Zwölf

 

 

Strahlt einstmals neuer Frühling und neues Morgenrot

 

Ich verfrachtete meine Eltern in den Flughafenbus, der um Viertel nach fünf abfuhr, und kroch für ein paar Stunden wieder ins Bett. Ich schlief unruhig. Im Traum saß ich am Meer und versuchte, meine Mutter herauszuangeln, die zusammengeschlagen und bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden war. Als es mir endlich gelang, sie aus dem Wasser zu ziehen, hatte sie sich in Tuulia verwandelt, die ich verzweifelt küsste, um sie zum Leben zu erwecken.

Ich fuhr mit dem Rad nach Pasila. Als ich am Vergnügungspark Linnanmäki vorbeifuhr, löste sich der Nebel allmählich auf, und das Riesenrad kam zum Vorschein. Hoffentlich war diese Morgendämmerung ein gutes Omen. An der Ampel musste ich bremsen, dabei sprang die Kette ab. Beim Reparieren brachte ich es fertig, meine besten Jeans mit Fahrradöl zu verzieren. Ich kam erst um zehn nach acht im Präsidium an, nachdem die Kette unterwegs noch einmal abgesprungen war. Im Vorbeigehen warf ich einen Blick in Kinnunens Zimmer, aber es stand leer. War er immer noch im Saufurlaub? Auf meinem Schreibtisch lag bereits ein Zettel mit der Bitte, Heikki Peltonen anzurufen, und ein zweiter mit der Aufforderung, mich beim Chef zu melden.

Ich rief zuerst Peltonen an, der Jukkas Autoschlüssel vermisste. Er vermutete die Zweit- und Drittschlüssel noch bei uns.

«Ich habe die ganze Zeit nur einen Satz Schlüssel gesehen, die, die im Zündschloss steckten. Ersatzschlüssel haben wir weder in Vuosaari noch in Jukkas Wohnung gefunden.»

«Seltsam. Ich bin sicher, es existieren mindestens zwei Ersatzschlüssel. Wir wollen den Wagen verkaufen, sobald die Nachlassaufstellung abgeschlossen ist, aber nun müssen wir neue Schlösser einbauen lassen.»

Ich musste an die Nachricht von ÄM denken, der sich das Auto ausborgen wollte. Hatte er die verschwundenen Schlüssel? Was hatte ÄM mit dem Wagen gemacht? Drogen transportiert? Warum ausgerechnet in Jukkas Wagen? Ich versuchte Peltonen davon zu überzeugen, dass wir mit den Ermittlungen vorankamen, sagte ihm aber noch nicht, dass die Wahrheit über seinen Sohn, die sich allmählich herausschälte, alles andere als angenehm war.

Tapsa hatte seine Tonbänder noch nicht bekommen. Widerstrebend machte ich mich auf den Weg zum Chef, um ihm über meine aktuellen Fälle Bericht zu erstatten. Er blies mir Zigarrenqualm in die Augen und hörte sich mit ungläubigem Gesicht meine Theorien von Jukkas Verstrickung in Sex-, Schnaps- und Drogengeschäfte an.

«Aha. Wie viel davon ist denn beweisbar, und wie viel ist Phantasie – oder sollte ich von weiblicher Intuition sprechen?» Ich berichtete ihm von Koivus Exkursen, von Arhela und von den Schnapsflaschen. Die Analyse des Inhalts sollte ich im Lauf des Tages bekommen.

«Der Mörder wäre also doch jemand von außen?»

«Nicht unbedingt. Zumindest glaube ich, dass ein Teil meiner Verdächtigen in diese Schnapsgeschichte verwickelt ist.»

«Die Theorien sind prächtig, aber wir brauchen Ergebnisse!» Wieder schwebte eine Rauchwolke auf meine Augen zu. «Ich gebe dir bis Freitag Zeit. Bis dahin solltest du den Mörder gefasst haben. Ich hab alle Hände voll zu tun, die Boulevardzeitungen zum Stillschweigen zu bewegen.»

«Bin ich denn weiterhin hauptverantwortlich mit dem Fall beschäftigt? Was ist mit Kinnunen?» Der Chef sah plötzlich verlegen aus.

«Na, Kalevi ist natürlich …», fing er an zu stammeln, riss sich dann aber zusammen. «Kinnunen trägt natürlich letztlich die Verantwortung für alles, was in seiner Abteilung geschieht. Ich habe aber heute Morgen mit ihm vereinbart, diese Verantwortung an mehrere Personen zu delegieren. Du bist mit diesem Fall ja schon ziemlich weit vorangekommen. Du erstattest ihm Bericht, arbeitest aber im Wesentlichen selbständig weiter.»

Kinnunen war also wieder da. Die Situation schien ziemlich explosiv zu sein. Vielleicht sprach ich am besten selbst mit ihm.

Wir redeten eine Weile über andere Fälle, an denen ich gerade arbeitete. Ich bat um Erlaubnis, in erster Linie Koivu als meinen Assistenten einzusetzen. Der Chef stimmte zu und fragte dann nachdenklich:

«Bis Ende September ist es nicht mehr lange … Saarinen hat letzte Woche angerufen. Ihm wird möglicherweise bald Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt, weil es mit seinem Rücken so schlimm steht. Auf jeden Fall ist er bis Ende des Jahres krankgeschrieben. Hast du dir schon überlegt, ob du weitermachen willst?»

«Ich bin noch nicht dazu gekommen», erwiderte ich ausweichend.

«Es wäre gut, wenn wir in unserer Abteilung eine Frau hätten, schon fürs Image. Und du scheinst ja genauso gut zurechtzukommen wie die Jungs», sagte der Chef, ohne zu ahnen, dass er genau die falschen Worte gewählt hatte. Zum Glück stellte seine Sekretärin gerade in dem Moment ein dringendes Gespräch von oben zu ihm durch, sodass ich mich verdrücken konnte.

Auf meinem Schreibtisch war in der Zwischenzeit ein rundes Paket aus dem Labor aufgetaucht. Bevor ich es öffnen konnte, klingelte das Telefon. Es war Anu, die Sopranistin, die meiner Bitte um Rückruf nachkam.

