Zwei
Um Kiel und Planken Gischtwellen branden
Kinnunen hatte sich immer noch nicht im Präsidium blicken lassen. Der Diensthabende hatte beim x-ten Anruf in Kinnunens Wohnung endlich dessen neue Freundin erreicht, die ihm erzählt hatte, mein Vorgesetzter säße beim vierten Bier auf der Terrasse des «Kappeli». Rane und ich beschlossen, ohne ihn anzufangen, damit wir die Leute nicht den ganzen Abend auf dem Präsidium behalten mussten.
Ich wollte mir die Chormitglieder in alphabetischer Reihenfolge vornehmen, da mir nichts Besseres einfiel. Rane sollte nur mitschreiben, denn er würde sowieso nicht mehr lange an dem Fall mitarbeiten. Er war in Gedanken schon beim Montag, an dem er ausschlafen und alle Mordfälle vergessen konnte. Immerhin würde er aber hören, was die Zeugen zu sagen hatten, und sein Urteil darüber abgeben können, bevor er in Urlaub ging. In den wenigen Monaten, die ich mit ihm zusammengearbeitet hatte, war mir klar geworden, dass Rane trotz seiner Vorurteile und seiner gelegentlichen Boshaftigkeit ein scharfsichtiger Beobachter war. Wahrscheinlich fuchste es ihn, einer fast zehn Jahre jüngeren Frau unterstellt zu sein.
Sirkku Halonen war als Erste an der Reihe. Sie wirkte sehr nervös, darum stellte ich ihr zuerst einfache Routinefragen, um sie zu beruhigen. Ich bin nicht mütterlich veranlagt, sanfter Umgang mit verletzlichen Menschen liegt mir nicht. Mit hartgesottenen Typen komme ich besser zurecht als mit zu Tode erschrockenen kleinen Mädchen, die ein böser Onkel belästigt hat. Timo Huttunen wollte unbedingt mitkommen, um seiner Freundin beizustehen, aber ich scheuchte ihn zurück auf den Gang.
Sirkku erzählte, sie hätte Jukka vor ungefähr drei Jahren kennen gelernt. Bevor sie in den Chor eingetreten war, hatte sie ihn ein paar Mal auf Feten getroffen, die Piia und ihr Mann veranstaltet hatten. Mit Timo Huttunen war sie seit etwa einem Jahr befreundet. Jukka war ihrer Meinung nach «ganz nett», und sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wer ihn umgebracht haben könnte.
«Das Wochenende hatte so schön angefangen … Ich hab einen Ferienjob in einem Kaufhaus in der Parfümerieabteilung, das ist wahnsinnig anstrengend. Ich hatte mich so auf die paar Tage gefreut!» Anscheinend trauerte Sirkku eher dem verpatzten Ausflug nach als ihrem toten Bekannten.
Anfangs glaubte ich nichts Brauchbares aus ihr herausholen zu können. Ihren Worten nach war am Samstag nichts Besonderes vorgefallen. Sie hatten eine Weile gesungen, es hatte ganz gut geklappt, dann waren Antti und Jukka losgezogen, um die Sauna zu heizen, Jyri hatte Klavier gespielt, Timo und Sirkku hatten auf der Terrasse gesessen und Erdbeerwein getrunken, und Mirja und Tuulia hatten sich um das Essen gekümmert.
«Es war sehr lecker, Ratatouille oder so was. Tuulia kann echt gut kochen – obwohl sie für meinen Geschmack zu viel Knoblauch genommen hat. Dann sind Timo und ich eine Weile gerudert … Die anderen waren inzwischen in der Sauna. Wir wollten ungestört sein und sind erst reingegangen, als die anderen fertig waren. So gegen elf, glaub ich, sind wir dann ins Haus.»
Als das Liebespaar aus der Sauna kam, saßen die anderen im Erdgeschoss am Kamin. Alles war ruhig und friedlich.
«Wann seid ihr ins Bett? Vor oder nach Jukka?»
«Wir sind wohl als Erste gegangen. Timo und ich haben oben im großen Schlafzimmer geschlafen. Ich war in der Nacht einmal auf der Toilette, und zwar oben, draußen war ich nicht. Timo auch nicht, der hat die ganze Nacht geschlafen.»
Ich fragte mich, woher Sirkku das so genau wissen wollte, wenn sie selbst geschlafen hatte.
«Hat sich Jukka deiner Meinung nach tagsüber irgendwie anders verhalten als sonst?»
«Nein. Er war gut gelaunt. Bei der Probe hat er nicht mal die Nerven verloren, obwohl Piia dauernd gepatzt hat. Sie singt den zweiten Sopran und müsste bei Kuulas «Stromab treibet mein Boot» als Erste einsetzen, aber das wollte und wollte nicht klappen. Aber mit Piia hat … hatte Jukka viel Geduld …»
Sirkku schien anzudeuten, dass Piia nicht wegen ihrer Gesangskünste, sondern wegen anderer Verdienste in die Gruppe aufgenommen worden war.
«Na, zwischen Piia und Jukka lief bestimmt was, wo doch Peter, Piias Mann, fast ein halbes Jahr in Amerika ist, zum Regattasegeln. Schrecklich lange, nicht? Jukka hat sich gleich auf Piia gestürzt. Das hätte ich vielleicht jetzt nicht sagen sollen … Aber Piia wird das bestimmt selbst sagen, es ist ja auch nichts dabei. Dass sie zusammen ins Kino gehen und so. Aber zum Glück ist Peter noch auf der «Marlboro of Finland», so heißt nämlich sein Boot, denn er hätte immerhin einen Grund gehabt, Jukka umzubringen. Das heißt eigentlich keinen richtigen Grund, aber er ist ziemlich eifersüchtig …»
«An Frauen hat es Jukka wohl nicht gemangelt? Wie war es denn mit Jukka und dir, ist da auch mal was … gelaufen?» Ich erinnerte mich vage, dass Jaana bei unserem letzten Treffen ärgerlich gesagt hatte, Jukka hätte «überhaupt kein Niveau» mehr und würde neuerdings «alle möglichen kleinen Gören abschleppen».
