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Der erste Gedanke, der sich wieder einstellte, war der, dass die Dunkelheit bedeutete, sie war tot.
Ihr zweiter Gedanke war, wenn sie tot wäre, würde sich ihre rechte Hand nicht anfühlen, als wäre sie erst mit Napalm bombardiert und dann mit Rasierklingen geschält worden. Der dritte war die erschreckende Erkenntnis, wenn es dunkel war und sie die Augen offen hatte – was der Fall zu sein schien -, musste die Sonne untergegangen sein. Das riss sie hastig aus dem Niemandsland, wo sie gelegen hatte – nicht völlige Bewusstlosigkeit, aber eine tiefe Postschockträgheit. Zuerst konnte sie sich nicht erinnern, weshalb der Gedanke an den Sonnenuntergang so furchterregend sein sollte, aber dann (Space Cowboy Monster of Love)
fiel ihr alles so urplötzlich wieder ein, dass es einem elektrischen Schock gleichkam. Die schmalen, leichenhaften Wangen; die hohe Stirn; die starren Augen.
Der Wind hatte wieder zugenommen, während sie bewusstlos auf dem Bett lag, und die Hintertür schlug wieder. Einen Augenblick lang waren Tür und Wind die einzigen Laute, aber dann erklang ein langgezogenes, wimmerndes Heulen. Jessie glaubte, dass es das grässlichste Geräusch war, das sie in ihrem Leben je gehört hatte; sie stellte sich vor, dass so eine lebendig Begrabene schreien würde, wenn sie ausgegraben und lebend, aber wahnsinnig aus ihrem Sarg geholt wurde.
Das Geräusch verhallte in der unheimlichen Nacht (und es war Nacht, daran konnte kein Zweifel bestehen), aber einen Augenblick später ertönte es erneut: ein nichtmenschliches Falsett voll hirnlosem Grauen. Es rauschte über sie hinweg wie etwas Lebendiges, so dass sie hilflos auf dem Bett schlotterte und sich die Ohren zuhielt. Sie hielt sie zu, aber nicht einmal das konnte den grässlichen Schrei abhalten, als er zum dritten Mal erklang.
»Oh, nicht«, stöhnte sie. Ihr war noch nie so kalt gewesen, so kalt, so kalt. »Oh, nicht … nicht.«
Das Heulen verklang in der windumtosten Nacht und ertönte nicht sofort wieder. Jessie konnte einen Augenblick durchatmen und sagte sich, dass es nur ein Hund war – wahrscheinlich der Hund, der ihren Mann in sein privates McDonald’s-Drive-in-Restaurant verwandelt hatte. Dann ertönte der Schrei erneut, und es war unmöglich zu glauben, dass ein Geschöpf der natürlichen Welt so einen Laut von sich geben konnte; es musste gewiss eine Banshee sein oder ein Vampir, der sich mit einem Pfahl im Herzen wand. Während der Schrei seinem kristallklaren Gipfel zustieg, begriff Jessie plötzlich, weshalb das Tier solche Töne von sich gab.
Es war zurückgekommen, wie sie befürchtet hatte. Der Hund wusste es, spürte es irgendwie.
Sie schlotterte am ganzen Leib. Ihr Blick fiel panisch um die Ecke, wo sie den Besucher letzte Nacht hatte stehen sehen – die Ecke, wo er den Perlmuttohrring und den Fußabdruck hinterlassen hatte. Es war viel zu dunkel, als dass man das eine oder andere hätte erkennen können (immer vorausgesetzt, sie waren tatsächlich da), aber einen Augenblick lang glaubte Jessie, die Kreatur selbst zu sehen, und spürte, wie ihr ein Schrei im Halse emporstieg. Sie kniff die Augen zusammen, schlug sie wieder auf und sah nichts außer den windgepeitschten Schatten der Bäume vor den Fenstern. Weit hinten im Westen, hinter den zuckenden Umrissen der Bäume, konnte sie ein verblassendes Goldband über dem Horizont sehen.
Es könnte sieben Uhr sein, aber da ich den Sonnenuntergang noch sehen kann, ist es vielleicht nicht einmal so spät. Was bedeutet, ich war nur eineinhalb Stunden weg, allerhöchstens zweieinhalb. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, einen Abgang zu machen. Vielleicht …
Dieses Mal schien der Hund regelrecht zu kreischen. Als sie es hörte, war Jessie, als müsste sie zurückschreien. Sie packte einen der Pfosten am Fußende, weil sie wieder schwankte, und stellte plötzlich fest, sie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, dass sie vom Bett aufgestanden war. So sehr hatte der Hund sie durcheinandergebracht.
Reiß dich zusammen, Mädchen. Hol tief Luft und reiß dich zusammen.
Sie holte tief Luft, und den Geruch, den sie mit der Luft einatmete, kannte sie. Er war wie der schale Mineraliengeruch, der sie die ganzen Jahre über gequält hatte – der Geruch, der Sex, Wasser und Vater für sie bedeutete -, aber nicht genau so. Ein anderer Geruch oder Gerüche schienen mit dieser Version zu verschmelzen – alter Knoblauch … uralte Zwiebeln … Schmutz … möglicherweise ungewaschene Füße. Der Geruch stieß Jessie wieder in den Brunnen der Jahre hinunter und erfüllte sie mit dem hilflosen, unaussprechlichen Schrecken, den Kinder empfanden, wenn sie eine gesichtslose, namenlose Kreatur spürten – ein Es -, das geduldig unter dem Bett lauerte, bis sie einen Fuß herausstreckten … oder eine Hand hinunterbaumeln ließen …
Der Wind böte. Die Tür schlug. Und irgendwo in der Nähe quietschte eine Bodendiele verstohlen, wie es häufig geschah, wenn jemand, der sich bemühte, leise zu sein, leichtfüßig darauftrat.