«Du hast mir gesagt, dass Jukka am Telefon so etwas Ähnliches gesagt hat wie ‹Hör zu, Alte, ich kann jetzt nicht sprechen›. Kann es sein, dass er für Alte nicht akka gesagt hat, sondern ämmä?»

Anu überlegte eine Weile.

«Ja, ich glaube, du hast Recht.»

«Hervorragend. Und diese Ämmä brauchte von irgendetwas mehr, als Jukka ihr geben wollte?»

«Den Eindruck hatte ich», bestätigte Anu. Sie hatte nichts dagegen, ihre Aussage eventuell später offiziell zu Protokoll zu geben.

Endlich konnte ich das Paket aus dem Labor auspacken. Es enthielt eine der Schnapsflaschen aus Jukkas Wohnung, eine zweite Flasche, die Laborergebnisse und einige Fotos. Ich sah sie mir an und pfiff durch die Zähne. Allmählich wurde es interessant. Ich verstaute die Schnapsflasche in meinem Schreibschränkchen, um die Männer unserer Abteilung und vor allem Kinnunen nicht in Versuchung zu führen. Da hatte ich nun meine Büroflasche.

Ich organisierte mir einen Wagen und Koivu, der wieder munter und gut gelaunt war. Als ich ihn für seine Leistung am Samstagabend lobte, lachte er zufrieden.

«In dem Lokal gab’s reichlich käufliches Fleisch. Für Geld kriegt man da Frauen oder junge Männer, ganz nach Wunsch», erklärte er. «Erinnerst du dich noch an die Estin, die ihre Freier beraubt hat? Sie muss so ungefähr zwei Tage vor dem Mord an Peltonen verhaftet worden sein. Die könnte was wissen.»

«Sehr gut, Koivu! Kannst du mal feststellen, ob sie noch in Haft ist, und uns eine Vernehmungserlaubnis besorgen? Bis wir die haben, erledigen wir ein paar andere Gespräche», sagte ich. Koivu nahm das Autotelefon zur Hand und erkundigte sich. Die Frau saß tatsächlich noch in Pasila in Untersuchungshaft.

Wir fuhren als Erstes nach Koskela, wo Tomi Rissanen, also Tomppa, wohnte. Nach mehrmaligem Klingeln öffnete ein schöner Junge mit Engelslocken die Tür. Er rieb sich die Augen, als wäre er gerade erst aufgewacht. Sein einziges Kleidungsstück war ein winziger weißer Tangaslip, der die Bräune seines muskulösen Körpers betonte.

«Koivu und Kallio, Kriminalpolizei», sagte ich und hielt ihm meinen Ausweis hin. «Wir hätten ein paar Fragen über einen Ihrer … Freunde.»

Tomppa schien eher verwirrt als erschrocken. Hatte Mäki ihn gewarnt? Bei genauem Hinsehen sah er aus wie ein Schuljunge, der eigentlich gar keinen Zutritt zum «Kaivohuone» haben dürfte. Es wunderte mich gar nicht, dass er Abnehmer fand. Einen solchen Leckerbissen anzuschauen und zu berühren musste ein Genuss sein. Die Eheleute Mäki schienen auf den gleichen Typ Mann zu stehen; dem Aussehen nach hätte Tomppa Jukkas kleiner Bruder sein können.

Tomppa bestätigte, die ganze Nacht mit Mäki im Hotel Vaakuna verbracht zu haben. Da auch das Gästebuch des Hotels eine entsprechende Eintragung enthielt, konnten wir Mäki wohl von der Liste der Verdächtigen streichen.

«Du warst aber lieb zu dem Kleinen», feixte Koivu, als wir zurück zum Auto gingen.

«So einen niedlichen Knaben werd ich doch nicht quälen! Aber mal im Ernst, ich hab bei der Sitte massenhaft solche Typen gesehen. Die lassen sich weder durch Drohungen noch durch gute Ratschläge zur Einsicht bringen, bevor es zu spät ist.»

Über die Tuusulantie fuhr ich auf die äußere Umgehungsstraße und fand ohne Koivus Hilfe die Verkaufsstelle für landwirtschaftlichen Bedarf, wo Timo arbeitete. Die Traktoren und Mähdrescher auf dem Hof riefen Erinnerungen an meine Kindheit wach, an die Sommer, in denen ich auf dem Hof meines Onkels Pena bei der Heuernte geholfen hatte. Ich hatte damit geprahlt, dass ich mehr Heu aufgabeln konnte als mein zwei Jahre älterer Vetter, und hatte sowohl den Pferdewagen als auch den Traktor gelenkt. Meine kleinen Schwestern waren es zufrieden, unserer Mutter beim Kochen zu helfen. Mutter hatte diese Sommer auf dem Land nicht gerade genossen, denn sie stand den ganzen Tag in der Küche – Onkel Pena war nicht verheiratet – und bereitete das Essen für die Erntehelfer zu. Wahrscheinlich hätte sie viel lieber auf der Wiese gesessen und Agatha Christie gelesen. Ich hatte mir natürlich eingebildet, sie hätte sich ihren Part selbst ausgesucht. Damals glaubte ich, Erwachsene täten immer nur, was sie wollten.

Timo war gerade dabei, mit einem Traktor Düngemittelsäcke auf den Hof zu fahren. Er war merklich erschüttert, als ich ihn aufforderte mitzukommen. Ich erklärte seinem Chef, dass ich Timos Unterstützung bei wichtigen Ermittlungen brauchte. Ich wollte seinen Ruf nicht unnötig schädigen, fragte mich allerdings, warum ich eigentlich so rücksichtsvoll handelte.

«Ich hätte Sirkku und dich gestern schon vernommen, aber ihr wart nicht in der Stadt», sagte ich vorwurfsvoll, als Timo auf der Rückbank saß. «Hatten wir nicht abgemacht, dass ihr mich informiert, bevor ihr wegfahrt?»

«Wir waren doch nur in Muuriala, bei meinen Eltern …», meinte er verwundert. «Wir dachten, am Wochenende würdest du uns sowieso nicht brauchen.»