«Ja, das war so ein Urlaubsflirt in Deutschland, nichts Ernstes.» Sirkku ließ sich durch meine direkte Frage nicht aus dem Konzept bringen. Sie hatte ihre Nervosität verloren und sprach inzwischen schon mit einem gewissen Stolz. «Jukka und Jaana hatten schon vorher Schluss gemacht, aber Jukka hat sich trotzdem geärgert, als Jaana anfing, mit diesem Franz zu flirten. Es war schön mit Jukka, und von Timo hatte ich damals ja noch keine Ahnung. Aber die Sache war gleich nach der Reise zu Ende, ich war ja damals noch mit Jari zusammen …»
«War Timo eifersüchtig auf Jukka?»
«Wegen der Sache in Deutschland? Glaub ich nicht, warum auch? Danach war ja nichts mehr zwischen uns. Ich würde Timo nie betrügen!»
Aber deinen damaligen Freund hast du sehr wohl betrogen, dachte ich belustigt. «Als du nachts auf der Toilette warst, hast du da irgendwen gesehen oder gehört?»
«Die Toilette ist ja gleich nebenan, da sieht man nicht viel, außerdem war ich halb im Schlaf und ein bisschen betrunken und bin gleich wieder eingeschlafen. Aber dass Tuulia unten schnarchte, hab ich schon gehört. Ich begreif nicht, wie Piia und Mirja bei dem Krach schlafen konnten. In Jukkas Bett hätte es Piia viel bequemer gehabt. Eingeladen war sie ja.» Sirkku sah plötzlich schuldbewusst drein. «Ich war nach der Sauna kurz oben, da haben sie sich scheinbar gerade gestritten. Jukka hat Piia gebeten, bei ihm zu schlafen, aber sie wollte nicht. Aber sonst hab ich wirklich nichts gehört.»
«Wovon bist du denn mitten in der Nacht wach geworden?»
«Na, ich musste eben aufs Klo!» Sie wurde nachdenklich. «Ich weiß nicht … Vielleicht hab ich ein Poltern gehört, aber ich bin mir nicht sicher. Ich muss meistens nachts aufs Klo, wenn ich abends spät noch was trinke.» Sie warf Rane einen Blick zu und wurde rot.
Kleinmädchengehabe mag ich nicht – womöglich nur, weil ich selber diese Kunst nicht beherrsche. Ich sagte Sirkku, ich würde mich Anfang der Woche noch einmal bei ihr melden, dann ließ ich sie gehen und bat sie, Timo Huttunen hereinzuschicken.
«Warum macht sie so einen Wind um Jukkas Techtelmechtel mit ihrer Schwester? Glaubt sie vielleicht, dass etwas dahinter steckt?», überlegte ich halblaut. «Auf jeden Fall muss die ‹Marlboro of Finland› … weißt du noch, Rane, was für ein Theater im Frühjahr um die Schleichwerbung gemacht wurde? Also wir sollten überprüfen, ob das Boot vielleicht gerade in irgendeinem Hafen liegt und ob dieser Peter Wahlroos, aus welchem Grund auch immer, zwischendurch nach Finnland geflogen ist. Halte ich allerdings für unwahrscheinlich. Aber wer weiß, vielleicht fließt in seinen Adern heißes Wikingerblut, und wenn seine Penelope nicht brav war, bringt er den Nebenbuhlern das Fürchten bei.»
Ich gab es auf, Mythen zu mischen, weil Huttunen hereinkam. Ein rachsüchtiger Ehemann, der in Segelschuhen durch den Schlick watete, das klang noch unglaubwürdiger als Sirkkus Vermutung, der Mörder könne nur ein Fremder sein, der zufällig vorbeigekommen war. Das hofften sie wohl alle.
Timo Huttunen sah aus, als hätte er die ganze Geschichte satt. Äußerlich wirkte er wie ein Naturbursche vom Land: blassblaue Augen, strohblondes Bürstenhaar, robuste Statur. Man hätte ihm auf den ersten Blick nicht zugetraut, dass er sich mit irgendetwas Künstlerischem befasste, am allerwenigsten mit klassischer Musik. Die nächste Überraschung kam, als er den Mund aufmachte, denn seine Sprechweise war ungemein geziert:
«Hoffentlich warst du nett zu Sirkku. Sie ist in der Tat zutiefst erschüttert ob des Vorfalls.»
Timo arbeitete in den Semesterferien in einer Verkaufsstelle für Landwirtschaftsmaschinen. Im Chor sang er seit drei Jahren. Sein Bericht über die Ereignisse des gestrigen Abends unterschied sich kaum von dem, was Sirkku gesagt hatte: essen, auf der Terrasse sitzen, Sex in der Sauna (an dieser Stelle errötete der Knabe voller Stolz, und ich war geneigt, ihn doch als Rustikalmacho einzustufen), Liebesgeflüster am Kamin. Timo hatte geschlafen wie ein Murmeltier, war auch nicht aufgewacht, als Sirkku auf die Toilette ging, er wusste also nicht, wie lange sie unterwegs gewesen war. Jedoch hatte er seine eigene Theorie, weshalb Jukka ermordet worden war.
«Ich habe persönlich nichts gegen Jukka, aber er hat es doch recht bunt getrieben. Es hat mir nicht gefallen, wie er mit Piia geflirtet hat, immerhin ist sie verheiratet. Antti mochte das auch nicht. Das hat er Jukka ja auch gesagt.»
«Was meinst du damit?»
«Na, Peter, also Piias Mann, ist ein alter Freund von Jukka und Antti, durch die beiden haben Piia und Peter sich kennen gelernt. Als ich den anderen ein paar Flaschen Bier in die Sauna brachte, hörte ich Antti zu Jukka sagen: «Misch dich nicht in das Leben deines Freundes ein, der hat’s schon schwer genug», oder so ähnlich. Jukka antwortete, dessen Frau hätte ganz und gar nichts dagegen. Da habe ich kehrtgemacht und bin ins Haus zurückgegangen, weil ich nichts mehr davon hören wollte.»
«Es war aber nicht eindeutig von Piia und Peter die Rede?»
«Nein … Aber von wem denn sonst?» Timos blassblaue Augen fixierten mich fragend. «Jukka war ziemlich anstrengend mit seinen Frauengeschichten. An jedes Mädchen musste er sich ranmachen. Ich habe ihn eigentlich erst richtig kennen gelernt, nachdem er mit Jaana Schluss gemacht hatte – mit der hast du doch früher zusammengewohnt? Seitdem ist es bei ihm ganz schön rundgegangen. Musikalisch hat er, oder hatte er, einiges drauf, er war ein guter Sänger. Das wusste er selbst, darum hat er ja auch unser Ensemble geleitet.»
