Fünf
Einem ward die Freude, dem andern nichts als Leid
Jyri wohnte in der Helsinginkatu. Die Fenster des Hauses gingen direkt auf den berühmt-berüchtigten Schnapsladen, auf der Straße polterten Straßenbahnen, zerlumpte Penner liefen herum. Einer stolperte blindlings vor die von Osten kommende Acht, mit einer Vollbremsung rettete ihm der Straßenbahnfahrer das Leben. Ich war wieder mal froh darüber, nicht mehr bei der uniformierten Polizei zu sein – sonst hätte ich jetzt eingreifen müssen. So aber setzte ich meinen Weg fort und überließ es anderen Leuten, den Streit zwischen dem Fahrer und dem Penner zu begaffen.
Es war nicht so einfach, in der Backsteinwand, die auf der Hofseite mehrere Häuser verband, die richtige Tür zu finden. Nach ein paar Fehlversuchen entdeckte ich schließlich auf einer Wohnungstafel den Namen Lasinen und stieg die Treppen zum dritten Stock hinauf. Offensichtlich war ich gut in Form, die sportliche Leistung brachte mich nicht außer Atem. Ich klingelte, und als ich von drinnen Schritte hörte, schaltete ich das kleine Tonbandgerät in meiner Handtasche ein. Die Aufnahme war nicht rechtsgültig, aber ich hatte auch gar nicht die Absicht, sie als Beweismittel zu verwenden. Es handelte sich ohnehin nicht um eine offizielle Vernehmung, denn dafür hätte ich einen zweiten Beamten als Zeugen gebraucht. Ich wollte mich möglichst inoffiziell mit Jyri unterhalten.
Er wirkte bei meinem Anblick überrascht, aber keineswegs erschrocken. Jetzt, wo seine Augen nicht mehr rot unterlaufen waren und er sich rasiert hatte, sah er aus, als wäre er gerade erst volljährig geworden.
Jyris Wohnung entsprach ganz und gar dem Klischee von einer Junggesellenbude. Aus der engen Diele kam man in ein geräumiges Zimmer mit einem Schlafboden über der Kochnische. Das Zimmer war hübsch, ja beinahe elegant eingerichtet, aber es herrschte ein unglaubliches Durcheinander. Volle Aschenbecher standen auf sämtlichen freien Flächen, überall lagen zerknitterte Kleidungsstücke herum, auf dem Fußboden tummelten sich Apfelsinenschalen und in den Ecken leere Bierflaschen. Selbst für meine Begriffe war es eine extrem unordentliche Bude.
Jyri räumte einen schwarzen Ledersessel für mich frei, indem er sorglos ein paar Benetton-Hemden auf den Fußboden beförderte. Er selbst nahm mir gegenüber auf dem ungemachten Bett Platz. Er steckte sich eine Zigarette an und hielt mir nach kurzem Zögern die Schachtel hin. Ich schüttelte den Kopf, ich rauche nur, wenn ich sturzbetrunken bin.
«Sony, es ist ein bisschen unordentlich, aber ich hab keine Zeit gehabt aufzuräumen, ich hab so viel zu tun. Jetzt müsst ich auch schon wieder weg», seufzte er. «Im Sommer, wenn keine Proben sind, spielen wir jeden Montag auf dem Sportplatz in Kaisaniemi Kyykkä.»
«Kyykkä? Was soll das denn sein? Schon gut, das kannst du mir ein andermal erklären», unterbrach ich seinen begeisterten Redeschwall. «Bringen wir erst mal den offiziellen Teil hinter uns. Du hast gestern Abend, bei eurem gemeinsamen Essen, gesagt, du hättest gehört, wie Antti Samstagnacht in Jukkas Zimmer gegangen ist. Bei der Vernehmung hast du das aber nicht erwähnt. Was ist denn nun die Wahrheit, hast du was gehört oder nicht?»
«Na ja … ich bin mir eben nicht sicher. Vielleicht hab ich geträumt oder so, ich hatte bloß das Gefühl, dass sich in Jukkas Zimmer wer bewegt, und irgendwie hab ich gedacht, das wäre Antti, aber ich weiß nicht genau …»
In Wirklichkeit interessierte ich mich weniger für Jyris Halluzinationen als für seine Finanzlage. Vielleicht war er nur darauf verfallen, Antti zu bezichtigen, weil die anderen vorher ihn verdächtigt hatten. Deutete das auf Jyri als Täter hin? Da ich nicht wusste, wie ich weiter drum herum reden sollte, kam ich direkt zur Sache.
«Wie hoch waren nochmal deine Schulden bei Jukka?»
