15. Das Verlies
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DAS VERLIES
Vergeblich wehrte der Löwe sich.
Die Mannschaft blickte der Hölle ins Angesicht ...
Der Weg Amras
Sigurd von Vanaheim war ergrimmt. Als der mutige alte Vanir, genau wie der Rest der Besatzung des Roten Löwen, von den betäubenden Gasen der Krieger aus dem antilischen Drachenschiff gefällt wurde, hatte er nicht erwartet, je das Tageslicht wiederzusehen. Aber der Tod hatte die Knochenfinger von ihm zurückgezogen. Das Ende war Sigurd noch nicht bestimmt.
Statt dessen war der alte Pirat benommen und verwirrt aufgewacht, mit dem Geruch würziger Dämpfe in der Nase. Er befand sich in dem geräumigen Bauch des antilischen Schiffes zwischen seinen barachanischen Kameraden, die ebenfalls nach und nach zu sich kamen. Braunhäutige, grinsende Krieger in seltsamer Glasrüstung bewachten sie.
Als Sigurd wieder einigermaßen klar zu denken vermochte, sah er, daß das Drachenschiff nicht wirklich aus Gold oder einem anderen, goldähnlichen Metall erbaut, sondern lediglich dünn damit beschichtet war. Die Planken unter den Füßen waren aus gutem, festem Holz, so hart wie Eiche, doch von dunklerer Tönung. Hölzerne Schotten und Außenplanken umgaben sie. Das gedämpfte Branden von Wellen gegen den geschwungenen Schiffsrumpf drang an sein Ohr, und Sigurd ahnte, was geschehen war.
Sein Blick wanderte über die Gesichter seiner Mannschaft. Einige waren blutig, und ein paar wiesen schlimme Wunden auf. Aber es fehlte offenbar keiner, und alle lebten. Das war schon etwas, auch wenn sie sich in der Hand der Antilier befanden.
Da plötzlich gab es dem alten Freibeuter einen Stich mitten ins Herz. Besorgt überflog sein Blick erneut die Anwesenden. Conan war nicht unter ihnen. Das vertraute narbige Gesicht unter der eisengrauen Mähne fehlte.
Sein Herz verkrampfte sich, und ein Schatten zog über sein Gesicht. Er kannte den Mut des alten Cimmeriers nur zu gut. Nur wenige konnten sich rühmen, Conan während seines langen Lebens in ihre Gewalt bekommen zu haben. So wie er an seiner Freiheit hing, hatte der graue Wolf wohl vorgezogen, im Kampf zu fallen, denn sich von diesen puppenhaften, braunhäutigen Männern überwältigen zu lassen. Und wenn Conan tatsächlich unter den Gefallenen war, dann lastete die schwere Verantwortung für seine Männer auf Sigurd.
»Verliert den Mut nicht, Freunde«, brummte er. »Immerhin leben wir noch, selbst wenn wir Gefangene sind. Und solange auch nur ein Hauch von Leben in uns ist, besteht immer noch die Chance, daß wir uns die Freiheit wieder erkämpfen können!«
Goram Singh blickte ihn mit ernsten schwarzen Augen an.
»Wo ist Amra, o Sigurd? Warum ist er nicht unter uns?«
Bedächtig zupfte Sigurd am ergrauenden roten Bart. »Bei Shaitans Schwanz und Ningals Stern, Kamerad, ich weiß es nicht. Vielleicht ist er in einem anderen Teil dieser verfluchten Galeere ...«
Der Vendhyaner nickte stumm, aber er neigte den Kopf mit dem Turban, um Sigurds Blick auszuweichen. Er wußte genau wie der Vanir, daß man Conan wohl kaum getrennt von ihnen festhalten würde. Wahrscheinlicher war, daß der mächtige Cimmerier durch die kalten Hallen der ruhelosen Toten gewandelt war, mit einem antilischen Glasschwert im Leib.
Die Fahrt in den Hafen von Ptahuacan dauerte fast eine Stunde wegen des zusätzlichen Gewichts von einem halben Hundert kräftiger Piraten im Laderaum. Sigurd blinzelte in den Sonnenschein, als sie in schweren Glasketten aus dem goldbeschichteten Drachenschiff geführt wurden. Neugierig blickte er auf die alte Stadt aus verwittertem Stein und buntem Stuck, die terrassenartig am Hang eines Berges erbaut war.