Das klang säuerlich. Hatte Jukka womöglich Timos Gesangsstimme kritisiert?
«Ein gutes Examen hat er gemacht, und er ist wohl auch gerade befördert worden. Ich glaube, er hat ziemlich viel verdient, jedenfalls nach seinen Kleidern zu urteilen, und was er sonst noch so alles hatte … aber irgendwie hatte man immer das Gefühl, dass er fast ausschließlich an Frauen dachte.»
Timo schien erleichtert zu sein, weil Jukka nun keine Gelegenheit mehr hatte, anderer Männer Frauen zu verführen. Jyri Lasinen dagegen schien ehrlich zu trauern. Jedenfalls wirkten seine geröteten Augen geradezu rührend, als er Jukka einen guten Kumpel nannte. Ich fragte mich, was das für ein Gefühl war, frühmorgens in verkatertem Zustand über die Leiche eines Freundes zu stolpern. Im IOL sang Jyri erst seit einem Jahr, aber er hatte schon seit Jahren in ostfinnischen Kammerchören und bei den Opernfestspielen in Savonlinna gesungen.
«Ich war vorher noch nie in Jukkas Sommerhaus, war echt toll, vom Feinsten. Wir sind in Piias Wagen gefahren, ich durfte fahren, weil ich mal probieren wollte, wie das ist, am Steuer vom BMW zu sitzen. Timo und Sirkka waren bei uns im Auto, die anderen sind vor uns gefahren, und dann wollt ich Jukka überholen, da haben wir dann so ’n bisschen Rallye gespielt. Das letzte Stück auf dem Waldweg hat richtig Spaß gemacht.» Jyris merkwürdig hohe Stimme klang kindlich begeistert. Nach seiner Fahne zu urteilen, hatte er auf dem Rückweg versucht, seinen Kater im Alkohol zu ersäufen.
«Jukka war ein guter Autofahrer, aber ein bisschen Angst hab ich schon gehabt, wie er mich geschnitten hat … und die Mädchen haben vielleicht gekreischt! In der Villa haben wir dann gesungen. Klang richtig gut, allmählich kann ich meine Partie auch schon. Timo kommt bloß bis zum F, aber der ist ja auch zweiter Tenor. Als wir keine Lust mehr hatten zu singen, hab ich mich noch ans Klavier gesetzt, da lagen nämlich die Noten von Lenskis Arie, kennst du die?» Jyri summte die ersten Takte. Von einem Lenski hatte ich noch nie gehört, darum verbarg ich meine beschämende Unwissenheit hinter einem verhaltenen Lächeln. Rane sah wütend aus.
«Dann ist Tuulia gekommen und hat gesagt, ich soll nich so traurige Lieder spielen, und wir haben ein anderes Notenbuch durchgeblättert. Dann gab’s wohl Essen, und anschließend waren wir in der Sauna. Ich bin mit Jukka um die Wette geschwommen und hab gewonnen. Dann war ich ziemlich blau, Jukka hatte anständigen Whisky da, Jack Daniels, kennst du den?»
Mit diesem Herrn hatte ich allerdings Bekanntschaft geschlossen, ein paar Mal sogar allzu intim.
«Ich hab noch mit Tuulia getanzt, aber die Musik, die da von der Platte kam, passte nicht, das war Bach. Dann muss ich abgesackt sein, und heute Morgen war mir schlecht.»
Rane tippte eifrig, Jyri wirkte zapplig. Er war klein und schlank und wirkte noch jünger, als er war, fast kindlich. Sah man von den verkaterten Augen und dem Dreitagebart ab, war er eigentlich ein ganz adretter junger Mann. Das leicht rötliche Haar – ob die Farbe wohl echt war? – war modisch geschnitten, und die Kleidung wirkte sorgfältig gewählt, die Socken passten zu dem violett gemusterten Hemd und zum Brillengestell.
Jyri war es, der die Leiche gefunden hatte. Mirja hatte erzählt, wie er in der Nacht in der unteren Etage herumgeirrt war. Als ich ihn danach fragte, wurde er rot, als fühlte er sich schuldig.
«Ach ja … Daran hab ich gar nicht mehr gedacht, ich muss wohl ziemlich blau gewesen sein. Das war noch mitten in der Nacht. Also, ich hab zuerst nur so getan, als ob ich eingepennt wäre, aber ich hab dann doch nicht geschlafen, sondern bin gucken gegangen, was Tuulia macht. Sie hat auf dem Fußboden gelegen und geschnarcht, und Mirja hat im Bett gesessen und mich angestarrt, aber Piia … Die war nirgendwo.»
«Oben hast du sie auch nicht gesehen?»
«Da muss sie gewesen sein, bei Jukka … Na ja, weil, als ich mich schlafend gestellt habe, da haben die oben im Flur geredet, und Jukka hat gesagt, Piia soll in seinem Zimmer schlafen, und Piia hat gesagt, das macht sie nicht und Küssen ist das eine, aber Bumsen was ganz anderes. Du weißt, dass die was miteinander hatten …»
Alle schienen begierig zu sein, mich über das Verhältnis zwischen Piia und Jukka zu informieren. Jyri sprach fast mit Bewunderung darüber.
«Und dann?»
«Nix. Piia ist, glaub ich, wieder runtergegangen, und dann kam Antti rauf und hat sich schlafen gelegt. Ich hab ’ne Weile gewartet und bin dann runter zu Tuulia, aber die hat schon geschnarcht. Und dann bin ich wirklich eingepennt, weil ich auf den Kummer noch einen Whisky getrunken hab.»
«Wann bist du endgültig schlafen gegangen?»
«Das war wohl so gegen drei …»
«Und da war Jukka in seinem Zimmer?»
«Weiß ich nicht, die Tür war zu. Und ich weiß auch nicht, ob Piia bei ihm war oder irgendwo anders.»
«Als du Jukka im Wasser gefunden hast, ist dir da irgendwas Besonderes an ihm aufgefallen?»
«Was Besonderes? Er war tot, das ist doch was Besonderes. Sonst ist mir nix aufgefallen, ich wollte auch nicht so genau hinschauen … Außerdem hat mich der Kater gepackt, mir kam alles hoch.»