Wir fuhren in die Innenstadt. Ich ließ Koivu mit Timo in dem gesetzwidrig auf dem Bürgersteig parkenden Wagen zurück und spazierte in die Kosmetikabteilung des großen Kaufhauses, wo Sirkku jobbte. Sie war, passend zum Arbeitsplatz, auffällig, wenn auch nicht gerade schön geschminkt. Alles war eine Spur zu reichlich aufgetragen, und der pinkfarbene Lippenstift stand ihr nicht. Im künstlichen Licht des Kaufhauses sah sie aus wie eine überdimensionale Puppe. Da entdeckte ich mein eigenes Gesicht in einem Schminkspiegel und wandte schleunigst den Blick ab.

«Sirkku, so wie die Dinge stehen, muss ich dich jetzt nach Pasila mitnehmen, zur Vernehmung. Wo ist deine Chefin? Ich sag ihr Bescheid.»

Sirkku suchte am Verkaufstisch Halt und stieß dabei an die Schnupperfläschchen, die klirrend herunterfielen. Dann sah sie mich so erschrocken an, dass eine Frau, die uns aus einiger Entfernung beobachtet hatte und aussah wie eine Doppelgängerin der Dynasty-Krystle, herbeieilte und fragte, was denn los sei. Es war die Abteilungsleiterin.

«Ich brauche die Unterstützung von Fräulein Halonen bei meinen Ermittlungen. Ich bringe sie in zirka einer Stunde zurück.»

Sirkku zog ihren Kittel aus und stempelte ihre Stechkarte. Womöglich zog man ihr für die Zeit der Vernehmung den Lohn ab. Wie idiotisch von mir, dass ich mir darüber Gedanken machte! Als sie Timo im Wagen erblickte, wurde ihr Gesicht unter dem Make-up bleich. Ich bat Koivu, sich zu Timo auf die Rückbank zu setzen, und ließ Sirkku auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Ihre Fingerspitzen mit den rosa lackierten Nägeln zitterten. Eigentlich konnte ich mir meine Fragen ersparen. Mit ihrem Verhalten hatte Sirkku schon eine ganze Menge zugegeben.

Sie beruhigte sich ein wenig, als sie in meinem Zimmer saß und mit Timo Händchen halten konnte. Koivu holte für die beiden Kaffee und für mich einen Tee. Er selbst hielt sich an Cola. Als ich die Schnapsflasche aus dem Schrank holte, machte er eine erwartungsvolle Geste. Ich bedeutete ihm, er solle sich anständig benehmen, obwohl mich ein Tee mit Schuss auch gereizt hätte.

«Die Flasche kennt ihr ja wohl. Oder müsst ihr zuerst den Inhalt probieren?» Die beiden warfen sich einen Blick zu, dann sagte Timo mit kraftloser Stimme:

«Ja, die kennen wir.» Jetzt war auch sein Gesicht erstaunlich blass.

«Und woher? Du weißt sicher auch, was drin ist?»

«Schwarzgebrannter», brachte er mühsam heraus.

«Wer mag den wohl gebrannt haben? Diese Flasche und zig weitere haben wir in Jukkas Wohnung gefunden, aber weder dort noch in Vuosaari stehen irgendwelche Destilliergeräte. Ich kann mir notfalls einen Durchsuchungsbefehl für eure Wohnungen besorgen.»

«Aber die sind …», setzte Sirkku an und jaulte auf, weil Timo ihre Hand immer fester drückte.

«Die sind was? Auseinander genommen? Auf der Flasche haben wir Fingerabdrücke von euch beiden gefunden», log ich. Die erschrockene Sirkku stolperte blindlings in die Falle:

«Meine können gar nicht drauf sein, Timo hat doch die Flaschen abgefüllt!»

«Idiotin!», zischte Timo und schüttelte Sirkkus Hand ab. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht loszuprusten. Die beiden hatten allzu viel Ähnlichkeit mit dem Ehepaar in einer finnischen Schmierenkomödie. Sirkkus starkes Make-up wirkte bei Tageslicht grotesk, und Timo sah drein wie ein biederes Bäuerlein, das der Dorfpolizist beim Schwarzbrennen ertappt hat.

«Wo ist das Zeug denn nun hergestellt worden?» Ich hatte meine Frage an Sirkku gerichtet, aber Timo hatte sich offenbar entschlossen, die Zügel in die Hand zu nehmen. Er berichtete langsam und deutlich, als müsse er jedes Wort einzeln abwägen:

«Bei uns in Muuriala ist schon seit Jahrzehnten für den Eigenbedarf Schnaps gebrannt worden. Der Vater meines Großvaters hat während der Prohibition damit angefangen, und das ging dann eben weiter. Ich habe manchmal zu den Feten im Chor und in der Landsmannschaft ein paar Flaschen beigesteuert, und letzten Sommer hat Jukka dann gefragt, ob ich ihm etwas mehr liefern könnte, gegen Bezahlung. Ich habe meinen Vater gefragt, dem ich in den letzten Jahren beim Brennen geholfen habe, aber er war strikt dagegen. Auf dem Gutshof ist nie Schnaps verkauft worden, wir haben immer nur für den Eigenbedarf gebrannt. Ich habe mich natürlich geärgert, denn Jukka meinte, wir könnten ungefähr zweihundert Prozent Gewinn machen – wenn wir das Getreide vom Gutshof verarbeiten, das uns praktisch nichts kostet. Er wollte den Schnaps an seine Kollegen verkaufen, nehme ich an. Ich habe mir überlegt, in der Stadt eine eigene Anlage zu bauen, aber damals schien mir das schwierig. Später, als ich schon mit Sirkku zusammen war, kam Jukka bei irgendeiner Party auf die Sache zurück.»

«Jukka hat andauernd versucht, Leute zu irgendwas zu verleiten», warf Sirkku wütend ein. Timo fasste sie wieder an der Hand.

