich unter ihr, so dass sie kerzengerade in die
Höhe schoss. Die Bewegung war grässlich und seltsam lustvoll – dass
er so stark war, dass er sie so bewegen konnte. Einen Augenblick
verstand sie die Natur der chemischen Reaktion beinahe, die hier
ablief, gefährlich und doch faszinierend, und wusste, dass die
Kontrolle in ihrer Reichweite lag – wenn sie sie kontrollieren
wollte.
Ich will nicht, dachte sie. Ich will nichts damit zu tun haben. Was es auch ist, es
ist böse und schlimm und unheimlich.
Dann wurde das harte
Ding, das kein Griff eines Schraubenziehers oder des Tackers ihrer
Mutter war, gegen ihre Pobacken gedrückt, und eine Flüssigkeit
breitete sich dort aus, die einen heißen, feuchten Fleck auf ihre
Unterhose machte.
Schweiß, sagte die Stimme, die eines Tages Goodwife
werden sollte, auf der Stelle. Das ist es. Er
hat gespürt, dass du Angst vor ihm hast, Angst davor, auf seinem
Schoß zu sitzen, und das hat ihn nervös gemacht. Du solltest dich
schämen.
Schweiß, meine Fresse!, antwortete die andere
Stimme, die eines Tages Ruth gehören sollte. Sie sprach leise,
nachdrücklich, ängstlich. Du weißt, was es
ist, Jessie – es ist das Zeug, von dem Maddy und die anderen
Mädchen in der Nacht von Maddys Schlummerparty gesprochen haben,
als sie dachten, du wärst endlich eingeschlafen. Cindy Lessard hat
es Saft genannt. Sie hat gesagt, es ist weiß und spritzt aus dem
Ding eines Jungen wie Zahnpasta. Das Zeug macht Babys, nicht Zungenküsse.
Einen Augenblick lang
balancierte sie im starren Griff seiner Arme, verwirrt und
furchtsam und irgendwie aufgeregt, und hörte, wie er einen
keuchenden Atemzug nach dem anderen aus der schwülen Luft sog. Dann
entspannten sich seine Hüften und Schenkel langsam, und er ließ sie
wieder sinken.
»Schau nicht mehr hin, Punkin«, sagte er, und
obwohl er immer noch keuchte, klang seine Stimme fast wieder
normal. Die beängstigende Erregung war daraus verschwunden, und es
konnte kein Zweifel an dem bestehen, was sie jetzt empfand:
tiefste, simple Erleichterung. Was immer passiert war – wenn
überhaupt -, es war vorbei.
»Daddy …«
»Nein, keine Widerrede. Deine Zeit ist
um.«
Er nahm den Stapel
rußgeschwärzter Glasscheiben behutsam aus ihrer Hand. Gleichzeitig
gab er ihr noch behutsamer einen Kuss auf den Nacken. Dabei sah
Jessie in die unheimliche Dunkelheit, die den See einhüllte. Sie
merkte am Rande, dass die Eule immer noch schrie und die Grillen
genasführt worden waren und ihr Abendlied zwei oder drei Stunden zu
früh anstimmten. Ein Nachbrennen schwebte wie eine runde
Tätowierung in einem unregelmäßigen Strahlenkranz vor ihren Augen,
und sie dachte: Wenn ich zu lange hingesehen,
wenn ich meine Netzhäute verbrannt habe, muss ich das
wahrscheinlich den Rest meines Lebens sehen, so wie man etwas
sieht, wenn einem jemand mit einem Blitzlicht ins Gesicht
geleuchtet hat.
»Warum gehst du nicht rein und ziehst Jeans an, Punkin?
Ich glaube, das mit dem Sommerkleid war doch keine so gute
Idee.«
Er sagte es mit einer
dumpfen, emotionslosen Stimme, die anzudeuten schien, das mit dem
Sommerkleid wäre ihre Idee gewesen (Selbst
wenn nicht, hättest du es besser wissen müssen, sagte die
Stimme von Miss Petrie sofort), und plötzlich kam ihr ein neuer
Gedanke: Was war, wenn er beschloss, dass er Mama von dem Vorfall
erzählen musste? Diese Möglichkeit war so schrecklich, dass Jessie
in Tränen ausbrach.