«Du bist danach nicht mehr ans Ufer gegangen?»
«Nee. Mirja und Antti sind hin, und als sie zurückkamen, hat Antti gesagt, es ist besser, wenn wir nicht hingehen und alles durcheinander bringen.»
Nach Jyris Redeschwall war mir Mirja Rasinkangas mit ihrem phlegmatischen Ernst doppelt unsympathisch. Sie ließ mich deutlich spüren, wie wenig sie von meinen kriminalistischen Fähigkeiten hielt. Inzwischen erinnerte ich mich schon klarer an ihre Besuche in unserer Studentenwohnung. Damals hielt sie mich für minderwertig, weil ich keine anständige Musik machte. Bass in einer Punkband zählte bei ihr nicht. Eines Abends, als einige aus dem Chor bei Jaana geprobt hatten und wir anschließend noch zusammensaßen, hatte ich aus purer Boshaftigkeit angefangen, die nostalgischen Klagelieder über das verlorene Karelien zu kritisieren, die im Repertoire des IOL eine große Rolle spielten und die sie im Nachbarzimmer drei Stunden lang geträllert hatten. In Wahrheit war meine Einstellung zur klassischen Musik nicht annähernd so negativ, wie ich damals behauptet hatte, und außer Mirja hatte mich wohl auch niemand ernst genommen.
Noch mehr als über Mirja selbst ärgerte ich mich über meine eigenen Vorbehalte ihr gegenüber – Polizisten sollten unparteiisch in eine Vernehmung gehen.
«Wir sind gegen sechs Uhr angekommen», begann Mirja. «Jyri und Jukka sind ziemlich idiotisch über die Nebenstraßen gerast, gut, dass wir nicht im Graben gelandet sind, und mir war ganz schön übel, aber natürlich mussten wir singen – denn zum Proben waren wir ja hingefahren, obwohl einige das bald zu vergessen schienen. Ein paar Stunden haben wir einigermaßen intensiv gearbeitet, aber dann wurde es unruhig, Jyri schrie nach Bier und so weiter.»
«Was habt ihr sonst noch geprobt, außer dem Lied von Kuula?»
«Für Kuula ist die meiste Zeit draufgegangen, weil der zweite Sopran den Anforderungen wieder mal nicht gerecht wurde und Jyri furchtbar lange brauchte, bis er seine Einsätze beherrschte. Danach haben wir aus den ‹Piae cantiones› gesungen und zum Schluss leichte finnische Volkslieder.»
«Wer von euch singt den zweiten Sopran?»
«Piia natürlich», fauchte Mirja, als verstünde sich das von selbst. Ich erinnerte mich, dass auch Jaana zweiter Sopran gewesen war. Sie hatte sich immer als zweitklassigen Sopran bezeichnet, ihre Stimme war nicht hoch genug für einen richtigen Sopran und nicht tief genug für den Alt.
«Und dann, nach der Probe?»
«Ich habe mit Tuulia das Essen gemacht und gespült – so geht es ja immer, ein paar arbeiten und der Rest faulenzt. Dann bin ich in die Sauna. Alles war ganz normal, außer dass Jyri versucht hat, mit Tuulia anzubandeln, was vielleicht ein bisschen außergewöhnlich ist, aber ansonsten war es ungefähr dasselbe wie immer, wenn der Chor einen gemeinsamen Abend verbringt, Sauna, Gequatsche, Trinken. Ich trinke selten mehr als zwei Glas und hatte keine große Lust auf Geselligkeit, deshalb bin ich für eine Weile mit der Angel zum Bootssteg gegangen, und ich habe tatsächlich einen Hecht gefangen, drei Pfund … da haben die anderen gestaunt.» Mirja war offensichtlich stolz, aber ich konnte sie mir nur schwer beim Auswerfen der Angel vorstellen, beim Totmachen des Fisches schon eher. «Nachdem ich den Hecht ausgenommen hatte, war ich müde, deshalb bin ich als Erste schlafen gegangen, das muss so gegen zwölf gewesen sein …»
«Nachts musst du aber wach gewesen sein, wenn du Jyri in der unteren Etage gesehen hast?»
«Tuulia hat fürchterlich geschnarcht, davon sind Piia und ich aufgewacht. Piia ist zur Toilette gegangen, in dem Moment kam Jyri herunter. Ich war auch noch auf der Toilette und habe dann versucht, Tuulia vom Bauch auf die Seite zu drehen, damit sie aufhört zu schnarchen, aber das ist mir nicht gelungen. Ich bin dann trotzdem wieder eingeschlafen.»
«Wo war Piia zu der Zeit? Ist sie zurückgekommen?» Es kam mir vor, als ob Mirja die ganze Zeit auf eine bodenlos dumme Frage wartete. Ich fühlte mich wie vor einer strengen Lehrerin, die genau weiß, dass die scheinbar brave Schülerin heimlich auf dem Klo raucht.
«Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich habe ich gedacht, sie ist mit Jyri gegangen. Am besten fragst du sie selbst. Jedenfalls bin ich am nächsten Morgen als Erste aufgewacht, irgendwann nach acht, habe den schönen Sommermorgen genossen und Kaffee gekocht. Gegen zehn habe ich dann Musik angestellt, um die anderen zu wecken, schließlich wollten wir noch singen. Genau genommen habe ich mich gewundert, dass Jukka sich nicht blicken ließ, er war immerhin unser Gastgeber. Andererseits lassen Männer ja immer gern die Frauen den Kaffee kochen.»
Endlich war ich mal einer Meinung mit Mirja.
«Als Jyri angerannt kam und rief, Jukka läge am Ufer, bist du mit Antti hingelaufen. Warum?»
«Was soll das heißen, warum? Wenn einer schreit, dass jemand tot ist, geht man doch nachsehen! Die anderen waren wie erstarrt. In jeder größeren Gruppe gibt es nur ein paar Leute, die handeln, wenn es darauf ankommt.»
«Nach Anttis Worten habt ihr den Puls gefühlt und seid zu dem Ergebnis gekommen, dass Jukka tot ist. Du hast zuerst die Polizei verständigt und dann erst einen Krankenwagen angefordert. Warst du dir so sicher?»