Es ist wieder da, flüsterte ihr Verstand. Er bestand jetzt aus allen Stimmen; sie waren ineinandergeflochten wie ein Zopf. Das riecht der Hund, das riechst du, Jessie, und darum quietscht die Diele. Das Ding, das gestern Nacht da war, ist zurückgekommen.
»O Gott, bitte, nein«, stöhnte sie. »O Gott, nein. O Gott, nein. O lieber Gott, bitte mach, dass es nicht stimmt.«
Sie versuchte sich zu bewegen, aber ihre Füße waren am Boden festgefroren und die linke Hand am Bettpfosten festgenagelt. Ihre Angst hatte sie so sicher gelähmt, wie näher kommende Scheinwerfer ein Reh oder Kaninchen mitten auf der Straße festhielten. Sie würde hier stehen und hauchend beten, bis es sie holen kam, sie holen - der Space Cowboy, der Schnitter der Liebe, der Handlungsreisende der Toten, dessen Musterkoffer mit Knochen und Fingerringen gefüllt war statt mit Bürsten von Amway oder Fuller.
Der wabernde Schrei des Hundes schwoll in der Luft an, schwoll in ihrem Kopf an, bis sie glaubte, er müsste sie wahnsinnig machen.
Ich träume, dachte sie. Darum konnte ich mich nicht erinnern, wie ich aufgestanden bin; Träume sind die geistige Version von Reader’s-Digest-Auswahlbüchern, und wenn man träumt, kann man sich nie an Nebensächlichkeiten wie diese erinnern. Ich bin umgekippt, ja - das ist wirklich passiert, aber statt ins Koma zu fallen, bin ich ganz normal eingeschlafen. Ich glaube, die Blutung muss aufgehört haben, denn ich glaube nicht, dass Menschen, die verbluten, Alpträume haben, wenn sie ausgezählt werden. Ich schlafe, das ist alles. Ich schlafe und habe den Urahn aller bösen Träume.
Eine ungeheuer tröstliche Vorstellung, an der nur eines nicht stimmte: Sie traf nicht zu. Die tanzenden Baumschatten an der Wand über der Kommode waren echt. Ebenso der eklige Geruch, der durch das Haus zog. Sie war wach, und sie musste von hier weg.
»Ich kann mich nicht bewegen!«, jammerte sie.
Doch du kannst, sagte Ruth grimmig zu ihr. Du bist nicht aus diesen verdammten Handschellen rausgekommen, nur um vor Angst zu sterben, Süße. Beweg dich, aber schnell – ich muss dir hoffentlich nicht sagen wie, oder?
»Nein«, flüsterte Jessie und schlug zaghaft mit dem rechten Handrücken gegen den Bettpfosten. Die Folge war eine sofortige und gewaltige Schmerzexplosion. Der Schraubstock der Panik, der sie festgehalten hatte, zerschellte wie Glas, und als der Hund wieder ein Heulen ausstieß, das einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte, hörte Jessie es kaum – ihre Hand war viel näher und heulte viel lauter.
Und du weißt auch, was als Nächstes zu tun ist, Süße – ja?
Ja – die Zeit war gekommen, Hockeyspieler zu spielen und den Puck von hier verschwinden zu lassen, zu wandern wie ein Buch aus der Bibliothek. Der Gedanke an Geralds Gewehr kam ihr in den Sinn, aber sie verwarf ihn wieder. Wenn die Flinte überhaupt da war, würde sie ungeladen in einem Regal im Keller stehen, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo Gerald die Patronen aufbewahrte.
Jessie ging langsam und vorsichtig mit zitternden Beinen durch das Zimmer und streckte dabei wieder die linke Hand aus, damit sie das Gleichgewicht behielt. Der Flur jenseits des Schlafzimmers war ein Karussell tanzender Schatten, rechts lag die offene Tür zum Gästezimmer, und links befand sich die Tür der kleinen Kammer, die Gerald als Arbeitszimmer benutzte. Weiter unten auf der linken Seite befand sich ein Rundbogen, durch den man ins Wohnzimmer gelangte. Rechts befand sich die offene Hintertür … der Mercedes … und möglicherweise die Freiheit.
Fünfzig Schritte, dachte sie. Mehr können es nicht sein, wahrscheinlich weniger. Also spute dich, okay?
Aber zuerst konnte sie nicht. So bizarr es jemandem vorkommen mochte, der nicht durchgemacht hatte, was Jessie in den vergangenen rund achtundzwanzig Stunden erleben musste, aber das Schlafzimmer bedeutete eine Art kläglicher Sicherheit für sie. Der Flur indessen … alles konnte da draußen lauern. Alles. Dann prallte etwas, was sich wie ein geworfener Stein anhörte, gegen die Westseite des Hauses unmittelbar neben den Fenstern. Jessie stieß ihr eigenes Heulen der Angst aus, bevor ihr klarwurde, dass es nur ein Ast der knorrigen alten Blaufichte draußen neben der Veranda gewesen sein konnte.
Nimm dich zusammen, sagte Punkin streng. Nimm dich zusammen, und geh raus.
Sie stakste tapfer weiter, ließ den linken Arm ausgestreckt und zählte die Schritte. Bei zwölf kam sie am Gästezimmer vorbei. Bei fünfzehn erreichte sie Geralds Arbeitszimmer, und da hörte sie erstmalig ein leises, tonloses Zischen, als würde Dampf aus einer alten Heizung entweichen. Zuerst brachte Jessie das Geräusch nicht mit dem Arbeitszimmer in Zusammenhang; sie dachte, dass sie es selbst von sich gab. Als sie dann aber den rechten Fuß zum sechzehnten Schritt hob, schwoll das Geräusch an. Dieses Mal nahm sie es deutlicher zur Kenntnis, und Jessie merkte, dass sie es nicht machen konnte, weil sie den Atem anhielt.