In seinem ganzen Leben hatte Sigurd von Vanaheim keine so merkwürdige Stadt gesehen, in der jedes einzelne Haus mit Friesen figürlicher Darstellung von Göttern mit den Köpfen von Ungeheuern und tierköpfigen Menschen verziert war, gewaltige Portale hatte und seltsame Säulen, die sich dem hellen Morgenhimmel entgegenhoben. Über einen großen Teil dieser Terrassenstadt warf eine titanische schwarz-rote Zikkurat ihren düsteren Schatten. Von dem Tempel auf ihrer obersten Stufe stieg Rauch wie von einem menschengeschaffenen Vulkan auf.
Die Piraten bekamen jedoch nur einen kleinen Teil der alten atlantischen Stadt zu sehen. Ihre Wächter führten sie schnellen Schrittes durch die Straßen, breite Rampen von Terrasse zu Terrasse hoch und durch das Bronzetor einer grauen Zitadelle am Platz der Großen Pyramide. Als die gewaltigen Torflügel sich hinter ihnen schlossen, sahen die Piraten zum letztenmal für viele Tage den blauen Himmel über sich.
Wächter trieben sie wie Vieh unzählige Steinstufen einer Wendeltreppe tief hinab in die Eingeweide des Berges, an dessen Hang Ptahuacan erbaut war. Als ihre Knie, die von dem endlosen Abstieg schmerzten, einzuknicken drohten, gelangten sie schließlich zu einem riesigen Raum, der aus dem Felsen gehauen zu sein schien. Hier nahm man ihnen – während Soldaten mit ausgestreckten Piken mit Glasspitzen sie bewachten – ihre Glasketten ab und legte um ihre Fußgelenke Ringe, von denen Ketten zu weiteren Ringen an den Steinwänden verliefen. Diese Ketten waren lang genug, daß sie sich ein wenig die Füße vertreten und auf den Boden legen, sich jedoch nur ein paar Fuß von der Wand entfernen konnten.
Die Wächter verließen den Kerker, und die Gefangenen waren unter sich.
In diesem ungewöhnlichen Verlies stützten gewaltige Steinpfeiler wie Stämme riesiger Bäume die Decke. Sie schienen Teil des natürlichen Gesteins zu sein, das man stehengelassen hatte, als der Raum ausgehöhlt worden war.
Hoch über ihren Köpfen waren Platten aus glänzendem Metall in die Decke eingelassen. Durch eine vergessene atlantische Wissenschaft oder durch Zauberei glühten diese Platten in sanftem Rot, das den Raum schwach beleuchtete. Sigurd fragte sich flüchtig, ob diese Platten aus dem sagenhaften atlantischen Metall Orichalcum waren, aber andere Dinge beschäftigten ihn viel mehr, als daß er weiter darüber nachdachte.
Die Gefangenen bekamen einmal am Tag zu essen. Eimer mit fettigem, lauwarmem Eintopf wurden in einen langen schmutzigen Trog an der Wand hinter ihnen geschüttet. Erstarrte Fettbrocken schwammen in dem breiähnlichen Zeug, das mit unappetitlichem Getreide eingedickt war. Aber der Hunger überwand den Ekel schnell, und Conans Männer konnten es schon in den folgenden Tagen kaum erwarten, bis man ihnen diesen Fraß vorsetzte.