«Ich bin gar nicht so nahe herangegangen, und Antti hat sich verhalten, als wollte er nicht … als wollte er mir Jukkas Anblick ersparen. Ich habe Jukka nicht richtig gesehen, aber ich habe mich auf das verlassen, was Antti gesagt hat, und auf dem Zettel mit den Notrufnummern stand die Polizei vor dem Krankenwagen.»
«Bist du nochmal ans Ufer gegangen, nachdem du die Polizei verständigt hattest?»
«Nein. Antti ist auch zum Haus zurückgekommen, und dann haben wir eben gewartet.»
Antti Sarkela war also allein bei der Leiche gewesen und hatte Gelegenheit gehabt, Spuren zu beseitigen. Vielleicht war es doch ein sehr finnisches Verbrechen, eine Auseinandersetzung zwischen zwei betrunkenen Männern. Aber worum ging es? Um eine Schnapsflasche? Um eine Frau?
«Hast du irgendeine Idee, wer einen Grund gehabt haben könnte, Jukka Peltonen umzubringen?»
«Frag mich lieber, wer keinen Grund dazu gehabt hat.»
«Na gut. Wer?»
«Ich. Ich habe nie etwas mit ihm gehabt. Antti hatte wohl auch keinen Grund, ihm etwas anzutun, er war ja sein bester Freund. Aber die anderen … Sirkku hatte in Deutschland eine Affäre mit Jukka, und danach ist die Beziehung zu ihrem damaligen Freund kaputtgegangen. Vielleicht hat Sirkku geglaubt, Jukka hätte ernste Absichten, naiv genug wäre sie … Timo ist immer eifersüchtig auf Jukka gewesen.»
Mirja begeisterte sich zusehends für ihre Theorien.
«Piia ist womöglich mit Jukka weiter gegangen, als sie eigentlich wollte, und Jukka hat ihr vielleicht gedroht, Peter davon zu erzählen und die beiden auseinander zu bringen. Na, und Tuulias Beziehung zu Jukka war erst recht merkwürdig, mal waren sie bloß Kumpel, und dann hatten sie plötzlich wieder was miteinander, immer hin und her. Was Tuulia wirklich von Jukka hält, weiß keiner so recht. Jyri wiederum hat Jukka viel zu sehr bewundert, er war irgendwie abhängig von ihm. Außerdem ist er gerade fürchterlich in Tuulia verknallt, und Jukka hat ihn damit aufgezogen. Tuulia macht dem armen Jungen schöne Augen, dabei kann es doch gar nicht sein, dass sie Jyri ernst nimmt. Ich würde Tuulia am ehesten für die Täterin halten, jeder andere hätte längst die Nerven verloren», erklärte Mirja triumphierend.
Jeder andere, außer dir vielleicht, dachte ich und bat sie mit stark gebremster Freundlichkeit, Tuulia hereinzuschicken. Ich wünschte mir, alle Daten ebenso systematisch ordnen zu können wie Mirja, aber mein Gehirn schien die ganze Zeit ins Stocken zu geraten.
Tuulias Vernehmung sollte mir noch schwerer fallen, denn sie hatte ich immer gemocht. Wir waren uns ab und zu im Uni-Café über den Weg gelaufen und hatten jedes Mal ein paar Witze gerissen. Ähnlich wie ich war auch Tuulia unsicher gewesen, welche Richtung sie einschlagen sollte. Sie hatte mit wenig Erfolg Kommunikationswissenschaft und Soziologie studiert, zwischendurch auch eine Weile Theaterwissenschaft; neuerdings war sie an der Universität Turku, wo sie sich auf Kulturgeschichte verlegt hatte. Nebenbei hatte sie allerhand Aushilfsjobs gehabt, offenbar lag ihr gar nichts daran, ihr Studium abzuschließen oder eine feste Anstellung zu finden.
«Hey, kannst du nach mir die Piia als Nächste drannehmen, weil wir nämlich anschließend zu mir wollen, die Reste vom Wochenende aufessen und so eine Art Gedenkfeier für Jukka halten, aber Antti will nicht mitkommen, also könnte er der Letzte sein. Du machst das wohl alphabetisch?» Tuulia sprach mit gezwungener Munterkeit.
«Okay. Sitzen die anderen noch im Flur?»
«Ja, keiner mag allein weggehen – und zu zweit sicher auch nicht. Wer weiß, wer von uns gefährlich ist. Das ist vielleicht ein komisches Gefühl, ich hab Jukka fast zwanzig Jahre gekannt, und jetzt … Wir waren im Gymnasium in einer Klasse, er und Antti und ich.»
«Was machst du eigentlich so?»
«Ich studier immer noch Kulturgeschichte in Turku, geh einmal die Woche zu einem Kurs an der Sommeruni, und dann hab ich zwei Tage pro Woche Aufsicht auf einem Spielplatz, und den Rest der Zeit sauf ich – also immer noch kein geregeltes Leben, obwohl ich schon fast dreißig bin», grinste Tuulia.
«Was ist gestern passiert?» Ich durfte nicht zurückgrinsen, so gern ich es getan hätte.
Tuulias Bericht ähnelte den bisherigen Aussagen. Friedliches Beisammensein, Singen, ein schöner Sommerabend. Mirja hatte sich als Erste schlafen gelegt, dann Jyri – Tuulia war froh gewesen, dass er absackte, denn sie war nicht in Flirtstimmung –, danach Timo und Sirkku und zum Schluss die anderen mehr oder weniger gleichzeitig.
«Es muss kurz nach eins gewesen sein, als ich Jukka gute Nacht gesagt hab, weiter war dann nichts mehr. Am Morgen hab ich dann an seine Tür gehämmert und gerufen, der Kaffee wäre fertig, aber im Zimmer war es ganz still. Ich hab die Tür aufgemacht, aber er war nicht da, und vielleicht hab ich gedacht, er ist schwimmen gegangen, aber vielleicht hab ich auch gar nichts gedacht.»
«Warum bist du nicht mit ans Ufer gegangen, um nach Jukka zu sehen?»
«Leichen sind nicht unbedingt mein Geschmack. Und irgendwie dachte ich auch, Jyri übertreibt. Der Kleine war ja immer noch nicht ganz nüchtern. Mirja ist natürlich sofort hingerannt, aus purer Neugier, die muss ja überall ihre Nase reinstecken. Und Antti … Ich hätte ihm so gewünscht, dass er Jukka nicht zu sehen braucht, er hat ihn wirklich gern gehabt.» Tuulia verbarg ihr Gesicht in den Händen, die blonden Haare fielen ihr in die Stirn. Ich durfte ihr keine Gelegenheit geben, sich auszuweinen, sondern bombardierte sie weiter mit Fragen.
