12. Stadt der Vergessenen
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STADT DER VERGESSENEN
Aus den tiefen, geheimnisvollen Weiten
mit ihren blutigroten Sonnenuntergängen
längst vergessene Königreiche drängen
empor wie Schatten vom Beginn der Zeiten.
Aus Die Gesichter des Epemitreus
Conan hob sich aus den Wellen auf die unterste Steinstufe der Treppe zum Seetor, das bereits für die Nacht geschlossen war. Die Sonne war, aus seinem Blickwinkel betrachtet, hinter den Zinnen der hohen Stadtmauer untergegangen.
Müde nahm er den Kristallhelm und die Atemröhren ab und legte alles mit dem jetzt leeren Luftbehälter neben sich. Dann zog er sich mühsam die Stiefel von den Füßen und leerte das eingedrungene Wasser aus. Eine Weile blieb er zusammengekauert, heftig atmend, auf der Stufe sitzen und schaute sich wachsam um. Der Dreimeilenmarsch über den Boden der seichten See, wo die Haie zu Hause waren, und dann die weitere Meile entlang der Küste zur Stadt hatten arg an der Kraft des alten Recken gezehrt.
Nachdem er am späten Nachmittag in Stadtnähe gekommen war, war er wieder unter Wasser getaucht, wo er abgewartet hatte, bis all die Boote und kleineren Schiffe für die Nacht vertäut, die Seeleute in der Stadt verschwunden waren und man das Tor geschlossen hatte, ehe er sich näher herangewagt hatte.
An dem langen Steinkai, der von Norden nach Süden verlief, hatten mehrere größere Schiffe angelegt, weitere lagen in Hafen vor Anker, doch niemand war an Deck zu sehen. Die Besatzungen waren vermutlich zum Abendessen unter Deck oder an Land gegangen. Diese Antilier, dachte Conan, sind entweder völlig sorglos oder vertrauen auf ihre Stärke, daß sie nicht ständig Wachen auf ihren Schiffen und der Stadtmauer postieren. Mitten unter den antilischen Schiffen lag der Rote Löwe halb versunken im seichten Wasser.
Conan war nicht nur müde nach dem langen, anstrengenden Tag, sondern auch hungrig wie ein Wolf. Er schaute zum allmählich dunkler werdenden Himmel hoch und überdachte seinen nächsten Schritt. Vor allem mußte er von hier verschwunden sein, ehe ein Wächter auf ihn aufmerksam wurde.
Aber wo anders sollte er hin als in die Stadt? Das würde ihn allerdings in eine gefährliche Lage bringen. Nicht nur, daß er dort allein und ohne Freunde wäre, er würde zweifellos schnell auffallen, denn seine Statur, seine Hautfarbe und der Gesichtsschnitt unterschieden ihn allzusehr von den kleinen braunen Antiliern.
Dazu kam noch das Sprachproblem. In seiner eigenen Welt Wußte er sich ohne Schwierigkeiten in einem Dutzend und mehr Zungen zu verständigen, auch wenn er in all der Zeit nie seinen barbarischen cimmerischen Akzent abgelegt hatte. Die Antilier würden sich jedoch einer von den Atlantern abstammenden Sprache bedienen, die sich zweifellos völlig anders entwickelt hatte, als alle Sprachen, die Conan kannte.
Trotzdem, er konnte nicht endlos hier am Ufer sitzen bleiben. Vielleicht war gerade jetzt, da die Antilier vermutlich beim Nachtmahl saßen, die günstigste Zeit für ihn.
Er stand auf und strich mit den Fingerspitzen über den Stein der etwa vierzig Fuß hohen Stadtmauer. Sie war aus gewaltigen Quadern zusammengesetzt, die die salzige Gischt von Jahrhunderten geglättet hatte. Der Mörtel zwischen den Steinen war herausgebröckelt, und so ließ sich in den Fugen leicht Halt für Hände und Füße finden.
Als Junge wäre Conan eine solche Mauer unbekümmert hochgeklettert. Schroffe Felsen und Steilwände zu erklimmen, war für Cimmerier etwas Alltägliches. Aber er hatte seit vielen Jahren nicht einmal mehr einen Berg bestiegen, und er war auch nicht mehr so sicher wie früher.