»Es tut mir leid, Daddy«, schluchzte sie, schlang
die Arme um ihn und drückte das Gesicht an seinen Hals, wo sie das
vage und geisterhafte Aroma seines Rasierwassers oder Parfüms oder
was auch immer roch. »Wenn ich etwas falsch
gemacht habe, tut es mir wirklich, wirklich
leid.«
»Herrgott, nein«, sagte er, aber immer noch mit der
dumpfen, geistesabwesenden Stimme, als wollte er entscheiden, ob er
Sally erzählen musste, was Jessie getan hatte, oder ob man es
möglicherweise unter den Teppich kehren konnte. »Du hast nichts falsch gemacht,
Punkin.«
»Hast du mich immer noch lieb?«, beharrte sie. Der
Gedanke kam ihr, dass es Wahnsinn war, diese Frage zu stellen,
Wahnsinn, eine Antwort zu riskieren, die sie niederschmettern
konnte, aber sie musste fragen.
Musste.
»Natürlich«, antwortete er augenblicklich. Seine
Stimme wurde etwas lebhafter, als er das sagte, und es reichte aus,
ihr begreiflich zu machen, dass es ihm ernst war (oh, war das eine
Erleichterung), aber sie vermutete trotzdem, dass sich alles
verändert hatte, und das wegen etwas, was sie kaum verstand. Sie
wusste, die
(Neckerei, es war eine Neckerei, nur eine Art
Neckerei)
hatte etwas mit Sex
zu tun, aber sie hatte keine Ahnung, wie viel oder wie ernst es
gewesen sein mochte. Es war wahrscheinlich nicht das, was die
Mädchen bei der Schlummerparty »bis zum Letzten gehen« genannt
hatten (abgesehen von der seltsam wissenden Cindy Lessard; die
hatte es »Tiefseetauchen mit einer langen weißen Harpune« genannt),
ein Ausdruck, der Jessie urkomisch und grässlich zugleich vorkam,
aber die Tatsache, dass er sein Ding nicht in ihr Ding reingesteckt
hatte, bedeutete wahrscheinlich nicht, dass sie vor dem sicher war,
was einige Mädchen selbst an ihrer Schule »einen Braten in der
Röhre« nannten.
Ihr fiel wieder ein,
was Karen Aucoin ihr letztes Jahr auf dem Heimweg von der Schule
gesagt hatte, und Jessie versuchte, es zu verdrängen. Es war mit
ziemlicher Sicherheit überhaupt nicht wahr, und selbst wenn, hatte
er ihr ja nicht die Zunge in den Mund gesteckt.
Im Geiste hörte sie
die Stimme ihrer Mutter laut und wütend: Sagt
man nicht, wer gut schmiert, der gut fährt?
Sie spürte den heißen
nassen Fleck an den Pobacken. Er breitete sich immer noch aus. Ja,
dachte sie, ich glaube, das stimmt. Nur bin ich dieses Mal gut geschmiert worden.
»Daddy …«
Er hob die Hand, eine
Geste, die er oft bei Tisch machte, wenn ihre Mutter oder Maddy
(für gewöhnlich ihre Mutter) wegen etwas in Rage geriet. Jessie
konnte sich nicht erinnern, dass Daddy diese Geste je bei ihr
gemacht hätte, und das bestärkte sie in ihrem Gefühl, dass etwas
schrecklich schiefgegangen war und es wahrscheinlich grundlegende,
unabdingbare Veränderungen als Folge eines schrecklichen Fehlers
von ihr (wahrscheinlich, weil sie das Sommerkleid getragen hatte)
geben würde. Dieser Gedanke löste ein so umfassendes Gefühl der
Traurigkeit aus, dass ihr war, als würden unsichtbare Finger
unbarmherzig in ihr walten und ihr die Eingeweide zerkratzen und
zerfetzen.
Aus den Augenwinkeln
sah sie, dass die Sporthose ihres Vaters schräg saß. Etwas ragte
hervor, etwas Rosafarbenes, und es war auf keinen Fall der Griff
eines Schraubenziehers. Bevor sie wegsehen konnte, bemerkte Tom
Mahout die Richtung ihres Blicks, zog hastig die Hose zurecht und
ließ das rosa Ding verschwinden. Er verzog das Gesicht zu einem
momentanen moue des Missfallens, und
Jessie zuckte innerlich zusammen. Er hatte sie beim Gucken ertappt,
hatte ihren ziellosen Blick als unziemliche Neugier
interpretiert.
