EINUNDVIERZIG
Er rief erst am folgenden Morgen zurück.
Ich rechnete aus: Neun Uhr hier war ein Uhr früh in L. A.
»Eva?«
Im Hintergrund hörte ich Partygeräusche – das Klirren von Gläsern, Lachen und Musik.
»Hallo, Bill.« Ich setzte mich auf die Bettkante. »Danke, dass du mich zurückrufst.«
»Hätte ich schon früher gemacht, aber ich war am Set, und es ist spät geworden. Ich wollte dich nicht aufwecken«, erklärte er. Kurzes Schweigen. »Wie geht’s dir?«
»Gut, danke. Und dir?«
Die Partygeräusche wurden leiser, als hätte er sich eine ruhigere Ecke gesucht. »Läuft so.« Wieder Schweigen. »Du bist noch in Europa?«
»Fürs Erste, ja. In Cornwall, genauer gesagt in Trelowarth. Hat Katrina je von Trelowarth erzählt?«
»Ja. Das ist also der Ort?«
»Ich habe ihre Asche an ihrem Lieblingsplatz verstreut, auf dem Hügel mit dem alten Leuchtfeuer.«
»Gute Wahl.«
»Nein.« Ich schloss die Finger fester um den Hörer und senkte den Kopf, bevor ich ihm erzählte, was passiert war, wie der Wind die Asche vom Wind aufs Meer hinausgeweht hatte. »Du wolltest, dass sie ihre letzte Ruhe findet, wo sie hingehört, aber es war nicht dort, Bill.«
»Hey.« Seine Stimme klang rau. »Wo sonst …?«
»Bei dir. Sie gehörte zu dir.«
Eine ganze Weile hörte ich am anderen Ende der Leitung nur die gedämpften Partygeräusche. Vielleicht stellte er sich vor, wie Katrinas Asche in Richtung Westen über den Atlantik wehte, nach Hause.
»Ich … wollte mich entschuldigen«, sagte ich. »Ich habe es falsch gemacht. Du warst die Liebe ihres Lebens, Bill. Sie hätte sein wollen, wo du bist.«
Das Klicken eines Feuerzeugs, dann zog er tief an einer Zigarette und stieß den Rauch wieder aus. »Da ist sie, Eva, jeden Tag. Du hast nichts falsch gemacht.« Erneut kurzes Schweigen. Er suchte nach den richtigen Worten. »Trelowarth ist nur ein Ort.«
So etwas Ähnliches hatte Daniel auch gesagt.
Tränen traten mir in die Augen. »Ja, ich weiß.«
Damit beendeten wir das Gespräch.
Ich hatte befürchtet, dass der Tag sich endlos hinziehen würde, denn dank Claire wusste ich, dass es erst in der Dunkelheit geschehen konnte. Doch bis dahin war noch eine Menge zu erledigen, und die Stunden vergingen wie im Flug.
Ich brauchte bis zum Nachmittag, um die Dateien für Susan zu ordnen, damit sie sich in Zukunft selbst um die PR für Trelowarth kümmern konnte. Und als ich den Computer schließlich heruntergefahren hatte, musste ich packen.
Es wurde Abend, und als Claire nach dem Essen herüberkam, war ich gerade dabei, mir das Haar hochzustecken.
Sie sah mir zu. »Das machst du gut, Eva. Wer hat es dir gezeigt?«
»Fergal.«
»Der Ire?« Ich hatte ihr von all den Leuten in der Vergangenheit erzählt. »Er scheint dir in diesem Sommer eine große Hilfe gewesen zu sein.«
»Ja.«
»Das freut mich. Es ist schön, jemanden zu haben, dem man sich anvertrauen kann.«
In ihrer Stimme schwang Wehmut mit. Fast bekam ich ein schlechtes Gewissen, sie zu verlassen. Doch dann fiel mir ein, dass sie nicht allein sein würde.
Ich dachte an den Abend in ihrem Garten, als sie mir erzählt hatte, was die Zukunft für mich bereithielt und woher sie es wusste. Begonnen hatte sie mit der Frage, ob ich mich an die graue Frau von Trelowarth erinnerte.
»Ja, natürlich«, hatte ich geantwortet.
»Und auch daran, wann das passiert ist?«
»Ja, vor der Zeit deiner Eltern, hast du gesagt.« Da war mir ein Licht aufgegangen.