Er faßte sich, stieß Helm und Atemgerät in das Wasser und zog die Stiefelschäfte durch den Gürtel. Er war versucht, sein Kettenhemd zurückzulassen, beschloß dann aber doch, es anzubehalten. Sich der Rüstung zu entledigen, nur ihres Gewichts wegen, obwohl Gefahr zu erwarten war, war vielleicht etwas, das ein unerfahrener Bursche tun würde, doch nicht der schlaue alte Conan.
Sich mit Fingern und Zehen festhaltend, begann er hochzuklettern. Langsam, wie eine große, schwanzlose Echse kroch er die Wand empor. Mehr als einmal glitt ein Finger oder eine Zehe aus, und er machte sich auf einen halsbrecherischen Sturz gefaßt, aber er fand immer wieder Halt, und schließlich zwängte er sich durch die Zinnen der Brustwehr und sprang hinunter auf den breiten Mauergang.
Auf der der Stadt zugewandten Seite verlief eine niedrige Brüstung. Conan schlich geduckt zu ihr und spähte darüber. Die Stadt breitete sich vor ihm aus.
In Mauernähe standen Katen und Schuppen von Fischern im roten Glühen des Sonnenuntergangs. Herdrauch stieg von den Katen auf, und da und dort breiteten die Fischer ihre Netze zum Trocknen aus. Vereinzelt rannten nackte braune Kinder herum, um einen Auftrag auszuführen. Hinter den Fischerkaten sah Conan mit Kopfsteinen gepflasterte Straßen und Steinhäuser verschiedener Größen.
Die Stadt war an einem Hang angelegt. Die größeren Häuser waren aus aufrecht nebeneinandergefügten Steinen errichtet. Sie hatten gedrungene, sich nach oben verjüngende Säulen, die schwere Oberschwellen trugen und verzierte Bögen. Die Fassaden waren mit Stuck geschmückt und entweder weiß getüncht oder zinnoberrot, hellbraun, grellgelb, smaragdgrün oder himmelblau gestrichen. Die Architektur – obgleich sie vage an das finstere Khem oder die geheimnisvollen, mauernumgebenen Städte, zum Teil erhaltenen, zum Teil Ruinen, erinnerte, auf die er vor vielen Jahren in den Wüsten und Dschungeln des Südens gestoßen war – war Conan fremd. Es schien ihm, als wäre sie nach einem fremdartigen Maßstab der Ästhetik errichtet.
Weiter oben am Hang erhoben sich stattliche Gebäude, die vermutlich Paläste, Herrenhäuser oder Tempel waren. Ihre Dächer waren aus roten Ziegeln oder altersgrünem Kupfer, und sie hatten gedrungene fünfeckige Türme mit pyramidenförmigen Spitzen. Conan sah beeindruckende Pylonen, himmelragende Obelisken und breite Portale. Einige Prunkstraßen waren mit phantastischen Steinungeheuern eingefaßt.
Wände, Gesimse, Türpfosten, Architrave und Kapitelle wiesen höhnische, glotzäugige Fratzen auf. Papageienschnabelige, geflügelte oder vielfüßige Wesen aus Mythen und Sagen waren in Flachreliefs an Wänden und über Portalen zu finden. An einigen der näheren Wänden bemerkte Conan Reihen seltsamer Bildschrift. Sie war aus kleinen Quadraten zusammengesetzt, die seltsame Gesichter und andere Darstellungen enthielten. Diese Art von Schrift war ihm völlig neu.
In Stadtmitte, auf einem großen ebenen Platz, der ganz gepflastert war, ragte eine gigantische Stufenpyramide aus Basalt- und roten Sandsteinblöcken in Mosaikmuster hoch. Träger Rauch stieg aus dem obersten Stockwerk auf, wo Conan vage die Umrisse eines riesigen flachen Altars sehen konnte.
Von diesem Bauwerk ging etwas ungemein Erschreckendes aus, eine Mischung aus Drohung und Grauen, als strahlte jeder einzelne Stein Schmerzen und Furcht Tausender von Menschenopfern aus. Bei der Betrachtung dieses Gebäudes stellten sich Conan die Nackenhärchen auf, und er mußte ein feindseliges Knurren tief in seiner Kehle unterdrücken.