Langsam, ganz langsam drehte sie den Kopf zum Arbeitszimmer, wo ihr Mann nie wieder an Justizakten arbeiten würde, während er Marlboros kettenrauchte und alte Songs von den Beach Boys sang. Das Haus ächzte jetzt um sie herum wie ein altes Schiff, das durch mittelschweren Seegang pflügte, und quietschte in seinen verschiedenen Gelenken, während der Wind es mit kalter Luft bestürmte. Jetzt konnte sie neben der schlagenden Tür noch einen klappernden Laden hören, aber diese Geräusche waren anderswo, in einer anderen Welt, wo Ehefrauen nicht mit Handschellen gefesselt wurden, Ehemänner sich nicht weigerten, ihren Wünschen nachzukommen und keine Geschöpfe der Nacht auf Pirsch gingen.
Ich will nicht nachschauen!, schrie ihr ganzes Denken. Ich will nicht nachschauen! Ich will nichts sehen!
Aber sie musste hinsehen. Es war, als würden kräftige Hände ihren Kopf drehen, während der Wind heulte und die Hintertür schlug und der Laden klapperte und der Hund wieder seinen einsamen, grauenerregenden Ruf in den nächtlichen Oktoberhimmel heulte. Sie drehte den Kopf, bis sie in das Arbeitszimmer ihres toten Mannes sah, und ja, wie erwartet, dort war sie, eine schlaksige Gestalt neben Geralds Eames-Stuhl vor der Glasschiebetür. Das schmale weiße Gesicht schwebte in der Dunkelheit wie ein langgezogener Totenschädel. Der dunkle, rechteckige Schatten des Musterkoffers hockte zwischen seinen Beinen.
Sie holte Luft, um zu schreien, aber heraus kam etwas, was sich wie ein Teekessel mit kaputter Pfeife anhörte: »Huhhhhaaahhhhhhh.«
Nur das, sonst nichts.
Irgendwo, in dieser anderen Welt, rann ihr heißer Urin am Bein hinab; sie hatte sich zum zweiten Mal an einem Tag in die Hosen gemacht, ein Rekord. Der Wind wehte böig in der anderen Welt und erschütterte das Haus bis auf die Knochen. Die Blaufichte stieß den Ast wieder gegen die Westwand. Geralds Arbeitszimmer war eine Lagune tanzender Schatten, und es war wieder schwer zu sagen, was sie sah … oder ob sie überhaupt etwas sah.
Der Hund ließ wieder seinen durchdringenden Angstschrei erschallen, und Jessie dachte: Oh, du siehst ihn durchaus. Vielleicht nicht so gut, wie der Hund da draußen ihn riecht, aber du siehst ihn.
Als wollte er eventuell noch bestehende Zweifel ausräumen, legte ihr Besucher den Kopf zu einer Art Parodie eines fragenden Ausdrucks schief, wodurch Jessie ihn deutlich, aber barmherzigerweise nur kurz sehen konnte. Das Gesicht war das eines Außerirdischen, der ohne nennenswerten Erfolg das Gesicht eines Menschen nachzuahmen versuchte. Zunächst einmal war es zu schmal – schmaler als jedes Gesicht, das Jessie je in ihrem Leben gesehen hatte. Die Nase schien nicht breiter als ein Buttermesser zu sein. Die hohe Stirn wölbte sich wie eine groteske Glühbirne. Die Augen des Dings waren schlichte schwarze Kreise unter dem dünnen, kopfstehenden V der Brauen; die leberfarbenen Lippen des Munds schienen gleichzeitig zu schmollen und zu schmelzen.
Nein, nicht zu schmelzen, dachte sie mit der grellen, scharf gebündelten Klarheit, die manchmal wie der Leuchtfaden in einer Glühbirne in einer Kugel pursten Entsetzens existierte. Nicht zu schmelzen, zu lächeln. Es versucht mich anzulächeln.
Dann bückte es sich, um den Koffer zu ergreifen, und das schmale, zusammenhanglose Gesicht verschwand barmherzigerweise aus dem Blickfeld. Jessie taumelte einen Schritt zurück, versuchte wieder zu schreien und brachte nochmals nur ein sprödes, glasiges Flüstern zustande. Der Wind, der um die Ecken heulte, war lauter.
Ihr Besucher richtete sich wieder auf, hielt die Tasche mit einer Hand und öffnete mit der anderen die Laschen. Jessie stellte zweierlei fest, und zwar nicht weil sie es wollte, sondern weil die Fähigkeit ihres Verstandes, sich auszusuchen, was er wahrnehmen wollte, völlig im Eimer war. Das Erste hatte mit dem Geruch zu tun, der ihr schon zuvor aufgefallen war. Nicht Knoblauch oder Zwiebeln oder Schweiß oder Schmutz. Es war verwesendes Fleisch. Das Zweite hatte mit den Armen der Kreatur zu tun. Jetzt war sie näher dran und konnte besser sehen (sie wünschte sich, es wäre nicht der Fall, aber es war so), und nun beeindruckten sie sie noch nachdrücklicher – missgebildete, lange Schläuche, die in den windgepeitschten Schatten zu wabern schienen wie die Tentakel eines Meeresungeheuers. Sie hielten ihr die Tasche wie zur Begutachtung hin, und jetzt sah Jessie, dass es sich nicht um den Musterkoffer eines Handlungsreisenden handelte, sondern um einen Weidenkorb, der wie eine zu groß geratene Fischreuse aussah.