»Meine Eltern, Liebes, sind noch nicht auf der Welt.«
»Und die graue Frau …?«
»Bist du.«
Sie hatte mir ein zweites Mal erklärt, wie sie in der Zukunft im Ort einen alten Mann treffen und wie dieser ihr von einer Frau erzählen würde, die in seiner Vergangenheit vor seinen Augen verschwunden war. Er würde wissen, wer ich war, meinen Namen kennen.
Sie hatte mir auch seinen Namen genannt, und ich war verblüfft gewesen.
»Er ist der alte Mann, den du im Pub getroffen hast?«, wiederholte ich, um ganz sicher zu sein. »Der alte Mann, von dem du dieses Cottage gemietet hast?«
»Ja.«
»Das Cottage hat er über die Familie seiner Frau bekommen. Und die war eine Hallett.«
»Stimmt.«
»Susan!«, hatte ich freudig überrascht ausgerufen.
Claire hatte genickt. »Er sagte, es sei eine sehr glückliche Ehe gewesen; er habe seine Frau ein Jahr vor unserer Begegnung verloren. Es war klar, dass er sie nach wie vor liebte.«
Ich hatte einen Augenblick gebraucht, um alles zu verarbeiten. »Dann glaubst du ihm also, dass ich die graue Frau bin?«
»Ja. Er mag bei unserer Begegnung ziemlich alt gewesen sein, aber sein Gedächtnis war völlig in Ordnung. Und bei diesem Ereignis war er sich absolut sicher. Er war ja selbst dabei.«
»Er wird dabei sein«, korrigierte ich sie. »Noch bin ich hier.«
Ich hatte nachdenklich die Sonnenuhr mit dem auf ewig darauf verharrenden Schmetterling betrachtet. Darunter blühten bunt die von Claire und mir gepflanzten Blumen.
»Tante Claire?«
»Ja?«
»Ist sie je zurückgekommen, die graue Frau?«
»Nein, nie.«
Ich fühlte so etwas wie Hoffnung, als ich mein Haar mit der weißen Leinenhaube bedeckte und mich zu Claire umdrehte. »So, das wär’s.«
»Sehr hübsch.« Claire musterte mich von oben bis unten und bewunderte mein Gewand. »Das hat er für dich ausgesucht, nicht wahr? Kluger Mann. Die Farbe steht dir gut.«
Ich blickte an mir herunter, um zu überprüfen, ob ich nichts vergessen hatte. Meine beiden Koffer lagen gepackt auf dem Bett. »Tja«, meinte ich schließlich, »ich glaube, ich bin so weit.«
Wir nahmen jede einen Koffer und trugen sie bis zum Treppenabsatz, wo ich den Zugang zum Priesterloch öffnete. »Bist du sicher, dass das in Ordnung ist?«
»Liebes, dieses Versteck existiert seit Hunderten von Jahren, ohne dass jemand etwas davon ahnte. Es ist der sicherste Ort, etwas zu deponieren. Besser als jeder Schrank.«
Sie schob den einen Koffer vorsichtig in den Hohlraum, um den empfindlichen Stoff von Anns verblichenen Kleidern nicht zu zerreißen, die wir zuvor hineingehängt hatten, neben den Mantel von Peter und Daniels seidenen Banyan. Ich gab den zweiten Koffer dazu und stellte Felicitys pisky als Wächter darauf, bevor ich das Versteck verschloss.
Eines Tages, wenn Trelowarth eine Ruine wäre, würde vielleicht ein Archäologe über die Koffer aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert stolpern, die sich den Platz mit einem alten blutverschmierten Mantel, einem Banyan und zwei Gewändern aus dem achtzehnten Jahrhundert teilten, und sich fragen, was es damit auf sich hatte. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass keine seiner Theorien der Wahrheit auch nur nahekam.
Ich hörte kein Flüstern hinter den Wänden , als ich Claire die Treppe hinunter, durch die helle Küche hindurch und zur hinteren Tür hinaus folgte, die Hunde schwanzwedelnd im Schlepptau, bis sie zum Stall verschwanden.
Ich ging mit Claire zu der Geißblattpflanze, die sich neben dem Küchenfenster die Mauer hinaufrankte.
»Bist du sicher, dass wir nicht zu spät dran sind?«, fragte ich Claire.
»Liebes, du kannst es nicht verpassen. Keine Sorge.«
Natürlich hatte sie recht, denn während alles für mich noch in der Zukunft lag, war es in Claires Zeit bereits geschehen und gehörte der Vergangenheit an. Der Finger hatte schon geschrieben, was sich ereignen musste.