Nur wenige Leute waren auf den Straßen, über die sich die Schatten des fortschreitenden Abends schoben. Ein paar Bettler hatten sich bereits ein Nachtquartier in Tür- und Torbögen gesucht. Da und dort schlurfte ein schläfrig wirkender Sklave in irgendeinem Auftrag über das Pflaster.
Conan wartete, bis die paar Fußgänger nicht mehr zu sehen waren. Dann zog er sein Kettenhemd aus, rollte sein Schwert hinein und warf das Bündel über die Brüstung. Die Mauer war auf der Stadtseite weit weniger hoch als auf der Seeseite, und so fiel es nicht sehr tief. Nunmehr schwang er sich über die Brüstung und begann den Abstieg auf die gleiche Weise wie den Aufstieg. Auf halbem Weg verlor er den Halt. Im Fallen stieß er sich von der Mauer ab, und landete geduckt auf der Grasfläche fünfzehn Fuß tiefer, ein wenig hart zwar, aber unverletzt.
Ein schneller Blick versicherte ihm, daß er nicht gesehen worden war. Hastig zog er Kettenhemd und Stiefel wieder an und schnallte sich den Waffengürtel um. Seine einzigen Waffen waren das Breitschwert und ein breitklingiger Dolch, dessen Scheide in einem Gürtelschlitz steckte. Das war nicht viel, wenn man mit einer ganzen Stadt voll unerbittlicher Feinde rechnen mußte. Aber mit ein bißchen Glück, Wagemut und der Vorsicht, die er sich in einem halben Jahrhundert verwegener Abenteuer angewöhnt hatte, mochte er immerhin eine Chance haben. Und um mehr hatte er die Götter nie gebeten.
Wie ein bronzener Schatten glitt er zwischen den Katen hindurch und über die erste Straße in einen dämmrigen Bogengang. Niemand sah ihn, als er von Säule zu Säule huschte. Tagsüber herrschte hier sicher rege Betriebsamkeit, doch jetzt waren die Straßen, so weit er sah, verlassen.
Auf seinem Weg durch die stille Stadt mit ihrem grellfarbigen Stuck auf massivem Stein vermied Conan die breiten Straßen und Rampen, die von einer Terrasse zur nächsten führten, und wählte statt dessen dunkle, verwinkelte Gassen. Er fragte sich, wo Sigurd und die Piraten waren – falls sie noch lebten. Vermutlich hatte man sie in der Nähe des Sklavenmarkts eingesperrt, sofern es hier so etwas gab. In einer Stadt voller Feinde, in der keiner in einer Sprache redete, die er verstand, hatte er keine große Chance, sie zu finden und zu befreien, aber er beabsichtigte jedenfalls, es zu versuchen. Selbst in seiner ungestümen Jugend, in der er keine Gesetze anerkannt hatte, hatte er nie einen Kameraden im Stich gelassen.
Außerdem standen die Aussichten weit besser, wenn er sechzig erfahrene Kämpfer an seiner Seite hatte, als wenn er sich allein einer ganzen Stadt mit zwanzig- oder dreißigtausend Einwohnern stellen mußte.
Sein vorrangiges Problem war jedoch, erst einmal einen Unterschlupf zu finden. Wo, in einer Stadt voll Feinde, deren Sprache er nicht verstand, konnte er einen Verbündeten auftreiben?
Aber plötzlich hatte es ganz den Anschein, als würden seine barbarischen Götter ein wenig nachhelfen. Er schlich durch eine enge Straße mit armseligen Einraumhäusern, da hörte er ein scharfes Zischen. Noch während er sich, mit der Hand um den Schwertgriff, danach umdrehte, kam ein ähnliches Zischen auch aus anderen Richtungen. An den Türen zeigten sich Frauen, in der Dämmernis nur schwach zu erkennen, die ihn zu sich winkten.
Sofort wurde ihm klar, daß dies die Straße der Dirnen war. Aufs Geratewohl wählte er eine Tür und schritt darauf zu. Sich die am besten aussehende Frau auszusuchen, reichte ihm die Zeit nicht.
Die Dirne zog Conan in ihr Gemach. Es war von einem Bündel in Öl getauchter brennender Binsen in einer Wandhalterung nur schwach erhellt. Die Frau redete auf ihn ein, doch das einzige, was er verstand, war die ausgestreckte Hand, mit der Handfläche nach oben.
