34
Der erste Gedanke,
der sich wieder einstellte, war der, dass die Dunkelheit bedeutete,
sie war tot.
Ihr zweiter Gedanke
war, wenn sie tot wäre, würde sich ihre rechte Hand nicht anfühlen,
als wäre sie erst mit Napalm bombardiert und dann mit Rasierklingen
geschält worden. Der dritte war die erschreckende Erkenntnis, wenn
es dunkel war und sie die Augen offen hatte – was der Fall zu sein
schien -, musste die Sonne untergegangen sein. Das riss sie hastig
aus dem Niemandsland, wo sie gelegen hatte – nicht völlige
Bewusstlosigkeit, aber eine tiefe Postschockträgheit. Zuerst konnte
sie sich nicht erinnern, weshalb der Gedanke an den Sonnenuntergang
so furchterregend sein sollte, aber dann (Space Cowboy Monster of Love)
fiel ihr alles so
urplötzlich wieder ein, dass es einem elektrischen Schock
gleichkam. Die schmalen, leichenhaften Wangen; die hohe Stirn; die
starren Augen.
Der Wind hatte wieder
zugenommen, während sie bewusstlos auf dem Bett lag, und die
Hintertür schlug wieder. Einen Augenblick lang waren Tür und Wind
die einzigen Laute, aber dann erklang ein langgezogenes, wimmerndes
Heulen. Jessie glaubte, dass es das grässlichste Geräusch war, das
sie in ihrem Leben je gehört hatte; sie stellte sich vor, dass so
eine lebendig Begrabene schreien würde, wenn sie ausgegraben und
lebend, aber wahnsinnig aus ihrem Sarg geholt wurde.
Das Geräusch
verhallte in der unheimlichen Nacht (und es war Nacht, daran konnte kein Zweifel bestehen),
aber einen Augenblick später ertönte es erneut: ein
nichtmenschliches Falsett voll hirnlosem Grauen. Es rauschte über
sie hinweg wie etwas Lebendiges, so dass sie hilflos auf dem Bett
schlotterte und sich die Ohren zuhielt. Sie hielt sie zu, aber
nicht einmal das konnte den grässlichen Schrei abhalten, als er zum
dritten Mal erklang.
»Oh, nicht«, stöhnte
sie. Ihr war noch nie so kalt gewesen, so kalt, so kalt. »Oh, nicht
… nicht.«
Das Heulen verklang
in der windumtosten Nacht und ertönte nicht sofort wieder. Jessie
konnte einen Augenblick durchatmen und sagte sich, dass es nur ein
Hund war – wahrscheinlich der Hund, der
ihren Mann in sein privates McDonald’s-Drive-in-Restaurant
verwandelt hatte. Dann ertönte der
Schrei erneut, und es war unmöglich zu glauben, dass ein Geschöpf
der natürlichen Welt so einen Laut von sich geben konnte; es musste
gewiss eine Banshee sein oder ein Vampir, der sich mit einem Pfahl
im Herzen wand. Während der Schrei seinem kristallklaren Gipfel
zustieg, begriff Jessie plötzlich, weshalb das Tier solche Töne von
sich gab.
Es war zurückgekommen, wie sie befürchtet hatte.
Der Hund wusste es, spürte es irgendwie.
Sie schlotterte am
ganzen Leib. Ihr Blick fiel panisch um die Ecke, wo sie den
Besucher letzte Nacht hatte stehen sehen – die Ecke, wo er den
Perlmuttohrring und den Fußabdruck hinterlassen hatte. Es war viel
zu dunkel, als dass man das eine oder andere hätte erkennen können
(immer vorausgesetzt, sie waren tatsächlich da), aber einen
Augenblick lang glaubte Jessie, die Kreatur selbst zu sehen, und
spürte, wie ihr ein Schrei im Halse emporstieg. Sie kniff die Augen
zusammen, schlug sie wieder auf und sah nichts außer den
windgepeitschten Schatten der Bäume vor den Fenstern. Weit hinten
im Westen, hinter den zuckenden Umrissen der Bäume, konnte sie ein
verblassendes Goldband über dem Horizont sehen.
Es könnte sieben Uhr sein, aber da ich den Sonnenuntergang
noch sehen kann, ist es vielleicht nicht einmal so spät. Was
bedeutet, ich war nur eineinhalb Stunden weg, allerhöchstens
zweieinhalb. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, einen Abgang zu
machen. Vielleicht …
Dieses Mal schien der
Hund regelrecht zu kreischen. Als sie
es hörte, war Jessie, als müsste sie zurückschreien. Sie packte
einen der Pfosten am Fußende, weil sie wieder schwankte, und
stellte plötzlich fest, sie konnte sich überhaupt nicht daran
erinnern, dass sie vom Bett aufgestanden war. So sehr hatte der
Hund sie durcheinandergebracht.
Reiß dich zusammen, Mädchen. Hol tief Luft und reiß dich
zusammen.
Sie holte tief Luft, und den Geruch, den sie mit der
Luft einatmete, kannte sie. Er war wie der schale Mineraliengeruch,
der sie die ganzen Jahre über gequält hatte – der Geruch, der Sex,
Wasser und Vater für sie bedeutete -, aber nicht genau so. Ein anderer Geruch oder Gerüche schienen
mit dieser Version zu verschmelzen – alter Knoblauch … uralte
Zwiebeln … Schmutz … möglicherweise ungewaschene Füße. Der Geruch
stieß Jessie wieder in den Brunnen der Jahre hinunter und erfüllte
sie mit dem hilflosen, unaussprechlichen Schrecken, den Kinder
empfanden, wenn sie eine gesichtslose, namenlose Kreatur spürten –
ein Es -, das geduldig unter dem Bett lauerte, bis sie einen Fuß
herausstreckten … oder eine Hand hinunterbaumeln ließen
…
Der Wind böte. Die
Tür schlug. Und irgendwo in der Nähe quietschte eine Bodendiele
verstohlen, wie es häufig geschah, wenn jemand, der sich bemühte,
leise zu sein, leichtfüßig darauftrat.
