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Der Gerichtssaal wird
von hängenden Milchglaskugeln erhellt, die Jessie mit den
Five-and-Dime-Geschäften ihrer Kindheit assoziiert, und er ist so
verschlafen wie ein Grundschulklassenzimmer am Ende eines
Wintertags. Während sie den Mittelgang entlanggeht, nimmt sie
zweierlei Empfindungen wahr – Brandons Hand, die immer noch auf der
Krümmung ihrer Taille liegt, und den Schleier, der ihre Wangen wie
Spinnweben kitzelt. Diese beiden Empfindungen zusammengenommen
bewirken, dass sie sich auf seltsame Weise wie eine Braut
vorkommt.
Zwei Anwälte stehen
vor dem Pult des Richters. Der Richter beugt sich nach vorne und
sieht ihnen ins Gesicht, alle drei sind in eine gemurmelte
Unterhaltung vertieft. Für Jessie sehen sie wie Nachbildungen einer
Skizze von Boz aus einem Roman von Charles Dickens aus. Der
Gerichtsdiener steht links, neben der amerikanischen Flagge. Neben
ihm liest die Stenografin Die Frau des
Feuergottes von Amy Tan, während sie darauf wartet, dass die
momentane rechtliche Diskussion zu Ende geht. An einem langen Tisch
auf der anderen Seite der Kordel, die den Saal in den Bereich für
die Zuschauer und den für die Kontrahenten unterteilt, sitzt eine
hagere, unglaublich große Gestalt im grellorangefarbenen
Gefängnisoverall. Daneben sitzt ein Mann im Anzug, sicher ein
weiterer Anwalt. Der Mann im orangefarbenen Overall bückt sich über
einen Block gelben Kanzleipapiers und schreibt offenbar
etwas.
Jessie spürt eine
Million Meilen entfernt, wie sich Brandons Hand fester um ihre
Taille legt. »Das ist nahe genug«, murmelt er.
Sie rückt von ihm ab.
Er irrt sich; es ist nicht nahe genug.
Brandon hat nicht die leiseste Ahnung, was sie denkt oder fühlt,
aber das macht nichts; sie selbst weiß es. Im Augenblick sind ihre
sämtlichen Stimmen zu einer einzigen Stimme geworden; sie sonnt
sich in dieser unerwarteten Einigkeit und weiß genau: Wenn sie
jetzt nicht näher zu ihm geht, wenn sie nicht, so nahe sie kann, zu
ihm geht, wird er niemals weit genug entfernt sein. Er wird immer
im Schrank lauern, vor dem Fenster oder um Mittemacht unter dem
Bett, wo er sein teigiges, runzliges Grinsen grinsen wird – bei dem
man die Goldzähne weit hinten im Mund funkeln sieht.
Sie geht rasch den
Gang entlang zur Kordel, während der Gazestoff des Schleiers ihre
Wangen wie winzige, besorgte Finger berührt. Sie kann Brandon
unglücklich murren hören, aber das ist mindestens zehn Lichtjahre
entfernt. Näher (aber immer noch auf dem nächsten Kontinent)
murmelt einer der Anwälte vor dem Richterpult: »… Eindruck, dass
der Staat in dieser Frage unnachgiebig war, Euer Ehren, und wenn
Sie unsere Präzedenzfälle studieren – besonders Castonguay gegen Hollis …«
Noch näher sieht der
Gerichtsdiener zu ihr auf, ist einen Moment argwöhnisch, entspannt
sich aber, als Jessie den Schleier hebt und ihm zulächelt. Der
Gerichtsdiener sieht ihr unverwandt in die Augen, während er
gleichzeitig mit dem Daumen in Jouberts Richtung deutet und
unmerklich den Kopf schüttelt, eine Geste, die sie in ihrem Zustand