Sein eben noch so fröhliches Gesicht wirkte auf einmal ängstlich.
«So um die fünftausend, oder? Und natürlich kannst du keinen Pfennig davon zurückzahlen. Jukka wurde plötzlich unangenehm, als er sein Geld nicht bekam, nicht wahr? Ihr müsst euch ganz schön gestritten haben.»
«Ja schon, aber das war doch schon am Donnerstag …», stotterte Jyri, drückte die Zigarette in einem der überquellenden Aschenbecher aus und zündete sich gleich die nächste an. Offensichtlich hatte ich richtig geraten, aber mir war nicht ganz klar, wie ich ihn dazu bringen konnte weiterzureden.
«Von deiner Bank bekomme ich genaue Angaben über dein Konto», log ich munter drauflos. «Besser wäre es allerdings, wenn du mir alles selbst erzählst.»
Er zog nervös an seinem Glimmstengel, stand auf, öffnete das Fenster, sodass sich die verrauchte Zimmerluft mit den Abgas-Schwaden von der Straße mischte, und setzte sich dann schicksalsergeben wieder hin.
«Fast zehntausend hab ich ihm geschuldet», stieß Jyri hervor. «Aber er hat mir versprochen, keinem was davon zu erzählen! Von wem hast du das überhaupt? Hast du ’ne Haussuchung gemacht und den Schuldschein gefunden? So einen hat er mich nämlich unterschreiben lassen, der verdammte Kerl, kein Vertrauen zu seinem Kumpel …»
Der Durchsuchungsbefehl war noch nicht ausgestellt, ich hoffte, ihn am nächsten Tag zu bekommen. Aber das brauchte Jyri nicht zu wissen, also nickte ich.
«Ich hab für alles Mögliche Geld gebraucht! Von der beschissenen Studienbeihilfe kann ja keiner leben, und Jobs gibt’s auch keine. Ich hab mir kurz vor Weihnachten zum ersten Mal was von ihm geliehen, als mir das Geld ausgegangen ist, aber das hab ich ihm gleich zurückgezahlt, im Frühjahr, da kam das nächste Darlehen. Aber dann war das Geld wieder alle. Und zu Hause wollt ich nicht fragen, da war ja doch wieder die alte Platte gelaufen, was musst du auch dauernd verreisen und wie viel trinkst du eigentlich und warum kaufst du dir so teure Klamotten, kannst du nicht in Jeans gehen wie alle anderen … Jukka war voll in Ordnung, er hat mir was geliehen und gesagt, ich brauch keine Zinsen zahlen. Aber den Schuldschein wollte er haben … Und jetzt hab ich ja auch ’nen Job als Pizzabote, total langweilig, aber ich will im August nach Nizza …»
«Aber am Donnerstag hat Jukka dann gesagt, er will sein Geld sofort zurück, sonst macht er dir die Hölle heiß, stimmt’s?»
«Ja … er hat mich bei der Arbeit angerufen, und dann hat er mich abgeholt und hierher gebracht. Ich hab mich zwar gewundert, warum wir nicht in die Kneipe gehen, aber er hat gemeint, er will in Ruhe mit mir reden. Er hat gesagt, er braucht viel Geld, weil er ’ne neue Karre kaufen muss, obwohl ich bei Gott nicht weiß, was er an der alten auszusetzen hatte. Und als ich gesagt hab, ich hätte das Geld nicht, da hat er mir gedroht, er würde der Polizei sagen, dass …» Jyri schluckte.
«Was denn?»
«Na, dass ich Schulden bei ihm hab! Verdammt nochmal, ich konnte doch nicht ahnen, wie gemein er ist!» Wütend malträtierte Jyri sein Kopfkissen.
«Sind zehntausend Finnmark Grund genug, einen Freund umzubringen?»
Jyri starrte mich entsetzt an. Dann sprang er auf.
«Ich hab ihn nicht umgebracht! Am Freitag war er wieder ganz normal und hat kein Wort über die Sache verloren, und ich dachte, er war nur mal ’nen Moment nervös. Aber das Wettrennen hat mir schon Angst gemacht, das war, als ob er mich wirklich in den Graben drängen wollte … vielleicht sollte das ’ne Drohung sein. Aber umgebracht hab ich ihn nicht, Maria, so was könnt ich gar nicht tun. Du glaubst mir doch?» Er hatte Ähnlichkeit mit einem Hündchen, als er mich jetzt anschaute wie ein kleines Tier, das von einem größeren, übermächtigen Gegner angegriffen wird. Aber ich durfte nicht nachgeben.