Conan zog einen kleinen Beutel aus dem Gürtel und nahm eine Silbermünze heraus, die er auf die offene Hand legte. Die Frau hielt das Silberstück unter das Binsenlicht. Sie stieß einen Freudenlaut aus und warf die Arme um Conans Hals. Sie sah nicht übel aus in ihrem einfachen Baumwollkittel, der ihre üppigen Formen ahnen ließ.
»Beruhige dich nur wieder, Mädchen«, brummte Conan. »Der Silberling dürfte doch ein paar Tage Unterkunft und Verpflegung wert sein, oder nicht?«
Die Frau spielte mit seinem Haar und Bart und sagte etwas. Diesmal klang ihre Stimme ein wenig enttäuscht. Conan erriet, was sie meinte.
»Du hältst mich also für zu alt für solche Spielchen, hm?« sagte er grinsend. »Aber das hat noch Zeit. Sieh lieber zu, daß du mir was zu essen besorgst, ehe ich verhungere.« Durch Zeichensprache gelang es ihm schließlich, ihr klarzumachen, was er wollte.
Eine Weile später setzte er sich zu der Mahlzeit nieder, die die Frau, deren Name Catlaxoc war, zubereitet hatte. Sie war fortgegangen und mit einem Korb voll Nahrungsmittel zurückgekommen, die sie auf ihrem kleinen Herd gekocht hatte. Sie hatte nicht gespart, und so brauchte Conan sich nicht zurückzuhalten, als er sich ausgehungert das ungewöhnlich gewürzte Bratgeflügel schmecken ließ. Die Frau wartete respektvoll ab, bis er fertig war, ehe sie selbst etwas zu sich nehmen würde.
»Was ist denn das?« fragte Conan. Er hob ein walzenförmiges Gemüsestück hoch, das etwa einen Fuß lang und dicht an dicht mit dicken runden Körnern besetzt war. »Und wie, zum Teufel, ißt man so was?«
Sie verstand schließlich, daß er den Namen dieses Gemüses wissen wollte. »Mahiz«, erklärte sie.
»Mahiz, eh? So, und jetzt zeig mir, wie man es verzehrt. Und setz dich endlich und iß mit, sonst verschling' ich alles und lasse nichts für dich übrig.«
Nach einer Weile begriff sie. Er folgte ihrem Beispiel und nagte den Maiskolben ab. Auch nach den Namen anderer Dinge in Sicht fragte er sie. Als sie mit dem Essen fertig waren, konnte er bereits ein paar einfache Sätze mit Catlaxoc wechseln.
Conan spülte das üppige Mahl mit einem Krug gegärtem Fruchtsaft, der ihm fremd war, hinunter, dann rülpste er und blickte Catlaxoc an, die die Augen niederschlug und lächelte. Schließlich drehte sie den Kopf bedeutungsvoll einem Alkoven am anderen Gemachende zu.
Conan grinste. »Es stimmt zwar, daß ich nicht mehr so jung bin wie früher und ein bißchen müde von meinem Spaziergang auf dem Meeresboden, von dem Kampf gegen Menschen, Haie und Kraken ganz zu schweigen, aber wir werden ja sehen.«
Er stand auf, streckte sich, hob Catlaxoc auf die Arme und trug sie zum Alkoven.
An einem Abend, mehrere Tage später, nahm Conan Abschied von dem Freudenmädchen Catlaxoc. Sie klammerte sich weinend an seinen Arm, daß er sanfte Gewalt anwenden mußte, um frei zu kommen. Er trug nun Baumwollumhang und -kittel eines einfachen Antiliers. Catlaxoc hatte ihm diese Kleidung besorgt und ihm auch die Anfangsgründe der antilischen Sprache beigebracht. Er wußte, daß die Stadt Ptahuacan hieß und die letzte der Nachkommen der Atlanter war. Seine alte Kleidung verschnürte er zu einem Bündel, das er sich über die Schulter schlang.
Am Tage wagte er sich immer noch nicht auf die Straße, denn seine Größe und die Fremdartigkeit seiner Hautfarbe und Züge wiesen ihn sofort als Fremden aus. Aber er wußte nun in etwa, wie die Stadt angelegt war und welche Art von Verkleidung er benötigte, um seinen Plan durchzuführen.