«Ja, Jukka hat Sirkku auch alle möglichen Dinge vorgeschlagen. Jedenfalls hat Sirkku mir dann geholfen, die Anlage zu bauen – sie ist ja Chemikerin –, und wir haben die ersten fünfzig Liter gebrannt. Die eine Hälfte haben wir Jukka gegeben, die andere behalten. Der schmeckt übrigens gut, zum Beispiel mit Cola», wandte sich Timo mit unverkennbarem Berufsstolz an Koivu.

«Und dann?», fragte ich schneidend. Es ärgerte mich, dass ich schon wieder automatisch aus einem Männergespräch ausgeschlossen wurde.

«Dann haben wir eine Lieferung für das Frühlingsfest des Chors gebrannt, und vor ein paar Wochen ist die dritte fertig geworden. Die war doppelt so groß wie die vorigen, wir hatten nämlich einen neuen Kessel.»

«Und woher habt ihr die Flaschen? Die waren ja offenbar alle gleich.»

«Zum Teil haben wir alte Flaschen aus Muuriala genommen, den Rest hat Jukka irgendwo besorgt.»

«Wer ist auf die Idee mit dem Fenchel gekommen?»

«Jukka. Ich hatte ihm mal erzählt, dass wir in Muuriala auch Fenchel anbauen, und er meinte, davon bekäme der Schnaps einen frischeren Geschmack … wie Anis.»

«Und du hast also einen Teil an Jukka verkauft?»

«Ja, obwohl …» Timo sah ein wenig ratlos aus. «Ich fand es komisch, dass er immer mehr haben wollte. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er nur einen ganz kleinen Kreis beliefert hätte. Ich finde es nicht kriminell, wenn man nur für sich selbst Schnaps brennt», verteidigte er sich. «Bei uns auf dem Land tun das alle. Aber Jukka wollte ziemlich große Mengen. Und er hat nie gesagt, an wen er den Schnaps weiterverkauft.»

«Hat er euch im Voraus bezahlt?»

«Ja. Außer diesmal …»Timo verstummte plötzlich, und Sirkku sah ihn erschrocken an.

«Sprich nur weiter», sagte ich mit aller Autorität, die ich aufbringen konnte. Ich mochte kaum glauben, dass Timo wirklich aus Ostfinnland stammte, bei seiner langsamen, steifen Sprechweise hätte ich eher auf die Provinz Häme getippt.

«Jukka hat am Donnerstagabend angerufen», fuhr Sirkku heftig dazwischen. «Er hat gesagt, er braucht alles, was wir noch auf Lager haben, und zwar sofort. Da hatte er gerade kein Geld, aber er wollte dann am Samstag in Vuosaari bezahlen, wenn er das Zeug weiterverkauft hatte. Er hat an dem Abend noch den Schnaps mit dem Auto bei uns abgeholt.»

«Aber nach Jukkas Tod haben wir den Schnaps bei ihm zu Hause gefunden, und er hat euch am Samstag nichts dafür bezahlt», stellte ich fest. «Habt ihr euch über das Geld gestritten?» Timo und Sirkku sahen sich an, als könnten sie sich nicht einig werden, wer das Reden übernehmen sollte. Dann fing Timo an:

«Na ja, wir haben am Abend in der Sauna beratschlagt, was wir tun sollen. Wir hatten ja keine Möglichkeit, das Geld irgendwie einzuklagen oder so … Aber es ging um mehrere tausend Mark, das ist nicht gerade ein Taschengeld für uns … Jukka war den ganzen Abend so merkwürdig, er wollte uns aus dem Weg gehen, das merkte man.»

«Und dann, als die anderen sich schlafen gelegt hatten und wir in sein Zimmer gehen wollten, um mit ihm zu reden, war abgeschlossen!», warf Sirkku empört ein.

«Wir haben halt beschlossen, es am nächsten Tag nochmal zu versuchen», fuhr Timo fort. «Aber dann ist Sirkku in der Nacht wach geworden und aufs Klo gegangen und … Das erzählst du am besten selbst», sagte er zu Sirkku, die plötzlich wieder ganz verängstigt aussah.

«Also … Ich bin auf das obere Klo gegangen, und da hat’s ganz fürchterlich gestunken … Da muss Jyri kurz vorher gekotzt haben. Deswegen hab ich das Fenster aufgemacht, und da hab ich Jukka am Bootssteg gesehen. Ich hatte keine Zeit, Timo zu wecken, ich bin einfach ans Ufer gerannt und hab unser Geld verlangt.» Sirkku machte eine Atempause und trank den Rest ihres mittlerweile kalt gewordenen Kaffees, der, nach ihrer Grimasse zu urteilen, entsetzlich schmecken musste. Vielleicht bezog sich Sirkkus Grimasse aber auf ihre Erinnerungen.

«Aber Jukka wollte dir das Geld nicht geben», drängte ich Sirkku. «Hat er dir nicht gesagt, dass er den Schnaps noch gar nicht verkauft hatte?»

«Nein … Er hat nur gelacht und gesagt, wir dürften eben nicht so gutgläubig sein. Da bin ich wütend geworden und hab zugeschlagen.»

«Zugeschlagen?», fragte ich völlig verdattert. «Womit?»

«Mit der Hand. Oder mit der Faust. Ich weiß es nicht mehr. Ins Gesicht. Jukka hat geflucht, und ich bin weggerannt. Ich hab nicht geguckt, ob er sich verletzt hat. Aber dann am Morgen … Der kann doch nicht an meinem Schlag gestorben sein?»

«Mach dir darüber keine Sorgen, er hat einen Hieb mit der Axt bekommen», versuchte ich sie zu trösten.

«Sirkku und ich haben überlegt, ob er vielleicht irgendwie gestolpert ist und sich den Kopf an der Axt aufgeschlagen hat und dann ins Meer gefallen ist», erklärte Timo niedergeschlagen.