«Jukkas Tod kam für dich aber genau zur rechten Zeit», blaffte ich ihn an. Ich brachte es nicht fertig, einen freundlicheren Ton anzuschlagen, dazu erinnerte Jyri mich viel zu sehr an Pete. Die gleichen treuen Hundeaugen, der gleiche gedankenlose Umgang mit Geld. Pete war einer meiner Exfreunde. Ich hatte über die Summen, die ich ihm geliehen hatte, nie Buch geführt, aber von dem, was ich in meinem ersten Jahr bei der Polizei verdiente, hatte Pete sicher die Hälfte in die Kneipen des Stadtteils Kallio, wo wir damals wohnten, getragen. Dann machte er Zivildienst, wo er zu der Erkenntnis kam, er könne nicht mit einer Polizistin zusammen sein, weil sie die etablierte Gesellschaft repräsentiere. Ich hatte ein paar Wochen um ihn geweint, danach aber hauptsächlich dem verlorenen Geld nachgetrauert.
Jyri hatte sich wieder ans Fenster geschleppt, als wäre er am liebsten geflohen. Ich hielt es nach wie vor für möglich, dass er der Täter war, obwohl das Motiv zugegebenermaßen auf schwachen Füßen stand.
«Erinnerst du dich überhaupt so genau, was Samstagnacht passiert ist?»
«Du meinst, ich hätt Jukka umgebracht und wüsste es nicht mehr? Mach keine Witze. Willst du mich verhaften?»
Jyris Stimme schlug in ein schrilles Falsett um, die Hand, die die Zigarette hielt, zitterte heftig. Das weltmännische Gehabe war restlos von ihm abgefallen.
«Wenn ich genügend Beweismaterial beisammen hätte, würdest du jetzt schon in Pasila sitzen, aber lassen wir es vorläufig gut sein», sagte ich maliziös. «Dafür könntest du mir aber erzählen, wem Jukka sonst noch Geld geborgt hat.»
Jyri ging in die Kochnische und öffnete den Speiseschrank, in dem hauptsächlich Flaschen zu stehen schienen. «Einen Whisky kann ich ja wohl trinken», murmelte er. «Du auch, oder bist du im Dienst?»
«Einen kleinen», sagte ich, obwohl ich besser abgelehnt hätte. Aber vielleicht würde Jyri ja offener reden, wenn ich mittrank.
«Davon weiß ich eigentlich nichts … Obwohl, Jukka hatte viel mehr Geld als alle anderen, die ich kenne, war schon mit dem Studium fertig und hat gut verdient … Bestimmt haben wir uns alle ab und zu was von ihm geliehen, also in der Kneipe zum Beispiel, wenn uns da das Geld ausging, dann hat Jukka seine Visa-Karte gezückt. Die Tuulia hat mal gesagt, sie würde Jukka viel schulden, aber das klang eher nach Dankesschuld. Vielleicht hat Jukka ihr geholfen, Arbeit zu finden oder so was. Mit Timo hatte er wohl auch irgendwelche Geldgeschichten laufen …»
«Was für welche?»
«Weiß ich nicht so genau, da musst du Timo fragen.» Sein verschlagener Gesichtsausdruck ließ mich vermuten, dass er mehr wusste, als er zugab. «Ich glaub allerdings, dass Mirja die Mörderin ist», setzte er hinzu und goss sich den zweiten Whisky ein. Ich hatte erst einen Schluck getrunken, obwohl an Jyris Ballantine’s nichts auszusetzen war.
«Mit welcher Begründung?»
«Na, weil sie so wahnsinnig ruhig ist. Als ob sie was wüsste. Ich hab allerdings keine Ahnung, warum sie gerade Jukka umgebracht hätte. Antti ist doch der, in den sie verknallt ist.»
Schon wieder dieser Hinweis auf Mirja und Antti. Ich hasste die Vorstellung, die beiden nach ihrem Liebesleben ausfragen zu müssen.
«Was wird eigentlich aus deinem Spiel, wenn du jetzt Whisky trinkst?»
«Wir haben doch immer Bier dabei, das macht beim Kyykkä-Spielen überhaupt nichts aus. Du scheinst nicht viel davon zu wissen! Außerdem glaub ich nicht mal, dass wir heute groß spielen, wahrscheinlich bereden wir, was wir bei Jukkas Beerdigung singen. Die ist nächste Woche Samstag, wusstest du das schon?»
«Natürlich.» Die Technik und die Pathologen hatten die Untersuchungen an Jukkas Leiche heute abgeschlossen, und der Tote war den Angehörigen übergeben worden. Einige Ergebnisse der Faseruntersuchungen standen noch aus.