Der Abend verstrich, und Conan zweifelte allmählich daran, daß er das Gesuchte finden würde. Schließlich schlich er durch eine dunkle Gasse auf einen weiten Platz zu, als ein Mann in phantastischem Federumhang die Gasse betrat und ihm entgegenkam.
Conan erstarrte flüchtig, dann sprang er den Fremden wie ein schlagender Löwe an. Ehe der Mann auch nur einen Laut hervorbrachte, hatte er ihn mit einem Fausthieb auf die Schläfe ins Land der Träume geschickt. Er zerrte die schlaffe Gestalt in einen dunklen Torbogen. Ein wenig schwitzte er bei dem Gedanken, wie leicht etwas hätte schiefgehen können. Ein Schrei des Gefiederten, und Conans Unternehmen wäre gescheitert.
Er betrachtete seinen Gefangenen genauer. Wenn er annahm, daß die Krieger mit der gläsernen Rüstung auf den Drachenschiffen von antilischer Durchschnittsgröße gewesen waren, dann war dieser Bursche ein Riese. Doch da bemerkte er, daß er Stelzenstiefel mit einer sieben Zoll dicken Sohle trug. Um Einfältige mit seiner Größe zu beeindrucken? Der Kerl sah wie ein Priester oder Zauberer aus mit seinem kahlgeschorenen Schädel, den vielen Talismanringen an den Fingern und den Halsketten mit Siegeln, Amuletten und winzigen Idolen.
Conan schaute die Hände des Mannes genauer an. Ja, er mußte ein Priester sein. Bei keinem anderen Beruf würden die Hände so weich und schwielenlos bleiben.
Der Mann war ungewöhnlich ausstaffiert. Unter dem Federumhang war sein braunhäutiger Körper nackt, wenn man von einem engen, in kleine Falten gelegten Rock absah. Dicke Goldreifen, in die geheimnisvolle Glyphen graviert waren, schmückten seine Handgelenke, Arme und Fußgelenke. Zum Federumhang, ähnlich dem des Zauberers auf der grünen Galeere, gehörte eine ebenfalls gefiederte Kapuze. Der Umhang war aus grobgewobener Wolle, und die Federn, deren prächtige Farben selbst in dieser Düsternis zu erkennen waren, waren dicht an dicht durch das Gewebe gesteckt und jede einzelne mit einem dicken Knoten gehalten. Ein feines Futter aus dichtgewebtem seidenähnlichem Garn verhinderte, daß Federkiele und Knoten die Haut aufkratzten.
Conan dachte, wenn er den Federumhang ohne die Stelzenstiefel trug, würde er nur um ein wenig größer als der Mann mit den Stiefeln sein. Wenn er die Arme unter dem Umhang verbarg und die Kapuze tief ins Gesicht zog, würde man ihm vermutlich keine unliebsame Aufmerksamkeit zollen. Doch selbst die Kapuze genügte nicht, seine ungestutzte graue Mähne ganz zu verbergen und schon gar nicht den Bart. Und wahrscheinlich waren alle dieser Gefiederten kahlköpfig und bartlos.
Conan löste dieses Problem, indem er einen Streifen des roten Futterstoffs abriß und ihn sich um das Haar und die untere Gesichtshälfte wand, so daß nicht viel mehr als seine Augen zu sehen waren. Dann schlüpfte er wieder in sein Kettenhemd und die Stiefel, schnallte sich den Waffengürtel darüber und legte den Umhang um. Die Kapuze zog er tief ins Gesicht.
Er wußte nicht, wie andere ihn nun sehen würden, aber er nahm an, daß er ohne Besorgnis eine flüchtige Musterung über sich ergehen lassen konnte. Seine blauen Augen und das rote Tuch um das Kinn mochten vielleicht noch Aufmerksamkeit erregen, aber er tat diese Möglichkeit mit einem Schulterzucken ab. Nach seiner eigenen Erfahrung ging das einfache Volk einem Priester oder Zauberer eher aus dem Weg, als sich eingehend mit ihm zu befassen.