Doch dieses Wissen minderte meine Nervosität nicht.
»Ja, aber wann …?« Da hob einer der Hunde den Kopf und bellte. Auch die anderen richteten die Schnauzen in Richtung Straße.
Wie sie und Claire hörte ich Schritte auf dem Kiesweg.
»Bald schon, glaube ich«, antwortete sie, bevor sie sich unserem Besucher zuwandte. »Guten Abend, Oliver.«
Und ich wusste, dass alles, was sie gesagt hatte, stimmte.
»Hallo«, erwiderte Oliver ihren Gruß und wehrte die herbeispringenden Hunde mit einer Hand ab. Mein Gewand kommentierte er lediglich mit einem kurzen Nicken und einem fröhlichen »Hübsches Kleid«. »Ich dachte, jetzt, da alle in Southport sind, könntet ihr vielleicht Gesellschaft gebrauchen.«
»Du hast Wein mitgebracht«, bemerkte Claire.
Dies war der Abend, auf den sie so lange gewartet hatte – an dem sie sich endlich offen mit dem Mann unterhalten konnte, der ihr Freund und Vertrauter und bald Susans Ehemann werden sollte und den sie sechzig Jahre später wiedertreffen würde, wenn er alt und sie jung wäre.
Für sie wäre das dann ihre erste Begegnung, doch Oliver würde sie bereits kennen. An dem Tag würde sie ins Pub gehen, er würde ihr das Cottage anbieten und ihr die Geschichte von der grauen Frau erzählen, die er einmal mit eigenen Augen hatte verschwinden sehen, hier in Trelowarth.
Er würde ihr in jener Zeit ein ebenso guter Freund sein wie in dieser. Es freute mich zu wissen, dass ich sie durch mein Verschwinden zusammenbrachte.
»Es ist sehr wichtig, jemanden zu haben, dem man sich anvertrauen kann«, hatte Claire gesagt.
Aber im Moment ahnte Oliver noch nicht, was gleich geschehen würde.
Er sah auf den Wein. »Ja, leider nur eine Flasche …«
»Die reicht fürs Erste«, meinte Claire und nahm sie ihm aus der Hand.
Sie ergriff die Flasche gerade noch rechtzeitig, bevor meine Umgebung sich zu verändern begann. Es herrschte Windstille, die Konturen verschwammen, und das Geißblatt wurde grau.
Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr, einen sich nähernden Mann. Fast wäre er an mir vorbeigegangen. Es war Fergal. Ich sah sein Lächeln, dann, wie er den Kopf leicht hob und etwas ins Haus rief.
Olivers Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. »Mein Gott. Eva …«
Claire beruhigte ihn. »Alles in Ordnung. Ihr fehlt nichts.«
Da blitzte hinter mir etwas auf, und ich wandte mich um: das einladende Licht der offenen Tür, in deren Schatten jemand stand.
Daniel.
Als ich ihn sah, wusste ich, dass ich mich nicht mehr fragen musste, wohin ich gehörte. Mein Zuhause war hier. Wenn der Duke of Ormonde im Frühjahr seine Pläne für den Aufstand im Westen Englands aufgäbe und neue schmiedete, würde die Sally die Anker lichten und in Richtung Süden segeln, vielleicht nach Spanien oder zu den Kanarischen Inseln, wo niemand Anstoß an meinem Akzent nähme und Fergal sich ganz seiner Vorliebe für Sherry hingeben und möglicherweise sogar eine Spanierin finden könnte, die seinem Temperament entspräche und seiner scharfen Zunge gewachsen wäre.
Was machte es schon, dass unser Leben keine Spuren in Trelowarth hinterlassen würde? Dass der Pfad durch den Wald zu den Klippen, wo die Sally ankerte, nicht länger benötigt würde. Dass der Wald unsere Fußabdrücke im Lauf der Jahre überwuchern und sich niemand mehr an uns erinnern würde?
Ich würde es wissen, und das genügte.
Der Wind trug den rauchigen Geruch des Holzfeuers aus der Küche heran.
Ich blickte ein letztes Mal zurück zu Oliver und Claire. Denn mittlerweile hatte ich fast die Tür und den Mann erreicht, der mich mit ausgestreckter Hand dort erwartete.
Mit einem Lächeln ging ich auf ihn zu.