»Was gerade passiert ist«, begann er, dann
räusperte er sich. »Wir müssen uns darüber
unterhalten, was gerade passiert ist, Punkin, aber nicht gleich
sofort. Geh rein und zieh dich um, und dusch gleich, wenn du schon
dabei bist. Beeil dich, damit du das Ende der Sonnenfinsternis
nicht versäumst.«
Sie hatte das
Interesse an der Sonnenfinsternis verloren, aber das hätte sie ihm
nicht in einer Million Jahren gesagt. Stattdessen nickte sie,
drehte sich aber noch einmal um. »Daddy, ist
alles in Ordnung mit mir?«
Er sah überrascht,
unsicher, argwöhnisch aus – eine Mischung, die das Gefühl
verstärkte, dass wütende Hände sich in ihrem Inneren zu schaffen
machten und ihre Eingeweide kneteten … und plötzlich wurde ihr
klar, dass ihm so schlimm zumute war wie ihr. Vielleicht schlimmer.
Und in einem Augenblick der Klarheit, in dem keine andere Stimme
als ihre eigene ertönte, dachte sie: Das
solltest du auch! Herrje, du hast damit
angefangen!
»Ja«, sagte er … aber sein Ton überzeugte sie nicht
völlig. »In bester Ordnung, Jess. Und jetzt
geh rein und mach dich zurecht.«
Sie versuchte zu
lächeln – ganz fest -, und es gelang ihr sogar ein bisschen. Ihr
Vater sah einen Augenblick verblüfft drein, dann erwiderte er das
Lächeln. Das erleichterte sie irgendwie, und die Hände, die sich in
ihrem Inneren zu schaffen machten, lockerten den Griff
vorübergehend. Als sie in dem großen Zimmer oben war, das sie sich
mit Maddy teilte, hatten sich ihre Gefühle allerdings wieder
eingestellt. Am schlimmsten war bei weitem die Angst, er könnte
glauben, dass er ihrer Mutter erzählen musste, was vorgefallen war.
Und was würde ihre Mutter denken?
So ist das mit unserer Jessie, nicht? Sie schmiert
gut.
Das Schlafzimmer war
zeltlagermäßig mit einer Wäscheleine in der Mitte abgeteilt. Sie
und Maddy hatten alte Handtücher an diese Leine gehängt, die ihnen
ihre Mutter gegeben hatte, und dann mit Wills Buntstiften bunte
Muster daraufgemalt. Die Handtücher zu bemalen und das Zimmer zu
teilen war ihr damals wie ein Riesenspaß vorgekommen, aber jetzt
schien es ihr albern und kindisch zu sein, und es war ein bisschen
beängstigend, wie ihr übergroßer Schatten auf dem mittleren
Handtuch tanzte; er sah wie der Schatten eines Monsters aus. Selbst
der aromatische Geruch von Pinienharz, den sie normalerweise
mochte, erschien schwer und erstickend wie ein Lufterfrischer, den
man allzu freigebig versprüht hatte, um einen üblen Gestank zu
überdecken.
So ist das mit unserer Jessie, nie mit irgendwelchen
Vereinbarungen zufrieden, wenn sie nicht das letzte Wort dazu hat.
Nie zufrieden mit den Plänen von anderen. Nie imstande, sich mit
etwas zufriedenzugeben.
Sie lief ins Bad,
weil sie dieser Stimme davonlaufen wollte, vermutete aber zurecht,
dass es ihr nicht gelingen würde. Sie schaltete das Licht ein und
zog das Sommerkleid mit einem einzigen Ruck über den Kopf. Sie warf
es in den Wäschekorb und war froh, dass sie es los war. Sie
betrachtete sich mit großen Augen im Spiegel und sah ein kleines
Mädchen mit der Frisur eines großen … bei der sich langsam Locken
und Strähnen aus den Haarklammern lösten. Es war auch der Körper
eines kleinen Mädchens – flachbrüstig und schmalhüftig -, aber das
würde er nicht mehr lange sein. Die Veränderung hatte bereits
angefangen, und sie hatte ihren Vater zu etwas verleitet, zu dem er
kein Recht hatte.