Ich habe so einen Korb schon einmal gesehen, dachte sie. Ich weiß nicht, ob in einer alten Fernsehserie oder in Wirklichkeit, aber ich habe ihn gesehen. Als ich ein kleines Mädchen war. Er kam aus einem langen schwarzen Auto mit einer Tür hinten.
Plötzlich ergriff eine leise und bedrohliche UFO-Stimme in ihrem Inneren das Wort: Es war einmal, Jessie, als Präsident Kennedy noch lebte und alle kleinen Mädchen Punkins waren und man den Plastikbeutel noch nicht erfunden hatte – sagen wir einmal zur Zeit der Sonnenfinsternis -, da waren solche Kisten gebräuchlich. Es gab sie in allen Größen, für Männer mit Übergröße bis zu Fehlgeburten im sechsten Monat. Dein Freund bewahrt seine Souvenirs in einer altmodischen Leichenkiste auf, Jessie.
Als ihr das klarwurde, wurde ihr schlagartig noch etwas anderes klar. Es lag vollkommen auf der Hand, wenn man darüber nachdachte. Der Grund, weshalb ihr Besucher so schlimm roch, war der, dass er tot war. Das Ding in Geralds Arbeitszimmer war ein wandelnder Leichnam.
Nein … nein, das kann nicht sein …
Aber es war so. Sie hatte, es war noch keine drei Stunden her, genau denselben Geruch an Gerald wahrgenommen. Hatte ihn in Gerald gerochen, wie er in dessen Fleisch schwärte wie eine exotische Krankheit, mit der sich nur die Toten anstecken konnten.
Jetzt machte ihr Besucher wieder die Kiste auf und hielt sie ihr hin, und wieder sah sie das Funkeln von Gold und das Glitzern von Diamanten zwischen den Knochenhaufen. Wieder beobachtete sie, wie die schmale tote Hand des Mannes hineingriff und den Inhalt der geflochtenen Leichenkiste umrührte – einer Kiste, in der sich vielleicht einmal der Leichnam eines Babys oder sehr kleinen Kindes befunden hatte. Wieder hörte sie das brüchige Klicken und Klappern von Knochen, ein Geräusch, das sich nach schmutzverklebten Kastagnetten anhörte.
Jessie sah hypnotisiert und fast ekstatisch vor Angst hin. Ihre geistige Gesundheit war im Schwinden begriffen; sie konnte spüren, wie sie den Bach hinunterging, konnte es fast hören, und sie konnte nichts auf Gottes grüner Erde dagegen machen.
Doch, du kannst! Du kannst weglaufen! Du musst weglaufen, und du musst es gleich machen!
Das war Punkin, und sie kreischte … aber sie war auch weit entfernt, in einer tiefen Steinschlucht in Jessies Kopf verirrt. Es gab viele Schluchten da drinnen, stellte sie fest, und viele dunkle, gewundene Täler und Höhlen, die das Licht der Sonne noch nie gesehen hatten – Orte, wo die Sonnenfinsternis nie zu Ende gegangen war, könnte man sagen. Es war interessant. Interessant herauszufinden, dass der Verstand eines Menschen in Wirklichkeit nichts weiter als ein Friedhof über einer schwarzen Höhle war, wo missgestalte Reptilien wie dieses auf dem Grund herumkrochen. Interessant.
Draußen heulte der Hund erneut auf, und Jessie fand endlich ihre Stimme wieder. Sie heulte mit ihm, ein bellender Laut, aus dem jegliche Vernunft entschwunden war. Sie konnte sich vorstellen, dass sie in einem Irrenhaus solche Laute von sich gab. Den Rest ihres Lebens von sich gab. Sie stellte fest, dass sie sich das mühelos vorstellen konnte.
Jessie, nein! Halt durch! Bleib bei Sinnen und lauf weg! Lauf weg!
Ihr Besucher grinste sie an, fletschte die Lippen vom Zahnfleisch weg und entblößte erneut dieses Funkeln von Gold hinten im Mund, ein Funkeln, das sie an Gerald erinnerte. Goldzähne. Es besaß Goldzähne, und das bedeutete, es war …
Es bedeutet, dass es wirklich da ist, ja, aber das wussten wir bereits, oder nicht? Die einzige Frage ist noch, was wirst du tun? Irgendwelche Vorschläge, Jessie? Wenn ja, solltest du sie lieber ausspucken, die Zeit wird nämlich verflixt knapp.
Die Erscheinung, die noch die offene Kiste hielt, kam einen Schritt nach vorne, als erwartete sie, dass Jessie den Inhalt bewundern würde. Sie sah, dass es ein Collier trug – ein unheimliches Collier. Der durchdringende, unangenehme Geruch wurde stärker. Ebenso das unübersehbare Gefühl des Bösen. Jessie versuchte, als Ausgleich für den Schritt des Besuchers selbst einen zurückzuweichen, und stellte fest, dass sie die Füße nicht bewegen konnte. Es war, als wären sie am Boden festgeklebt.
Es will dich umbringen, Süße, sagte Ruth, und Jessie wusste, dass das zutraf. Wirst du das zulassen? Jetzt schwang kein Ärger oder Sarkasmus mehr in Ruths Stimme mit, nur Neugier. Nach allem, was du durchgemacht hast, willst du das wirklich zulassen?
Der Hund heulte. Die Hand rührte. Die Knochen flüsterten. Die Diamanten und Rubine versprühten ihr trübes Nachtfeuer.