Es ist wieder da, flüsterte ihr Verstand. Er
bestand jetzt aus allen Stimmen; sie waren ineinandergeflochten wie
ein Zopf. Das riecht der Hund, das
riechst du, Jessie, und darum quietscht
die Diele. Das Ding, das gestern Nacht da war, ist
zurückgekommen.
»O Gott, bitte,
nein«, stöhnte sie. »O Gott, nein. O Gott, nein. O lieber Gott,
bitte mach, dass es nicht stimmt.«
Sie versuchte sich zu
bewegen, aber ihre Füße waren am Boden festgefroren und die linke
Hand am Bettpfosten festgenagelt. Ihre Angst hatte sie so sicher
gelähmt, wie näher kommende Scheinwerfer ein Reh oder Kaninchen
mitten auf der Straße festhielten. Sie würde hier stehen und
hauchend beten, bis es sie holen kam, sie
holen - der Space Cowboy, der Schnitter der Liebe, der
Handlungsreisende der Toten, dessen Musterkoffer mit Knochen und
Fingerringen gefüllt war statt mit Bürsten von Amway oder
Fuller.
Der wabernde Schrei
des Hundes schwoll in der Luft an, schwoll in ihrem Kopf an, bis sie glaubte, er müsste sie wahnsinnig
machen.
Ich träume, dachte sie. Darum
konnte ich mich nicht erinnern, wie ich aufgestanden bin; Träume
sind die geistige Version von Reader’s-Digest-Auswahlbüchern, und
wenn man träumt, kann man sich nie an Nebensächlichkeiten wie diese
erinnern. Ich bin umgekippt, ja - das ist wirklich passiert, aber statt ins Koma zu fallen, bin
ich ganz normal eingeschlafen. Ich glaube, die Blutung muss
aufgehört haben, denn ich glaube nicht, dass Menschen, die
verbluten, Alpträume haben, wenn sie ausgezählt werden. Ich
schlafe, das ist alles. Ich schlafe und habe den Urahn aller bösen
Träume.
Eine ungeheuer
tröstliche Vorstellung, an der nur eines nicht stimmte: Sie traf
nicht zu. Die tanzenden Baumschatten an der Wand über der Kommode
waren echt. Ebenso der eklige Geruch, der durch das Haus zog. Sie
war wach, und sie musste von hier weg.
»Ich kann mich nicht bewegen!«, jammerte
sie.
Doch du kannst, sagte Ruth grimmig zu ihr.
Du bist nicht aus diesen verdammten
Handschellen rausgekommen, nur um vor Angst zu sterben, Süße. Beweg
dich, aber schnell – ich muss dir hoffentlich nicht sagen wie,
oder?
»Nein«, flüsterte
Jessie und schlug zaghaft mit dem rechten Handrücken gegen den
Bettpfosten. Die Folge war eine sofortige und gewaltige
Schmerzexplosion. Der Schraubstock der Panik, der sie festgehalten
hatte, zerschellte wie Glas, und als der Hund wieder ein Heulen
ausstieß, das einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte,
hörte Jessie es kaum – ihre Hand war viel näher und heulte viel
lauter.
Und du weißt auch, was als Nächstes zu tun ist, Süße –
ja?
Ja – die Zeit war
gekommen, Hockeyspieler zu spielen und den Puck von hier
verschwinden zu lassen, zu wandern wie ein Buch aus der Bibliothek.
Der Gedanke an Geralds Gewehr kam ihr in den Sinn, aber sie verwarf
ihn wieder. Wenn die Flinte überhaupt da war, würde sie ungeladen
in einem Regal im Keller stehen, und sie hatte nicht die geringste
Ahnung, wo Gerald die Patronen aufbewahrte.
Jessie ging langsam
und vorsichtig mit zitternden Beinen durch das Zimmer und streckte
dabei wieder die linke Hand aus, damit sie das Gleichgewicht
behielt. Der Flur jenseits des Schlafzimmers war ein Karussell
tanzender Schatten, rechts lag die offene Tür zum Gästezimmer, und
links befand sich die Tür der kleinen Kammer, die Gerald als
Arbeitszimmer benutzte. Weiter unten auf der linken Seite befand
sich ein Rundbogen, durch den man ins Wohnzimmer gelangte. Rechts
befand sich die offene Hintertür … der Mercedes … und
möglicherweise die Freiheit.
Fünfzig Schritte, dachte sie.
Mehr können es nicht sein, wahrscheinlich weniger. Also spute dich,
okay?
Aber zuerst konnte
sie nicht. So bizarr es jemandem vorkommen mochte, der nicht
durchgemacht hatte, was Jessie in den vergangenen rund
achtundzwanzig Stunden erleben musste, aber das Schlafzimmer
bedeutete eine Art kläglicher Sicherheit für sie. Der Flur indessen
… alles konnte da draußen lauern. Alles. Dann prallte etwas, was sich wie ein
geworfener Stein anhörte, gegen die Westseite des Hauses
unmittelbar neben den Fenstern. Jessie stieß ihr eigenes Heulen der
Angst aus, bevor ihr klarwurde, dass es nur ein Ast der knorrigen
alten Blaufichte draußen neben der Veranda gewesen sein
konnte.
Nimm dich zusammen, sagte Punkin streng.
Nimm dich zusammen, und geh
raus.
Sie stakste tapfer
weiter, ließ den linken Arm ausgestreckt und zählte die Schritte.
