FÜNFZEHN
Fergal schob sich an Daniel vorbei und sagte streng: »Benehmt euch, ihr zwei. Meine Schwester findet ohne eure Hilfe ins Bett.«
»Deine Schwester?«, rief Jack überrascht aus. Fergals Antwort hörte ich nur mit halbem Ohr, weil meine Aufmerksamkeit sich auf Daniel konzentrierte.
Er wirkte genauso erfreut über unser Wiedersehen wie ich.
»Besinn dich auf deine Manieren«, wiederholte Fergal, an Jack gewandt.
»Selbstverständlich«, versicherte Jack. »Möglicherweise warnst du den falschen Butler.«
»Das gilt auch für Daniel«, erwiderte Fergal, dessen Blick auf den verkohlten Hammelbraten fiel. Er runzelte die Stirn. »Woher hast du das Fleisch?«
»Das ist mir über den Weg gelaufen«, antwortete Jack. »Unter so traurigen Umständen, dass ich es befreien musste.«
»Und was hast du sonst noch befreit?«, erkundigte sich Fergal.
»Nur den Hammelbraten. Mehr konnte ich nicht tragen.«
Daniel, nach wie vor an der Tür, fragte: »Und wer muss nun deinetwegen Hunger leiden?«
»Ein fauler Händler, der dumm genug war, sein Fuhrwerk beim Schlafen unbeaufsichtigt zu lassen.«
»Irgendwann wirst du den Bogen überspannen«, meinte sein Bruder. »Du kannst von Glück sagen, dass dir der Constable nicht begegnet ist. Er hätte dich wegen Diebstahls festgenommen.«
Jack zuckte mit den Schultern. »Die Richter in dieser Gegend mögen mich, sie hätten mich freigesprochen. Außerdem war der Constable mit anderen Dingen beschäftigt.« Er klang ernst. »Er war hier und hat das Haus durchsucht.«
Daniels Augen verengten sich, und Fergal, der kleine Stücke vom Hammelbraten abgeschnitten hatte, um das Ergebnis meiner Bemühungen zu kosten, wandte sich uns zu. »Gütiger Himmel, Jack. Hast du denn nicht versucht, ihn aufzuhalten?«
»Ich hatte keine Möglichkeit. Als ich herkam, war er schon weg. Deine Schwester konnte mir natürlich nicht erzählen, was passiert ist, aber offenbar hat sie ihm allein die Stirn geboten. Dem Zustand des Schranks in der Spülküche nach zu urteilen, hatte er ziemlich schlechte Laune.«
Während Fergal den Schrank inspizierte, sah Daniel mich an. Jack, der seinen Blick bemerkte, beeilte sich zu versichern: »Ich habe sie gefragt, ob er zudringlich geworden ist, und sie hat mir auf ihre Weise zu verstehen gegeben, dass das nicht der Fall war.«
Daniel schwieg.
Fergal, der aus der Spülküche trat, verkündete: »Er hat mit der Axt den Schrank aufgebrochen.« Dann forderte er Daniels Bruder auf: »Jack, geh mit mir zu den Stallungen. Der Himmel weiß, was er dort angerichtet hat.«
»Aber …«
»Komm mit.«
Daniel trat einen Schritt beiseite, um sie hinauszulassen, und wartete, bis sie außer Hörweite waren, bevor er sagte: »Alles in Ordnung?«
»Er hat mir kein Haar gekrümmt.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Mir geht’s gut.« Ich wich seinem ruhigen Blick aus, der mehr zu erkennen schien, als mir lieb war. »Ich bin bloß ein bisschen durcheinander, das ist alles. Als ich zurückkam, war keiner da, es regnete, ich konnte das Feuer nicht anmachen, und plötzlich stand er vor mir …«
»Sie haben ihn nicht hereingelassen?«
»Der Constable ist einfach reingekommen, weil er niemanden im Haus vermutete. Er schien zu wissen, dass Sie weg sind. Waren Sie auf Ihrem Schiff?«
»Ja. Wie hat er reagiert, als er Sie bemerkte?«
Ich fasste die Ereignisse für ihn zusammen, vom Entfachen des Feuers über das Aufbrechen des Schranks bis zu der Suche im ersten Stock. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nichts gefunden hat.«
»Hier gibt es auch nichts für ihn zu finden. Was hat er gemacht, als er wieder hier unten war?«
»Eigentlich nichts. Er hat Wein getrunken und ist wieder gegangen.«
»Mehr nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie müssen Jack bitten, Sie in die Kunst des Lügens einzuweisen, denn das beherrschen Sie nicht allzu gut.«
Ich hob das Kinn. »Das war keine Lüge. Er hat mich nicht angefasst.«
»Ich kenne den Constable gut genug, um zu wissen, dass er andere Methoden anwendet, um Menschen zu verletzen. Es tut mir leid, dass ich nicht da war.«
»Gott sei Dank. Sonst hätten Sie ihn jetzt vielleicht auf dem Gewissen.«
»Ja, möglich.« Endlich wich die gefährliche Ruhe von ihm. »Muss ich meinen Bruder schelten, oder hat er sich anständig benommen?«
»Hat er.« Hauptsächlich deshalb, vermutete ich, weil er mich in Daniels Bett entdeckt hatte. Jack Butler mochte ein Draufgänger sein, aber er war nicht so töricht, im Revier seines Bruders zu wildern.