gesteigerter Emotionen und Wahrnehmungen mühelos lesen kann wie
eine Schlagzeile der Regenbogenpresse: Halten
Sie sich vom Tiger fern, Ma’am. Kommen Sie nicht in Reichweite
seiner Krallen. Dann entspannt er sich noch mehr, als er
sieht, wie Brandon an ihre Seite kommt, der perfekte edle Ritter,
wenn es je einen gab, aber er hört eindeutig nicht Brandons leises
Knurren: »Mach den Schleier runter, Jessie, verdammt, sonst mach
ich es!«
Sie weigert sich
nicht nur, zu tun, was er sagt, sie weigert sich, auch nur in seine
Richtung zu sehen. Sie weiß, dass er eine leere Drohung
ausgesprochen hat – er wird in diesen heiligen Hallen keine Szene
machen und ziemlich alles tun, damit er nicht in eine verwickelt
wird -, aber selbst wenn es nicht so wäre, würde es keine Rolle
spielen. Sie mag Brandon aufrichtig, aber die Zeiten, als sie etwas
gemacht hat, nur weil ein Mann es ihr gesagt hat, sind endgültig
vorbei. Sie bekommt nur am Rande mit, dass Brandon ihr etwas
zuzischt, dass der Richter immer noch mit dem Verteidiger und dem
Staatsanwalt beratschlagt, dass der Gerichtsdiener wieder in sein
Halbkoma gesunken ist, dass die Stenografin langsam und mit
verträumtem Gesicht eine Seite umblättert. Jessies eigenes Gesicht
ist zu dem freundlichen Lächeln gefroren, mit dem sie den
Gerichtsdiener entwaffnet hat, aber ihr Herz schlägt heftig. Sie
ist jetzt noch zwei Schritte von der Kordel entfernt – zwei
kurze Schritte – und kann sehen, dass
sie sich geirrt hat. Joubert schreibt doch nicht. Er zeichnet. Das
Bild eines Mannes mit erigiertem Penis, der etwa so groß wie ein
Baseballschläger ist. Der Mann auf dem Bild hat den Kopf gesenkt
und übt an sich selbst Fellatio aus. Sie kann das Bild vollkommen
deutlich sehen, aber vom Künstler selbst immer noch nur ein blasses
Scheibchen Wange und die dunklen Haarsträhnen, die davor
baumeln.
»Jessie, du kannst
nicht …«, beginnt Brandon und hält sie am Arm fest.
Sie reißt sich los,
ohne sich umzudrehen; ihre ganze Aufmerksamkeit ist jetzt auf
Joubert gerichtet. »He!«, sagt sie mit einem Bühnenflüstern zu ihm.
»He, du!«
Nichts, jedenfalls
noch nicht. Ein Gefühl des Unwirklichen überkommt sie. Kann sie es
sein, die das macht? Kann sie es wirklich sein? Und was das
betrifft, macht sie es überhaupt?
Niemand scheint sie zu bemerken, gar niemand.
»He! Arschloch!«
Lauter, wütend – immer noch ein Flüstern, aber gerade noch.
»Pst! Pst! He, ich spreche mit
dir!«
Jetzt sieht der
Richter stirnrunzelnd auf, also nimmt anscheinend wenigstens
einer sie zur Kenntnis. Brandon stößt
ein verzweifeltes Stöhnen aus und legt ihr eine Hand auf die
Schulter. Hätte er versucht, sie in den Gang zurückzuziehen, hätte
sie sich von ihm losgerissen und dabei wahrscheinlich das Oberteil
ihres Kleides aufgeschlitzt; und vielleicht weiß Brandon das, denn
er zwingt sie nur, sich auf die leere Bank gleich hinter dem Tisch
der Verteidigung zu setzen (alle Bänke sind leer; strenggenommen
ist es eine nichtöffentliche Verhandlung), und in diesem Augenblick
dreht sich Raymond Andrew Joubert schließlich herum.