Bei zwölf kam sie am Gästezimmer vorbei. Bei fünfzehn erreichte sie
Geralds Arbeitszimmer, und da hörte sie erstmalig ein leises,
tonloses Zischen, als würde Dampf aus einer alten Heizung
entweichen. Zuerst brachte Jessie das Geräusch nicht mit dem
Arbeitszimmer in Zusammenhang; sie dachte, dass sie es selbst von
sich gab. Als sie dann aber den rechten Fuß zum sechzehnten Schritt
hob, schwoll das Geräusch an. Dieses Mal nahm sie es deutlicher zur
Kenntnis, und Jessie merkte, dass sie
es nicht machen konnte, weil sie den Atem anhielt.
Langsam, ganz langsam
drehte sie den Kopf zum Arbeitszimmer, wo ihr Mann nie wieder an
Justizakten arbeiten würde, während er Marlboros kettenrauchte und
alte Songs von den Beach Boys sang. Das Haus ächzte jetzt um sie
herum wie ein altes Schiff, das durch mittelschweren Seegang
pflügte, und quietschte in seinen verschiedenen Gelenken, während
der Wind es mit kalter Luft bestürmte. Jetzt konnte sie neben der
schlagenden Tür noch einen klappernden Laden hören, aber diese
Geräusche waren anderswo, in einer anderen Welt, wo Ehefrauen nicht
mit Handschellen gefesselt wurden, Ehemänner sich nicht weigerten,
ihren Wünschen nachzukommen und keine Geschöpfe der Nacht auf
Pirsch gingen.
Ich will nicht nachschauen!, schrie ihr ganzes
Denken. Ich will nicht nachschauen! Ich will
nichts sehen!
Aber sie musste
hinsehen. Es war, als würden kräftige Hände ihren Kopf drehen,
während der Wind heulte und die Hintertür schlug und der Laden
klapperte und der Hund wieder seinen einsamen, grauenerregenden Ruf
in den nächtlichen Oktoberhimmel heulte. Sie drehte den Kopf, bis
sie in das Arbeitszimmer ihres toten Mannes sah, und ja, wie
erwartet, dort war sie, eine schlaksige Gestalt neben Geralds
Eames-Stuhl vor der Glasschiebetür. Das schmale weiße Gesicht
schwebte in der Dunkelheit wie ein langgezogener Totenschädel. Der
dunkle, rechteckige Schatten des Musterkoffers hockte zwischen
seinen Beinen.
Sie holte Luft, um zu
schreien, aber heraus kam etwas, was sich wie ein Teekessel mit
kaputter Pfeife anhörte: »Huhhhhaaahhhhhhh.«
Nur das, sonst
nichts.
Irgendwo, in dieser
anderen Welt, rann ihr heißer Urin am Bein hinab; sie hatte sich
zum zweiten Mal an einem Tag in die Hosen gemacht, ein Rekord. Der
Wind wehte böig in der anderen Welt und erschütterte das Haus bis
auf die Knochen. Die Blaufichte stieß den Ast wieder gegen die
Westwand. Geralds Arbeitszimmer war eine Lagune tanzender Schatten,
und es war wieder schwer zu sagen, was sie sah … oder ob sie
überhaupt etwas sah.
Der Hund ließ wieder
seinen durchdringenden Angstschrei erschallen, und Jessie dachte:
Oh, du siehst ihn durchaus. Vielleicht nicht
so gut, wie der Hund da draußen ihn riecht, aber du siehst
ihn.
Als wollte er
eventuell noch bestehende Zweifel ausräumen, legte ihr Besucher den
Kopf zu einer Art Parodie eines fragenden Ausdrucks schief, wodurch
Jessie ihn deutlich, aber barmherzigerweise nur kurz sehen konnte.
Das Gesicht war das eines Außerirdischen, der ohne nennenswerten
Erfolg das Gesicht eines Menschen nachzuahmen versuchte. Zunächst
einmal war es zu schmal – schmaler als jedes Gesicht, das Jessie je
in ihrem Leben gesehen hatte. Die Nase schien nicht breiter als ein
Buttermesser zu sein. Die hohe Stirn wölbte sich wie eine groteske
Glühbirne. Die Augen des Dings waren schlichte schwarze Kreise
unter dem dünnen, kopfstehenden V der Brauen; die leberfarbenen
Lippen des Munds schienen gleichzeitig zu schmollen und zu
schmelzen.
Nein, nicht zu schmelzen, dachte sie mit der
grellen, scharf gebündelten Klarheit, die manchmal wie der
Leuchtfaden in einer Glühbirne in einer Kugel pursten Entsetzens
existierte. Nicht zu schmelzen, zu
lächeln. Es versucht mich
anzulächeln.
Dann bückte es sich,
um den Koffer zu ergreifen, und das schmale, zusammenhanglose
Gesicht verschwand barmherzigerweise aus dem Blickfeld. Jessie
taumelte einen Schritt zurück, versuchte wieder zu schreien und
brachte nochmals nur ein sprödes, glasiges Flüstern zustande. Der
Wind, der um die Ecken heulte, war lauter.
Ihr Besucher richtete
sich wieder auf, hielt die Tasche mit einer Hand und öffnete mit
der anderen die Laschen. Jessie stellte zweierlei fest, und zwar
nicht weil sie es wollte, sondern weil die Fähigkeit ihres
Verstandes, sich auszusuchen, was er wahrnehmen wollte, völlig im
Eimer war. Das Erste hatte mit dem Geruch zu tun, der ihr schon
zuvor aufgefallen war. Nicht Knoblauch oder Zwiebeln oder Schweiß
oder Schmutz. Es war verwesendes Fleisch. Das Zweite hatte mit den
Armen der Kreatur zu tun. Jetzt war sie näher dran und konnte
besser sehen (sie wünschte sich, es wäre nicht der Fall, aber es
war so), und nun beeindruckten sie sie noch nachdrücklicher –
missgebildete, lange Schläuche, die in den windgepeitschten
Schatten zu wabern schienen wie die Tentakel eines
Meeresungeheuers. Sie hielten ihr die Tasche wie zur Begutachtung
hin, und jetzt sah Jessie, dass es sich nicht um den Musterkoffer
eines Handlungsreisenden handelte, sondern um einen Weidenkorb, der
wie eine zu groß geratene Fischreuse aussah.