«Auf der Beerdigung eines Freundes singen, das könnte ich nicht.»
«Na ja, ich find das auch furchtbar. Mal sehn. Du kannst ja kommen und den verhaften, der nicht weint – aber das wär ja sowieso Mirja.»
Jyri war viel gelöster, seit er wusste, dass ich ihn nicht nach Pasila schleifen würde. Ich trank meinen Whisky langsam und genoss seine beruhigende Wirkung. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie schrecklich verkrampft und angespannt ich den ganzen Tag über gewesen war. Ich sehnte mich nach einem langen Spaziergang in frischer Luft. Im Allgemeinen half mir das, Klarheit in meine Gedanken zu bringen.
Jyri wollte allmählich aufbrechen und bat mich zu warten, bis er sich umgezogen hatte, damit wir zusammen gehen konnten. Nach dem dritten Whisky hatte er auch den letzten Rest seiner Befangenheit verloren und erzählte mir Klatschgeschichten über den Chor, die mir irgendwie bekannt vorkamen. Die meiste Zeit verwendete er darauf, seine eigenen Gesangskünste herauszustreichen und andere Sänger, vor allem die Tenöre, schlecht zu machen. Mit welchem Eifer Sänger ihre Kollegen kritisieren, hatte ich schon gemerkt, als ich mit Jaana zusammenwohnte, und bei Jyris Worten gewann ich allmählich den Eindruck, dass der IOL ein wahrer Tummelplatz von Neidhammeln war. Allerdings würde kaum jemand einen anderen nur deshalb ermorden, weil er regelmäßig eine Spur zu tief sang.
In der Straßenbahn schlug Jyri mir vor, mitzukommen und mich in die Feinheiten des Kyykkä-Spiels einweihen zu lassen, aber dafür konnte ich mich nicht begeistern. Er stieg in Kaisaniemi aus, ich fuhr weiter bis nach Eira und spazierte am Ufer entlang. Die Helsinkier Ufer sind nicht gerade überwältigend, aber das Meer ist und bleibt das Meer. Einen Moment lang wünschte ich mir, nicht allein zu sein, jemanden neben mir zu haben, mit dem ich über die zankenden Krähen lachen und die kleine, wie ein Elefant geformte Wolke bewundern konnte, aber der Gedanke verflüchtigte sich bald.
Ein Segelboot am Horizont rief mir Jukka ins Gedächtnis. Mit Piia Wahlroos sollte ich bald noch einmal sprechen, vielleicht konnte sie mir etwas über Jukkas Liebesleben sagen. Ich wusste nicht recht, was ich von Piia halten sollte, aber instinktiv hatte ich sie auf meiner Rangliste der Verdächtigen in das obere Feld gesetzt. Jyri ebenfalls, trotz seiner Beteuerungen. Timo und Sirkku musste ich wohl oder übel am unteren Ende der Liste platzieren, eine kurze Affäre, die noch dazu zwei Jahre zurücklag, war kein schlüssiges Motiv für einen Mord. Zudem konnte ich mir nicht recht vorstellen, dass Sirkku jemanden mit einer Axt erschlug. Vielleicht sollte ich mich auf die Art konzentrieren, wie der Mord verübt worden war, um Rückschlüsse auf den Täter zu ziehen.
Der Mörder hatte es offensichtlich eilig gehabt, Jukka loszuwerden. Es sah so aus, als wäre er entweder wütend oder erschrocken gewesen. Wer von meinen Verdächtigen war fähig, richtig wütend zu werden? Antti ganz bestimmt, ebenso Timo. Unter den Frauen war Sirkku am ehesten der Typ, der ausrastete, aber so wie ich sie einschätzte, hätte sie dann, «typisch Frau», angefangen zu weinen und mit ihren hübsch manikürten Händen gegen Jukkas Brust zu trommeln.
Und Mirja? Ich kannte viele extrem beherrschte Menschen, die selten wütend wurden, bei denen aber die Hölle losbrach, wenn sie doch einmal ausrasteten. Womit konnte Jukka Mirja zu einem Wutausbruch provoziert haben? Auch Tuulia konnte furchtbar wütend werden, aber ihre Waffe wäre Gift, da war ich mir sicher.
Und wenn Jukka Piia belästigt hatte? Vielleicht war er im Rausch zudringlich geworden, und sie hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als die Axt zu nehmen und zuzuschlagen. Ach, wenn es doch Selbstverteidigung wäre! Ich fand es plötzlich furchtbar, jemanden für Jahre ins Gefängnis zu bringen, dabei lief meine ganze Arbeit doch darauf hinaus.