»Kaum zu glauben«, erwiderte Daniel. »Vergessen Sie nicht: Ich habe seine Worte gehört.«
Ich wurde rot. »Das hat er nicht ernster gemeint als Sie.«
»Nein?« Als er lächelte, spürte ich deutlich das Knistern in der Luft.
Er wandte den Blick ab. »Sie haben die Begegnung mit Jack gut gemeistert. Er scheint tatsächlich zu glauben, dass Sie stumm sind.«
»So schwierig war das nicht. Ihr Bruder redet selbst so viel, dass ich wahrscheinlich sowieso nicht zu Wort gekommen wäre.«
Zum ersten Mal lachte er.
»Wann ist er nach Hause zurückgekehrt?«, erkundigte er sich.
»Heute Morgen. Durchs Fenster, weil ich die Türen verriegelt hatte.«
»Falls Sie wieder einmal allein hier sind, sollten Sie sich im Wandloch verstecken, wenn ein Fremder auftaucht.«
»In was für einem Wandloch?«
»Dem Priesterloch.« Als er meinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah, fragte er: »Ist das in Ihrer Zeit nicht mehr in Gebrauch?«
Ich schüttelte den Kopf. »Bei uns besteht keine Notwendigkeit, Priester zu verbergen.«
»Bei uns auch nicht. Trotzdem kann ein solches Versteck sehr nützlich sein. Kommen Sie.« Er nahm eine Kerze vom Tisch und ging mir voran zu dem Treppenabsatz mit den getäfelten Wänden. »Es heißt, Trelowarth sei gebaut worden, kurz nachdem sich King Henry dem Papst widersetzt und von seiner Gemahlin getrennt hatte, um Anne Boleyn zu heiraten. Die damalige Zeit war genauso unruhig wie die unsere, und Männer, die dem alten Glauben anhingen, mussten im Geheimen beten und ihre Priester verbergen, wenn ein Gesandter des Königs auftauchte.« Daniels Finger glitten über die Vertäfelung und drückten dagegen. Mit einem leisen Klicken öffnete sich eine mannshohe Platte nach außen.
In dem Hohlraum dahinter konnte ein Mensch stehen – oder sitzen, wenn er müde wurde –, jedoch nicht viel mehr. Geschlossen war er dunkel und stickig, aber sicher.
»Von innen schließen Sie die Tür so«, erklärte Daniel und zeigte mir einen an der Innenseite angebrachten Metallring. »Dann findet Sie niemand.«
»Haben Sie das Versteck selbst je benutzt?«
»Einige Male.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich warte lieber eine Stunde lang hier drin, als an einem Strick zu baumeln.«
»Geht das Gesetz so unerbittlich gegen Schmuggler vor?«
»Meiner Erfahrung nach ist der Wortlaut des Gesetzes strikter als seine Durchsetzung. Der Constable verdient gut durch seine Arrangements mit den Schmugglern, die Polgelly als Hafen wählen. Er drückt die Augen zu, wenn wir unsere Fracht löschen. Nein, nicht die Schmuggelei stört ihn. Er würde mich lieber eines anderen Vergehens wegen an den Galgen bringen, das seiner Ansicht nach weit verwerflicher ist.«
»Hochverrat.«
Daniel schloss den Hohlraum und drehte sich zu mir um. »Hat er Ihnen das erzählt und Ihnen gesagt, dass Sie selbst verloren sind, wenn Sie einem Landesverräter Schutz gewähren?« Sein Blick wurde hart. »Ich bin kein Verräter, Eva, sondern dem rechtmäßigen König von England genauso treu ergeben wie mein Vater vor mir, und ich werde es bleiben bis zu meinem Lebensende.«
Er meinte den im Exil lebenden James Stuart. Ich hätte Daniel darüber aufklären können, dass seine Ergebenheit sinnlos war, weil die Stuarts niemals auf den Thron kommen würden. Ihre Träume würden zusammen mit zahllosen Jakobiten auf dem Schlachtfeld enden. Doch wenn ich ihm das verriet, mischte ich mich in den Lauf der Geschichte ein und veränderte unter Umständen künftige Ereignisse.