Ich habe so einen Korb schon einmal gesehen, dachte
sie. Ich weiß nicht, ob in einer alten
Fernsehserie oder in Wirklichkeit, aber ich habe ihn gesehen. Als
ich ein kleines Mädchen war. Er kam aus einem langen schwarzen Auto
mit einer Tür hinten.
Plötzlich ergriff
eine leise und bedrohliche UFO-Stimme in ihrem Inneren das Wort:
Es war einmal, Jessie, als Präsident Kennedy
noch lebte und alle kleinen Mädchen Punkins waren und man den
Plastikbeutel noch nicht erfunden hatte – sagen wir einmal zur Zeit
der Sonnenfinsternis -, da waren solche Kisten gebräuchlich. Es gab
sie in allen Größen, für Männer mit Übergröße bis zu Fehlgeburten
im sechsten Monat. Dein Freund bewahrt seine Souvenirs in einer
altmodischen Leichenkiste auf, Jessie.
Als ihr das
klarwurde, wurde ihr schlagartig noch etwas anderes klar. Es lag
vollkommen auf der Hand, wenn man darüber nachdachte. Der Grund,
weshalb ihr Besucher so schlimm roch, war der, dass er tot war. Das
Ding in Geralds Arbeitszimmer war ein wandelnder
Leichnam.
Nein … nein, das kann nicht sein …
Aber es war so. Sie
hatte, es war noch keine drei Stunden her, genau denselben Geruch
an Gerald wahrgenommen. Hatte ihn in
Gerald gerochen, wie er in dessen Fleisch schwärte wie eine
exotische Krankheit, mit der sich nur die Toten anstecken
konnten.
Jetzt machte ihr
Besucher wieder die Kiste auf und hielt sie ihr hin, und wieder sah
sie das Funkeln von Gold und das Glitzern von Diamanten zwischen
den Knochenhaufen. Wieder beobachtete sie, wie die schmale tote
Hand des Mannes hineingriff und den Inhalt der geflochtenen
Leichenkiste umrührte – einer Kiste, in der sich vielleicht einmal
der Leichnam eines Babys oder sehr kleinen Kindes befunden hatte.
Wieder hörte sie das brüchige Klicken und Klappern von Knochen, ein
Geräusch, das sich nach schmutzverklebten Kastagnetten
anhörte.
Jessie sah
hypnotisiert und fast ekstatisch vor Angst hin. Ihre geistige
Gesundheit war im Schwinden begriffen; sie konnte spüren, wie sie
den Bach hinunterging, konnte es fast hören, und sie konnte nichts auf Gottes grüner Erde
dagegen machen.
Doch, du kannst! Du kannst weglaufen! Du musst
weglaufen, und du musst es gleich
machen!
Das war Punkin, und
sie kreischte … aber sie war auch weit entfernt, in einer tiefen
Steinschlucht in Jessies Kopf verirrt. Es gab viele Schluchten da drinnen, stellte sie fest, und
viele dunkle, gewundene Täler und Höhlen, die das Licht der Sonne
noch nie gesehen hatten – Orte, wo die Sonnenfinsternis nie zu Ende
gegangen war, könnte man sagen. Es war interessant. Interessant
herauszufinden, dass der Verstand eines Menschen in Wirklichkeit
nichts weiter als ein Friedhof über einer schwarzen Höhle war, wo
missgestalte Reptilien wie dieses auf dem Grund herumkrochen.
Interessant.
Draußen heulte der
Hund erneut auf, und Jessie fand endlich ihre Stimme wieder. Sie
heulte mit ihm, ein bellender Laut, aus dem jegliche Vernunft
entschwunden war. Sie konnte sich vorstellen, dass sie in einem
Irrenhaus solche Laute von sich gab. Den Rest ihres Lebens von sich
gab. Sie stellte fest, dass sie sich das mühelos vorstellen
konnte.
Jessie, nein! Halt durch! Bleib bei Sinnen und lauf weg!
Lauf weg!
Ihr Besucher grinste
sie an, fletschte die Lippen vom Zahnfleisch weg und entblößte
erneut dieses Funkeln von Gold hinten im Mund, ein Funkeln, das sie
an Gerald erinnerte. Goldzähne. Es besaß Goldzähne, und das
bedeutete, es war …
Es bedeutet, dass es wirklich da ist, ja, aber das wussten
wir bereits, oder nicht? Die einzige Frage ist noch, was wirst du
tun? Irgendwelche Vorschläge, Jessie? Wenn ja, solltest du sie
lieber ausspucken, die Zeit wird nämlich verflixt
knapp.
Die Erscheinung, die
noch die offene Kiste hielt, kam einen Schritt nach vorne, als
erwartete sie, dass Jessie den Inhalt bewundern würde. Sie sah,
dass es ein Collier trug – ein unheimliches Collier. Der
durchdringende, unangenehme Geruch wurde stärker. Ebenso das
unübersehbare Gefühl des Bösen. Jessie versuchte, als Ausgleich für
den Schritt des Besuchers selbst einen zurückzuweichen, und stellte
fest, dass sie die Füße nicht bewegen konnte. Es war, als wären sie
am Boden festgeklebt.
Es will dich umbringen, Süße, sagte Ruth, und
Jessie wusste, dass das zutraf. Wirst du das
zulassen? Jetzt schwang kein Ärger oder Sarkasmus mehr in
Ruths Stimme mit, nur Neugier. Nach allem, was
du durchgemacht hast, willst du das wirklich
zulassen?
Der Hund heulte. Die
Hand rührte. Die Knochen flüsterten. Die Diamanten und Rubine
versprühten ihr trübes Nachtfeuer.