Festen Schrittes trat Conan hinaus auf den Platz, den der Mondschein und Fackeln in Wandhalterungen an den umliegenden Häusern beleuchteten. Fast sofort wurde seine Verkleidung auf die Probe gestellt. Ein faßbäuchiger Kaufmann, der dabei war, seine ausgestellte Ware wegzupacken, sah ihn als erster. Der kleine braune Mann räumte gerade seine Schmuckstücke aus Kupfer, Jade, Silber und Gold weg und den Kopfputz aus bunten Federn. Als Conan in Sicht kam, mit dem gefiederten Umhang, der um seine Stiefel wallte, wagte der Händler nur einen hastigen Blick aus verängstigten schwarzen Augen auf die hochgewachsene, fast gesichtslose Gestalt. Dann verbeugte er sich tief, hob ein Jadeamulett, das an einer Kette um seinen Hals hing, an die Lippen, küßte es unterwürfig und verharrte in seiner kriecherischen Haltung, bis Conan an ihm vorübergeschritten war.
So hatte Conan die erste Probe bestanden! Offenbar lebte das gewöhnliche Volk von Antilien in großer Angst und auch Ehrfurcht vor seinen Priester-Zauberern. Mit ein bißchen Glück und Vorsicht würde wohl kaum einer daran denken, ihn aufzuhalten.
Bis tief in die Nacht hinein sah Conan sich auf den Straßen und in den Gassen von Ptahuacan um, ohne bei irgend jemandem besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Offenbar waren Priester in gefiederten Umhängen ein gewohnter Anblick in der alten atlantischen Stadt. Als die Straßen schließlich völlig menschenleer waren, fand er eine verlassene, halbzerfallene Hütte, in der er bis zum Morgen schlief, ehe er sich weiter mit seinem Plan befaßte.
Im hellen Sonnenschein des frühen Vormittags sah Conan Dutzende federgewandete Gestalten auf ihren Stelzenstiefeln durch die Menge stolzieren, ohne je auch nur auf die demütigen Grüße der einfachen Bürger zu achten. Es hatte also ganz den Anschein, als wären die Priester-Zauberer des alten Atlantis auch in dieser Stadt die Herrscher.
Und ebenso sah es aus, als duckte sich das ganze Volk vor ihnen. Conan hatte den Eindruck, daß die einfachen Antilier ein freudloses, erniedrigendes Leben führten und sich vor den Priester-Zauberern fürchteten. Jedenfalls beeilten sie sich, den gestelzten, gefiederten Priestern den Weg frei oder einen Bogen um sie zu machen. Und Conan bemühte sich, die arrogante Haltung der Priester nachzuahmen.
Ptahuacan war eine Terrassenstadt, deren parallel angelegte Straßen mit schrägen Rampen und Treppen verbunden waren. Sie verriet eine hohe technische Entwicklung und eine feinsinnige Kultur mit alten Traditionen und künstlerischen Maßstäben. Die Steinbauten konnten es mit den vornehmsten seiner eigenen Welt aufnehmen, und nicht einmal die modernsten Städte der hyborischen Königreiche wiesen so riesige Tempel und eine solche Vollendung in der Architektur auf, die hier selbst in den unwichtigsten Kleinigkeiten zu finden war. Die phantastische Zikkurat mit ihrem Tempelabschluß auf dem Hauptplatz war so groß wie die Pyramiden Stygiens und erinnerte in ihrer Bauart an die Tempel einiger der finsteren Kulte Shems. Jahrhunderte mußten zu ihrer Errichtung benötigt worden sein und viele Tausende von Arbeitern. Rund um den Platz erhoben sich in übereinanderliegenden Reihen Bänke wie in einer Arena, die Platz für viele Tausende von Zuschauern boten.
Conan blieb diesem Platz der Pyramide fern, da er offenbar für einen geheiligten Ort gehalten wurde und er dort möglicherweise auf Priester stoßen würde, die sich nicht, wie das einfache Volk, davor scheuen würden, ihn anzusprechen. Bis jetzt war es ihm immer noch gelungen, den Gefiederten auf den Straßen nicht zu nahe zu kommen. Glücklicherweise schienen sie nicht sehr gesellig zu sein und hielten nur sehr selten einmal an, um miteinander zu sprechen.
Conan blieb häufig stehen, wo mehrere der einfachen Leute sich miteinander unterhielten, um ihrer Sprache zu lauschen. Sie war kehlig, leicht zischelnd, und es war für ihn schwer festzustellen, wo ein Wort endete und das nächste begann, obwohl er bereits viele einzelne Worte und kurze Redewendungen verstand. Obgleich die Grammatik sich völlig von jeder Sprache, die er kannte, zu unterscheiden schien, wiesen einige der Worte, die er von Catlaxoc gelernt hatte, doch eine schwache Ähnlichkeit mit gleichbedeutenden seines heimatlichen Cimmerischs auf.