Ohne richtig zu merken, was sie machte, geschweige denn warum sie es machte, nahm Jessie ihre eigenen Ringe, die am dritten Finger der linken Hand, mit dem heftig zitternden Daumen und Zeigefinger der rechten. Die Schmerzen in dieser Hand beim Zugreifen waren schwach und fern. Sie hatte die Ringe alle Tage und Jahre ihrer Ehe fast ununterbrochen getragen, und als sie sie das letzte Mal abnehmen wollte, hatte sie sich die Finger einseifen müssen. Dieses Mal nicht. Dieses Mal glitten sie mühelos herunter.
Sie hielt die blutige Hand der Kreatur hin, die inzwischen bis zum Bücherschrank neben dem Eingang zum Arbeitszimmer vorgedrungen war. Die Ringe bildeten eine mystische Acht unter dem behelfsmäßigen Verband aus der Monatsbinde. Die Kreatur blieb stehen. Das Lächeln des missgestalten Schmollmunds wurde zu einem neuen Ausdruck, bei dem es sich um Wut oder nur Verwirrung handeln mochte.
»Hier«, sagte Jessie mit schroffem, ersticktem Knurren. »Hier, nimm sie. Nimm sie, und lass mich in Ruhe.«
Bevor die Kreatur sich bewegen konnte, warf sie die Ringe in die offene Kiste, wie sie einmal Münzen in die Körbchen mit der Aufschrift KLEINGELD an der Mautstelle New Hampshire geworfen hatte. Jetzt lagen keine fünf Schritte mehr zwischen ihnen, die Öffnung der Kiste war groß, beide Ringe landeten im Ziel. Sie hörte ein leises Klicken, als ihr Ehe- und ihr Verlobungsring auf die Knochen des Fremden fielen.
Das Ding fletschte wieder die Zähne und stieß erneut das einsilbige, schmierige Zischen aus. Es ging noch einen Schritt vorwärts, und da erwachte etwas – etwas, was schockiert und fassungslos auf dem Grund ihres Verstandes gelegen hatte.
»Nein!«, schrie sie. Sie drehte sich herum und rannte den Flur entlang, während der Wind aufbrauste und die Tür schlug und der Laden klapperte und der Hund heulte, und es war direkt hinter ihr, das war es, sie konnte sein Zischen hören, es würde jeden Moment nach ihr greifen, eine schmale weiße Hand, die am Ende eines fantastischen Arms so lang wie ein Tentakel schwebte, sie würde spüren, wie sich ihr die verwesenden weißen Finger um den Hals legten …
Dann war sie an der Hintertür, sie riss sie auf, sie schnellte auf die Veranda und stolperte über ihren rechten Fuß; sie fiel und erinnerte sich noch im Fallen irgendwie daran, dass sie den Körper drehen musste, damit sie auf der linken Seite landete. Das gelang ihr, aber der Aufprall war dennoch so fest, dass sie Sterne sah. Sie drehte sich auf den Rücken, hob den Kopf, sah zur Tür und rechnete damit, das schmale weiße Gesicht des Space Cowboy hinter dem Fliegengitter zu sehen. Sie sah es nicht und konnte auch das Zischen nicht mehr hören. Nicht dass das viel zu sagen gehabt hätte; es konnte jeden Moment herausstürzen, sie packen und ihr die Kehle aufschlitzen …
Jessie rappelte sich auf, schaffte einen Schritt, und dann ließen die von Schock und Blutverlust geschwächten Beine sie im Stich; sie stürzte wieder auf die Veranda und kam neben dem geschlossenen Kästchen zu liegen, in dem sich die Mülltonne befand. Sie stöhnte und sah zum Himmel, wo Wolken im Licht eines Dreiviertelmondes mit irrwitziger Geschwindigkeit von Westen nach Osten rasten. Schatten wanderten über ihr Gesicht wie wundersame bewegliche Tätowierungen. Dann heulte der Hund wieder, der sich hier draußen viel näher anhörte, und das gab ihr das letzte bisschen Schwung, das sie brauchte. Sie griff mit der linken Hand nach dem leicht angeschrägten Deckel des Müllkastens, tastete nach dem Griff und zog sich daran auf die Beine. Als sie stand, hielt sie den Griff fest umklammert, bis die Welt aufhörte, sich zu drehen. Dann ließ sie los und ging langsam auf den Mercedes zu, wobei sie nun beide Arme ausstreckte, um das Gleichgewicht zu halten.
Wie sehr das Haus im Mondschein einem Totenschädel ähnelt!, staunte sie nach ihrem ersten panischen Blick zurück. Wie ein Totenschädel! Die Tür ist der Mund, die Fenster sind die Augen, die Schatten der Bäume sein Haar …
Dann kam ihr ein neuer Gedanke, und der schien komisch zu sein, denn sie lachte kreischend in die windige Nacht hinaus.
Und das Gehirn – vergiss das Gehirn nicht. Gerald ist selbstverständlich das Gehirn. Das tote und verfaulende Gehirn des Hauses.
Sie lachte wieder, als sie beim Auto war, lauter denn je, und der Hund heulte als Antwort. Mein Hund hat einen Floh, der beißt ihn so, dachte sie. Ihre Knie gaben nach, und sie packte den Türgriff, damit sie nicht auf der Einfahrt stürzte, hörte dabei aber nicht auf zu lachen. Sie verstand nicht genau, warum sie lachte. Sie verstand es vielleicht, wenn die Teile ihres Verstandes, die sich als Selbstschutzmaßnahme abgeschaltet hatten, jemals wieder in Betrieb genommen wurden, aber das würde erst passieren, wenn sie hier weg war. Wenn ihr das je gelang.