Ohne richtig zu
merken, was sie machte, geschweige denn warum sie es machte, nahm
Jessie ihre eigenen Ringe, die am dritten Finger der linken Hand,
mit dem heftig zitternden Daumen und Zeigefinger der rechten. Die
Schmerzen in dieser Hand beim Zugreifen waren schwach und fern. Sie
hatte die Ringe alle Tage und Jahre ihrer Ehe fast ununterbrochen
getragen, und als sie sie das letzte Mal abnehmen wollte, hatte sie
sich die Finger einseifen müssen. Dieses Mal nicht. Dieses Mal
glitten sie mühelos herunter.
Sie hielt die blutige
Hand der Kreatur hin, die inzwischen bis zum Bücherschrank neben
dem Eingang zum Arbeitszimmer vorgedrungen war. Die Ringe bildeten
eine mystische Acht unter dem behelfsmäßigen Verband aus der
Monatsbinde. Die Kreatur blieb stehen. Das Lächeln des
missgestalten Schmollmunds wurde zu einem neuen Ausdruck, bei dem
es sich um Wut oder nur Verwirrung handeln mochte.
»Hier«, sagte Jessie
mit schroffem, ersticktem Knurren. »Hier, nimm sie. Nimm sie, und
lass mich in Ruhe.«
Bevor die Kreatur
sich bewegen konnte, warf sie die Ringe in die offene Kiste, wie
sie einmal Münzen in die Körbchen mit der Aufschrift KLEINGELD an der Mautstelle New Hampshire geworfen
hatte. Jetzt lagen keine fünf Schritte mehr zwischen ihnen, die
Öffnung der Kiste war groß, beide Ringe landeten im Ziel. Sie hörte
ein leises Klicken, als ihr Ehe- und ihr Verlobungsring auf die
Knochen des Fremden fielen.
Das Ding fletschte
wieder die Zähne und stieß erneut das einsilbige, schmierige
Zischen aus. Es ging noch einen Schritt vorwärts, und da erwachte
etwas – etwas, was schockiert und fassungslos auf dem Grund ihres
Verstandes gelegen hatte.
»Nein!«, schrie sie. Sie drehte sich herum und
rannte den Flur entlang, während der Wind aufbrauste und die Tür
schlug und der Laden klapperte und der Hund heulte, und es war
direkt hinter ihr, das war es, sie
konnte sein Zischen hören, es würde jeden Moment nach ihr greifen,
eine schmale weiße Hand, die am Ende eines fantastischen Arms so
lang wie ein Tentakel schwebte, sie würde spüren, wie sich ihr die
verwesenden weißen Finger um den Hals legten …
Dann war sie an der
Hintertür, sie riss sie auf, sie schnellte auf die Veranda und
stolperte über ihren rechten Fuß; sie fiel und erinnerte sich noch
im Fallen irgendwie daran, dass sie den Körper drehen musste, damit
sie auf der linken Seite landete. Das gelang ihr, aber der Aufprall
war dennoch so fest, dass sie Sterne sah. Sie drehte sich auf den
Rücken, hob den Kopf, sah zur Tür und rechnete damit, das schmale
weiße Gesicht des Space Cowboy hinter dem Fliegengitter zu sehen.
Sie sah es nicht und konnte auch das Zischen nicht mehr hören.
Nicht dass das viel zu sagen gehabt hätte; es konnte jeden Moment
herausstürzen, sie packen und ihr die Kehle aufschlitzen
…
Jessie rappelte sich
auf, schaffte einen Schritt, und dann ließen die von Schock und
Blutverlust geschwächten Beine sie im Stich; sie stürzte wieder auf
die Veranda und kam neben dem geschlossenen Kästchen zu liegen, in
dem sich die Mülltonne befand. Sie stöhnte und sah zum Himmel, wo
Wolken im Licht eines Dreiviertelmondes mit irrwitziger
Geschwindigkeit von Westen nach Osten rasten. Schatten wanderten
über ihr Gesicht wie wundersame bewegliche Tätowierungen. Dann
heulte der Hund wieder, der sich hier draußen viel näher anhörte,
und das gab ihr das letzte bisschen Schwung, das sie brauchte. Sie
griff mit der linken Hand nach dem leicht angeschrägten Deckel des
Müllkastens, tastete nach dem Griff und zog sich daran auf die
Beine. Als sie stand, hielt sie den Griff fest umklammert, bis die
Welt aufhörte, sich zu drehen. Dann ließ sie los und ging langsam
auf den Mercedes zu, wobei sie nun beide Arme ausstreckte, um das
Gleichgewicht zu halten.
Wie sehr das Haus im Mondschein einem Totenschädel
ähnelt!, staunte sie nach ihrem ersten panischen Blick
zurück. Wie ein Totenschädel! Die Tür ist der
Mund, die Fenster sind die Augen, die Schatten der Bäume sein Haar
…
Dann kam ihr ein
neuer Gedanke, und der schien komisch zu sein, denn sie lachte
kreischend in die windige Nacht hinaus.
Und das Gehirn – vergiss das Gehirn nicht. Gerald ist
selbstverständlich das Gehirn. Das tote und verfaulende Gehirn des
Hauses.
Sie lachte wieder,
als sie beim Auto war, lauter denn je, und der Hund heulte als
Antwort. Mein Hund hat einen Floh, der beißt
ihn so, dachte sie. Ihre Knie gaben nach, und sie packte den
Türgriff, damit sie nicht auf der Einfahrt stürzte, hörte dabei
aber nicht auf zu lachen. Sie verstand nicht genau, warum sie lachte. Sie verstand es vielleicht, wenn
die Teile ihres Verstandes, die sich als Selbstschutzmaßnahme
abgeschaltet hatten, jemals wieder in Betrieb genommen wurden, aber
das würde erst passieren, wenn sie hier weg war. Wenn ihr das je
gelang.