In Gedanken rekapitulierte ich den Laborbericht und das Gutachten des Pathologen. Konnte es so gewesen sein? Ich glaubte nicht recht, dass Sirkku fest genug zuschlagen konnte, um jemanden zu Fall zu bringen. Aber woher wollte ich das wissen? Ich war ja auch stärker, als ich aussah. Die fehlenden Fingerabdrücke wären damit natürlich erklärt. Der Pathologe hatte gesagt, eine Prellung im Gesicht sei eindeutig vor dem Tod entstanden. Das sprach nun wieder dafür, dass Sirkkus Schlag Jukka nicht umgeworfen hatte. Aber Jukka war doch betrunken gewesen. War es am Ende doch so einfach, hatte Sirkku Jukka getötet, ohne es zu wollen? Musste ich sie jetzt verhaften? Das arme Mädchen tat mir geradezu Leid.

«Komm mal her», sagte ich und stand auf. Sirkku gehorchte brav. Ich hob meine Hand wie zum Schwur, spannte die Armmuskeln an und kommandierte:

«Schlag gegen meine Hand. Genau so, wie du Jukka geschlagen hast, so fest du nur kannst.» Sirkku boxte gegen meine Handfläche. Es steckte kaum Kraft dahinter, meine Hand hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Allerdings konnte sie mir auch etwas vorspielen.

«Setz dich ruhig wieder hin. Ich glaube nicht, dass du es geschafft hättest, Jukka umzuwerfen. Ich muss aber noch überprüfen, ob es überhaupt so passiert sein kann. Du hast also die Axt am Bootssteg gesehen?»

«Ja … Die steckte da mit der Klinge im Holz.» Es war natürlich möglich, dass Sirkku immer noch log. Vielleicht hatte sie doch die Axt benutzt und danach ihre Nerven so gut unter Kontrolle gehabt, dass sie die Tatwaffe versteckt und vorher noch ihre Fingerabdrücke abgewischt hatte. Aber wieso waren die anderen Fingerabdrücke dann nicht auch abgewischt? Nein, wer Jukka umgebracht hatte, musste Handschuhe getragen haben.

«Hat Jukka dir gesagt, was er da draußen macht?»

«Dazu hatte er keine Zeit, weil ich ihn gleich angefaucht hab.»

Ich stellte das Paket aus dem Labor mit dem restlichen Inhalt auf den Tisch.

«Habt ihr mir jetzt bestimmt alles gesagt, was ihr über den Schnapsverkauf wisst? Jukka hat euch also erzählt, dass er die Flaschen an seine Freunde verkauft?» Beide nickten.

«Als euer Schnaps bei uns im Labor untersucht wurde, haben unsere Chemiker festgestellt, dass exakt der gleiche Stoff, mit Fenchel gewürzt, im Straßenhandel angeboten wird.»

Ich nahm die zweite Flasche aus dem Paket. Sie hatte genau die gleiche Form wie die, die wir in Jukkas Wohnung gefunden hatten, nur einen anderen Verschluss und ein russisches Etikett, wonach es sich um 47-prozentigen, mit Anis gewürzten sibirischen Wodka handelte.

«Habt ihr eine Ahnung, woher die Etiketten stammen?»

Beide waren völlig verblüfft. Timo erholte sich als Erster und fragte für seine Verhältnisse überraschend hastig:

«Ist die auf der Straße angeboten worden? Von wem?»

«Von einem estnischen Zwischenhändler. Er hat Stein und Bein geschworen, das Zeug aus Russland zu haben. Er hatte ein paar Flaschen davon.»

«Wie viel hat er dafür verlangt?»

«Siebzig Mark für den halben Liter.»

«Dieser Dreckskerl! Uns hat Jukka zwanzig gegeben. Er hat uns also übers Ohr gehauen. Er hat nur gesagt, es wäre so viel russischer Schnaps auf dem Markt und das würde auf den Preis drücken.»

«Das stimmt allerdings.» Ich war mir ziemlich sicher, dass Timo und Sirkku nichts von der Weitervermarktung ihrer Erzeugnisse gewusst hatten. Nach einigen abschließenden Fragen bat ich Koivu, die beiden an ihren jeweiligen Arbeitsplatz zurückzubringen. Ich ermahnte sie nachdrücklich, die Stadt nicht zu verlassen, ohne mir Bescheid zu geben.

«Müssen wir vor Gericht?», fragte Timo beim Aufbruch nervös. «Ich meine nur … Ich möchte meinen Vater und Muuriala nicht da reinziehen.»

Ich überlegte, was aus dem Destilliergerät geworden sein mochte. Wenn Sirkku und Timo auch nur einen Funken Verstand besaßen, hatten sie es nach Jukkas Tod sofort zerstört. Wir mussten den Fuselverkäufer noch einmal vorladen und feststellen, ob er mit Jukka in Verbindung gestanden hatte. Danach wurde es Zeit, über eine Anklageerhebung zu entscheiden.

«Ich nehme an, dass ihr mit einer Geldbuße davonkommt», beruhigte ich ihn. Vielleicht konnte ich die Sache sogar fallen lassen, aber das brauchten sie vorläufig nicht zu wissen.

Gerade als Koivu mit dem Paar das Zimmer verließ, klingelte das Telefon. Es war aber nicht Tapsa, wie ich angenommen hatte, sondern Tuulia.

«Sag mal, Maria, du hast doch sicher Jaanas Adresse. Ich dachte mir, ich könnte sie besuchen, auf meiner Interrail-Tour … später im Herbst.»

«Ja, warte mal eben, ich such sie dir raus.» Unter den Papierstapeln, die meinen Tisch überschwemmten, grub ich mein Adressbuch hervor. Irgendetwas hatte ich Tuulia fragen wollen, da war ich mir sicher, aber ich konnte mich nicht mehr erinnern, was. Ich gab ihr Jaanas Adresse.

«Na, wie geht’s dir denn jetzt? Die Beerdigung war wohl ziemlich schlimm für dich?», fragte ich mitfühlend.

«Zum Glück ist sie vorbei. Ich hab eigentlich erst bei der Trauerfeier richtig begriffen, dass Jukka tot ist.» Sie schluckte. «Irgendwas Neues bei den Ermittlungen?»

«Allmählich scheint sich die Sache zu klären.» Mehr wagte ich nicht zu sagen, so gern ich Tuulia beruhigt hätte.