»Ich könnte mir denken, dass ich auch eine Bluttransfusion brauche«, sagte sie, was wieder eine Lachsalve auslöste. Sie griff unbeholfen mit der linken Hand zur rechten Tasche und lachte immerzu. Sie tastete nach dem Schlüssel, als ihr auffiel, dass der Geruch wieder da war und die Kreatur mit dem Weidenkorb direkt hinter ihr stand. Jessie drehte den Kopf, das Lachen steckte ihr noch im Hals, und ein Grinsen zuckte um ihre Lippen, und einen Moment lang sah sie die schmalen Wangen und starren, grundlosen Augen. Aber sie sah sie nur wegen (der Sonnenfinsternis)
der großen Angst, die sie empfand, nicht weil tatsächlich etwas da war; die hintere Veranda war immer noch verlassen, das Fliegengitter ein dunkles Rechteck.
Aber du solltest dich sputen, sagte Goodwife Burlingame. Ja, du solltest lieber wie ein Hockeyspieler sausen, solange du noch kannst, meinst du nicht auch?
»Mich wie eine Amöbe teilen«, stimmte Jessie zu und lachte wieder, während sie den Schlüssel aus der Tasche zog. Er wäre ihr fast aus den Fingern gerutscht, aber sie fing ihn an dem übergroßen Plastikanhänger auf. »Du sexy Ding«, sagte Jessie und lachte ausgelassen, als die Hintertür aufgerissen wurde und der tote Cowboy/Geist der Liebe in einer schmutzig weißen Wolke aus Knochenstaub herausgestürmt kam, aber als sie sich umdrehte (und den Schlüssel trotz des großen Anhängers fast wieder fallen ließ), war nichts zu sehen. Nur der Wind, der die Tür geschlagen hatte – nur das, sonst nichts.
Sie machte die Fahrertür auf, glitt hinter das Steuer des Mercedes und schaffte es, die zitternden Beine hineinzuziehen. Sie schlug die Tür zu, und als sie die Zentralverriegelung drückte, die sämtliche Türen abschloss (einschließlich des Kofferraums selbstverständlich; nichts auf der Welt ging über deutsche Wertarbeit), überkam sie ein unaussprechliches Gefühl der Erleichterung. Erleichterung und noch etwas. Dieses Etwas schien ihre geistige Gesundheit zu sein, und sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nichts empfunden, was es mit diesem herrlichen Gefühl aufnehmen konnte … abgesehen natürlich vom ersten Schluck Wasser aus dem Hahn. Jessie hatte eine Ahnung, dass das zum ewigen Champion aller Klassen werden würde.
Wie nahe war ich dran, da drinnen verrückt zu werden? Wie nahe wirklich?
Vielleicht solltest du das lieber gar nicht erst erfahren, Süße, erwiderte Ruth Neary ernst.
Nein, vielleicht nicht. Jessie steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn herum. Nichts geschah.
Das letzte Lachen trocknete aus, aber sie geriet nicht in Panik; sie fühlte sich immer noch normal und vergleichsweise gesund. Denk nach, Jessie. Sie dachte nach und fand die Lösung fast augenblicklich. Der Mercedes kam in die Jahre (sie war sich nicht sicher, ob er jemals etwas so Vulgäres wie alt wurde), und in letzter Zeit hatte die Kraftübertragung ein paar üble Tricks auf Lager gehabt, deutsche Wertarbeit hin oder her. Dazu gehörte, dass der Wagen manchmal nicht ansprang, wenn der Fahrer nicht den Schalthebel zwischen den Schalensitzen nach oben rammte, und zwar fest nach oben rammte. Den Zündschlüssel drehen und gleichzeitig den Schalthebel nach oben drücken, dazu waren zwei Hände erforderlich, und ihre rechte pulsierte bereits schrecklich. Beim Gedanken, dass sie damit auf den Schalthebel drücken musste, krümmte sie sich innerlich, aber nicht nur wegen der Schmerzen. Sie war sich ziemlich sicher, dass dabei die Schnittwunde an der Innenseite des Handgelenks wieder aufplatzen würde.
»Bitte, lieber Gott, ich brauche hier ein bisschen Hilfe«, flüsterte Jessie und drehte den Zündschlüssel wieder herum. Immer noch nichts. Nicht einmal ein Klicken. Und jetzt stahl sich wie ein übellauniger kleiner Einbrecher ein neuer Gedanke in ihren Kopf: Ihr Unvermögen, den Motor anzulassen, hatte nichts mit dem kleinen Tick des Getriebes zu tun. Auch das war auf das Treiben ihres Besuchers zurückzuführen. Er – es – hatte die Telefonleitungen durchgeschnitten; es hatte auch die Haube des Mercedes gerade lange genug hochgehoben, um die Verteilerkappe abzureißen und in den Wald zu werfen.
Die Tür schlug. Sie sah nervös in diese Richtung und war davon überzeugt, dass sie einen Augenblick lang das grinsende weiße Gesicht in der Dunkelheit des Foyers gesehen hatte. Noch einen oder zwei Augenblicke, und es würde herauskommen. Es würde einen Stein nehmen und das Autofenster einschlagen, dann würde es eine große Scherbe Sicherheitsglas nehmen und …
Jessie griff sich mit der linken Hand über den Schoß und drückte, so fest sie konnte, gegen den Schalthebel (der sich in Wahrheit überhaupt nicht zu bewegen schien). Dann griff sie mit der rechten Hand unbeholfen durch den unteren Halbkreis des Lenkrads, nahm den Zündschlüssel und drehte ihn wieder.
Noch mehr nichts. Abgesehen vom stummen, hämischen Gelächter des Ungeheuers, das sie beobachtete. Das konnte sie überdeutlich hören, wenn auch nur im Geiste.