»Ich könnte mir
denken, dass ich auch eine Bluttransfusion brauche«, sagte sie, was
wieder eine Lachsalve auslöste. Sie griff unbeholfen mit der linken
Hand zur rechten Tasche und lachte immerzu. Sie tastete nach dem
Schlüssel, als ihr auffiel, dass der Geruch wieder da war und die
Kreatur mit dem Weidenkorb direkt hinter ihr stand. Jessie drehte
den Kopf, das Lachen steckte ihr noch im Hals, und ein Grinsen
zuckte um ihre Lippen, und einen Moment lang sah sie die schmalen Wangen und starren, grundlosen
Augen. Aber sie sah sie nur wegen (der
Sonnenfinsternis)
der großen Angst, die
sie empfand, nicht weil tatsächlich etwas da war; die hintere Veranda war immer noch
verlassen, das Fliegengitter ein dunkles Rechteck.
Aber du solltest dich sputen, sagte Goodwife
Burlingame. Ja, du solltest lieber wie ein
Hockeyspieler sausen, solange du noch kannst, meinst du nicht
auch?
»Mich wie eine Amöbe
teilen«, stimmte Jessie zu und lachte wieder, während sie den
Schlüssel aus der Tasche zog. Er wäre ihr fast aus den Fingern
gerutscht, aber sie fing ihn an dem übergroßen Plastikanhänger auf.
»Du sexy Ding«, sagte Jessie und lachte ausgelassen, als die
Hintertür aufgerissen wurde und der tote Cowboy/Geist der Liebe in
einer schmutzig weißen Wolke aus Knochenstaub herausgestürmt kam,
aber als sie sich umdrehte (und den Schlüssel trotz des großen
Anhängers fast wieder fallen ließ), war nichts zu sehen. Nur der
Wind, der die Tür geschlagen hatte – nur das, sonst
nichts.
Sie machte die
Fahrertür auf, glitt hinter das Steuer des Mercedes und schaffte
es, die zitternden Beine hineinzuziehen. Sie schlug die Tür zu, und
als sie die Zentralverriegelung drückte, die sämtliche Türen
abschloss (einschließlich des Kofferraums selbstverständlich;
nichts auf der Welt ging über deutsche Wertarbeit), überkam sie ein
unaussprechliches Gefühl der Erleichterung. Erleichterung und noch
etwas. Dieses Etwas schien ihre geistige Gesundheit zu sein, und
sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nichts empfunden, was es mit
diesem herrlichen Gefühl aufnehmen konnte … abgesehen natürlich vom
ersten Schluck Wasser aus dem Hahn. Jessie hatte eine Ahnung, dass
das zum ewigen Champion aller Klassen werden würde.
Wie nahe war ich dran, da drinnen verrückt zu werden? Wie
nahe wirklich?
Vielleicht solltest du das lieber gar nicht erst erfahren,
Süße, erwiderte Ruth Neary ernst.
Nein, vielleicht
nicht. Jessie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn
herum. Nichts geschah.
Das letzte Lachen
trocknete aus, aber sie geriet nicht in Panik; sie fühlte sich
immer noch normal und vergleichsweise gesund. Denk nach, Jessie. Sie dachte nach und fand die
Lösung fast augenblicklich. Der Mercedes kam in die Jahre (sie war
sich nicht sicher, ob er jemals etwas so Vulgäres wie alt wurde),
und in letzter Zeit hatte die Kraftübertragung ein paar üble Tricks
auf Lager gehabt, deutsche Wertarbeit hin oder her. Dazu gehörte,
dass der Wagen manchmal nicht ansprang, wenn der Fahrer nicht den
Schalthebel zwischen den Schalensitzen nach oben rammte, und zwar
fest nach oben rammte. Den Zündschlüssel drehen und gleichzeitig
den Schalthebel nach oben drücken, dazu waren zwei Hände
erforderlich, und ihre rechte pulsierte bereits schrecklich. Beim
Gedanken, dass sie damit auf den Schalthebel drücken musste,
krümmte sie sich innerlich, aber nicht nur wegen der Schmerzen. Sie
war sich ziemlich sicher, dass dabei die Schnittwunde an der
Innenseite des Handgelenks wieder aufplatzen würde.
»Bitte, lieber Gott,
ich brauche hier ein bisschen Hilfe«, flüsterte Jessie und drehte
den Zündschlüssel wieder herum. Immer noch nichts. Nicht einmal ein
Klicken. Und jetzt stahl sich wie ein übellauniger kleiner
Einbrecher ein neuer Gedanke in ihren Kopf: Ihr Unvermögen, den
Motor anzulassen, hatte nichts mit dem kleinen Tick des Getriebes
zu tun. Auch das war auf das Treiben ihres Besuchers
zurückzuführen. Er – es – hatte die Telefonleitungen
durchgeschnitten; es hatte auch die Haube des Mercedes gerade lange
genug hochgehoben, um die Verteilerkappe abzureißen und in den Wald
zu werfen.
Die Tür schlug. Sie
sah nervös in diese Richtung und war davon überzeugt, dass sie
einen Augenblick lang das grinsende weiße Gesicht in der Dunkelheit
des Foyers gesehen hatte. Noch einen oder zwei Augenblicke, und es
würde herauskommen. Es würde einen Stein nehmen und das Autofenster
einschlagen, dann würde es eine große Scherbe Sicherheitsglas
nehmen und …
Jessie griff sich mit
der linken Hand über den Schoß und drückte, so fest sie konnte,
gegen den Schalthebel (der sich in Wahrheit überhaupt nicht zu
bewegen schien). Dann griff sie mit der rechten Hand unbeholfen
durch den unteren Halbkreis des Lenkrads, nahm den Zündschlüssel
und drehte ihn wieder.
Noch mehr nichts.
Abgesehen vom stummen, hämischen Gelächter des Ungeheuers, das sie
beobachtete. Das konnte sie überdeutlich hören, wenn auch nur im
Geiste.