«Und dann gehen wir wieder zusammen Bier trinken, ja?», schlug sie vor, legte aber auf, bevor ich ja sagen konnte. Dann. Dann, wenn der Fall aufgeklärt war. Dann, wenn die Verdächtigen wieder ein normales Leben führen konnten.

Tapsa meldete sich nicht, als ich ihn anrief. Ich hörte mir das Band aus Jukkas Anrufbeantworter noch einmal an. «Hier ist Tiina. Die Pläne sind jetzt ins Wasser gefallen. Du bist ein billiger Kerl, auf dich kann man sich nicht verlassen. Komm dann am Sonntag zu mir.» – «ÄM hier. Sonntagabend. Ich hau morgen ab. Ruf sofort an.»

Plötzlich fiel mir ein, dass das finnische Wort für «billig» auf estnisch «schlecht» bedeutet. Schau einer an, auch die geheimnisvolle Tiina schien eins von Jukkas estnischen Mädchen zu sein.

Zwei Tage vor Jukkas Tod waren Mitglieder eines Dealerrings und ein estnisches Freudenmädchen verhaftet worden. Gab es Verbindungen zwischen diesen drei Ereignissen? Sirkku war ja in der Nacht eine Weile wach gewesen, sie hätte es sicher gehört, wenn ein Boot angelegt hätte oder jemand im Auto vorgefahren wäre. Am Steg waren bisher keinerlei Spuren von fremden Besuchern entdeckt worden. Die teuren Faseruntersuchungen waren völlig umsonst gewesen. Aber jetzt musste ich die Möglichkeit, dass der Mörder ein Außenstehender war, doch wieder ins Auge fassen.

Es sei denn … Schließlich hatte ich schon bei einigen meiner Verdächtigen hinter der ehrbaren Fassade überraschende Dinge ausgegraben. Wenn Jukka in Drogenhandel und Zuhälterei verwickelt war, warum nicht auch einer der anderen?

Ich steckte mitten in diesen Grübeleien, als Tapsa Helminen anklopfte. In der Hand hielt er einen Umschlag mit dem Tonband, das gerade aus dem Labor gekommen war. Wir hörten uns gemeinsam die Nachrichten nacheinander an, zuerst die für Jukka bestimmte: «ÄM hier. Sonntagabend. Ich hau morgen ab. Ruf sofort an.» Auf Tapsas Band sprach zweifellos dieselbe Stimme: «ÄM hier. Ich hab am Donnerstag wieder das Auto voll Ware. Lass mich wissen, wo.» Die Intonation am Anfang stimmte genau überein, obwohl das Telefon und das Aufnahmegerät die Stimme veränderten.

«Glaubst du, das ÄM bedeutet so was wie M für Mörder?», fragte Tapsa aufgeregt.

«Eigentlich nicht, aber ich bin sicher, dass der Kerl uns einiges erzählen könnte. Auf jeden Fall will ich, dass Jukkas Auto nochmal unter die Lupe genommen wird, es ist nach dem Mord nur oberflächlich untersucht worden. Jetzt will ich alle nur denkbaren Proben.» Ich berichtete Tapsa, dass Koivu gerade die verhaftete Estin befragte und dass Jukka möglicherweise das Bindeglied zwischen den Beteiligten war.

«Versuch mal aus deinen Rauschgifthändlern rauszuholen, was Jukka mit der Sache zu tun hat. Hier ist ein Foto von ihm. Und setz ihnen meinetwegen Daumenschrauben an, um rauszufinden, wer dieser ÄM ist. Das wäre bestimmt für uns beide nützlich.»

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich Tapsa Befehle erteilte, obwohl ich dazu gar nicht befugt war. Auch er schien ein wenig verblüfft zu sein. Ich hatte irgendwann einmal seine Frau kennen gelernt, die nicht so aussah, als ob sie ihren Mann herumkommandierte – allenfalls zum Wäscheabnehmen auf den Trockenboden. Aber Tapsa kannte mich lange genug, um zu wissen, dass er besser keine Prestigefrage daraus machte.

Wir vereinbarten, uns am Abend zu einer weiteren Lagebesprechung zu treffen. Ich ordnete an, Jukkas Auto noch einmal supergründlich zu untersuchen, dachte mir einen fadenscheinigen Vorwand für Heikki Peltonen aus und widmete mich dann wieder den Unterlagen, die gestern liegen geblieben waren. Das Wochenende war erstaunlich ruhig gewesen, außer der Vergewaltigung und dem Selbstmord hatte ich nur ein paar Körperverletzungen zu bearbeiten, Routinesachen. Ich steckte noch mittendrin, als das Telefon klingelte. Mein ehrwürdiger nächster Vorgesetzter Kalevi Kinnunen, der zwei Türen weiter saß, zitierte mich zu sich.

Kinnunen war offensichtlich schon den zweiten Tag nüchtern. Trotzdem zitterten seine Hände noch, und seine Augen ähnelten halbreifen Erdbeeren. Die Äderchen, die sein aufgedunsenes Gesicht durchzogen, hatten die Farbe von Roter Bete. Der aufdringliche Duft seines Rasierwassers, Marke Boss, überdeckte seinen üblichen Geruch, die Ausdünstungen seines jahrelang mit Wodka vergifteten Organismus.

Ich berichtete ihm, was ich in der vergangenen Woche getan hatte. Für den Fall Peltonen zeigte er genauso wenig Interesse wie für alle anderen Fälle, nur bei dem Wort Wodka schien er kurz aufzuhorchen. Ich überlegte, wie man sich als Vorgesetzter wohl fühlt, wenn die Untergebenen allein viel besser zurechtkommen.

Später kaufte ich im Laden an der Ecke Roggenbrot und Kohlsalat, setzte mich auf eine Bank in die Sonne und aß. Am Kiosk holte ich mir noch ein Riesenschokoeis, an dem ich gerade genüsslich leckte, als mir Mirja über den Weg lief. Wir grüßten uns verlegen. Mirja würde mir nie verzeihen, dass ich etwas über sie wusste, was ich eigentlich gar nicht wissen wollte. Bei ihrem Anblick fiel mir wieder ein, was ich Tuulia hatte fragen wollen.