In den Polizeidienst zurückzukehren war eine idiotische Idee gewesen. Ich hatte immer noch die Fachzeitschrift «Der Polizist» abonniert (obwohl ich größte Lust hatte, sie wegen ihres dämlichen Namens zu boykottieren) und darin das Stellenangebot entdeckt. Wahrscheinlich hatte ich die Stelle bekommen, weil ich eine Frau war. Es gab wenig Frauen im Polizeidienst, und man machte es ihnen auch nicht gerade leicht, mir jedenfalls nicht. Ab und zu wünschte ich mir, mindestens zehn Jahre älter zu sein und Familie zu haben. Ein Kollege nach dem anderen wollte mit mir ausgehen, genau wie damals auf der Polizeischule, und da ich jedes Mal ablehnte, machten wilde Spekulationen die Runde. «Sieht ja ganz gut aus, die Kleine, aber sie hat nicht mal einen Freund. Die ist bestimmt lesbisch, deswegen hat sie sich ja auch einen Männerberuf ausgesucht.»
Weshalb hätte ich meinen Kollegen über mein Liebesleben Bericht erstatten sollen? Ich hatte nämlich eins, manchmal, aber die Zeit rannte mir davon, und die Männer machten meistens einen Rückzug, wenn sie erfuhren, dass ich Polizistin war. So beschäftigt, wie ich in letzter Zeit war, hatte ich fast vergessen, dass es so etwas wie Sex überhaupt gab. Ich wollte meine Arbeit gut machen, und beim Gewaltdezernat hatte ich eine Menge zu lernen. Als Pete damals mit mir Schluss gemacht hatte, war ich überzeugt gewesen, mich nie mehr zu verlieben. Ein Jahr später war Harri aufgetaucht, ein passionierter Pflanzen- und Vogelforscher, dessen faszinierendste Eigenschaft leider darin bestand, alle Pflanzen- und Vogelarten zu kennen und sie mir beibringen zu wollen. Davon abgesehen, hatte Harri mir nichts entgegenzusetzen, er war viel zu brav, sanft und empathisch, und ich behandelte ihn schäbig. Zum Glück hatte er irgendwann genug davon, sich von mir herumkommandieren zu lassen.
Nein, ich wollte von niemandem abhängig sein. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, meine Gewohnheiten mit irgendwem zu teilen. Ich wollte frühstücken, ohne dass jemand mir die Zeitung wegnahm oder mich ansprach, bevor ich meinen Kaffee getrunken hatte. Ich wollte mir Schmachtfilme im Fernsehen anschauen, ohne dass jemand hämische Kommentare abgab oder sich wunderte, wenn das Happy End mich zu Tränen rührte. Ich wollte um zwei Uhr nachts Schokolade essend und Whisky trinkend in der Badewanne liegen, wenn mir danach war. Ab und zu hätte ich bei meinen düsteren Monologen allerdings ganz gern einen Zuhörer gehabt, weshalb ich mit dem Gedanken spielte, mir eine Katze zuzulegen. Wir würden uns verhältnismäßig selten in die Quere kommen. Eine Katze zu halten, ließ sich vielleicht trotz meiner unregelmäßigen Arbeitszeiten einrichten. Ein Mann würde mehr Umstände machen. Sex war zwar ab und zu ganz angenehm, aber ich war schon eine ganze Weile ohne ausgekommen. Vielleicht war meine Libido nicht so ausgeprägt.
Völlig in Gedanken verloren, war ich mittlerweile in der Ratakatu gelandet, wo mich ein Bekannter von der Polizeischule, der jetzt bei der Sicherheitspolizei arbeitete, durch seinen lauten Gruß aus meinen Gedanken riss. Zu meinem Verdruss stellte ich fest, dass ich vorwiegend über mich selbst nachgedacht hatte statt über Jukka. Möglicherweise würde ich in seiner Wohnung eine Antwort auf die Frage finden, warum er sterben musste. Eigentlich war es erschreckend, wie ein Mensch zum Allgemeinbesitz wurde, wenn er einem Mord zum Opfer fiel. Zuerst schnitt man seinen Körper auf, untersuchte den Zustand seiner inneren Organe, stellte die Zusammensetzung seiner letzten Mahlzeit fest. Dann durchwühlte man sein ganzes Leben, überprüfte seine Wohnung, seine Beziehungen, seine Finanzen, seine Freunde. Schamlos drang man in das Privatleben des Opfers und der Tatverdächtigen ein. Und ich spähte neugierig in das Leben anderer Menschen und konnte doch nur einen Teil der Zeichen entziffern, die ich dort sah.