Ich will nie Möpse
und breite Hüften, dachte sie verdrossen. Wer wollte das schon,
wenn sie solche Sachen bewirkten?
Bei dem Gedanken
wurde ihr der feuchte Fleck auf dem Hosenboden ihres Schlüpfers
wieder bewusst. Sie schlüpfte heraus – Baumwollunterhosen von
Sears, einst grün, aber inzwischen so verblasst, dass sie fast grau
aussahen -, schob die Hand in den Bund und betrachtete sie
neugierig. Es war etwas auf der Rückseite, und es war kein Schweiß.
Und es sah auch nicht wie Zahnpasta aus. Es erinnerte sie mehr an
perlgraues Geschirrspülmittel. Jessie senkte den Kopf und
schnupperte vorsichtig. Sie nahm einen schwachen, schalen Geruch
wahr, den sie mit dem See nach einer langen, ruhigen Hitzeperiode
assoziierte, und mit Brunnenwasser. Sie hatte ihrem Vater einmal
ein Glas Wasser gebracht, das ihrer Meinung nach besonders stark
gerochen hatte, und ihn gefragt, ob er
es auch riechen konnte.
Er hatte den Kopf
geschüttelt. »Nee«, hatte er fröhlich
gesagt, »aber das bedeutet nicht, dass es
nicht da ist. Es bedeutet nur, dass ich zu viel rauche. Ich
vermute, du riechst die wasserführende Gesteinsschicht, Punkin.
Spurenelemente, mehr nicht. Ein schwacher Geruch, der bedeutet,
dass deine Mutter ein Vermögen für Wasserenthärter ausgeben muss,
aber schaden kann dir das nicht. Ich schwöre
es.«
Spurenelemente, dachte sie jetzt und schnupperte
noch einmal den schalen Geruch. Sie konnte sich nicht erklären,
weshalb er sie faszinierte, aber es war so. Der Geruch der wasserführenden Gesteinsschicht, mehr
nicht. Der Geruch der …
Dann meldete sich die
nachdrücklichere Stimme zu Wort, die, die sie in späteren Jahren
mit Ruth Neary assoziieren sollte, aber am Nachmittag der
Sonnenfinsternis hörte sie sich ein bisschen nach ihrer Mutter an
(zum Beispiel nannte sie sie Süße, wie Sally manchmal, wenn sie
böse auf Jessie war, weil diese sich um eine Arbeit drückte oder
eine Aufgabe vergessen hatte), aber Jessie hatte eine Ahnung, dass
es in Wahrheit die Stimme ihrer eigenen erwachsenen Persönlichkeit
war. Wenn ihr kampfeslustiges Murren etwas beunruhigend war, lag
das nur daran, dass es streng genommen zu früh für diese Stimme
war. Aber sie war dennoch da. Sie war da und gab sich beste Mühe,
sie wieder zu beruhigen. Jessie fand sie trotz ihres lärmenden,
blechernen Klangs ziemlich beruhigend.
Es ist das Zeug, von dem Cindy Lessard gesprochen hat, das
ist es – es ist sein Saft, Süße. Ich glaube, du solltest dankbar
sein, dass er auf deiner Unterwäsche gelandet ist und nicht
anderswo, aber erzähl dir nicht selbst Märchen, dass du den See
riechst oder Spurenelemente aus der tiefliegenden wasserführenden
Gesteinsschicht oder sonst was. Karen Aucoin ist ein Spatzenhirn,
es hat in der ganzen Weltgeschichte keine Frau gegeben, der ein
Baby im Hals gewachsen ist, und das weißt du auch, aber Cindy
Lessard ist kein Spatzenhirn. Ich glaube, sie hat dieses Zeug schon
gesehen, und jetzt hast du es auch gesehen. Männerzeug.
Saft.
Von plötzlichem Ekel
erfüllt – nicht wegen dessen, was es war, sondern von wem es
stammte -, warf Jessie die Unterhose auf das Sommerkleid im
Wäschekorb. Dann hatte sie eine Vision ihrer Mutter, die den
Wäschekorb leerte und in der feuchten Waschküche im Keller die
Wäsche wusch, dieses spezielle Paar Unterhosen aus diesem
speziellen Wäschestapel fischte und diese spezielle Zugabe
entdeckte. Was würde sie denken? Nun, natürlich dass die Nervensäge
der Familie endlich auch einmal gut geschmiert worden war, was
sonst?