»Bitte, lieber Gott, kann ich verdammt nochmal nicht ein einziges Mal Glück haben?«, schrie sie. Der Schalthebel zitterte ein wenig unter ihrer Hand, und als Jessie den Schlüssel dieses Mal auf Startposition drehte, erwachte der Motor brüllend zum Leben – Jawohl, mein Führer! Sie schluchzte vor Erleichterung und schaltete die Scheinwerfer ein. Ein paar leuchtend orangerote Augen sahen sie von der Einfahrt an. Sie schrie und spürte, wie sich ihr Herz von den Leitungen in der Brust losreißen, ihr den Hals hinaufhüpfen und sie erwürgen wollte. Es war selbstverständlich der Hund – der Streuner, der sozusagen Geralds letzter Klient gewesen war.
Der einstige Prinz stand stocksteif da und war vom grellen Scheinwerferlicht vorübergehend geblendet. Hätte Jessie den Gang in diesem Augenblick eingelegt, hätte sie wahrscheinlich losfahren und den Hund töten können. Der Gedanke ging ihr sogar durch den Kopf, aber auf eine distanzierte, fast akademische Weise. Hass und Angst vor dem Hund waren verraucht. Sie sah, wie abgemagert er war und wie sich die Zecken in seinem struppigen Fell drängten – ein Fell, das zu dünn war, als dass es nennenswert Schutz vor dem bevorstehenden Winter geboten hätte. Aber am deutlichsten sah sie, wie er im Licht zusammenzuckte, die Ohren hängen ließ und die Hinterbeine auf den Boden drückte.
Ich habe es nicht für möglich gehalten, dachte sie, aber ich habe etwas gefunden, was noch mehr Angst als ich hat.
Sie schlug mit dem Ballen der linken Hand auf die Hupe des Mercedes. Sie gab einen kurzen Laut von sich, mehr Röcheln als Hupen, aber der reichte aus, den Hund zu erschrecken. Er drehte sich um und verschwand ohne einen Blick zurück im Wald.
Du solltest seinem Beispiel folgen, Jess. Verschwinde von hier, solange du noch kannst.
Gute Idee. Es war sogar die einzige Idee. Sie griff wieder mit der linken Hand über sich hinweg, dieses Mal um den Schalthebel auf »Drive« zu stellen. Der Wagen rollte mit seinem beruhigenden kurzen Aufbäumen an und fuhr langsam die gepflasterte Einfahrt entlang. Die windgepeitschten Bäume wiegten sich auf beiden Seiten des Autos wie Schattentänzer und ließen die ersten Wirbelsturmtrichter voll Herbstlaub in den Nachthimmel kreisen. Ich schaffe es, dachte Jessie staunend. Ich schaffe es wahrhaftig, ich bringe den Puck wahrhaftig von hier weg.
Sie rollte die Einfahrt entlang, rollte zu dem namenlosen Feldweg, der sie zur Sunset Lane bringen würde, und diese wiederum würde sie zur Route 117 und in die Zivilisation führen. Während sie das Haus (das im windigen Oktobermondenschein mehr denn je wie ein Totenschädel aussah) im Rückspiegel schrumpfen sah, dachte sie: Warum lässt es mich gehen? Lässt es mich überhaupt gehen? Wirklich?
Ein Teil von ihr – der vor Angst halb wahnsinnige Teil, der nie ganz den Handschellen und dem Schlafzimmer im Haus an der Nordseite des Kashwakamak Lake entkommen würde – versicherte ihr, dass sie keine Chance hatte, dass die Kreatur mit dem Weidenkorb nur wie eine Katze mit einer verwundeten Maus mit ihr spielte. Bevor sie viel weiter gekommen war, mit Sicherheit bevor sie das Ende der Einfahrt erreicht hatte, würde es sie verfolgen, mit seinen langen Trickfilmbeinen die Entfernung überwinden, die langen Trickfilmarme ausstrecken, die Heckstoßstange packen und das Auto zum Stillstand bringen. Deutsche Wertarbeit war prima, aber wenn man es mit etwas zu tun hatte, was von den Toten zurückgekommen war … nun …
Aber das Haus schrumpfte weiter im Rückspiegel, und nichts kam zur Hintertür heraus. Jessie kam zum Ende der Einfahrt, bog nach rechts ab und fuhr mit Aufblendlicht auf den ausgefahrenen Spuren in Richtung Sunset Lane, wobei sie das Auto mit der linken Hand steuerte. Jeden zweiten oder dritten August schnitt eine Gruppe von Sommergästen, die sich freiwillig gemeldet hatten – überwiegend von Bier und Tratsch getrieben – das Unterholz und die herabhängenden Zweige entlang dem Weg bis zur Sunset Lane. Dieses Jahr jedoch war das ausgefallen, und daher war der Weg viel schmaler, als es Jessie gefallen wollte. Jedes Mal, wenn ein windgepeitschter Zweig gegen Dach oder Türen des Autos schlug, zuckte sie ein bisschen zusammen.
Aber sie entkam. Eines nach dem anderen tauchten die Wegzeichen, die sie im Lauf der Jahre kennengelernt hatte, im Scheinwerferlicht auf und verschwanden hinter ihr: der riesige Felsblock mit der gespaltenen Spitze, das zugewucherte Tor, an dem ein verblasstes Schild mit der Aufschrift Rideout’s Hideout festgenagelt war, die entwurzelte Kiefer, die zwischen kleineren Kiefern stand wie ein Betrunkener, der von kleinwüchsigen, nüchternen Freunden nach Hause geschleppt wurde. Die schiefe Kiefer war nur ein paar hundert Meter von der Sunset Lane entfernt, und von dort waren es nur noch zirka drei Kilometer bis zum Highway.