Er deutete meine Reaktion falsch. »Ich verspreche Ihnen, dafür zu sorgen, dass niemand Ihnen ein Leid antut«, sagte er.
Ich wandte verlegen den Blick ab.
Bis dahin war mir nicht bewusst gewesen, dass er nahe genug bei mir stand, um mich zu berühren. Nun legte er die Hand unter mein Kinn und drehte meinen Kopf so, dass ich ihn ansehen musste, bevor er wiederholte: »Das verspreche ich.«
Ich blieb stumm. Zum Glück, denn in dem Moment hörte ich Fergal mit Jack zurückkommen.
Daniel ließ lächelnd die Hand sinken. »Verdammter Fergal«, brummte er. »Er führt sich auf wie ein großer Bruder.«
Daniel hatte recht. Fergal begleitete mich hinauf in mein Zimmer, überprüfte alle Winkel und wartete im Flur, bis ich den Schlüssel, den er mir gegeben hatte, im Schloss drehte.
Und am folgenden Morgen war es Fergal, nicht Daniel, der mich in die Kunst des Frisierens einwies.
Er brachte einen Spiegel und Haarnadeln mit in mein Schlafzimmer, setzte mich vor das Fenster und demonstrierte mir mit ruhigen, geschickten Bewegungen, wie ich die einzelnen Strähnen zu Locken drehen und feststecken musste.
»Gibt es eigentlich etwas, das Sie nicht können, Fergal?«, fragte ich ihn.
»Ich glaube nicht.« Er stand hinter mir, sodass ich im Spiegel mitverfolgen konnte, wie er mich frisierte. »Allerdings muss ich Sie darauf hinweisen, dass dies möglicherweise nicht die neueste Mode ist. Ich habe das lange nicht gemacht und war früher schon nicht sonderlich gut darin. Ann hat behauptet, ich lasse ihren Kopf wie ein zerzaustes Vogelnest aussehen, nicht wie den einer Lady.«
»Ann?«
»Aye.«
»Daniels Frau?«
»Aye. Als sie am Ende zu krank war, um sich selbst das Haar zu machen, habe ich ihr geholfen. Sie wollte in seiner Anwesenheit nicht ungepflegt sein.«
Ich spielte nachdenklich mit einer der Haarnadeln. »War sie lange krank?«
»Aye, mehrere Monate. Es hat als Husten begonnen. Sie wurde immer schmaler, und Ende des Sommers ist sie von uns gegangen.«
Ich schwieg betroffen. Bei Katrina war es ganz ähnlich gewesen.
»Er reißt mir den Kopf ab, wenn er erfährt, dass ich Ihnen das erzählt habe«, sagte Fergal.
»Fergal?«
»Aye?«
»Könnten Sie mir das Haar ein bisschen anders machen als ihr damals?«
Er nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht. Nehmen Sie den Handspiegel, dann zeige ich Ihnen, wie Sie den Hinterkopf frisieren. Ich kann ja nicht jeden Morgen zu Ihnen ins Zimmer kommen. Das würde Jack sicher gar nicht gefallen.«
»Wo steckt Jack überhaupt?«
»Er holt die Pferde. Wenn wir unterwegs sind, stellen wir sie auf die Koppel in Penryth, wo ein Bauer sie füttert und ihnen Wasser gibt.«
An die Pferde hatte ich keinen Gedanken verschwendet. Ich hätte nicht einmal gemerkt, wenn sie im Stall verhungert wären. Als ich das gestand, meinte Fergal nur: »Sie hatten andere Sorgen. Es ist ja nichts passiert.«
Als er fertig war, erkannte ich mich fast nicht wieder. Mein Haar war nach oben frisiert und so festgesteckt, dass sich wie zufällig ein paar Locken um mein Gesicht kringelten. »Das kriege ich nie hin.«
»Doch, das schaffen Sie«, widersprach Fergal. »Das ist nichts im Vergleich zu der Begegnung mit Constable Creed. Setzen Sie die Haube auf«, wies er mich an und reichte mir eine schlichte Kappe aus weichem weißem Leinen. »Dann sind wir fertig und können uns der nächsten Lektion zuwenden.«
»Was für einer Lektion?«
»Meine Schwester sollte in der Lage sein, einen Hammelbraten zu machen, ohne ihn anbrennen zu lassen, und Porridge ordentlich zu würzen. Unsere Mutter würde sich im Grab umdrehen«, fügte er mit ernster Miene hinzu.