Ihr Ekel wurde zu
schuldbewusstem Entsetzen, und Jessie holte die Unterhose hastig
wieder heraus. Mit einem Mal stieg ihr der schale Geruch wieder
aufdringlich und auffällig und ekelerregend in die Nase.
Austern und Kupfer, dachte sie, und
mehr war nicht erforderlich. Sie fiel vor der Toilette auf die
Knie, zerknüllte die Unterhose in einer Hand und übergab sich. Sie
spülte rasch, bevor sich der Geruch von halbverdautem Hamburger
ausbreiten konnte, dann drehte sie den Kaltwasserhahn auf und
spülte den Mund aus. Ihre Angst, sie könnte die nächste Stunde hier
drinnen vor der Toilette verbringen und kotzen, ließ nach. Ihr
Magen schien sich zu beruhigen. Wenn es ihr nur gelang, nicht noch
einmal eine Nase von diesem schalen, kupferig sahnigen Geruch zu
bekommen …
Sie hielt den Atem
an, hielt die Unterhose unter den Wasserhahn, spülte sie, wrang sie
aus und warf sie wieder in den Korb. Dann holte sie tief Luft und
strich sich gleichzeitig mit den Handrücken das Haar von den
Schläfen. Wenn ihre Mutter sie fragte, was eine feuchte Unterhose
in der Schmutzwäsche zu suchen hatte …
Du denkst schon wie eine Kriminelle, jammerte die
Stimme, die eines Tages Goodwife gehören sollte. Siehst du, wohin es einen bringt, wenn man ein böses
Mädchen ist, Jessie? Ja? Ich hoffe es …
Sei still, du kleines Miststück, fauchte die andere
Stimme zurück. Du kannst später keifen, so
viel du willst, aber momentan versuchen wir, hier etwas ins Reine
zu bringen, wenn du gestattest. Okay?
Keine Antwort. Das
war gut. Jessie strich sich wieder nervös über das Haar, obwohl ihr
kaum eine Strähne in die Stirn gefallen war. Wenn ihre Mutter
fragte, was das feuchte Höschen im Wäschekorb zu suchen hatte,
würde sie einfach sagen, es war so heiß, dass sie schwimmen
gegangen war, ohne sich umzuziehen. Das hatten sie alle drei schon
mehrmals diesen Sommer gemacht.
Dann solltest du nicht vergessen, Shorts und Hemd auch
unter den Wasserhahn zu halten. Richtig, Süße?
Richtig, stimmte sie zu. Guter
Punkt.
Sie schlüpfte in den
Morgenmantel, der an der Badezimmertür hing, ging rasch ins
Schlafzimmer und holte Shorts und T-Shirt, die sie angehabt hatte,
als ihre Mutter, ihr Bruder und ihre ältere Schwester heute Morgen
aufgebrochen waren … vor tausend Jahren, so schien es ihr jetzt.
Sie sah sie zuerst nicht und ließ sich auf die Knie sinken, damit
sie unter dem Bett nachsehen konnte.
Die andere Frau ist auch auf den Knien, bemerkte
eine Stimme, und sie riecht denselben Geruch.
Den Geruch von Pennys und Austern.
Jessie hörte sie und
doch wieder nicht. Ihre Gedanken waren bei Shorts und T-Shirts –
ihrer Ausrede. Sie waren wie vermutet unter dem Bett. Jessie
streckte die Hand danach aus.
Er kommt aus dem Brunnen, führte die Stimme weiter
aus. Der Mief von ganz
tief.
Ja, ja, dachte
Jessie, packte die Kleidungsstücke und ging ins Bad zurück. Der
Mief von ganz tief, sehr gut, du bist eine Dichterin und hast es
nicht einmal gewusst.
Sie hat ihn in den Brunnen gestoßen, sagte die
Stimme, und das schließlich drang zu ihr durch. Jessie blieb wie
vom Schlag getroffen unter der Badtür stehen und riss die Augen
auf. Plötzlich hatte sie auf eine neue und tödliche Art Angst.