»Ich schaffe es, wenn ich es leichtnehme«, sagte sie und drückte die ON-Taste des Radios sehr behutsam mit dem rechten Daumen. Es wurde immer besser. »Take it easy«, sagte sie ein bisschen lauter. »Go greasy.« Selbst der letzte Schock – die leuchtend orangeroten Augen des Streuners – klang jetzt ein wenig ab, obwohl sie spürte, dass sie zu zittern anfing. »Überhaupt keine Probleme, wenn ich’s nur leichtnehme.«
Das würde sie, keine Bange – vielleicht sogar ein bisschen zu leicht. Die Tachonadel berührte kaum den Strich für zwanzig Kilometer. Es war eine ungeheure Beruhigung, wohlbehalten in der sicheren Umgebung des eigenen Autos zu sitzen, und sie fragte sich schon, ob sie nicht die ganze Zeit nur vor Schatten Angst gehabt hatte, aber der Zeitpunkt wäre mehr als ungünstig, gerade jetzt etwas als gegeben zu nehmen. Wenn jemand im Haus gewesen war, konnte er (es, beharrte eine tiefe Stimme – das UFO aller UFOs) das Haus durch eine andere Tür verlassen haben. Er folgte ihr möglicherweise in diesem Augenblick. Es wäre sogar möglich, dass ein wirklich entschlossener Verfolger sie einholen konnte, wenn sie weiterhin mit nur zwanzig Stundenkilometern dahinkroch.
Jessie sah blinzelnd zum Rückspiegel und wollte sich vergewissern, dass dieser Gedanke nur durch Schock und Erschöpfung erzeugte Paranoia war, aber da spürte sie, wie ihr das Herz in der Brust stehenblieb. Die linke Hand fiel vom Lenkrad auf die rechte im Schoß. Das hätte teuflisch wehtun müssen, aber sie verspürte keine Schmerzen – überhaupt keine.
Der Fremde saß auf der Rückbank und hatte die unheimlichen langen Hände an die Schläfen gedrückt wie der Affe, der nichts Böses hörte. Die schwarzen Augen sahen sie voll leerem Desinteresse an.
Du siehst … ich sehe … WIR sehen nichts als Schatten!, rief Punkin, aber dieser Ruf kam aus weiter Feme; er schien seinen Ursprung am anderen Ende des Universums zu haben.
Und es stimmte nicht. Sie sah mehr als nur Schatten im Rückspiegel. Das Ding, das da hinten saß, war in Schatten eingehüllt, das stimmte, aber es bestand nicht daraus. Sie sah das Gesicht, die gewölbte Stirn, die runden schwarzen Augen, die messerscharfe Nase, die plumpen, missgestalten Lippen.
»Jessie!«, flüsterte der Space Cowboy ekstatisch. »Nora! Ruth! Dudel-dei! Punkin Pie!«
Ihre Augen, die starr auf den Rückspiegel gerichtet waren, konnten sehen, wie sich der Passagier langsam nach vorne beugte, sahen die gewölbte Stirn, die sich langsam ihrem rechten Ohr entgegensenkte, als wollte ihr die Kreatur ein Geheimnis anvertrauen. Sie sah, wie die wulstigen Lippen von den schiefen, farblosen Zähnen weggezogen wurden und ein verzerrtes, dümmliches Grinsen formten. An diesem Punkt begann der endgültige Zusammenbruch von Jessie Burlingames Verstand.
Nein!, schrie dieser mit einer Stimme, die so dünn wie die Stimme eines Sängers auf einer kratzigen alten 78er Schallplatte klang. Nein, bitte nicht! Es ist nicht fair!
»Jessie!« Sein stinkender Atem war scharf wie eine Raspel und kalt wie die Luft in einer Fleischtheke. »Nora! Jessie! Ruth! Jessie! Punkin! Goodwife! Jessie! Mami!«
Ihre vorquellenden Augen sahen, dass das weiße Gesicht jetzt halb in ihrem Haar verborgen war und der grinsende Mund fast ihr Ohr küsste, während er immer und immer wieder sein köstliches Geheimnis flüsterte: »Jessie! Nora! Goody! Punkin! Jessie! Jessie! Jessie!«
In ihren Augen erfolgte eine weiße Explosion, die lediglich ein großes dunkles Loch hinterließ. Als Jessie hineintauchte, hatte sie einen letzten zusammenhängenden Gedanken: Ich hätte nicht hinsehen sollen – jetzt habe ich mir doch die Augen verbrannt.
Dann kippte sie ohnmächtig über das Lenkrad. Als der Mercedes gegen eine der großen Pinien prallte, die an diesem Straßenabschnitt an der Böschung standen, rastete der Sicherheitsgurt ein und riss sie wieder zurück. Der Aufprall war so heftig, dass sich der Airbag wahrscheinlich aufgeblasen haben würde, wäre das Modell neu genug gewesen, um mit diesem System ausgerüstet zu sein. Es war jedoch nicht stark genug, den Motor zu beschädigen oder gar abzuwürgen; die gute alte deutsche Wertarbeit hatte wieder einmal triumphiert. Stoßstange und Kühler waren verbogen und die Kühlerfigur schief, aber der Motor schnurrte weiter zufrieden vor sich hin.
Nach fünf Minuten stellte ein Mikrochip im Armaturenbrett fest, dass der Motor jetzt warm genug war und man die Heizung einschalten konnte. Das Gebläse unter dem Armaturenbrett zischelte leise. Jessie war seitlich gegen die Fahrertür gesunken, wo sie mit ans Fenster gedrückter Wange dalag wie ein müdes Kind, das schließlich aufgegeben hatte und eingeschlafen war, obwohl Großmutters Haus gleich hinter dem nächsten Hügel lag. Über ihr reflektierte der Rückspiegel den verlassenen Rücksitz und die einsame Straße im Mondlicht dahinter.