«Du hast Jukka ja ziemlich lange gekannt. Kannst du dir vorstellen, wer ihn so sehr gehasst hat, dass er ihn umbringen würde?»
«Woher soll ich das wissen? Natürlich denkt man die ganze Zeit verzweifelt darüber nach; es muss doch eine vernünftige Erklärung geben! Die Einzige, der ich einen kaltblütigen Mord zutrauen würde, ist Mirja, aber was sollte die für ein Motiv haben?»
«Vielleicht war sie heimlich in Jukka verliebt oder so was?» Es amüsierte mich, dass die beiden Frauen sich gegenseitig bezichtigten.
«Doch nicht in Jukka! Hinter Antti ist sie her, jedenfalls seit Antti und Sarianna vor zwei Jahren Schluss gemacht haben. Natürlich hat sie mir das nicht anvertraut, aber alle wissen es. Auf irgendeiner Fete hat sie sich Jukka regelrecht in die Arme geworfen, bloß um Antti auf sich aufmerksam zu machen, aber das hat natürlich nicht geklappt. Gestern hat sie dann ihren Fisch angeschleppt, eine pikante Methode, Eindruck auf einen Mann zu machen, oder? Ach ja, es ist schon ein Elend, für Mirja, meine ich. Antti brauchte meiner Meinung nach was ganz anderes als diesen Eisberg.»
«Und wie war deine Beziehung zu Jukka?»
«Ach, bestens. Ich hab ihn wirklich gut gekannt, man konnte Spaß mit ihm haben, echt. Wir hatten so eine Art Unterstützungsabkommen für alle Lebenslagen. Wir hatten Sex, wenn uns danach war, haben uns gegenseitig auf Cocktailpartys begleitet, einer hat dem anderen Geld geliehen oder was er sonst so brauchte. Das geht schon lange so und hat wunderbar funktioniert. Traurig, wenn eine echte Freundschaft so zu Ende geht …» Tuulia stand wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen, glaubte aber offensichtlich, dass sich so etwas bei einer polizeilichen Vernehmung nicht gehört, und schaltete verzweifelt wieder auf Munterkeit um.
«Hoffentlich fällt dir für diese blöde Mirja ein Motiv ein, ich möchte nämlich nicht, dass sich einer von den anderen als der Schuldige herausstellt.» Tuulia verzog ihr Gesicht zu einem missratenen Lächeln.
«Warum wart ihr immer noch im ILO, Jukka und du? Ist das nicht eher ein Studentenchor?»
«Ich hab doch noch kein Examen», schnaubte Tuulia. «Mir gefällt es besser bei den Jüngeren, von denen gehen immer ein paar nach der Probe was trinken. Letzten Herbst hab ich den Cantiamo-Chor ausprobiert, aber da waren alle schon älter und hatten Familie. Total langweilig. Ich geb’s ja zu, ich will meine Jugend ein bisschen ausdehnen und weiter mit Zwanzigjährigen herumhängen. Und Jukka, der wollte eben der King sein. Beim IOL hat er alle Solos gekriegt, in den besseren Chören wäre er nur einer unter vielen gewesen. Antti hat ja schon oft aufhören wollen, aber wir haben ihn immer wieder überreden können.» Sie stand auf. «Willst du noch was wissen, oder soll ich Piia reinschicken? Wir können ja mal ein Bier trinken gehen, wenn das hier vorbei ist.»
Rane blickte Tuulia missbilligend nach. Seiner Meinung nach hatten Frauen daheim zu bleiben und Kinder zu kriegen, und solche wie Tuulia hasste er regelrecht. Er brachte die trockene Bemerkung an, es sei nicht angebracht, mit einzelnen Zeugen freundschaftlicher umzugehen als mit anderen. Das habe er jedenfalls vor zwanzig Jahren auf der Polizeischule gelernt.
Ich musste mir eine passende Antwort verkneifen, denn Piia Wahlroos kam ohne anzuklopfen herein. Sie wirkte eher nervös als traurig, sie zupfte an ihren glänzenden Haaren und drehte den zu groß aussehenden Trauring um den zierlichen Finger – ein Zeichen für den unbewussten Wunsch, den Ring loszuwerden, hatte ich in einer Frauenzeitschrift gelesen. Das musste aber nichts heißen, denn ein Charaktertest in der gleichen Zeitschrift hatte mir bescheinigt, warmherzig und mütterlich zu sein.
Piia und Peter Wahlroos waren seit gut anderthalb Jahren verheiratet. Jetzt war Peter ein halbes Jahr auf Segelregatta, Piia würde sich erst in drei Wochen in Amerika mit ihm treffen. Trotz allem, was die anderen ihr nachgesagt hatten, hörte ich aus ihrer Stimme Sehnsucht heraus.
«Ich hab Jyri erlaubt, meinen Wagen zur Villa Maisetta zu fahren, weil ich so nervös war … Ich hab seit zwei Tagen nichts mehr von Peter gehört, und in der Gegend waren fürchterliche Stürme, und die Zeitungen haben schon ewig keine Zwischenzeiten mehr von dieser Teilstrecke gebracht.»
Die Sorge um ihren Mann schien sie stärker zu beschäftigen als Jukkas Tod.
«Wie hast du zu Jukka Peltonen gestanden?» Ich hielt es für das Beste, direkt zur Sache zu kommen, von Umschweifen hatte niemand etwas. Piia wurde zuerst rot, geriet dann aber fast in Wut.
«Aha, der Klatsch ist also schon bis hierher vorgedrungen! Ich habe mich sehr einsam gefühlt, seit Peter weg ist, und dass ich zu jeder Zwischenstation fliege, können wir uns nicht leisten. Jukka ist ein alter Freund von Peter, außerdem fährt Jarmo, Jukkas jüngerer Bruder, auch auf der ‹Marlboro› mit. Natürlich hab ich mich oft mit Jukka getroffen, schon wegen der Nachrichten von der Regatta, und wir sind auch zusammen essen gegangen und ins Kino, aber sonst war nichts … Auch wenn die anderen mir das nicht glauben wollten … Sirkku hat sogar unserer Mutter erzählt, ich wäre mit Jukka ins Bett gegangen, aber das stimmt überhaupt nicht!»