Conan schloß, daß die Atlanter, die – nach dem Untergang Valusiens, von dessen Kultur sie viel übernommen hatten – eine neue Zivilisation gegründet hatten, zumindest zum Teil die Vorfahren seiner eigenen Rasse waren. In der Ära vor dem Kataklysmus, von der wenig bekannt war, hatten die Stämme des älteren Cimmeriens gegen die atlantischen Siedler an der thurischen Küste gekämpft und die Frauen der Besiegten zu ihren eigenen gemacht. Viele cimmerische Stämme, durch die lange Berührung mit atlantischen Siedlern halbzivilisiert, hatten sich in den letzten Jahrhunderten vor dem Untergang des Inselkontinents auf Atlantis als Söldner verdingt. Als die cimmerischen Barbaren mit den Grundbegriffen der Zivilisation vertraut wurden, hatten sie viele Leihworte der Atlanter übernommen, um komplexere Begriffe ausdrücken zu können. Deshalb gab es auch jetzt noch einige Worte gleicher Bedeutung auf beiden Seiten des weiten Westlichen Ozeans. Diese Ähnlichkeit genügte jedoch nicht, einem Fremden von Übersee ohne ausreichende Übung Antilisch verständlich zu machen.
Aus den Worten und Redewendungen, die Conan aufschnappte, schloß er, daß es an diesem Morgen zwei verbreitete Gesprächsthemen gab. Eines war der Kampf der Drachenschiffe der Seepatrouille mit einem Schiff unbekannter Herkunft, das andere der blasphemische Angriff auf einen der heiligen Priester, dem man unverständlicherweise den geweihten Federumhang geraubt hatte. Conan lauschte angestrengt nach möglichen Hinweisen auf seine Mannschaft, doch wenn irgendeiner hier wußte, wo man sie gefangenhielt, erwähnte er es zumindest nicht.
Während der Cimmerier zwischen den Verkaufsständen eines der größeren Basare herumstand, ergab sich die Chance, die er erhofft hatte. Ein verschlagener kleiner Mann in zerlumptem Kittel trieb sich mit scheinbarem Gleichmut nahe einer kupferbeschlagenen Kassette herum, in der ein fetter Kaufmann sein Wechselmetall – winzige Bleibarren, Kupfer- und Silberringe und mit Goldstaub gefüllte Federkiele – aufbewahrte. Conan sah, wie der kleine Mann geschickt und mit der Flinkheit einer zuschlagenden Schlange zwei Kiele mit Goldstaub entwendete.
Der Kaufmann, in ein wortreiches Feilschen vertieft, mit einem vornehmen Kunden, der aus einer von Sklaven getragenen Sänfte lehnte und sich für das Fell einer Großkatze interessierte, bemerkte es nicht. Unter seiner Vermummung grinste Conan erfreut, während er den Dieb beobachtete, der sich, nachdem er die kostbaren Kiele hastig im Kittel verstaut hatte, davonstahl.
Unauffällig folgte Conan ihm in eine menschenleere Gasse. Mit einem panthergleichen Sprung hatte er ihn erreicht. Der kleine Antilier quiekte wie eine verschreckte Maus, als sich des Cimmeriers Prankenhand auf seine Schulter legte. Conan wehrte den Stoß eines nadeldünnen Obsidiandolches ab, der wie aus leerer Luft erschienen war. Er packte und drückte die Hand des Diebes, und das glasklingige Messer fiel klirrend auf das schmutzige Pflaster.
Als der verstörte kleine Gauner ängstlich die Augen zu dem Riesen im Federumhang hob, knurrte Conan in gebrochenem Antilisch: »Führ mich zum König der Diebe, oder ich breche dir den Arm!«
Endlich schlug das Zünglein der Waage für ihn aus. Wie alle großen Städte mußte auch Ptahuacan eine Unterwelt haben. Und wenn man sich vor der herrschenden Klasse hüten mußte, fand man gewöhnlich willkommene Aufnahme in der weltweiten Gilde der Diebe.