«Gut, dass ich dich treffe», sagte ich mit gespielter Munterkeit. «Erinnerst du dich zufällig, ob Jukka in Vuosaari irgendwelche Anrufe bekommen hat? Oder ob er selbst telefoniert hat?»

Womöglich hatte der mysteriöse Drogenhändler ein Treffen vereinbart, und Jukka war an dem Abend so verängstigt gewesen, weil er ahnte, was geschehen würde.

«Anrufe?» Mirja zog die Augenbrauen hoch. «Ich glaube, nur einer, von Jukkas Eltern, als wir gerade in der Sauna waren. Im Hof ist ein Verstärker installiert, daher hat Jukka das Klingeln gehört und ist zum Haus raufgelaufen.»

«Wer war alles in der Sauna?» War jemand im Haus geblieben und hatte Jukkas Telefongespräch mit angehört? Über die Gemeinschaftssauna war ich ein wenig überrascht. Allerdings war eine gut besuchte gemischte Sauna in meinen Augen geradezu ein Hort der Sittsamkeit, denn die nackten Männer sahen ziemlich idiotisch aus mit ihren schlaff baumelnden Pimmeln, die an ungenießbare Pilze im Moos erinnern. Mich konnte das jedenfalls nicht verlocken. Eine Sauna zu zweit war natürlich etwas ganz anderes …

«Antti ist erst später gekommen, zusammen mit Jukka, nach dem Anruf. Timo und Sirkku haben gewartet, bis alle anderen fertig waren.»

«Also könnten zumindest Timo, Sirkku und Antti Jukkas Gespräch mitgehört haben?»

«Bei Timo und Sirkku wäre ich mir nicht so sicher. Die waren irgendwann rudern. Soweit ich weiß, war zu dem Zeitpunkt nur Antti im Haus.»

Ich notierte mir «Antti anrufen» im Hinterkopf und setzte meinen Weg fort. Etwas von dem Eis war mir auf die Bluse getropft, weshalb ich mir eilends das letzte Drittel des Hörnchens auf einmal in den Mund schob. Ich war wirklich adrett heute: Fahrradschmiere an der Hose, Eis auf der Bluse. Wieder in meinem Zimmer, wählte ich Anttis Nummer an der Universität und überlegte dabei, ob ich den Dienstrock aus dem Schrank holen sollte, da kam Koivu hereingestürmt. Es war ihm anzusehen, dass er wieder etwas herausgefunden hatte. Ich legte den Hörer auf, Antti konnte warten.

«Na?»

«Aber ja doch», grinste Koivu. «Unser Vögelchen kannte Peltonen. Sie heißt Tiiu Välbe, ist aber nicht mit Jelena verwandt, sagt sie. Mit der Skiläuferin», setzte er hinzu, als er mein verdutztes Gesicht sah. «Sie hat nämlich mal für ihn gearbeitet. Peltonen hat sie eines Abends im ‹Kaivohuone› angeheuert, um seinen französischen Gästen den Rest des Abends zu versüßen. Danach hat sie ein paar Mal in der Sauna von Peltonens Firma gearbeitet, sozusagen als Saunahostess … Ab und zu hat Peltonen ihr auch einzelne Kunden vermittelt. Offenbar ebenfalls Firmengäste, sie wusste weiter nichts darüber.»

«Wann war das alles?»

«Im Sommer vor einem Jahr hat es angefangen. Ihren letzten Auftrag hatte sie im Mai dieses Jahres.»

«Aber Jukka war nicht ihr Zuhälter?»

«Nein … eher ein Vermittler. Er hat sie mit guten Kunden zusammengebracht, statt ihr Geld abzuknöpfen.»

«Woher diese Wohltätigkeit?», wunderte ich mich, denn das schien nicht recht zu Jukkas Charakter zu passen. Andererseits hatte er ja auch Jyri anfangs ganz freundlich geholfen, und am Schnapsgeschäft hatte er Sirkku und Timo mitverdienen lassen. Und er hatte widerspruchslos Mirjas Abtreibung bezahlt. War Jukka im Grunde seines Herzens doch großzügig gewesen, ein «guter Kumpel»?

«Eine Tiina wurde auch regelmäßig von Jukka vermittelt. War auf dem Anrufbeantworter nicht was von einer Tiina? Tiiu behauptet, diese Tiina hätte was mit dem Drogenhandel zu tun.»

«Und wo finden wir sie? Hast du ihre Adresse?»

«Nein, aber angeblich sitzt sie im Sommer montagsabends immer im ‹Pikkuparlamentti›. Ich hab sie mir beschreiben lassen.»

«Hast du was dagegen, wieder Überstunden zu machen? Versuch, diese Tiina zu finden!»

«Ist die die Mörderin?»

«Glaub ich nicht. Aber es kann gut sein, dass sie uns den Schlüssel zu diesem Fall liefert. Ruf mich sofort an, wenn du sie gefunden hast, wenn nötig, verhaftest du sie. Ich komm dann aufs Präsidium und sprech mit ihr. Ruf mich auf jeden Fall an, wenn das Lokal schließt. Ich glaub, die Gnadenfrist, die uns der Chef gegeben hat, reicht, um den Fall abzuschließen.»

Nachdem Koivu gegangen war, versuchte ich noch einmal, Antti an der Universität zu erreichen, aber am Institutsanschluss lief der Anrufbeantworter. Ich probierte es mit seiner Durchwahl, wo ich gar keine Antwort bekam, und mit der Nummer der Bibliothek, wo ein verschlafener Typ mir die Auskunft gab, Antti sei den ganzen Tag nicht im Haus gewesen. Mein Anliegen war zwar nicht sehr wichtig, aber ich ärgerte mich trotzdem. Vielleicht durften wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität sich an schönen Sommertagen an den Strand legen. Vielleicht war Antti aber auch mit Einstein ins Sommerhaus seiner Eltern gefahren und hatte es nicht für nötig gehalten, mich davon in Kenntnis zu setzen.