Eingesperrt in diesem klammen Verlies, in das kein Tageslicht drang und von dem aus nicht ein Fleckchen Himmel zu sehen war, verloren die Piraten bald jegliches Zeitgefühl. Waren Sie Tage oder gar schon Wochen hier? Sie beschäftigten sich fast unablässig mit dieser Frage, bis Sigurd brüllte: »Haltet das Maul, ihr alle. Ihr macht mich ja verrückt, und euch selbst ebenfalls. Wir können ziemlich sicher sein, daß sie uns nur einmal am Tag zu essen bringen. Also bedeutet jede Mahlzeit einen Tag. Yasunga, du wirst unser Zeithalter sein. Such dir einen Platz an der Wand und kratz jedesmal einen Strich ein, wenn wir zu essen bekommen.«
»Aber Sigurd«, gab ein kleiner Ophite zu bedenken, »wir wissen doch nicht, wie viele Tage inzwischen vergangen sind. Manche meinen vier, andere fünf, ein paar sogar sechs oder sieben. Wie wollen wir ...«
Er unterbrach sich hastig, als der Vanir die gewaltigen Fäuste vor seinem Gesicht schüttelte, bis die Ketten klirrten. »Halt's Maul! Oder, bei Ahriman, ich werde eine Kette um deinen dürren Hals wickeln und sie zuziehen, bis dein lausiger Schädel herunterfällt! Jeder kann zu Yasungas Strichen so viele Tage hinzufügen, wie er für richtig hält. Als ob es überhaupt eine Rolle spielen würde! Und dem nächsten, der noch mal damit anfängt, zerschlage ich den Schädel wie ein Ei!«
»Ah, Eier!« hauchte Artanes, der Zamorier, der unter den Piraten für seinen Appetit bekannt war. »Was würde ich für zwei Dutzend frische Hühnereier geben!«
Der Schmutz erstarrte bereits an ihnen, und ihre Haare verfilzten. Ihre unbehandelten Wunden schwärten entweder oder verkrusteten und begannen zu heilen. Zwei holte der Tod. Ein stämmiger Shemit, der im Kampf auf dem Schiff einen Schädelbruch davongetragen hatte, starb schreiend und gegen unsichtbare Feinde kämpfend. Der andere war ein gleichmütiger Schwarzer aus den dampfenden Dschungeln von Südkush, dem stygische Sklavenhändler die Zunge abgeschnitten hatten, ehe es ihm gelang, zu den Barachan-Inseln zu fliehen. Er starb an Fieber. Beide Leichen wurden von den antilischen Wächtern fortgeschafft.
Mit der Hilfe des Steuermanns Yasunga, des Bootsmanns Milo und des Meisters der Bogenschützen Yakov sorgte Sigurd dafür, daß die Männer den Mut nicht verloren und daß einigermaßen Ordnung gewahrt wurde. Das war nicht einfach, denn die Piraten waren eine buntgemischte Meute, und fast jeder einzelne brauste schnell auf, fühlte sich leicht grundlos gekränkt und neigte zu abergläubischen Ängsten, Mutlosigkeit oder Gereiztheit. Und Sigurd, der zwar ein mächtiger, respekteinflößender Mann mit gutem Namen bei den Piraten war, fehlte die Aura unschlagbaren Glücks und übernatürlicher Kraft, die von Amra dem Löwen ausging.
Die einfachste Weise, ihr Interesse zu erregen und sie von Grübeleien und Sinnlosigkeiten abzuhalten, war, sie von ihren Abenteuern erzählen zu lassen. Und so lebten sie die Vergangenheit noch einmal durch und argumentierten über Einzelheiten gemeinsamer Kämpfe und Plünderzüge.
Immer wieder kamen sie auf die unglaublichen Taten Conans – oder Amra des Löwen, als den die meisten ihn kannten – zu sprechen. Sie erzählten, wie er an der Seite Bêlits, seiner ersten großen Liebe, die Schwarze Küste unsicher gemacht und sich unbekannte Dschungelflüsse weit aufwärts gewagt hatte, wo die Piratin schließlich in einer Ruinenstadt den Tod gefunden hatte.{1} Wie er ein Jahrzehnt später scheinbar aus dem Nichts wiederaufgetaucht war, um mit ihnen, den Barachanpiraten, zu segeln{2}, und er eine weitere Weile später zum Kapitän einer Karracke zingaranischer Freibeuter geworden war.{3} Immer wieder sprachen sie von Amras phantastischen Abenteuern, dem Helden Tausender Gefahren und Sieger Tausender Kämpfe, angefangen vom Zweikampf bis zu erderschütternden Schlachten.
Mit der Zeit verlor jedoch sogar Sigurd den Mut. Das düstere, klamme Verlies mit seinen kahlen Steinwänden und dem dämmrig roten Licht drückte auf ihr Gemüt, und ihr unsicheres Geschick, das zu den schlimmsten Vermutungen Anlaß gab, trug nicht bei, sie aufzuheitern.
Oftmals versuchte Sigurd mit Hilfe der Stärksten unter ihnen, ihre Ketten zu sprengen. Die Glieder sahen aus, als wären sie aus zerbrechlichem Glas, doch kein Glas, das sie kannten, war so unnachgiebig wie dieses durchsichtige Material, das härter und fester als Bronze war. Es half absolut nichts, daß sie daran zerrten, es aufeinanderschlugen, darauf stampften oder es verdrehten, lediglich die schwach schillernde Oberfläche wurde dadurch stellenweise ein wenig stumpf.