Jetzt, wo sie ihr tatsächlich zugehört hatte, stellte sie fest,
dass diese Stimme nicht wie die anderen Stimmen war; diese war wie
eine, die man spät nachts im Radio empfangen konnte, wenn die
Umstände genau richtig waren – eine Stimme, die aus weiter, weiter
Ferne kommen konnte.
Nicht so weit, Jessie; sie
liegt auch auf dem Pfad der Sonnenfinsternis.
Einen Augenblick lang
schien der obere Flur des Hauses am Dark Score Lake verschwunden zu
sein. An seine Stelle war ein Brombeerdickicht getreten, das
schattenlos unter einem von der Sonnenfinsternis verdunkelten
Himmel lag, und der deutliche Geruch von Salzwasser. Jessie sah
eine dürre Frau im Morgenmantel, die das grau melierte Haar zu
einem Knoten hochgesteckt hatte. Sie kniete neben einem
gesplitterten Bretterboden. Neben ihr lag ein Stück weißer Stoff.
Jessie war überzeugt, dass es sich um den Slip der dürren Frau
handelte. Wer bist du?, fragte Jessie die Frau, aber die war schon
wieder fort … das heißt, falls sie überhaupt je wirklich da gewesen
war.
Jessie sah
tatsächlich über die Schulter, um festzustellen, ob die unheimliche
dürre Frau möglicherweise hinter ihr stand. Aber der obere Flur war
verlassen; sie war allein.
Sie betrachtete ihre
Arme und stellte fest, dass sie eine Gänsehaut hatte.
Du verlierst den Verstand, sagte die Stimme, die
eines Tages Goodwife Burlingame gehören sollte, klagend.
O Jessie, du bist böse gewesen, du bist
sehr böse gewesen, und jetzt musst du dafür
büßen, indem du den Verstand verlierst.
»Stimmt nicht«, sagte sie. Sie betrachtete ihr blasses,
gequältes Gesicht im Badezimmerspiegel. »Stimmt nicht!«
Sie wartete einen
Augenblick voll grässlicher Spannung, ob eine der anderen Stimmen –
oder die Frau auf den gesplitterten Brettern, deren Slip zerknüllt
am Boden lag – wiederkommen würden, aber sie sah und hörte nichts.
Diese unheimliche andere, die Jessie berichtete, dass irgendeine
Sie irgendeinen Er irgendeinen Brunnen hinuntergestoßen hatte, war
anscheinend auch fort.
Stress, Süße, sagte die Stimme, die eines Tages
Ruth werden sollte, und Jessie überlegte, dass die Stimme das
vielleicht nicht ganz so ernst gemeint hatte, sie sich aber
trotzdem sputen sollte, und zwar plötzlich. Du
hast an eine Frau mit einem Slip neben sich gedacht, weil dir heute
Nachmittag Unterwäsche im Kopf herumgeht, das ist alles. Ich an
deiner Stelle würde die ganze Sache vergessen.
Das war ein guter
Rat. Jessie machte Shorts und T-Shirt rasch unter dem Wasserhahn
nass, wrang sie aus und ging unter die Dusche. Sie seifte sich ein,
spülte sich ab, trocknete sich ab und eilte ins Schlafzimmer
zurück. Normalerweise hätte sie für den kurzen Weg über den Flur
den Morgenmantel nicht noch einmal angezogen, aber heute tat sie
es, auch wenn sie ihn nur zuhielt, statt den Gürtel
zuzubinden.
Sie blieb unter der
Schlafzimmertür stehen, biss sich auf die Lippen und betete, dass
die andere Stimme nicht wiederkommen, dass sie nicht wieder so eine
verrückte Halluzination oder Illusion oder was auch immer haben
würde. Nichts geschah. Sie ließ den Morgenmantel aufs Bett fallen,
eilte zur Kommode und holte frische Unterwäsche und Shorts
heraus.
Sie riecht denselben Geruch, dachte sie.
Wer diese Frau auch sein mag, sie nimmt
denselben Geruch wahr, der aus dem Brunnen kommt, in den sie den
Mann gestoßen hat, und es passiert jetzt, während der
Sonnenfinsternis. Da bin ich mir sicher …
Sie drehte sich mit
einer frischen Bluse in der Hand um, dann erstarrte sie. Ihr Vater
stand unter der Tür und beobachtete sie.