Tapsa erschien schneller wieder auf dem Präsidium, als ich erwartet hatte, seine lange Nase bebte vor Erregung. «Ich hab gerade einen gewissen Mauri Mattinen zur Fahndung ausgeschrieben, in gewissen Kreisen auch als ÄM bekannt. In seiner Wohnung hat er sich seit einer ganzen Weile nicht mehr blicken lassen, und am Arbeitsplatz erreicht man ihn auch nicht, weil er Urlaub genommen hat.»

«Du hast also tatsächlich seine Personalien rausgefunden? Wie war der Name? Mattinen! Teufel auch, den Namen hab ich doch in Jukkas Firma gesehen, auf Rechnungen von einer Unternehmensberatung. Ist er vorbestraft?» Ich hielt den Hörer schon in der Hand.

«Mattinen, Mauri. Neunundvierzig geboren. Ein halbes Jahr wegen Besitz von Cannabisprodukten.»

Ich rief im Labor an und bat darum, in Jukkas Wagen vor allem nach Mattinens Fingerabdrücken zu suchen.

Als Nächstes telefonierte ich mit Marja Mäki, die nach kurzem Nachdenken sagte, ihres Wissens sei Mattinens Firma beauftragt worden, in Estland Spediteure zu suchen, die als Subunternehmer infrage kamen.

«Mein Mann steht also nicht mehr unter Verdacht?», fragte sie dann.

«Nein. Sein Alibi ist von mehreren Personen bestätigt worden.»

«Wo war er denn?»

«Das muss er Ihnen schon selbst erzählen», gab ich zurück und versuchte das Gespräch zu beenden, aber Marja Mäki ließ nicht locker.

«Er war mit einem Jungen zusammen, oder?» Ihre Stimme bebte vor Zorn. «Was für ein Knäblein hat sich Martti denn diesmal angelacht?» Es widerte mich an. Warum mussten die Mäkis mich in ihre Konflikte hineinziehen? Plötzlich dämmerte es bei mir.

«Hören Sie mal, Frau Mäki! Sie haben Ihren Mann gar nicht verdächtigt, Peltonen getötet zu haben. Sie wollten die Polizei nur benutzen, um herauszufinden, was Ihr Mann treibt. Wenden Sie sich das nächste Mal gefälligst an einen Privatdetektiv!» Ich knallte den Hörer auf. Na fabelhaft! Wahrscheinlich hatte Marja Mäki Jukka nur als Schachfigur im Rachefeldzug gegen ihren Mann benutzt. «Reich und schön» zu gucken, konnte ich mir in Zukunft jedenfalls sparen, im richtigen Leben ging es nicht weniger abartig zu.

Ich nahm meine Unterlagen und ging in Tapsas Zimmer, wo wir unsere Erkenntnisse durchsprachen und ordneten. Makkonen, ein gut sechzigjähriger Drogenfahnder, der in seiner Ungeduld die voreiligen Verhaftungen angeordnet hatte, und Koivu stießen auch dazu. Ich hatte Koivu gerade noch zu Hause erreicht, wo er sich für den Abend im ‹Pikkuparlamentti› umgezogen hatte. So wie er jetzt aussah, in himmelblauem Hemd und heller Hose, würden sich garantiert nicht nur brave Braunhaarige für ihn interessieren.

«Sollten wir Kinnunen informieren?», fragte der gewissenhafte Makkonen.

«Der ist vor ein paar Stunden mit Virrankoski nach Haaga gefahren», sagte ich schnell. Ich war fest entschlossen, mein Revier zu verteidigen. An meinem ersten eigenen Mord wollte ich meinen versoffenen Abteilungsleiter nicht herummurksen lassen.

Nach einigen Tassen Kaffee und einer halben Schachtel Zigaretten, die sich Makkonen auf dem Gang reinzog, hatten wir alle Fakten beisammen. Tapsa hatte gerade im Labor angerufen und erfahren, dass an der Fahrertür und rund um das Kofferraumschloss von Jukkas Auto Mattinens Fingerabdrücke gefunden worden waren. Koivu hatte eben angefangen, die Zusammenfassung unserer Schlussfolgerungen durchzulesen, als das Telefon klingelte.

«Für dich, Maria. Eine Frau Sarkela.»

«Hier spricht Marjatta Sarkela, guten Tag.» In der gediegenen, nicht mehr ganz jungen Stimme lag ein besorgter Unterton. «Sie sind doch die Kriminalbeamtin, die den Mord an Jukka Peltonen untersucht?»

«Ja. Und Sie sind sicher Antti Sarkelas Mutter?»

«Genau. Ich gebe zu, dass ich vielleicht überreagiere, aber es sieht ganz so aus, als ob mein Sohn verschwunden wäre.»

«Dann ist er also nicht bei Ihnen in Inkoo?»

«Nein … Hat er gesagt, er wollte herkommen?» Anttis Mutter erzählte, dass sie am Samstagabend Einstein in Anttis Wohnung abgeholt hatten und dann nach Inkoo gefahren waren. Am Sonntag hatte sie bei Antti angerufen, um ihm zu berichten, dass die Katze ihnen um sechs Uhr früh eine erbeutete Wühlmaus ins Bett gelegt hatte. Sie hatte aber nur Anttis Mitbewohner erreicht, der ihr gesagt hatte, Antti wäre am Samstagabend weggegangen und bisher nicht zurückgekommen. Jetzt war schon Montag, und er hatte immer noch nichts von sich hören lassen.

«Ich mache mir Sorgen, ich kann nicht anders, nach dem, was Jukka Peltonen passiert ist … Antti und Jukka waren gute Freunde. Womöglich hat Jukkas Mörder auch Antti etwas angetan …»

Ich gab mir Mühe, Frau Sarkela zu beruhigen, obwohl ich auf einmal selbst besorgt war. Ich erinnerte mich an das, was Antti am Samstag gesagt hatte: «Wenn ich nur … wenn ich nur wüsste, was wichtig ist und was nicht.» Und etwas später: «Derjenige, der Jukka umgebracht hat, ist wahrscheinlich unberechenbar. Sei vorsichtig!» War Antti unvorsichtig gewesen? Oder war er auf der Flucht?