»Bitte, lieber Gott, kann ich verdammt nochmal nicht ein
einziges Mal Glück haben?«, schrie sie. Der Schalthebel
zitterte ein wenig unter ihrer Hand, und als Jessie den Schlüssel
dieses Mal auf Startposition drehte, erwachte der Motor brüllend
zum Leben – Jawohl, mein Führer! Sie
schluchzte vor Erleichterung und schaltete die Scheinwerfer ein.
Ein paar leuchtend orangerote Augen sahen sie von der Einfahrt an.
Sie schrie und spürte, wie sich ihr Herz von den Leitungen in der
Brust losreißen, ihr den Hals hinaufhüpfen und sie erwürgen wollte.
Es war selbstverständlich der Hund – der Streuner, der sozusagen
Geralds letzter Klient gewesen war.
Der einstige Prinz
stand stocksteif da und war vom grellen Scheinwerferlicht
vorübergehend geblendet. Hätte Jessie den Gang in diesem Augenblick
eingelegt, hätte sie wahrscheinlich losfahren und den Hund töten
können. Der Gedanke ging ihr sogar durch den Kopf, aber auf eine
distanzierte, fast akademische Weise. Hass und Angst vor dem Hund
waren verraucht. Sie sah, wie abgemagert er war und wie sich die
Zecken in seinem struppigen Fell drängten – ein Fell, das zu dünn
war, als dass es nennenswert Schutz vor dem bevorstehenden Winter
geboten hätte. Aber am deutlichsten sah sie, wie er im Licht
zusammenzuckte, die Ohren hängen ließ und die Hinterbeine auf den
Boden drückte.
Ich habe es nicht für möglich gehalten, dachte sie,
aber ich habe etwas gefunden, was noch mehr
Angst als ich hat.
Sie schlug mit dem
Ballen der linken Hand auf die Hupe des Mercedes. Sie gab einen
kurzen Laut von sich, mehr Röcheln als Hupen, aber der reichte aus,
den Hund zu erschrecken. Er drehte sich um und verschwand ohne
einen Blick zurück im Wald.
Du solltest seinem Beispiel folgen, Jess. Verschwinde von
hier, solange du noch kannst.
Gute Idee. Es war
sogar die einzige Idee. Sie griff
wieder mit der linken Hand über sich hinweg, dieses Mal um den
Schalthebel auf »Drive« zu stellen. Der Wagen rollte mit seinem
beruhigenden kurzen Aufbäumen an und fuhr langsam die gepflasterte
Einfahrt entlang. Die windgepeitschten Bäume wiegten sich auf
beiden Seiten des Autos wie Schattentänzer und ließen die ersten
Wirbelsturmtrichter voll Herbstlaub in den Nachthimmel kreisen.
Ich schaffe es, dachte Jessie staunend.
Ich schaffe es wahrhaftig, ich bringe den Puck
wahrhaftig von hier weg.
Sie rollte die
Einfahrt entlang, rollte zu dem namenlosen Feldweg, der sie zur
Sunset Lane bringen würde, und diese wiederum würde sie zur Route
117 und in die Zivilisation führen. Während sie das Haus (das im
windigen Oktobermondenschein mehr denn je wie ein Totenschädel
aussah) im Rückspiegel schrumpfen sah, dachte sie: Warum lässt es mich gehen? Lässt es mich überhaupt gehen?
Wirklich?
Ein Teil von ihr –
der vor Angst halb wahnsinnige Teil, der nie ganz den Handschellen
und dem Schlafzimmer im Haus an der Nordseite des Kashwakamak Lake
entkommen würde – versicherte ihr, dass sie keine Chance hatte,
dass die Kreatur mit dem Weidenkorb nur wie eine Katze mit einer
verwundeten Maus mit ihr spielte. Bevor sie viel weiter gekommen
war, mit Sicherheit bevor sie das Ende der Einfahrt erreicht hatte,
würde es sie verfolgen, mit seinen langen Trickfilmbeinen die
Entfernung überwinden, die langen Trickfilmarme ausstrecken, die
Heckstoßstange packen und das Auto zum Stillstand bringen. Deutsche
Wertarbeit war prima, aber wenn man es mit etwas zu tun hatte, was
von den Toten zurückgekommen war … nun …
Aber das Haus
schrumpfte weiter im Rückspiegel, und nichts kam zur Hintertür
heraus. Jessie kam zum Ende der Einfahrt, bog nach rechts ab und
fuhr mit Aufblendlicht auf den ausgefahrenen Spuren in Richtung
Sunset Lane, wobei sie das Auto mit der linken Hand steuerte. Jeden
zweiten oder dritten August schnitt eine Gruppe von Sommergästen,
die sich freiwillig gemeldet hatten – überwiegend von Bier und
Tratsch getrieben – das Unterholz und die herabhängenden Zweige
entlang dem Weg bis zur Sunset Lane. Dieses Jahr jedoch war das
ausgefallen, und daher war der Weg viel schmaler, als es Jessie
gefallen wollte. Jedes Mal, wenn ein windgepeitschter Zweig gegen
Dach oder Türen des Autos schlug, zuckte sie ein bisschen
zusammen.
Aber sie entkam. Eines nach dem anderen tauchten die
Wegzeichen, die sie im Lauf der Jahre kennengelernt hatte, im
Scheinwerferlicht auf und verschwanden hinter ihr: der riesige
Felsblock mit der gespaltenen Spitze, das zugewucherte Tor, an dem
ein verblasstes Schild mit der Aufschrift Rideout’s Hideout festgenagelt war, die entwurzelte
Kiefer, die zwischen kleineren Kiefern stand wie ein Betrunkener,
der von kleinwüchsigen, nüchternen Freunden nach Hause geschleppt
wurde. Die schiefe Kiefer war nur ein paar hundert Meter von der
Sunset Lane entfernt, und von dort waren es nur noch zirka drei
Kilometer bis zum Highway.