Sein groteskes
Asteroidengesicht mit den aufgedunsenen, schmollenden Lippen, der
schmalen Nase und der gewölbten Glühbirnenstirn ist vollkommen
ausdruckslos, völlig ohne Neugier … aber es ist das Gesicht, das weiß sie sofort, und das
übermächtige Gefühl, das sie empfindet, ist weitgehend kein
Schrecken. Weitgehend ist es Erleichterung.
Dann strahlt Jouberts
Gesicht mit einem Mal. Seine eingefallenen Wangen bekommen Farbe,
wie ein Ausschlag sieht es aus, und in die rot umränderten Augen
tritt das tückische Funkeln, das sie schon einmal gesehen hat. Sie
betrachten sie jetzt, wie sie sie am Kashwakamak Lake betrachtet
haben, mit der gebannten Faszination des unrettbar
Geistesgestörten, und sie ist starr und hypnotisiert von dem
grässlichen Wiedererkennen, das sie in seinen Augen
sieht.
»Mr. Milheron?«,
fragt der Richter schneidend aus einem anderen Universum. »Mr.
Milheron, können Sie mir sagen, was Sie da machen und wer diese
Frau ist?«
Raymond Andrew
Joubert ist fort; dies ist der Space Cowboy, das Gespenst der
Liebe. Die unproportionalen Lippen bewegen sich wieder und
entblößen die Zähne – die fleckigen, unschönen und rein
funktionellen Zähne eines wilden Tieres. Weit hinten in der
Mundhöhle sieht sie Gold schimmern wie Katzenaugen. Und langsam,
oh, so langsam erwacht der Alptraum zum Leben und bewegt sich; der
Alptraum hebt langsam die missgebildeten langen Arme.
»Mr. Milheron, ich
möchte, dass Sie und Ihr ungebetener Gast unverzüglich zum
Richterpult kommen!«
Der Gerichtsdiener,
den der schneidende Tonfall aufschreckt, erwacht zuckend aus seinem
Dösen. Die Stenografin schlägt das Buch zu, ohne das Buchzeichen
hineinzustecken, und sieht sich um. Jessie glaubt, dass Brandon
ihren Arm ergreift, um sie zu zwingen, der Aufforderung des
Richters Folge zu leisten, aber sie kann es nicht mit Sicherheit
sagen, und es spielt auch keine Rolle, weil sie sich nicht bewegen
kann; sie könnte ebenso gut bis zur Hüfte einbetoniert sein.
Selbstverständlich herrscht wieder die Sonnenfinsternis; die
totale, endgültige Sonnenfinsternis. Nach all den Jahren leuchten
die Sterne wieder bei Tage. Sie leuchten in ihrem
Kopf.
Sie sitzt da und
sieht zu, wie die grinsende Kreatur im orangefarbenen Overall die
ungeschlachten Arme hebt, ohne den Blick der rot umränderten Augen
von ihr zu lassen. Es hebt die Arme, bis die Hände etwa dreißig
Zentimeter von jedem Ohr entfernt in der Luft verharren. Die
Nachahmung ist täuschend echt: Sie kann fast die Bettpfosten sehen,
als das Ding im orangefarbenen Overall die großen, langfingerigen
Hände dreht … und sie dann hin und her schüttelt, als würden sie
von Fesseln gehalten, die nur er selbst und die Frau mit dem
zurückgeschlagenen Schleier sehen konnten. Die Stimme, die aus dem
grinsenden Mund ertönt, ist ein bizarrer Kontrast zum grotesk
unförmigen Gesicht; es ist eine greinende, schrille Stimme, die
Stimme eines geisteskranken Kindes.
»Ich glaube nicht,
dass du da bist!«, flötet Raymond Andrew Joubert mit seiner
kindlichen, bebenden Stimme. Sie schneidet wie ein scharfes Messer
durch die abgestandene, überhitzte Luft des Gerichtssaals. »Du
bestehst nur aus Mondlicht!«
Und dann fängt es an
zu lachen. Es schüttelt die grässlichen Hände in Handschellen hin
und her, die nur sie beide sehen können, und es lacht … lacht …
lacht.