Nein, eine Flucht aus diesem Verlies war unmöglich. Sie konnten nur darauf warten, daß das Schicksal selbst eingriff. Und das tat es letztendlich auch.
Das stumpfe Klirren von gläsernen Speeren auf Schilden riß Sigurd aus einem unruhigen Schlaf. Er richtete sich, auf einen Ellbogen gestützt, auf und sah, daß flachgesichtige dunkelhäutige Soldaten seine Leute mit den Zehen stupsend weckten und ihre Hände auf dem Rücken banden.
»Was haben sie vor, Käp'ten?« murmelte Goram Singh.
Sigurd schüttelte den Kopf, daß der zerzauste rotgraue Bart in Bewegung geriet. »Das wissen Crom und Mitra, Kamerad!« knurrte er. Dann hob er die Stimme: »Kopf hoch, Männer, und strafft die Schultern. Zeigt diesen braunen Hunden, daß wir Männer sind, auch wenn sie uns wie die Tiere hier in unserem eigenen Dreck ersticken lassen wollen. Wenn sie uns zum Henkersblock führen, beim grünen Bart Lirs und roten Herzen Nergals, dann sollen diese stinkenden Schweine sehen, wie echte Männer sterben können, was, Leute? Steht ihr zu dem alten Sigurd bis zum letztem Atemzug?«
Seine kurze Ansprache löste einen rauhen Beifall unter den Piraten aus. »Ja, Rotbart!« krächzten sie.
»Ihr seid alle gute Burschen! Und vielleicht stellen sie uns auch nur auf den Sklavenblock, wer weiß? Mit ein bißchen Bruderschaftsglück sollte ich doch denken, daß ansehnliche Männer wie wir von hochgeborenen Damen für besondere Dienste in ihren Boudoirs erstanden werden!« Er zwinkerte ein wenig übertrieben.
Die Männer gingen mit nicht ganz stubenreinen Witzen darauf ein. Sigurd grinste, aber ihm war klar, daß sie sich nur etwas vormachten und daß das auch die anderen wußten. Er ahnte in etwa, welches Geschick ihnen diese schwarzherzigen Heiden der verfluchten Inseln am Rand der Welt zugedacht hatten.
Sigurds Ahnung sollte sich als richtig erweisen. Die Piraten, die das Sonnenlicht nicht mehr gewöhnt waren, schauten sich blinzelnd und verstört um, bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Hoch über ihnen strahlte das blaue Himmelsgewölbe wie die saphirene Kuppel eines Götterpalasts. Die Sonne stand im Zenit. Nach der langen kühlen Düsternis des stinkenden Verlieses empfanden die Piraten ihre brennende Hitze als angenehm. Sie atmeten in tiefen Zügen die frische Meeresbrise ein, die vom Hafen herbeiwehte. Wer konnte schon wissen, ob es nicht die letzte Salzluft war, die ihre Lungen in diesem Leben aufnehmen würden?
Man hatte sie aus den Portalen der grimmigen grauen Zitadelle geführt, die hier Vestibül der Götter genannt wurde, und auf den Platz der großen rot-schwarzen Zikkurat, die sich über die Köpfe der Tausenden von Antiliern auf dem Platz erhob.
Sigurd, der die Gruppe anführte, warf einen Blick über die Schulter auf seine Kameraden. Sie waren ein elend aussehender Haufen, in Lumpen, schmutzig, mit langen fettigen und verfilzten Haarsträhnen und nicht weniger verfilzten Bärten. Durch die in Fetzen von ihnen hängenden Hemden konnte man, dank dem knappen und wenig nahrhaften Essen, die Rippen zählen.
Soldaten bildeten durch beidseitige Absperrung eine lange Gasse durch die Menschenmenge vom Vestibül bis zum Fuß der Stufenpyramide. Durch diese Gasse trieben die Wächter ihre Gefangenen, bis sie an eine lange Reihe nackter Antilier anschlossen.
Priester in Federumhängen und Stelzenstiefeln, die über die Menge ragten, eilten geschäftig umher, während andere in dichten Reihen am Fuß der Pyramide standen und seltsame Standarten und Banner hielten.