»Ich schaffe es, wenn
ich es leichtnehme«, sagte sie und drückte die ON-Taste des Radios
sehr behutsam mit dem rechten Daumen. Es wurde immer besser. »Take
it easy«, sagte sie ein bisschen lauter. »Go greasy.« Selbst der
letzte Schock – die leuchtend orangeroten Augen des Streuners –
klang jetzt ein wenig ab, obwohl sie spürte, dass sie zu zittern
anfing. »Überhaupt keine Probleme, wenn ich’s nur
leichtnehme.«
Das würde sie, keine
Bange – vielleicht sogar ein bisschen zu leicht. Die Tachonadel berührte kaum den Strich
für zwanzig Kilometer. Es war eine ungeheure Beruhigung,
wohlbehalten in der sicheren Umgebung des eigenen Autos zu sitzen,
und sie fragte sich schon, ob sie nicht die ganze Zeit nur vor
Schatten Angst gehabt hatte, aber der Zeitpunkt wäre mehr als
ungünstig, gerade jetzt etwas als gegeben zu nehmen. Wenn jemand im Haus gewesen war, konnte er
(es, beharrte eine tiefe Stimme – das
UFO aller UFOs) das Haus durch eine andere Tür verlassen haben. Er folgte ihr
möglicherweise in diesem Augenblick. Es wäre sogar möglich, dass
ein wirklich entschlossener Verfolger sie einholen konnte, wenn sie
weiterhin mit nur zwanzig Stundenkilometern
dahinkroch.
Jessie sah blinzelnd
zum Rückspiegel und wollte sich vergewissern, dass dieser Gedanke
nur durch Schock und Erschöpfung erzeugte Paranoia war, aber da
spürte sie, wie ihr das Herz in der Brust stehenblieb. Die linke
Hand fiel vom Lenkrad auf die rechte im Schoß. Das hätte teuflisch
wehtun müssen, aber sie verspürte keine Schmerzen – überhaupt
keine.
Der Fremde saß auf
der Rückbank und hatte die unheimlichen langen Hände an die
Schläfen gedrückt wie der Affe, der nichts Böses hörte. Die
schwarzen Augen sahen sie voll leerem Desinteresse an.
Du siehst … ich sehe … WIR sehen nichts als
Schatten!, rief Punkin, aber dieser Ruf kam aus weiter Feme;
er schien seinen Ursprung am anderen Ende des Universums zu
haben.
Und es stimmte nicht.
Sie sah mehr als nur Schatten im Rückspiegel. Das Ding, das da
hinten saß, war in Schatten eingehüllt,
das stimmte, aber es bestand nicht
daraus. Sie sah das Gesicht, die gewölbte Stirn, die runden
schwarzen Augen, die messerscharfe Nase, die plumpen, missgestalten
Lippen.
»Jessie!«, flüsterte
der Space Cowboy ekstatisch. »Nora! Ruth! Dudel-dei! Punkin
Pie!«
Ihre Augen, die starr
auf den Rückspiegel gerichtet waren, konnten sehen, wie sich der
Passagier langsam nach vorne beugte, sahen die gewölbte Stirn, die
sich langsam ihrem rechten Ohr entgegensenkte, als wollte ihr die
Kreatur ein Geheimnis anvertrauen. Sie sah, wie die wulstigen
Lippen von den schiefen, farblosen Zähnen weggezogen wurden und ein
verzerrtes, dümmliches Grinsen formten. An diesem Punkt begann der
endgültige Zusammenbruch von Jessie Burlingames
Verstand.
Nein!, schrie dieser mit einer Stimme, die so dünn
wie die Stimme eines Sängers auf einer kratzigen alten 78er
Schallplatte klang. Nein, bitte nicht! Es ist
nicht fair!
»Jessie!« Sein
stinkender Atem war scharf wie eine Raspel und kalt wie die Luft in
einer Fleischtheke. »Nora! Jessie! Ruth! Jessie! Punkin! Goodwife!
Jessie! Mami!«
Ihre vorquellenden
Augen sahen, dass das weiße Gesicht jetzt halb in ihrem Haar
verborgen war und der grinsende Mund fast ihr Ohr küsste, während
er immer und immer wieder sein köstliches Geheimnis flüsterte:
»Jessie! Nora! Goody! Punkin! Jessie! Jessie!
Jessie!«
In ihren Augen
erfolgte eine weiße Explosion, die lediglich ein großes dunkles
Loch hinterließ. Als Jessie hineintauchte, hatte sie einen letzten
zusammenhängenden Gedanken: Ich hätte nicht
hinsehen sollen – jetzt habe ich mir doch die Augen
verbrannt.
Dann kippte sie
ohnmächtig über das Lenkrad. Als der Mercedes gegen eine der großen
Pinien prallte, die an diesem Straßenabschnitt an der Böschung
standen, rastete der Sicherheitsgurt ein und riss sie wieder
zurück. Der Aufprall war so heftig, dass sich der Airbag
wahrscheinlich aufgeblasen haben würde, wäre das Modell neu genug
gewesen, um mit diesem System ausgerüstet zu sein. Es war jedoch
nicht stark genug, den Motor zu beschädigen oder gar abzuwürgen;
die gute alte deutsche Wertarbeit hatte wieder einmal triumphiert.
Stoßstange und Kühler waren verbogen und die Kühlerfigur schief,
aber der Motor schnurrte weiter zufrieden vor sich
hin.
Nach fünf Minuten
stellte ein Mikrochip im Armaturenbrett fest, dass der Motor jetzt
warm genug war und man die Heizung einschalten konnte. Das Gebläse
unter dem Armaturenbrett zischelte leise. Jessie war seitlich gegen
die Fahrertür gesunken, wo sie mit ans Fenster gedrückter Wange
dalag wie ein müdes Kind, das schließlich aufgegeben hatte und
eingeschlafen war, obwohl Großmutters Haus gleich hinter dem
nächsten Hügel lag. Über ihr reflektierte der Rückspiegel den
verlassenen Rücksitz und die einsame Straße im Mondlicht
dahinter.