«Hat Jukka es denn probiert? Sorry, aber das ist Teil meiner Ermittlungen, ich weiß noch nicht, was letzten Endes wichtig ist und was nicht», erklärte ich hastig und bereute im nächsten Moment, mich dafür entschuldigt zu haben, meine Arbeit zu tun.
«Na ja, versucht hat er es schon, gestern auch wieder. Aber ich wollte nicht.»
«Könnte es sein, dass Jukka den anderen weismachen wollte, es wäre mehr zwischen euch?»
«Ich weiß es nicht … Jukka war nicht so geradlinig, wie er sich gab. Manchmal hab ich ihm beinah geglaubt, wenn er sagte, er hätte sich in mich verliebt. Aber wenn man seinen Ruf kannte – ich hab ihn einfach nicht ernst genommen. Gestern war er allerdings ein bisschen merkwürdig, er hat gesagt, er hätte Angst, allein zu sein, und er wollte nur, dass ich in seiner Nähe bliebe, sonst nichts, aber das hab ich ihm natürlich nicht geglaubt – so hat er schon mal geredet, und dann hat er sich so aufgeführt, dass ich ihn schließlich rauswerfen musste. Aber diesmal … Vielleicht wäre er noch am Leben, wenn ich zu ihm gegangen wäre.»
Fasziniert beobachtete ich die filmreifen Tränen, die über ihre Wangen rollten. Sie verschmierten nichts, waren weder von einer laufenden Nase noch von Gesichtsverrenkungen begleitet, sondern schienen einfach dazuzugehören.
«Erinnerst du dich, was Jukka genau gesagt hat und wann das war?»
«Wir wollten schlafen gehen, wir beide, Antti und Tuulia waren als Einzige noch wach. Jukka hat mich gebeten, kurz mit nach oben zu kommen, und dann … haben wir uns geküsst und so, ich hatte auch ein bisschen mehr getrunken als sonst, aber Jukka war mir irgendwie zu zielstrebig, und ich hab was Unfreundliches gesagt. Da hat er sich aufs Betteln verlegt und geflüstert, er wolle diese Nacht nicht allein schlafen, weil er Angst habe. Ich hab gesagt, Jyri und Antti seien doch in der Nähe.»
«Und dann?»
«Jukka hat irgendwie seltsam gelacht und gesagt: ‹Jyri und Antti, die werden mir gerade helfen.› Ich hab mich geärgert und bin wieder nach unten gegangen.»
«Hast du irgendeine Ahnung, weshalb Jukka nervös war? Hat er es dir erklärt?»
«Nein. Ich dachte, das wäre ein neuer Trick, um mich ins Bett zu kriegen.»
Ich ließ Piia gehen und begleitete sie auf den Flur, wo alle anderen warteten, Timo und Sirkku eng aneinander geschmiegt, Jyri halb liegend, den Kopf in Tuulias Schoß. Ich bat alle, die Stadt in den nächsten Tagen nicht zu verlassen, weil ich sie eventuell noch einmal befragen müsse. Sie trollten sich mit Kommentaren wie «Hey, Sie haben uns doch noch nicht verhaftet», nur Antti Sarkela blieb zurück. Inzwischen war ihm die Situation wohl in ihrer ganzen Tragweite klar geworden, denn sein hageres Gesicht war blass und zerklüftet, er wirkte viel älter als dreißig. Er schien dermaßen aus der Fassung zu sein, einen Augenblick lang glaubte ich, er würde gleich ein Geständnis ablegen. Aber er beantwortete meine Routinefragen ruhig und besonnen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, auf einer Bassgitarre zu spielen, deren höchste Saite eine Terz höher gestimmt ist als normal.
Antti hatte Jukka praktisch sein ganzes Leben lang gekannt, sie hatten schon miteinander gespielt, bevor sie in die Schule kamen. Sie waren immer in der gleichen Klasse gewesen und hatten sogar die ersten zwei Semester gemeinsam an der Uni Mathematik studiert, aber nach dem Wehrdienst hatte Jukka zur technischen Hochschule gewechselt. Antti hatte in Rovaniemi seinen Zivildienst abgeleistet und sich anschließend mit Jukka in Helsinki eine Wohnung in der Iso Roobertinkatu geteilt. Dann tauchten die ersten ernst zu nehmenden Freundinnen auf. Antti zog mit Sarianna zusammen, und Jaana hing dauernd bei Jukka herum, wollte aber, wie ich mich gut erinnerte, nicht bei ihm einziehen. Jetzt wohnte Antti in einer Studentenbude in Korso.
Antti hatte die Leiche oberflächlich untersucht. Er hatte seinen Zivildienst als Sanitäter gemacht und konnte einschätzen, ob jemand tot war oder nicht.
«Wir waren ausgelassen wie schon lange nicht mehr, als wir über den Ostring fuhren, besonders Jukka, er tobte rum wie ein kleiner Junge. In den Nachrichten wurde von irgendeiner Drogenrazzia berichtet, da fing er an, den Mafioso zu spielen und mit Jyri um die Wette zu rasen, der den Verräter abgab, und Tuulia hat voll mitgespielt. Man hatte das Gefühl, zwanzig Jahre jünger zu sein. So war Jukka eben, beim Segeln konnte er plötzlich Seeräuber spielen und so weiter. Dann haben wir geprobt, mit gutem Erfolg, meiner Meinung nach. Es war schön, mit Jukka die gleiche Stimme zu singen, er war sehr genau. Der Musikalischste von uns allen.»
Antti schien kurz zu zögern.
«Als wir dann runtergingen, um die Sauna zu heizen, hab ich gemerkt, dass was nicht in Ordnung war. Ich dachte, es läge an Piia. Ich weiß nicht, was Jukka letzten Endes von ihr wollte. Peter ist ein alter Kumpel von uns, der beste Freund von Jukkas kleinem Bruder. Ich fand das nicht richtig, was Jukka mit Piia gemacht hat, und das hab ich ihm auch gesagt. So im Nachhinein glaub ich allerdings nicht, dass er bloß deshalb so nervös war.»
«Wie äußerte sich denn diese Nervosität?»