Die Zikkurat erhob sich nun hoch über sie. Peitschen knallten über die Schultern der zerlumpten Piraten, als die Soldaten sie dicht an die nackten Antilier herantrieben. Letztere schleppten sich langsam, stumm und ohne Widerstand zu leisten, die steilen Steinstufen am Rand der Zikkuratfassade hoch.
Sigurd legte den Kopf weit zurück, um durch halbzusammengekniffene, tränende Augen zur Pyramidenspitze hochzuschauen und zu sehen, was dort im blendenden Schein der Mittagssonne geschah. Er erkannte einen riesigen Altar aus schwarzem Stein und daneben einen hohen Thron, auf dem eine Gestalt in Federumhang saß.
Einer nach dem anderen wurden die stillen Antilier mit gebeugtem Kopf zum Tempel auf der obersten Zikkuratstufe geführt. Gefiederte Priester, die Gesichter hinter Tiermasken verborgen, faßten sie an den Armen, durchschnitten ihre Fesseln und hießen sie, sich mit dem Rücken nach unten auf dem Altarstein auszustrecken. Dann trat eine andere Gestalt herbei, in noch phantastischerem Gewand aus Federn und blitzenden Edelsteinen, soweit das aus Sigurds Sicht zu erkennen war. Dieser Priester streckte einen dünnen braunen Arm aus und beschrieb ein geheimnisvolles Zeichen über der nackten Brust des liegenden Antiliers. Dann ...
Sigurds Augen tränten plötzlich noch stärker. Er senkte den Kopf, um mit dem Handrücken darüberzufahren. Als er wieder hochschaute, sah er, daß der Priester den Arm hocherhoben hatte und etwas in der Rechten hielt – einen Dolch, der wie Kristall glitzerte. Das Messer stieß hinab, zog einen kleinen Kreis, und der Gefangene auf dem Altar zuckte heftig. Einen Augenblick beugte der Hierarch sich über das Opfer. Er sägte mit dem Messer und griff mit der freien Hand zu.
Dann hoben die braunhäutigen, jetzt rottriefenden Arme sich wieder und hielten etwas ebenfalls Triefendes, Rotes gen Himmel – das Herz des Geopferten, das ihm bei lebendem Leib aus der Brust geschnitten worden war.
Die Tausende auf dem Platz keuchten. Die Priester stimmten mit tiefen Stimmen einen leiernden Gesang an, zu dem sie sich bedächtig wiegten. Sigurd erinnerte er an das Murmeln des Meeres. Vom Opferfeuer neben dem Altar stieg dunkler Rauch auf, als das Herz den vielen anderen zugefügt wurde, die bereits auf die glühenden Kohlen gehäuft waren. Blutbesudelte Diener zerrten die Leiche außer Sicht, und der nächste stumme Gefangene wurde zum Altar geführt. Sigurd fragte sich, wie lange dieses entsetzliche Ritual schon im Gange war.
Die Wächter trieben die Gefangenenreihe einen weiteren Schritt voran. Die Piraten hinter Sigurd waren, genau wie er, erstarrt über das, was sie oben auf der Zikkurat gesehen hatten. Der alte Freibeuter verspürte nichts als eine kalte Leere in sich, als wäre die Zeit stehengeblieben und das Universum zur Größe seines Körpers geschrumpft. In einer kurzen Weile würde alles vorbei sein, die lange Reise, die Geschichte seines Lebens. Und was hatte es schon zu sagen? War jedes Menschenleben so bedeutungslos, wie dieses sich erwiesen hatte? Und doch ...
In Sigurds fröstelnder Brust pochte das alte Herz vor Abscheu. Sein Mannesmut lehnte sich auf gegen diese feige Unterwerfung. War er nicht besser als diese kleinen Insulaner? Bei Thors Hammer! Den Tod fürchtete er nicht, genausowenig wie seine alten Kameraden. Was war dann dieser wühlende Ekel in ihm? Stolz! Ja, bei Badb und Morrigan, das war es, ununterdrückbarer Stolz!
Sigurd stieß ein bellendes Lachen aus, das bei den Piraten, die dicht bei ihm in der sich langsam bewegenden Reihe standen, staunende Mienen herbeirief. Ja, das war wahrhaftig ein höllischer Tod für einen alten Vanir!