«Schwer zu sagen. Wenn man jemanden gut kennt, spürt man eben, in welcher Stimmung er ist. Gerade wenn er nervös war, hat Jukka oft angefangen, sich wie ein Kind aufzuführen. Er war auch bei der Probe irgendwie hyperaktiv, er hat Jyri angemotzt, weil der seine Stimme nicht richtig gehalten hat, und Mirja hat er zwischendurch angeschnauzt, sie solle gefälligst nur halb so laut singen.»
«Er war aber eher nervös als zum Beispiel verängstigt?»
«Ja. Am Abend, als wir ein bisschen was getrunken hatten, wirkte alles schon normaler. Wir haben über Musik geredet und über unseren Auftritt und die nächsten Projekte des Chors. Mirja war angeln, und da gab es dann einen kleinen Tumult, weil sie einen Hecht gefangen hatte und kreischte, einer von uns sollte ihr den Käscher und so weiter bringen. Ein toller Hecht, willst du mal gucken?» Antti trat gegen seine Tüte. «Keiner wollte ihn haben, also hab ich ihn mitgenommen, für meine Katze. Sofern die jemals wieder auftaucht.»
«Du hast in der Nähe von Jukkas Zimmer geschlafen. Hast du in der Nacht etwas gehört?»
«Ich bin aufgewacht, als Jyri aufs Klo ging. Ich dachte, er müsste kotzen, er hatte nämlich wieder mal zu viel getrunken. Und später bin ich nochmal wach geworden, da war es schon hell. Da war irgendein Geräusch, ich hab die ganze Zeit schon überlegt, was das war, irgendwas hat geklappert. Das Fenster stand offen, und die Vögel haben einen irrsinnigen Lärm gemacht. Vielleicht war es eine Tür, ich weiß es nicht.»
«Wer hat Jukka umgebracht?»
«Weiß ich doch nicht!», stieß Antti hervor. «Aber ich bin froh, dass Peter am anderen Ende der Welt sitzt, der wäre nämlich fähig, aus Eifersucht jemanden umzubringen, er ist ganz schön besitzergreifend.»
«Wir finden schon heraus, wo er sich aufhält. Und du kannst jetzt deine Katze suchen gehen.»
Als Antti weg war, legte ich erschöpft den Kopf auf die Arme. Rane raschelte mit seinen Notizblättern. Ich hatte gehofft, durch die Vernehmungen zu klären, ob es sich um einen Unfall handelte oder tatsächlich um Mord oder Totschlag. Selbstmord schien eher unwahrscheinlich, aber auch diese Möglichkeit musste ich vorläufig im Auge behalten.
Wir würden mit Jukkas Eltern reden müssen, und wo sich Jarmo Peltonen befand, musste auch festgestellt werden. Außerdem brauchten wir einen Durchsuchungsbefehl für Jukkas Wohnung. Dann mussten wir Jukkas Kollegen befragen und herausfinden, mit wem er sonst noch befreundet war. Eine feste Freundin hatte keiner der Chorsänger erwähnt, aber es konnte trotzdem eine geben – oder, wie ich Jukka kannte, auch mehrere.
Jukkas finanzielle Situation musste ebenfalls durchleuchtet werden. Er fuhr einen ungewöhnlich teuren Wagen, man sollte meinen, dass ein so junger Mann noch an der Abzahlung seines Studiendarlehens zu knabbern hatte. Wie hoch mochte sein Gehalt sein? Vielleicht hatte sein Beruf etwas mit dem Fall zu tun?
Ich durfte mich nicht zu sehr auf die Chorsänger konzentrieren. Und ich durfte kaum erwarten, gleich bei der ersten Vernehmung auf Indizien zu stoßen oder gar ein Geständnis geliefert zu bekommen. Auffällig war, wie unglaublich gefasst alle gewesen waren, gerade als käme jeden Tag einer ihrer Freunde ums Leben. Einer von ihnen musste ein außergewöhnlich guter Schauspieler sein. Oder waren sie doch alle unschuldig? Aber warum sollte sich ein Außenstehender für einen Mord ausgerechnet eine Villa aussuchen, in der es von Menschen wimmelt? Einbrecher kamen wohl auch nicht infrage, jetzt in der Hauptsaison, wo praktisch alle Sommerhäuser bewohnt waren.
«Nehmen wir mal an, einer von denen hat Peltonen ermordet, auf wen würdest du tippen?», fragte ich Rane. Er zuckte mit den Schultern.
«Zum Glück muss ich mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Komische Typen sind das, die scheinen regelrecht Angst zu haben, sich aus den Augen zu lassen. Meine Kandidatin ist die Rundliche … Rasinkangas. Der reinste Eisklumpen. Genau wie meine Schwiegermutter. Die hat garantiert die Nerven, einen zu erschlagen.»
«Und das Motiv?»
«Na, das wirst du schon rausfinden. Dieses forsche Mädchen, die Rajala, hat doch ausgesagt, die Rasinkangas hätte sich dem Peltonen mal in die Arme geworfen. Vielleicht hatte das peinliche Folgen, von denen keiner was weiß, und sie ist seitdem auf Rache aus.»
«Wie schade, dass ich deine blühende Phantasie nicht mehr lange anzapfen kann. Mir graust vor dieser Geschichte, ich habe Jukka gekannt, ich will diesen Fall nicht übernehmen! Ich kann einfach nicht objektiv sein!»
«Immer mit der Ruhe. Du solltest es ausnutzen, dass du Peltonen und ein paar andere aus der Gruppe kennst. Sie behandeln dich wie einen Kumpel. Vielleicht nehmen sie dich nicht ganz ernst, aber diesmal kannst du davon nur profitieren.»
Rane hatte im Lauf des Sommers mehrmals erlebt, dass ich in meiner Polizistenrolle nicht ernst genommen wurde. Zu meiner Überraschung versuchte er jetzt, mir Mut zu machen.
«An deiner Stelle würde ich nochmal mit der Rasinkangas sprechen, die weiß garantiert mehr, als sie sagt. Sie ist ein bisschen in der Außenseiterposition und betrachtet die anderen die ganze Zeit. Den Lasinen würde ich auch unter die Lupe nehmen. Vielleicht war er so betrunken, dass er sich nicht mehr daran erinnert, wie er den Peltonen erschlagen hat.»
«Wird gemacht, Onkel Rane. Erholsamen Urlaub!»
Einem Rane, der mir den Rücken stärkte, konnte ich in aller Aufrichtigkeit schöne Ferien wünschen.